In diesem Kapitel möchte ich die Ergebnisse meiner Analyse zusammenführen und das Theoriemodell der Schützenden Bewältigung vorstellen. Es handelt sich hierbei um eine Handlungstheorie. Diese Art von Theorie erklärt die Interaktionsprozesse zwischen Individuen und/oder Gruppen (vgl. Miebach 2014: 15). Schützende Bewältigung ist ein Phänomen, das bei Menschen mit Diskriminierungserfahrung eine zentrale Rolle bei der Handlungsauswahl spielt. Die Befragten verwendeten in ihren erzählerischen Rekonstruktionen wiederkehrend den Begriff schützen, worauf ich aufmerksam wurde, bevor ich das Phänomen als solches identifizierte. Um einen ersten Eindruck zu vermitteln, möchte ich vereinzelte Ausschnitte aus verschiedenen Interviews präsentieren:

„Und das ist eigentlich nicht gut, weil wir MÜSSEN uns ja schützen“ (Afra, 711).

„Ich habe gedacht, wenn ich jetzt was Gutes tue, schütze ich vielleicht andere Schwestern oder Brüder auch beschimpft zu werden“ (Hanifa, 153–155).

„Und da war ich halt wirklich ungeschützt. Und das fand ich schon ziemlich, äh, Hammer“ (Aishe, 462).

Schützende Bewältigung ist ein Phänomen, das die Befragten nicht bewusst benennen. Es ist etwas, das umschrieben wird und zunächst im Datenmaterial erkannt werden musste, um seine Bedeutung zu begreifen. Seine Ausprägung ist vielfältig und äußert sich von Situation zu Situation unterschiedlich. Das wesentliche Merkmal des Phänomens ist das (Be)Schützen von Dingen,Footnote 1 das zum Ausgangspunkt der Handlungen wird. Was meint hier Dinge? Anhand der Daten können drei hauptsächliche Aspekte identifiziert werden, die von den Interviewpartnerinnen als schutzbedürftig umschrieben werden:

  1. (1)

    die eigene Person (physisch und/oder psychisch),

  2. (2)

    andere Personen,

  3. (3)

    immaterielle Dinge.

Wenn die eigene Person geschützt werden soll, kann sowohl der physische als auch der psychische Schutz gemeint sein. Bei dem zweiten Punkt handelt es sich um andere Menschen, die sich unmittelbar in der diskriminierenden Situation befinden. Es wurde eine Situation im Datenmaterial identifiziert, bei der als Begründung der Handlungsauswahl der Schutz von anderen, nicht anwesenden Personen, angeführt wurde. Jedoch kollidierte dort das Schutzbedürfnis mit dem Wunsch, sich selbst zu schützen. Auf die Einzelheiten werde ich noch zu sprechen kommen. Die Variante, andere Personen schützen zu wollen, die nicht in der Situation anwesend sind, ist denkbar, aber nicht genauer überprüft worden.Footnote 2 Die Unterscheidung zwischen physischem und psychischem Schutz der eigenen Person wurde differenziert zum Ausdruck gebracht im Vergleich zu den Rekonstruktionen, bei denen es um andere Personen ging. Aus diesem Grund wird unter Punkt zwei, andere Personen, keine gesonderte Unterscheidung vorgenommen. Dieser Bereich wird allgemein gehalten und erst bei der analytischen Anwendung spezifiziert. Unter dem Punkt immaterielle Dinge fasse ich auf der Grundlage meiner Analyse alles zusammen, was nicht materiell ist; dazu zählen bspw. Beziehungen zu Menschen, der Zugang zu Ressourcen oder Leistungsbeurteilungen. Immaterielle Dinge können an etwas Materielles gebunden sein, setzen dies jedoch nicht voraus. Der Zugang zum Wohnungsmarkt ist ein passendes Beispiel hierfür. In den Diskriminierungserfahrungen, die ich rekonstruierend-interpretativ analysierte, trat an keiner Stelle das Schützen von materiellen Dingen an sich auf. Daher konzentriere ich mich im Folgenden ausschließlich auf die immateriellen Dinge. Hinzufügen möchte ich, dass in einer diskriminierenden Situation das Bedürfnis, mehrere Dinge gleichzeitig schützen zu wollen, auftreten kann, jedoch überwiegt die Bedeutung, ein Ding besonders schützen zu wollen.

Darüber hinaus ist das Phänomen der Schützenden Bewältigung nicht per se bei Menschen mit Diskriminierungserfahrung vorhanden, sondern wird durch das Generieren von Erfahrung erst (weiter)entwickelt. Das Konzept der Schützenden Bewältigung bildet den Kern der Handlungstheorie und steht im Zentrum der Interaktion. Bei der Handlungsauswahl in einer diskriminierenden Situation kann dies zu einer Diskrepanz führen, die zwischen dem Handlungswunsch und der tatsächlich ausgeführten Handlung entsteht. Die Abweichung kann mit dem Phänomen der Schützenden Bewältigung begründet werden. An dieser Stelle führe ich ein plakatives Beispiel an, um das bisher Umschriebene und insbesondere die Abweichung davon zu verdeutlichen. Afra ist zum Zeitpunkt des Interviews über 45 Jahre alt,Footnote 3 trägt ein Kopftuch und hat eine türkische Migrationserfahrung.Footnote 4 Sie berichtet von einer Begegnung mit einem Mann im Fahrstuhl. Sobald der Fahrstuhl sich schloss und sie allein waren, fing der Mann an, Afra laut rassistisch zu beschimpfen. Afra beschreibt die Situation wie folgt:

„Und wir sind alleine. Der Fahrzug ist klein, wir sind alleine. Ich zittere im Körper, nicht aus Angst, sondern aus Wut, möchte ihm eins wischen, aber in dem Moment weißt du nicht, hat er ein Messer? Kann irgendwas passieren? Du bist alleine, du kannst nicht weglaufen, du bist im Fahrstuhl“ (Afra, 225–228).

Am Beispiel von Afra wird deutlich, dass sie einen Handlungswunsch hat, diesen jedoch nicht ausführen kann. Dadurch, dass sie sich fragt, ob der Mann ein Messer bei sich haben könnte, wird das Phänomen der Schützenden Bewältigung beobachtbar. In diesem Moment möchte Afra sich selbst physisch schützen. Anhand der eingeschränkten Möglichkeit (eine Flucht aus der Situation ist nicht möglich) entscheidet sich Afra dazu, ihm keine zu „wischen“. Zudem äußert sie wiederholt, dass keine weitere Person anwesend war. Sie schließt daraus, dass niemand zur Hilfe kommen könnte. An diesem Beispiel ist die Abweichung zwischen Handlungswunsch und tatsächlicher Handlung deutlich ersichtlich. Außerdem zeigt das Beispiel, dass eine rekonstruktive Auseinandersetzung an dieser Stelle notwendig ist, um das Phänomen überhaupt greifbar zu machen. Erst die Zusatzinformation von Afra, dass sie ursprünglich lieber anders gehandelt hätte, macht diese Diskrepanz überhaupt greifbar. Eine ausschließliche Beobachtung von außen hätte nur hypothetische Annahmen über eine Handlungsabweichung zugelassen.

Das Phänomen der Schützenden Bewältigung war nicht von Beginn an und ohne Weiteres anhand der Daten festzustellen. Erst mithilfe der Rekonstruktionen der Diskriminierungserfahrungen und des ständigen Vergleichens der FälleFootnote 5 konnte das Phänomen analytisch herausgearbeitet werden. Es tritt in verschiedenen Variationen auf, die wiederum durch verschiedene Kontextbedingungen beeinflusst werden.

