Seit dem Jahr 2010 steigt die Zahl der Publikationen zum Thema kognitive Neurowissenschaften stark an, wie beispielsweise eine Recherche auf PubMed Central, dem Repositorium der US National Library of Medicine, zeigt. Mit ihnen angestiegen ist auch die Zahl der Veröffentlichungen aus dem Bereich der Neuroökonomie, einer noch relativ jungen Disziplin, die wir in dieser Arbeit näher betrachten werden.

Diese Arbeit ist eine wissenschaftstheoretische Analyse der Neuroökonomie. Sie betreibt selbst keine neuroökonomische Forschung, sondern analysiert die Neuroökonomie als Wissenschaft. Ich gehe dabei unter anderem den Fragen nach: Was ist Neuroökonomie? Nach welcher Art Modell suchen die Wissenschaftler und mit welchen Methoden gehen sie dabei vor? Wie funktioniert der Erkenntnisgewinn? Außerdem untersuche ich, welchen Kritiken die Neuroökonomie ausgesetzt ist und wie diese Kritiken zu beurteilen sind. Wie sind die Ziele und Vorgehensweisen der Neuroökonomie wissenschaftstheoretisch einzuordnen? Und nicht zuletzt stellt sich die Frage, welche Entwicklung und Relevanz angesichts steigender Publikationszahlen rund um kognitive Neurowissenschaften in Zukunft von der Neuroökonomie zu erwarten sind.

Die Neuroökonomie ist noch vergleichsweise unbekannt, aber insofern besonders, als dass die Personen, die an ihr forschen, aus verschiedenen Mutterwissenschaften stammen und noch immer Teil dieser Wissenschaften sind – daher halte ich es für passend, von einer neuroökonomischen Zusammenarbeit zu sprechen. Es ist nicht ganz einfach, abzugrenzen, welche Mutterwissenschaften die Neuroökonomie hat und welche Forscher aus welchen Gebieten an ihr tätig sind. Es sind sicherlich die Neurowissenschaften, genauer gesagt, die kognitiven Neurowissenschaften und die Ökonomie, insbesondere die Verhaltensökonomie. Wir werden in Kapitel 6 sehen, dass diese Spezifizierung essentiell wichtig für die Neuroökonomie ist. Vermutlich könnte man auch die kognitive Psychologie zu den beisteuernden Wissenschaften zählen. Für eine Auseinandersetzung mit drei Mutterwissenschaften wäre in dieser Arbeit allerdings kein Platz gewesen, sodass ich mich im Folgenden auf die kognitiven Neurowissenschaften und die Verhaltensökonomie als Mutterwissenschaften der Neuroökonomie konzentriere, aus welchen sich auch der Begriff Neuroökonomie zusammensetzt. Beide Wissenschaften, beziehungsweise ihre Forschenden, bringen unterschiedliche Methoden, Erfahrungen und Erkenntnisse mit in die Kooperation ein, ebenso wie unterschiedliche Fragen, die sie mithilfe neuroökonomischer Forschung klären oder zumindest näher beleuchten möchten. Das klingt einerseits nach einer Umgebung für kreative Forschung, birgt aber andererseits auch Konfliktpotenzial, wenn die Hintergründe oder wissenschaftlichen Methoden des jeweils anderen nicht verstanden werden. Wir werden in Kapitel 5 besprechen, inwiefern das durchaus zu Problemen führen kann.

Ganz generell ist der unterschiedliche Hintergrund der beteiligten Forscher eine prägende Charakteristik der Neuroökonomie. Daher werden wir in den folgenden Kapiteln die Neuroökonomie häufig in ihre Mutterwissenschaften aufteilen. Das heißt, wir werden die Verhaltensökonomie und die kognitiven Neurowissenschaften zunächst einzeln betrachten, um dann die Zusammenarbeit in der Neuroökonomie – und auch die Kritiken daran – besser zu verstehen.

Zunächst beginnen wir unsere Analyse der Neuroökonomie mit der Frage, wofür die Neuroökonomie steht, was sie erreichen möchte, was ihre Ziele sind. Dazu betrachten wir in Abschnitt 2.3 verschiedene Aussagen von Neuroökonomen sowie ihre Einschätzung der Leistungsfähigkeit der Neuroökonomie, auf die wir weiter unten in Kapitel 6 zu den Kritiken an der Neuroökonomie zurückkommen werden. Um die Ziele der Neuroökonomie besser zu verstehen, vor allem auch, weshalb gerade diese Ziele den Wissenschaftlern wichtig sind, ist es sinnvoll, sich zuerst mit den Ausgangssituationen der Ökonomen und Neurowissenschaftler in ihren Mutterwissenschaften zu befassen. Daher werden wir in Abschnitt 2.1 und 2.2 einen kurzen Blick darauf werfen, welche Motivation Ökonomen beziehungsweise Neurowissenschaftler haben, sich mit neuroökonomischer Forschung zu beschäftigen. In der Ökonomie sind das vor allem eine seit Jahrzehnten vorhandene Unzufriedenheit mit der perfekten Rationalität des Modells Homo oeconomicus und die Suche nach Modellen, die näher am Verhalten realer Menschen liegen. Die Neuroökonomie bietet Ökonomen biologische Daten zum Verhalten realer Individuen. Die kognitiven Neurowissenschaften auf der anderen Seite haben seit der Erfindung nicht-invasiver Messmethoden eine Reihe an Möglichkeiten zur Verfügung, Daten über die Arbeit des menschlichen Gehirns zu generieren, benötigen für ihre Forschung aber einen passenden theoretischen Überbau wie Experimentparadigmen und Analysemethoden. Beide Seiten hoffen, die neuroökonomische Zusammenarbeit könnte ihnen helfen, ihre Fragen zu beantworten.