Schützende Bewältigung lässt sich nicht nur in den als diskriminierend gedeuteten und interpretierten Situationen beobachten, sondern auch darüber hinaus. Erfahrungen begleiten Menschen für gewöhnlich über den Entstehungskontext hinaus und zwingen die Personen dazu, sich mit diesen auseinanderzusetzen. Darauffolgende Handlungen basieren auf Wissen, das durch Erfahrung generiert wurde. So fügt Afra zum späteren Zeitpunkt des Interviews auf die Frage, ob sie sich durch die Erfahrung nun anders verhalte, Folgendes hinzu:

„Also ich habe da, äh, Zeitlang, ähm, nicht mehr alleine in Fahrstuhl mich bewegt. Also ich habe das versucht, zu vermeiden. Was passiert, wenn so etwas nochmal vorkommt? Ne? Man wird auch vorsichtiger. Guckt mehr links, rechts und so weiter“ (Afra, 691–693).

Afra passt ihre Verhaltensweise aufgrund der gemachten Diskriminierungserfahrung an. Mit dem Verweis „nicht mehr alleine“ meint sie schlussfolgernd, nur noch mit einer weiteren, dritten Person einen Fahrstuhl zu betreten. Sie schreibt der dritten Person eine kontrollierende, aber vor allem auch eine beschützende Rolle zu. Die temporäre Angabe von „Zeitlang“ deutet darauf hin, dass sie diese Verhaltensänderung für eine bestimmte Zeit angepasst hatte, um sich zu schützen. Verhaltensänderungen sind daher nicht immer dauerhaft, sondern können – wie hier – von temporärer Bedeutung sein. Das Bedürfnis nach Schutz wird vor allem an der formulierten Fragestellung deutlich, „Was passiert, wenn so etwas nochmal vorkommt?“. Afra ergreift also schützende Maßnahmen, die auf ihrem Erfahrungswissen basieren. Der zum Schluss angeführte Satz, der allgemein formuliert wird („man“), verweist auf einen Prozess: „Man wird auch vorsichtiger“, ist eine sich verändernde Erkenntnis, die durch die Diskriminierungserfahrung(en) entsteht. An dieser Stelle ist es zusätzlich interessant, sich vor Augen zu führen, was die Interviewpartnerin nicht sagt. Afra sagt nicht, dass sie von nun an vorsichtig ist, sondern spricht von einer Steigerung des Vorsichtiger-Seins. Dadurch verweist sie auf einen Prozess, der vor dieser Erfahrung nicht in diesem Maße vorhanden war. Es gab vor dieser Situation keinen Anlass, „vorsichtiger“ zu sein. Sie war bis dahin aus mir nicht bekannten Gründen bereits vorsichtig, um anschließend daran erst eine Steigerung vornehmen zu können. Die Diskriminierungserfahrung im Fahrstuhl ist letztendlich der Auslöser für die Verhaltensänderung gewesen. In diesem Zusammenhang ist das Phänomen der Schützenden Bewältigung über die diskriminierende Situation hinaus erkennbar und wirksam. Es beschränkt sich also nicht nur auf die diskriminierende Situation.

Das Phänomen der Schützenden Bewältigung lässt sich in zwei Dimensionen unterteilen, die primär in den diskriminierenden Situationen von Relevanz sind: (1) Schutzbedürfnis und (2) Risikobereitschaft. Die Betroffenen entscheiden unter Anbetracht der zu schützenden Dinge, wie hoch das Schutzbedürfnis ist. Das bedeutet, dass ausgehend von der Schützenden Bewältigung das Schutzbedürfnis nicht nur von den Betroffenen gedeutet wird, sondern sie auch definieren, was sie unter Schützen verstehen. Hierzu können zwei Beispiele aufgeführt werden, die eine ähnliche Situation darstellen, jedoch von den Betroffenen unterschiedlich schützend bewältigt werden. Als erstes Beispiel sind Diskriminierungserfahrungen von Afra zu schildern, die von zufälligen Begegnungen mit Personen auf der Straße spricht, die sie als „Terrorist“ oder Ähnliches beschimpfen. Die Diskriminierungserfahrungen liegen zeitlich betrachtet ca. 20 Jahre zurück. Sie führt aus, wie und weshalb sie unterschiedlich reagiert(e), sobald ihre Kinder dabei sind:

„Und dann, äh, gibst du irgendwelche Widerworte oder schimpfst mit ihm, aber mehr kannst du nicht machen. Was soll ich da machen? Und wenn Kinder dabei sind, dann kann man sowieso nicht. Und wenn Kinder dabei waren, dann habe ich sowieso GAR keine Rückmeldung gegeben. Dann habe ich versucht, damit das KIND nicht merkt, dass so etwas passiert, weil für die Kinder ist das eine beängstigende Situation“ (Afra, 240–244).

Afra entschied sich, keine Reaktion auf das Gesagte zu zeigen, sobald Kinder mit dabei waren. Sie beschreibt, dass sie durch das Nicht-Reagieren beabsichtigte, die Kinder nicht merken zu lassen, dass eine rassistische Beleidung an sie als soziale Gruppe gerichtet war. Hier ist zu beobachten, dass Afra das Bedürfnis, ihre Kinder zu schützen, mit dem Unterlassen einer Handlung artikuliert. Afra deutet die Situation als beängstigend für die Kinder und handelt entsprechend schützend. Die Interviewpartnerin Malala dagegen reagiert auf eine ähnliche Situation anders. Malala ist zum Zeitpunkt des Interviews Anfang 30 Jahre alt und Mutter eines dreijährigen Sohnes. Sie ist eine Schwarze Muslimin, die nicht durch religiöse Bekleidung als Muslimin zu erkennen ist. Im Vergleich zu Afras Erfahrung unterscheidet sich Malalas Erfahrung in zwei Aspekten: Zum einen berichtet sie von Diskriminierungserfahrungen, die sie erst vor Kurzem erlebt hatte, und zum anderen sind es subtile Äußerungen, auf die sie reagiert. Während sie von einem Erlebnis mit einer Fahrradfahrerin auf der Straße berichtet, die herablassende Bemerkungen von sich gibt, ergänzt Malala zu einem späteren Zeitpunkt des Interviews, weshalb sie in der hier beschriebenen Situation eine verbale Reaktion zeigte, insbesondere und ausdrücklich in der Anwesenheit ihres Sohnes:

„[I]ch glaube, das ist einmal der Grund, warum ich bin immer so laut gewesen, wenn mein Sohn dort ist, ist weil ich möchte, dass er nicht denkt, dass Leute dürfen mit uns so umgehen. Dürfen sie überhaupt nicht“ (Malala, 715–717).

Malala begründet ihre Reaktion damit, dass ihr Sohn die Ungleichbehandlung nicht verinnerlichen soll. Die Position von Malala, die zunächst rechtfertigend klingt, kann auch als eine Erziehungsmaßnahme interpretiert werden. Durch das Einschreiten mit ihrer „laut[en]“ Reaktion möchte sie ihrem Sohn aufzeigen, dass sie Unrecht erfahren hat und diese Behandlung nicht ohne Weiteres hinnehmen wird. Aus einer langfristigen Sicht ist dies als eine schützende Handlung zu verstehen, die sie ihrem Sohn vorleben und mitgeben möchte. Sowohl Afra als auch Malala richten ihr Handeln in diesen Situationen nach ihren Kindern (also anderen Personen) aus. Während Afra sich bewusst für das Nicht-Reagieren entscheidet, wählt Malala den bewussten Weg des Intervenierens. Beide Handlungen haben dieselbe Absicht: das Schützen der eigenen Kinder. Anhand der beiden Beispiele konnte dargelegt werden, dass das Schutzbedürfnis im Zusammenhang der Schützenden Bewältigung eine subjektive Deutung und Interpretation von Schutz zu Grunde liegt.

So kann ein Schutzbedürfnis individuell in einem Kontinuum von gering bis hoch verortet werden. Das gleiche gilt für die Risikobereitschaft. Die Befragten wägen in der Situation ab, wie hoch die Gefahr bzw. – weitläufiger gefasst – die Konsequenz durch die eigene Reaktion in dem Moment ist. Während Afra in der Fahrstuhl-Situation ein hohes Schutzbedürfnis hatte und kein Risiko eingehen wollte, indem sie dem Mann gegenüber handgreiflich wird, können andere Situationen sich so ergeben, dass die Risikobereitschaft abgewogen oder die Gefahr anders bewertet wird. Das folgende Beispiel bezieht sich auf eine Schulerfahrung von Zara. Sie hatte einen Lehrer, der nach ihrer Deutung im Vergleich zu den anderen Schüler*innen mit ihr einen anderen Umgang pflegte aufgrund ihrer Herkunft. Sie trägt keine religiöse Bekleidung, hat einen türkisch klingenden Namen und ist aufgrund phänotypischer Merkmale, wie z. B. dunklem Haar, Othering-Prozessen ausgesetzt. Als sie eine Auseinandersetzung mit dem besagten Lehrer hatte, begründet sie ihre Handlungsauswahl (einer Aufforderung des Lehrers nicht nachzukommen) wie folgt:

„Und irgendwann hatte ich einfach keine Lust mehr, weil für mich eh schon klar war, okay, also noch schlimmer als eine fünf wäre eine sechs, aber das wäre in dem Fall ja sowieso egal, weil ich es ja eh wiederholen müsste“ (Zara, 270–272).

Zara beschreibt die Konsequenzen, die mit ihrer Reaktion einhergehen könnten, und stellt fest, dass in diesem Augenblick die Konsequenz (die Note Sechs zu erhalten), ihrem Empfinden nach keinen schwerwiegenderen Folgen, als ohnehin zu erwarten wären, für sie hätte. In diesem Fall wägt Zara das zu schützende immaterielle Ding in Form einer Benotung mit ihrem Schutzbedürfnis und ihrer Risikobereitschaft ab. Sie entscheidet sich dafür, ein hohes Risiko einzugehen, und wählt auf dieser Grundlage ihre Handlungsreaktion aus. Eine weitere Sichtweise auf diese Situation kann sein, dass Zara nicht länger das immaterielle Ding, die Benotung, schützen wollte, sondern nun sich selbst. Es kann interpretiert werden, dass sie die Konsequenzen abgewogen hatte und ihre Prioritäten der zu schützenden Dinge neu ordnete. Indem sie sich für eine risikoreiche Reaktion entschied, wollte sie vielmehr durch die Handlungsfähigkeit sich selbst (psychisch) schützen und sich selbst beweisen, dass sie über Handlungsmacht verfügt. In diesem Zusammenhang spreche ich dann von einer Prioritätsverschiebung der zu schützenden Dinge, wobei die Schützende Bewältigung neu interpretiert und die Handlungsauswahl neu ausgerichtet wird.

Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass Schützende Bewältigung ein Phänomen im Rahmen der Reaktions- und Umgangsweisen mit Diskriminierungserfahrungen darstellt. Es kann die Aussage getroffen werden, dass Diskriminierungserfahrung und Schützende Bewältigung in einem wechselwirkenden Verhältnis stehen. Dadurch entsteht ein dynamischer Prozess, der durch Erfahrung, Wissen und Handlung geprägt ist. Im Mittelpunkt der Handlung stehen die Dinge 1.) eigene Person, 2.) andere Person(en) oder 3.) immaterielle Dinge. Die Abwägung aus Schutzbedürfnis und Risikobereitschaft bildet, wie bisher dargelegt, die Dimensionen des Phänomens der Schützenden Bewältigung. Die kurze Darstellung Schützender Bewältigung durch ausgewählte Beispiele sollte dazu dienen, eine erste Vorstellung des Konzeptes zu erhalten. Im Folgenden werde ich anhand des Theoriemodells der Schützendem Bewältigung, was ich durch die empirische Arbeit generiert habe, die einzelnen Aspekte vorstellen. Hierzu möchte ich durch die drei Phasen führen und die einzelnen Aspekte ausführlich erläutern. Beginnen werde hierbei mit der Situationsanalyse, fahre dann fort mit der unmittelbaren Reaktion und schließe dann mit der letzten Phase Schutz und Stärkung ab. Da ich während meiner Analyse weitere Teilergebnisse erzielt habe, werde ich das Kapitel mit zwei Schwerpunkten, die ich im Rahmen meiner Ergebnisse für besonders wichtig erhalte, abrunden.

7.1 Der dynamische Prozess der Diskriminierungserfahrung

In der Untersuchung war früh zu erkennen, dass Diskriminierungserfahrungen nicht zusammenhanglose biographische Erlebnisse sind, die sich temporär eingrenzen lassen. Auch wenn die Befragten im Interview über ihre Diskriminierungserfahrung als einzelne Erlebnisse berichtet haben, konnten in den Erzählrekonstruktionen prozessähnliche Eigenschaften identifiziert werden. Am Beispiel der Schützenden Bewältigung wurde bereits dargelegt, dass Erfahrungen über den eigentlichen Entstehungskontext hinaus Auswirkungen zeigen. Die Gemeinsamkeit der Prozesshaftigkeit konnte durch das ständige Vergleichen zwischen den Fällen herausgearbeitet werden. Der Prozess, in dem Schützende Bewältigung als Phänomen letztendlich entsteht, ausgeprägt, weiterentwickelt und beeinflusst wird, lässt sich in einem Phasenmodell abbilden. Das Modell wird in drei Phasen unterteilt:

  1. (1)

    Situationsanalyse,

  2. (2)

    unmittelbare Reaktion,

  3. (3)

    Schutz und Stärkung.

Alle bisher beschriebenen Aspekte und weitere Ergebnisse der hier vorliegenden Analysearbeit konnten in einem Theoriemodell zusammengeführt werden (siehe Abbildung 7.1).