Ab Kapitel 3 geht es dann vor allem um die Frage, wie die Mutterwissenschaften arbeiten und welche Voraussetzungen, Methoden und Erfahrungen sie in die Neuroökonomie einbringen. Das Kapitel 3 behandelt diese Fragen für die Verhaltensökonomie, das Kapitel 4 für die kognitiven Neurowissenschaften. Den vier Aspekten von Edward Cartwright (Cartwright 2014) folgend, werden wir sehen, wie sich die Verhaltensökonomie entwickelt hat: erstens über die Forderung von Herbert Simon nach einer bounded Rationality als Alternative zur perfekten Rationalität des Homo oeconomicus. Simon sah keine Beweise dafür vorliegen, dass in einer realen Entscheidung tatsächlich die geforderten Berechnungen durchgeführt werden oder überhaupt durchgeführt werden können. Zweitens über die Etablierung von Laborexperimenten vor allem durch Vernon Smith, der begann, ökonomische Hypothesen und Vorhersagen mithilfe systematischer empirischer Forschung zu überprüfen. Drittens über die Arbeit von Daniel Kahneman und Amos Tversky, die empirische Belege dafür lieferten, dass echte Menschen systematisch die Anforderungen an rationales Entscheiden nicht erfüllten und daher nicht denken und entscheiden wie Homo oeconomicus, und viertens über die entscheidenden Entwicklungen in der Spieltheorie durch John Nash, Reinhard Selten und John Harsanyi. Sie entwickelten die Spieltheorie zu einem nützlichen und vielseitigen Werkzeug für theoretische und empirische ökonomische Forschung. Dieser Blick auf die Entwicklung der Verhaltensökonomie hilft uns, Aufschluss darüber zu erhalten, welchen Fragen die Verhaltensökonomie heute warum nachgeht und welche Expertise die Ökonomen in die neurowissenschaftliche Zusammenarbeit einbringen.

Kapitel 4 befasst sich als Gegenstück dazu mit Entwicklung und Arbeit der kognitiven Neurowissenschaften. Auch hier wird die Historie der Wissenschaft dabei helfen, heutige Fragestellungen zu verstehen. Im ersten Teil des Kapitels geht es daher um die Fragestellungen der kognitiven Neurowissenschaften und wie sie sich aus den ersten Forschungen im 19. Jahrhundert über Phrenologie zu Konnektionismus und Behaviorismus entwickelt haben. Das schafft die Grundlage für den zweiten Teil des Kapitels zur gegenwärtigen Arbeit der kognitiven Neurowissenschaften, das sich um die Frage dreht, welche Art von Modell kognitive Neurowissenschaftler suchen und wie ihre Fragestellungen dazu aussehen. Das wird durch die Beispiele der kontemporären Forschung zu Gedächtnis und Emotionen illustriert, die auch für die neuroökonomische Forschung von Bedeutung sind. In diesem Kontext werden auch die beiden großen Projekte beziehungsweise Initiativen „Human Brain Project“ und „BRAIN Initiative“ vorgestellt. Der dritte Teil des Kapitels ist ein Überblick über heute in den kognitiven Neurowissenschaften gängige technische Instrumente. Ich habe diejenigen Techniken ausgewählt, die auch in neuroökonomischer Forschung häufig eingesetzt werden: funktionelle Magnetresonanztomografie (fMRT), Positronenemissionstomografie (PET), Elektroenzephalografie (EEG) und transkranielle magnetische Stimulation (TMS) als nicht-invasive Methoden sowie die Ableitung von Aktionspotenzialen als invasive Messtechnik. Dieser Überblick lohnt sich nicht nur zum generellen Verständnis des Ablaufs kognitiver Experimente, sondern auch für das Verständnis mancher Kritiken, die auf dieser Technik beruhen. Diese Kritiken werden wir in Kapitel 6 besprechen.