Abbildung 7.1
figure 1

Das Theoriemodell der Schützenden Bewältigung

Als erste Phase – Situationsanalyse – wird die Situation bezeichnet, in der sich Betroffene befinden, sobald sie eine Situation als diskriminierend gedeutet und interpretiert haben. Hier wird unter Betrachtung verschiedener Bedingungen eine Handlungsauswahl getroffen. Die zweite Phase umfasst die direkte Ausführung der ausgewählten Handlung. Hierzu wurden drei Handlungstypen ausgearbeitet, auf die im späteren Verlauf noch näher eingegangen wird. Die letzte Phase im Modell stellt die Erfahrungsbewältigung und somit den Umgang mit der Diskriminierungserfahrung außerhalb der diskriminierenden Situation dar. In dieser Phase wird auch erkenntlich, inwieweit Diskriminierungserfahrungen die Alltagsgestaltung der Betroffenen beeinflussen. Im Zentrum des Phasenmodells steht das Phänomen der Schützenden Bewältigung, das den Kern der Handlungstheorie bildet. Alle Phasen stehen in einem wechselwirkenden Verhältnis zum Phänomen. Der gesamte Prozess ist in einen emotional und diskursiv geprägten Kontext eingebettet. Um das Phasenmodell im Folgenden ausführlich beschreiben zu können, wird sich dafür entschieden, das Modell in den drei Phasen zu zerteilen und im Einzelnen zu beschreiben. Zur Orientierung wird im Folgenden das Phasenmodell wiederholt abgebildet und die jeweils zu erläuternder Phase sichtbar eingegrenzt. Zu den näheren Ausführungen der einzelnen Merkmale und Eigenschaften werden exemplarisch Beispiele aus den Interviews angeführt, um die Interpretationsprozesse, die mich als Ergebnis zu diesem Modell führten, nachvollziehbar darlegen zu können. Die Zitate der Interviews dienen zum einen für illustrative Zwecke und zum anderen als Belege für die theoretischen Schlussfolgerungen meiner Analyse. Auf diese Weise wird eine intersubjektive Betrachtungsweise meiner Ergebnisse ermöglicht.

Abbildung 7.2
figure 2

Das Theoriemodell der Schützenden Bewältigung. Phase 1, Situationsanalyse

7.1.1 Situationsanalyse

Die Situationsanalyse stellt den Beginn des Prozesses dar und leitet in den zirkulären Verlauf ein. Zudem ist diese – so wie alle anderen Phasen – nicht zeitlich eingrenz- oder gar kalkulierbar.Footnote 6 Die soziale Wirklichkeit ist höchst komplex und befindet sich in einem dynamischen Prozess, sodass eine genaue Abgrenzung unmöglich ist. Bei Betroffenen mit wenig Diskriminierungserfahrung gestaltet sich diese Phase unsicher. Bei den qualitativen Studien zu Jugendlichen mit Rassismus- und Diskriminierungserfahrung konnte bereits mehrfach belegt werden, dass der Deutungsrahmen und vor allem das Wissen über Rassismus nicht ausreichen, um Situationen entsprechend einzuordnen (vgl. z. B. Scharathow 2014, Karabulut 2020). Dadurch entsteht eine Handlungsunsicherheit. So können sich auch früh im Leben Situationen ergeben, die von den Betroffenen erst rückblickend eindeutig als diskriminierend gedeutet und interpretiert werden, da sie durch Erfahrung Wissen generieren konnten, das eine entsprechende Einordnung möglich macht. Am Beispiel eines Interviewausschnitts von Zara wird das deutlich:

„Es fing so Richtung Studium an, also wo das meiste ja dann halt schon abgearbeitet wurde und die ganzen Erfahrungen schon gesammelt wurden und äh, das halt eher so Alltagsdiskriminierung war und du das gar nicht wahrgenommen hast“ (Zara, 43–45).

Zara konnte biografisch einen Lebensabschnitt fixieren, in dem sie eine Veränderung festgestellt hatte, was die Auseinandersetzung mit Diskriminierungserfahrung betraf. Sie zählt die Studienzeit auf, die einen wissensvermittelnd geprägten Lebensabschnitt darstellt. Sie führt weiter aus, dass erst der Zugang zum Thema zu einer Neusortierung bzw. Bedeutungszuschreibung der Erfahrungen führte. Oben erwähnt sie, dass sie bis zu diesem Zeitpunkt zwar bereits Erfahrungen gesammelt hatte, diese jedoch nicht als Alltagsdiskriminierung wahrnahm. Dadurch wird hier der Zusammenhang zwischen Wissen über Rassismus und Diskriminierung und ihre Bedeutung deutlich. Auf die Frage, woran es liegen könnte, dass Zara sich früher – als Jugendliche – in Diskriminierungssituationen zurückhaltender verhalten hatte, antwortete sie zu einem späteren Zeitpunkt des Interviews:

„[A]lso mir war das nicht bewusst. Also mir war nicht bewusst, dass man Diskriminierungserfahrung machen kann. Mir war nicht bewusst, dass das nicht okay ist, was die gerade mit dir machen oder was sie dir gerade an den Kopf werfen“ (Zara, 382–384).

Zara beschreibt das fehlende Bewusstsein darüber, dass Diskriminierungserfahrungen überhaupt möglich sind, als Grund für ihr Verhalten. Wenn ein Bewusstsein hierzu nicht vorhanden ist, kann eine entsprechende Reaktion bzw. Verhaltensweise nicht erfolgen. Letztlich machte Zara Diskriminierungserfahrungen, konnte diese allerdings als solche nicht eindeutig einordnen, weil ihr der Deutungsrahmen fehlte. So wie Scharathow es bereits in ihrer Untersuchung darlegte, führt es bei Jugendlichen oftmals zu Irritationen und Verunsicherungen in diskriminierenden Situationen, da ihnen der Deutungsrahmen fehlt, um die Erfahrungen entsprechend einordnen zu können (vgl. Scharathow 2014: 416 ff.). Diese Feststellung scheint ebenfalls bei Zara abzuzeichnen. Der Zustand der Verunsicherung änderte sich mit der Zeit bei ihr, da Zara immer mehr (Diskriminierungs-)Erfahrung sammelte, dadurch Wissen generierte und erweiterte. In der Phase der Situationsanalyse wird eine Situation (erstmalig) als diskriminierend gedeutet und interpretiert, ohne dies zwangsläufig als solches zu bezeichnen. Innerhalb eines analytisch-ähnlichen Verfahrens wird dann der Handlungsaufbau erzeugt. Hierzu wird unter den Situationsbedingungen eine Handlungsauswahl getroffen, wobei das Phänomen der Schützenden Bewältigung im Fokus steht. Um diesen Ablauf genauer begreifen zu können, muss zunächst grundlegend der Begriff Situation geklärt werden. Situationen werden als selbstverständlich gegeben erachtet. Das Zusammenwirken mehrerer Faktoren in einer Situation wird von den Menschen nicht primär wahrgenommen. Lankenau zählt auf, wodurch Situationen bestimmt werden:

„Die räumliche Fixierung und zeitliche Dauer, die objektiven Bedingungen der Umwelt in materieller und sozialer Hinsicht, die Anzahl der beteiligten Individuen, die Art der sozialen Beziehungen dieser Individuen, ihre Rollen und gegenseitigen Rollenerwartungen, sowie die Persönlichkeitsstrukturen“ (Lankenau 1992: 266).

Die einzelnen Aspekte, die Lankenau aufzählt, konnte ich ebenfalls in meinen Daten wiederfinden. Hierfür erachte ich drei Kategorien als sinnvoll, die die kontextbeeinflussenden Faktoren thematisch differenzieren: (1) Soziale Bedingungen, (2) äußere Bedingungen und (3) subjektbezogene Bedingungen.Footnote 7 Die genannten Bedingungen lassen sich in ihren Merkmalen und Eigenschaften weiter unterteilen. Grundsätzlich ist zu sagen, dass anhand dieser Bedingungen die Handlungsmöglichkeiten identifiziert werden. Erst durch das Phänomen der Schützenden Bewältigung kommt es zu einer endgültigen Handlungsauswahl. Es ist wichtig zu betonen, dass eine wesentliche Grundannahme des Theoriemodells der Schützenden Bewältigung ist, den Erklärungszusammenhang nicht auf der Basis einer Typenzuschreibung zu bilden. Von einer Typologisierung, die Personen einer Kategorie zuschreibt, wird Abstand genommen. Die Vergleiche zwischen den Fällen, aber vor allem auch das Vergleichen innerhalb eines Falls deuteten darauf hin, dass die Befragten vielmehr anhand der Kontextbedingungen eine Handlungsauswahl treffen. Sicherlich spielen PersönlichkeitsmerkmaleFootnote 8 und anderes eine Rolle, diese werden jedoch in dieser Handlungstheorie sekundär betrachtet.

Um die Situationsanalyse als Phase vollständig begreifen zu können, werden im Folgenden die einzelnen Kategorien detaillierter beschrieben. Die Merkmale und Eigenschaften der jeweiligen Bedingungen werden dabei mithilfe von unterschiedlichen Beispielen in ihren Unterschieden dargestellt.

7.1.1.1 Soziale Bedingungen

In der ersten Kategorie der Situationsanalyse, die ich hier als soziale Bedingungen bezeichnet habe, liegt der Fokus auf der Person des Gegenübers. Wer diskriminiert hier eigentlich wen? In welchem Verhältnis steht der oder die Diskriminierende zur Diskriminierten? Dabei geht es sowohl um die soziale Rolle, die die Personen einnehmen, als auch um die Rollenerwartungen, die damit einhergehen. Das Konstrukt der sozialen Rolle, so postuliert Preyer, umfasst eine Vielzahl von Verhaltenserwartungen (vgl. Preyer 2012: 57). Eine Person nimmt nicht nur jeweils eine Rolle ein, sondern verschiedene, teilweise auch gleichzeitig. Eng verbunden mit der sozialen Rolle ist der soziale Status. Dieser „ist die Gesamtheit zugeschriebener Wertschätzungen eines Mitglieds eines sozialen Systems und die damit einhergehenden Bewertungen (Prestige)“ (ebd.: 71; Hervorhebung im Original). Wenn von Personen und sozialen Rollen die Rede ist, wird von einem sozialen System ausgegangen, in dem Rollenverteilungen und Rollenzuschreibungen durch ihre Mitglieder festgelegt werden (siehe hierzu auch Preyer 2012: 55–69). So hat die Gesellschaft andere Rollenerwartungen an eine Lehrkraft im Schulbetrieb als an eine Bedienung im Restaurant. Dabei ist der Kontext ausschlaggebend. Die Lehrkraft bleibt auch nach Schulschluss noch Lehrkraft, übt diese Rolle jedoch nicht aus. Dagegen nimmt sie etwa in der Freizeit eine andere Rolle ein, etwa als Kund*in in einem Einkaufszentrum. Personen wechseln also zwischen Rollen, und je nach Kontext werden an sie unterschiedliche Rollenerwartungen herangetragen. Sobald Personen selbst bzw. bewusst Rollen einnehmen, erwarten sie auch von ihrem Umfeld bestimmte – genauer: darauf abgestimmte – Verhaltensweisen. Die Lehrkraft erwartet von Schüler*innen einen anderen Umgang mit ihr als von ihrem Vorgesetzten. Rollenzuschreibungen können in Anlehnung an Preyers Vorüberlegungen meiner Ansicht nach (1) anhand äußerlicher Merkmale, wie z. B. das Tragen von Uniformen, erfolgen, sowie (2) durch Vorannahmen und Ressentiments bestimmt sein oder (3) trotz Rollendefinierung nicht anerkannt werden (vgl. Preyer 2012). Die bisherige Ausführung soll zunächst als Hintergrundinformation zu den Aspekten dienen, die gleich vorgestellt werden. Unter den sozialen Bedingungen differenziere ich zwischen drei Verhältnisdimensionen (1) Bekanntheitsverhältnis, (2) Professionsverhältnis und (3) Abhängigkeitsverhältnis. Alle drei Verhältnisse bestimmen erstens indirekt die Rollen der Diskriminierenden und zweitens die Beziehung, in der Diskriminierende zu den Diskriminierten stehen. Durch die Einordnung in die Verhältnisdimensionen sollen auch Machtgefüge sichtbar gemacht werden, die immer in Beziehungen zwischen Menschen entstehen und in den einzelnen Situationen verhandelt werden. Die Verhältnisse sind entweder gegeben (‚ja‘) oder nicht (‚nein‘). Nur beim Bekanntheitsverhältnis ist eine zusätzliche Einteilung in ‚bekannt‘ oder ‚unbekannt‘ vorzunehmen, sobald ein Bekanntheitsverhältnis gegeben ist (‚ja‘) (Tabelle 7.1).

Tabelle 7.1 Verhältnisdimensionen im Überblick

Mit jedem Verhältnis gehen Bedingungen einher, die den Handlungsaufbau der diskriminierten Person bestimmen. Dies ist ein komplexer Prozess, der durch die Einteilung in die verschiedenen Verhältnisse ein strukturiertes Verständnis der Handlungsauswahl der Diskriminierten bietet. Grundsätzlich ist eine situative Einordnung nur in jeweils eines der drei benannten Verhältnisse möglich. Die nähere Beschreibung der Verhältnisse mag im Folgenden verkürzt und reduziert wirken, ist aber notwendig, um einen ersten Erklärungsansatz vorzunehmen, wie der Handlungsaufbau von Diskriminierten erfolgt.

Bekanntheitsverhältnis

Das Bekanntheitsverhältnis legt fest, ob Diskriminierende und Diskriminierte sich kennen. Es macht einen Unterschied, ob eine unbekannte oder eine bekannte Person diskriminiert, so die Datengrundlage. Hinzu kommt, dass Personen, die sich kennen, eine Beziehung zueinander haben. Sozialen Beziehungen wird ein Sinngehalt zugeschrieben. Kopp fasst die soziale Beziehung unter Rückbezug auf Simmel und Wiese „als zwischenmenschliches Geschehen der Annäherung oder Distanzierung, der Vereinigung oder Trennung“ (Kopp 2018: 51) zusammen. Die Beziehung kann etwa kollegialer oder freundschaftlicher Natur sein, was wiederum die Reaktionsauswahl in diskriminierenden Situationen beeinflusst. Unter das Bekanntheitsverhältnis werden alle Personen gefasst, die in einem gleichgestellten Verhältnis aufeinandertreffen und in Interaktion treten. Dies kann an Orten wie dem Arbeitsplatz geschehen oder auch im öffentlichen Raum, wo Menschen zusammenkommen. Ausgeschlossen sind hierbei Beziehungen, in denen ein klares hierarchisches Machtgefälle besteht; diese werden in einer anderen Verhältnisdimension erfasst. Zu Bekanntheitsverhältnissen zählen primär die gleichbedeutenden Verhältnisse zwischen Menschen. Dies ist hier entweder gegeben (‚ja‘) oder nicht gegeben (‚nein‘). Sobald ein Bekanntheitsverhältnis vorliegt, kann noch die zusätzliche Einstufung vorgenommen werden, ob die Personen sich kennen (‚bekannt‘) oder nicht (‚unbekannt‘). Ist ein Bekanntheitsverhältnis ‚bekannt‘, besteht eine Beziehung zwischen den Parteien, die Einfluss auf die Reaktionsauswahl hat. Ist das Bekanntheitsverhältnis ‚unbekannt‘, kennen sich Diskriminierende und Diskriminierte nicht, was wiederum den Betroffenen andere Handlungsoptionen zur Verfügung stellt. Eine Einteilung in ‚bekannt‘ und ‚unbekannt‘ erfolgt erst, sobald ein Bekanntheitsverhältnis mit ‚ja‘ bewertet wurde. In beiden Fällen begegnen sich die Personen in einem vermeintlich gleichgestellten Kontext. Als vermeintlich gleichgestellte Kontexte fasse ich alle Begegnungsmöglichkeiten zusammen, in denen Menschen nach dem Gleichheitsprinzip gleiche Behandlung erwarten können sollten, ihnen dies jedoch aufgrund sozialer Phänomene nicht widerfahren. Als Beispiel kann ein Einkaufszentrum genannt werden. Beim Betreten des Einkaufszentrums wird grundsätzlich vorausgesetzt, dass alle Kund*innen gleichbehandelt werden. Wird aufgrund von äußerlichen Merkmalen und ohne Anlass eine bestimmte Personengruppe immer wieder des Diebstahls verdächtigt, wird eine Ungleichbehandlung sichtbar. Dabei erwartet auch die verdächtigte Personengruppe eine Gleichbehandlung in einem Einkaufszentrum. In diesen Situationen werden also soziale Phänomene und damit einhergehende Machtverhältnisse wirksam, sodass eine Gleichbehandlung ausbleibt. Wenn in Situationen das Gleichheitsprinzip suggeriert wird und trotzdem keine Gleichbehandlung erfolgt, während die Personen Gleichbehandlung erwarten, bezeichne ich dies hier als vermeintlich gleichgestellten Kontext. Diese Kontexte beziehen sich vorerst auf Situationen, in denen keine Abhängigkeiten oder starke Hierarchisierungen vorzufinden sind. Einen Begegnungsraum, in denen keine Ungleichheitsverhältnisse hineinwirken, gibt es nicht.Footnote 9 Das hier beschriebene Theoriemodell befasst sich mit diskriminierenden Verhältnissen, wodurch Ungleichheiten reproduziert werden. Da Ungleichheiten immer etwas mit Macht zu tun haben, gewinnt die Machtkomponente in meinem Theoriemodell eine besondere Bedeutung.