Zuvor zeigt Kapitel 5 nach der Einzelbetrachtungen der Mutterwissenschaften die gemeinsame neuroökonomische Zusammenarbeit. Abschnitt 5.1 zeigt den Beitrag der Verhaltensökonomie zur Neuroökonomie. Wir werden sehen, inwiefern sich moderne ökonomische Experimente von den Experimenten Seltens und Smiths aus Kapitel 3 unterscheiden und wie mit klaren Benchmarks Emotionen operationalisiert werden. Dazu dient uns ein Experiment von Fehr zum Thema Fairness als Beispiel. Demgegenüber gestellt ist der Balloon Analogue Risk Task aus der Psychologie als Beispiel für Konstrukt-basiertes Experimentieren. Abschnitt 5.2 zeigt den Beitrag der kognitiven Neurowissenschaften zur Neuroökonomie. Dieser besteht vor allem aus der Generierung und Bereitstellung von Experimentdaten. Daher behandelt dieses Unterkapitel vor allem Schritte und Anforderungen bei kognitiven Experimentdesigns, beispielsweise wie Stimuli präsentiert werden oder wie Versuchsdurchläufe generell aussehen. Dabei konzentrieren wir uns auf das fMRT, da es die Messtechnik ist, mit der in einem beispielhaften neuroökonomischen Experiment gearbeitet wurde, das wir in Abschnitt 5.3 besprechen. Dieses Beispiel soll uns als Veranschaulichung dienen, wie Neurowissenschaftler ein Experiment aufbauen und mit ökonomischer Methode umsetzen und welche Schlüsse sich daraus ziehen lassen.

Nachdem wir gesehen haben, was die Neuroökonomie ist und wie sie arbeitet, widmet sich Kapitel 6 den Kritiken an der Neuroökonomie. Wir werden eine Reihe an Kritiken, ohne Anspruch auf Vollständigkeit, in prozedurale und systematische Kritiken ordnen und analysieren. Worauf fußen die Kritiken, sind sie überzogen oder berechtigt und was könnten Neuroökonomen tun, um ihnen zu begegnen? Die prozeduralen Kritiken in Abschnitt 6.1 sprechen nicht die systematischen Grundlagen der Neuroökonomie an und können grundsätzlich gelöst werden. Dabei geht es beispielsweise um Kritiken an überzogenen Versprechungen vonseiten mancher Neuroökonomen oder um neurowissenschaftliche Forschungsstandards, wie die angemessene Zahl an Probanden oder eine unzureichende technische Ausrüstung, die die Experimentergebnisse nicht-reproduzierbar macht. Die grundlegenden, systematischen Kritiken werden in Abschnitt 6.2 besprochen. Sie liegen weniger in der täglichen wissenschaftlichen Arbeit begründet, sondern in Eigenschaften der Mutterwissenschaften. Wir stützen uns dabei vor allem auf bekannt gewordene Kritiken der Ökonomen Faruk Gul und Wolfgang Pesendorfer, die beklagen, dass Neuroökonomen ökonomische Modelle und Theorien missverstehen und nicht hilfreiche Änderungen am gängigen ökonomischen Modell vorschlagen. Sie argumentieren für die Irrelevanz neurowissenschaftlicher Erkenntnisse für die Ökonomie, da die Ökonomie keine Aussagen über Gehirnfunktionen macht und daher auch nicht mit Gehirndaten widerlegt werden kann. Diese Kritiken lassen sich nicht aus dem Weg räumen, da sie, wie ich argumentieren werde, auf Gul und Pesendorfers behavioristischer Konzeption der Ökonomie (die ich Standardökonomie nenne) beruhen und mit der neuroökonomischen Konzeption der Ökonomie unvereinbar ist. Doch selbst wenn man mit den Verhaltensökonomen übereinstimmt und die Standardökonomie ablehnt, bleiben noch immer wissenschaftstheoretische Fragen und Probleme für eine Zusammenarbeit von Ökonomie und Neurowissenschaften bestehen. Diese Probleme werden in der Wissenschaftstheorie tatsächlich seit Jahrzehnten immer wieder diskutiert, mit Argumenten, die auch in diesem Fall gültig sind. Diese werden in Abschnitt 6.3 behandelt. Dabei geht es um Reduktionismus und seine Probleme Emergenz, multiple Realisierbarkeit, die Unmöglichkeit von Brückengesetzen und nicht zuletzt um Inkommensurabilität. Daher betrachten wir zunächst, wie sich Neuroökonom Paul Glimcher eine Zusammenarbeit vorstellt und wie er zu reduktionistischen Problemen steht, ehe wir uns unter anderem Argumenten von Kenneth Schaffner, Paul Feyerabend, Thomas Kuhn und Jerry Fodor zuwenden, der bereits im vorigen Jahrhundert die Frage diskutierte, ob neurowissenschaftliche Erkenntnisse dazu verwendet werden können, psychologische Modelle zu entwickeln.

Das Kapitel 7 wird als Schluss einen Ausblick auf die künftige Entwicklung der Neuroökonomie geben. Es wird sicherlich Kritiken und Probleme geben, die weiterhin bestehen und die Zusammenarbeit beeinflussen. Dazu gehören auch die systematischen und manche der prozeduralen Kritiken aus Kapitel 6. An welchen Problemen müssen die Wissenschaftler arbeiten und wie wird sich ihr Verhältnis in Zukunft entwickeln? Sicher ist, dass Themen rund um die kognitiven Neurowissenschaften weiterhin große Aufmerksamkeit bekommen werden.