Um die kontextspezifischen Unterschiede detaillierter beschreiben zu können, greife ich auf das Interview mit Malika zurück. Malika ist Ende 30, trägt eine religiöse Kopfbedeckung und arbeitete bereits in unterschiedlichen Handlungsfeldern der Sozialen Arbeit. Sie erzählte mir von einer ihrer Diskriminierungserfahrungen am Arbeitsplatz. Ihre Aufgabe war es, ein Schreiben von einer Kollegin entgegenzunehmen und zum Einholen einer Unterschrift einer weiteren Kollegin zu überbringen. Malika stand im Büro der Kollegin, die das Schreiben aushändigen wollte. Diese telefonierte mit der anderen Kollegin und kündigte Malika wie folgt an:

„Man steht da und dann sagt sie zu der Kollegin: ‚Ja, hör mal zu. Ja, da kommt jetzt gleich eine Frau, die hat eine Decke aufʼm Kopp und die holt dir das dann und dann kannst du das unterschreiben.‘ Und du stehst dann da und denkst dir nur so: ‚What? (lacht). Was hat Sie gesagt? (lacht). Decke aufʼm Kopp? Das ist ja der Hammer‘“ (Malika, 218–222).

Durch die Offenlegung ihrer Gedankengänge ist zu erkennen, dass Malika offensichtlich über die Situation schockiert ist. Malika steht zu der Diskriminierenden in einem kollegialen Verhältnis, das eine soziale Beziehung der Nähe beschreibt. Sie sind sich nicht fremd und treten regelmäßig in Kontakt. Mit den Worten des Theoriemodells umschrieben liegt ein Bekanntheitsverhältnis vor (‚ja‘), wobei sich die Parteien kennen (‚bekannt‘). Es ist grundsätzlich davon auszugehen, dass sich Kolleg*innen untereinander beim Namen kennen. Es bestünde auch die Möglichkeit, Malika unmittelbar nach ihrem Namen zu fragen, falls dieser der Kollegin zu dem Zeitpunkt nicht bekannt sein sollte. Aus einer weiteren Stelle des Interviews, die weiter unten aufgeführt wird, ist herauszulesen, dass die Kollegin Malika sehr wohl beim Namen kannte. Obwohl Malika danebensteht, wird sie in die Interaktion der Kolleginnen nicht aktiv miteinbezogen. Stattdessen wird über sie in der dritten Person gesprochen. In der Beschreibung der Kollegin wird Malika auf ihr Äußeres reduziert: Durch die Fixierung auf ihr Kopftuch wird Malika nicht als Individuum und schon gar nicht als Kollegin adressiert. Darüber hinaus wählt die Kollegin die Umschreibung „Decke auf’m Kopp“ und sieht von einer angemessenen Bezeichnung wie Kopftuch oder Hijab ab. Dieser konstruierende Vorgang kann so verstanden werden, dass die Kollegin sich mit dem Kopftuchtragen und der religiösen Bekleidung unter Umständen nicht auskannte. Das sich Nicht-Auskennen ist jedoch unwahrscheinlich (und weiterhin auch kein Legitimierungsgrund), da die Auswahl der Beschreibung eine bewusste Adressierung intendiert. Diese Annahme wurde im weiteren Verlauf des Interviews bestätigt, als Malika mit der Kollegin in eine Diskussion trat. Dabei zeigte sich die Kollegin einsichtslos für die Kritik an ihrem Verhalten und fühlte sich in ihrer Sprachfreiheit eingeschränkt. Malika zitierte die Kollegin wie folgt: „‚Ja (seufzt), also mittlerweile muss man ja schon vorsichtig sein, mit dem, was man sagt.‘“ (Malika, 294 f.). Die Benennungspraktiken der Kollegin deuten auf Othering-Prozesse hin, wobei das Kopftuch als Markierungs- und Determinierungskriterium fungiert. Aus einer postkolonialen Perspektive postuliert Barskanmaz, dass „[ü]ber den Körper der Frau [.] die Machtkonstellation zwischen dem Westen und dem Islam verhandelt [wird]“ (Barskanmaz 2009: 372). Dabei wird das Kopftuch von der Dominanzkultur als eine sichtbare Ablehnung demokratischer Werte gedeutet, sodass es zu einer Abstrahierung der individuellen Trägerin kommt (vgl. ebd.: 373). Inzwischen gibt es jedoch zahlreiche Untersuchungen dazu, wie vielfältig die Lebensentwürfe kopftuchtragender Frauen sind und welche Handlungspraktiken damit einhergehen (vgl. Amir-Moazami 2007). Auch wenn in der hier beschriebenen Situation keine direkte Artikulation der Absichten der Kollegin erfolgt, sind es oftmals unterschwellige Bedürfnisse und Interessen, die indirekt durch Othering-Praktiken der Menschen zum Vorschein kommen. Allein die Tatsache, dass das Kopftuch fixiert und zum Gegenstand einer Konversation bzw. der unnötigen Beschreibung von Malika als Person (statt etwa einer neutralen Namensnennung) gemacht wird, zeigt die situative Unverhältnismäßigkeit. Ähnliche Beobachtungen sind in diskursiven Ereignissen zu verzeichnen, wenn es um die sogenannte Kopftuchdebatte geht. So wird auch in diesem diskursiven Verlauf, wo Musliminnen Bestandteil der Debatte sind, wenig mit ihnen zusammen verhandelt, sondern vielmehr über sie (vgl. Monjezi Brown 2009: 437).

Welche Rolle die kollegiale Beziehung und der professionelle Kontext für Malika an dieser Stelle spielen, macht sie in den darauffolgenden Zeilen deutlich:

„Wenn mir das auf der Straße passiert wäre, ist nochmal ein anderer Kontext, aber wir sind hier auf Augenhöhe. Wir sind Kolleg*innen und wir sind alle aus der Sozialen Arbeit und das weißt du. Ne, also ich melde das dann auch sehr gerne zurück, weil ich meine, wenn man schon mit mir als professionelle Fachkraft so umgeht, möchte ich nicht wissen, was für Machtasymmetrien in der Klient*innenarbeit […] äh auftauchen“ (Malika, 224–228).

An der Sprachauswahl von Malika ist zu erkennen, dass dahinter eine tiefergehende Auseinandersetzung mit Themen wie Ungleichheit steht. Dies wird auch an weiteren Stellen im Interview deutlich. Malika zieht ein Kontrastbeispiel hinzu und sagt, dass es eine andere Bedeutung für sie hätte, wenn die gleiche Situation sich auf der Straße zugetragen hätte. Hier wird noch einmal deutlich, dass es letztendlich auf die Kontextualisierung der Situation ankommt, die die Bedeutungszuschreibung und Handlungsauswahl bestimmen. Mit „Straße“ beschreibt Malika hier den öffentlichen Raum, in dem sich Menschen frei bewegen, Begegnungen zufällig oder geplant verlaufen, eine gewisse Anonymität zwischen den Menschen herrschen kann und damit die Beziehung zwischen ihnen eine unverbindliche ist. Dies ist insbesondere daran festzumachen, dass Malika betont, die Diskriminierende und sie seien Kolleg*innen. Damit deutet sie auf die kollegiale Beziehung hin, die eine andere ist als zu einem unbekannten Menschen auf der Straße. Neben dem Kontext spielt hier auch die Beziehung zu einer Person eine entscheidende Rolle. Malika beschreibt das Verhältnis zu ihrer Kollegin als gleichgestellt, indem sie sagt, „wir sind hier auf Augenhöhe“. Aus dieser Aussage werden die Bedürfnisse nach Gleichstellung bzw. Gleichbehandlung deutlich.

Sowohl die Beschreibung von Malika in der dritten Person trotz ihrer Anwesenheit als auch die Reduzierung ihrer Person auf das Kopftuchtragen in einem professionellen Kontext weisen darauf hin, dass kein gleichgestellter Umgang mit Malika erfolgt. Dadurch, dass sie sich als Kolleginnen im Feld der Sozialen Arbeit verortet, möchte Malika erneut das Ausmaß der Unangemessenheit in der Situation unterstreichen. Fachkräfte der Sozialen Arbeit setzen sich schließlich mit Themen wie Diskriminierung fachlich auseinander und haben sich zum Ziel gesetzt, Unrechtserfahrungen durch den sozialarbeiterischen Auftrag entgegenzutreten. Wie kann es also sein, dass es zu einer diskriminierenden Situation zwischen zwei Kolleginnen ausgerechnet im Bereich der Sozialen Arbeit kommt? Wenn etwa Rassismus nach Rommelspacher als ein System verstanden wird (vgl. Rommelspacher 2011: 29), sind somit alle Lebensbereiche der Menschen in einer Gesellschaft angesprochen, in denen rassistische Verhältnisse wirkmächtig werden können. Auch Sozialarbeitende bewegen sich in rassistischen Strukturen, reproduzieren diese (vgl. Logeswaran 2021: 14; Schramkowski/Ihring 2018) und stehen in der Verantwortung, „Machtprozesse ständig [zu hinterfragen] und dabei eigene Positionierungen im Kontext machtvoller Ein- und Ausschlüsse stetig [zu reflektieren]“ (Textor/Anlaş 2018: 318), selbst dann, wenn sie sich es zum Ziel gesetzt haben, gegen Ungleichheitsformen vorzugehen. Eine eigene Zielsetzung der Bekämpfung dieser befreit sie noch lange nicht davon, eigene Ungleichheiten zu reproduzieren.

Das Entsetzen der Interviewpartnerin lässt vermuten, dass sie in ihrem beruflichen Kontext am wenigsten erwartet hatte, durch ihre Kollegin diskriminiert zu werden. Zudem wusste Malika, dass ich als Interviewerin eine sozialarbeiterische Ausbildung habe und führt daher wahrscheinlich den Satz, „Wir sind Kolleg*innen und wir sind alle aus der Sozialen Arbeit“, nicht näher aus. Vermutlich setzt sie ein gemeinsam geteiltes Wissen voraus. Helfferich betont, dass in Interviewgesprächen ein gemeinsamer Hintergrund zum einen vertrauensfördernd sein kann. Zum anderen hat dieser auch nachteilige Auswirkungen in der Erzählung, da stets eine Selbstverständlichkeit vorausgesetzt wird. Wichtige Interviewkontexte werden nicht zum Ausdruck gebracht und finden somit als Textform keinen Eingang in das Datenmaterial (vgl. Helfferich 2011: 126). Außerdem werden mit der Profession der Sozialen Arbeit Werte wie Gleichstellung und Toleranz assoziiert, sodass bei einer Abweichung das Entsetzen darüber umso größer ist. Deshalb kann vermutet werden, dass auch ohne sozialarbeiterische Ausbildung von mir als Interviewerin keine nähere Ausführung erfolgt wäre. Um dies endgültig beurteilen zu können, fehlen weitere notwendige Kontextinformationen.

Eine weitere interessante Stelle ist auch die, an der sie ihre eigene Betroffenheit in der Rolle als Kollegin auf die Ebene der Klientel transferiert. Malika macht sich an dieser Stelle folgende Gedanken: Wenn die hier beschriebene Kollegin mit ihr als kollegiale Fachkraft bereits diskriminierend umgeht, inwieweit spiegeln sich ähnliche oder unter Umständen schwerwiegendere Verhaltensweisen im Umgang mit der Klientel wider? Diesen Aspekt wählt Malika zunächst auch als Begründung dafür, ob und wie sie auf solche diskriminierenden Situationen zwischen Kolleg*innen reagiert. Im Fokus ihrer Handlungsauswahl stehen laut ihrer Aussage Klient*innen, also andere Personen. An dieser Stelle muss auch erwähnt werden, dass sie durch ihre Reaktion ebenfalls sich selbst schützen wollte und aufgrund von Interview-Effekten mir gegenüber sich als selbstlose und vor allem vorbildliche Sozialarbeiterin beschreibt. Nichtsdestotrotz wird durch die Rekonstruktion deutlich, dass sie jemanden schützen wollte, wobei das Phänomen der Schützenden Bewältigung sichtbar wird. Es kann also auch Situationen geben, wo mehrere Dinge gleichzeitig geschützt werden sollen. Wie bereits eingangs beschrieben wurde, liegt die Definitionsmacht darüber, welcher der Dinge geschützt und wie Schutz grundsätzlich gedeutet und interpretiert wird, ausschließlich beim Betroffenen. Dennoch überwiegt in der Regel die Absicht, ein bestimmtes Ding besonders schützen zu wollen. Für die weitere Analyse ist es daher von sekundärer Bedeutung, ob sie tatsächlich die Klientel oder sich selbst schützen wollte. Gleich werde ich darlegen, weshalb ich der Ansicht bin, dass trotzdem Malika primär sich selbst schützen wollte. Dies ist jedoch nur eine Möglichkeit der Interpretationsauslegung.

An verschiedenen Stellen wurde bereits mehrfach auf das vermeintlich gleichgestellte kollegiale Verhältnis eingegangen, das durch das Handeln der Diskriminierenden zu einem asymmetrischen Verhältnis wird. Um noch einmal den Standpunkt der bisherigen Argumentation zu festigen, möchte ich auf die Rollenerwartung zu sprechen kommen. Malika erwartet von ihrer Kollegin, dass diese sie als eine gleichgestellte Kollegin anerkennt und auch als solche gegenüber anderen adressiert. Im mitgehörten Gespräch am Telefon wird deutlich, wie die Kollegin Malika wahrnimmt und welche Fremdzuschreibungen sie vornimmt. Würde Malika das Verhalten der Kollegin nicht kritisch anmerken, käme es zu keiner Rollenaushandlung. Malika konnte erst durch ihre Reaktion die Rollenerwartung, die sie an ihre Kollegin hat, offenlegen. In den darauffolgenden Interaktionen wurden die Rollenzuschreibungen, aber auch Rollenerwartungen neu sortiert und verhandelt. Hinzu kommt die Annahme, dass der Prozess der Fremdzuschreibung, die die Kollegin vornahm, unterbrochen wird, indem Malika sich dazu positioniert und diese zurückweist. Die Kollegin ist angehalten, ihr Verhalten unter den von Malika aufgeführten Gesichtspunkten zu überdenken und neu auszurichten.

Des Weiteren handelt es sich hier um Machtpraktiken, die ausgeübt werden. Während die Kollegin versucht zu bestimmen, wie Malika beschrieben wird, und festlegt, was sie als Person ausmacht, nimmt Malika eine oppositionelle Haltung ein, um das asymmetrische Verhältnis zwischen ihnen zu regulieren. Dieser Prozess erfolgt nur, weil sie die Fremdzuschreibungen von sich weist und immer wieder betont, als Individuum wahrgenommen werden zu wollen, ohne auf das Kopftuch reduziert zu werden.Footnote 10 Ich möchte hier erneut auf die Dinge der Schützenden Bewältigung eingehen, die für Malika in dieser Situation relevant erscheinen. An verschiedenen Stellen des Interviews betont sie, dass sie eine Verantwortung gegenüber der Klientel trägt, weshalb sie immer wieder in Situationen eingreift, wo Kolleg*innen sie diskriminieren, um soziale Folgen, die durch ähnliche Behandlung für Klient*innen entstehen könnten, abzuschwächen. Als Interviewerin nahm ich primär die Gesprächssituation so wahr, dass sie über die selbstlose Positionierung ihr Handeln zu legitimieren versucht. Gleichzeitig beschreibt sie sich dadurch als eine gute Sozialarbeiterin. Aufgrund des Interviewsettings war es ihr vermutlich von großer Wichtigkeit, dass ich als Interviewerin mit einem sozialarbeiterischen Hintergrund, die zudem Fachkräfte aus der Sozialen Arbeit in einem Forschungskontext befragt, sie als eine gute Sozialarbeiterin wahrnehme. Im Vergleich zu den anderen Interviewten trat bei Malika der Anerkennungsbedarf am stärksten auf. Um eine einseitige Deutung zu vermeiden, wurde dieser Interviewausschnitt einer Gruppeninterpretation unterzogen, die mich in meiner Annahme zwar bestätigte, aber auch um Perspektiven erweiterte, die ich zunächst nicht sah: Erstens spielt es eine wichtige Rolle, wer zum Zeitpunkt der Diskriminierung anwesend ist und wer nicht. Die Klientel ist zum Zeitpunkt der diskriminierenden Handlung nicht anwesend. Die Anwesenheit hätte ggf. zu einer Prioritätsverschiebung geführt, sodass die zu schützenden Dinge neu bewertet worden wären. Das Bedingungsset wäre ein anderes gewesen, was die Handlungsauswahl beeinflusst hätte. Hinzu kommt – zweitens –, dass es trotz aller zusätzlichen Erwägungen in erster Linie um Malika geht. Sie ist die diskriminierte Person in der hier beschriebenen Situation. Es kann allerdings auch sein, dass der Bezug zur Klientel erst im Interviewgespräch mit mir vorgenommen wird, da Interviewsituationen zugleich auch Reflexionsprozesse darstellen, in denen sich die Befragten gedanklich mit den Situationen auf eine besondere Art befassen. Drittens berichtet sie zunächst über den Kontext und dessen Bedeutung für sie, bevor sie die Verbindung zur Klientel herstellt. Erst danach schreibt sie der Klientel einen Sinngehalt zu und zieht sie als Legitimation für ihre Reaktion hinzu. Auf die Frage, wie sie letztendlich reagiert hat, wird der hier angeführte Punkt – nämlich, dass sie im Grunde genommen im Mittelpunkt der Schützenden Bewältigung steht – eindeutiger:

„Ja, also ich habe auf jeden Fall das Gespräch mit der Kollegin gesucht und habe gesagt: ‚Also mal jetzt mal abgesehen davon, dass du mich jetzt so bezeichnet hast, wie du bezeichnest, das geht so nicht. Und das ist A keine Decke und B, warum kannst du nicht einfach meinen Namen nennen? Also warum musst du mich anhand von Äußerlichkeiten, augenscheinlich an wahrgenommenen Äußerlichkeiten, musst du beschreiben, aber warum reduzierst du mich dann bitteschön auf mein Kopftuch? Also was tut das denn zur Sache?‘“ (Malika, 255–260).

Obwohl die Kollegin Malikas Namen kannte, entschied sie sich bewusst für eine nicht personalisierte Art der Beschreibung ihrer eigenen Kollegin. Während Malika ihren Standpunkt als Betroffene ihrer Kollegin gegenüber deutlich macht und diese Situation rekonstruierend erzählerisch wiedergibt, kommt jedoch im Gespräch die Verantwortung gegenüber der Klientel nicht zur Sprache. Dies könnte ein Indiz dafür sein, dass sie im Kontext der Schützenden Bewältigung sich selbst schützen wollte und die Verantwortung der Klientel gegenüber als eine weitere Rechtfertigungsgrundlage hinzuzog. So kann die Äußerung, wen sie hier schützen wollte, von dem tatsächlich zu schützendem Ding abweichen. Es handelt sich hierbei nicht eigentlich um eine Prioritätsverschiebung, sondern vielmehr um eine Legitimierungsstrategie der Befragten für ihr Handeln. Dieses Phänomen entstand wahrscheinlich als Folge des empfundenen sozialen Drucks, der im Interview zum Tragen kam.

Anhand von Malikas Diskriminierungserfahrung am Arbeitsplatz konnte nun beschrieben werden, welche Umstände Einfluss auf die diskriminierende Situation haben, sobald ein Bekanntheitsverhältnis – hier das kollegiale Verhältnis – gegeben (‚ja‘/‚bekannt‘) ist. Um ein gegensätzliches Beispiel anzuführen, wähle ich einen Interviewausschnitt von der bereits vorgestellten Afra, die von einer Begegnung schilderte, deren Bekanntheitsverhältnis als ‚unbekannt‘ eingeordnet werden kann. Es bezieht sich auf eine zufällige Begegnung auf der Straße, von der eingangs berichtet wurde, als es um die Schützende Bewältigung im Dabeisein der Kinder ging. Als kopftuchtragende Frau ist sie im öffentlichen Raum als Muslimin sichtbar. Das Muslimisch-Sein wird mit Stereotypen verbunden, was folgende Handlungen nach sich zieht:

„[A]uf der Straße läufst du und zack, eine fängt an, zu reden mit sich selbst und sagt: ‚Terroristen scheiße‘ und so weiter und spuckt direkt auf den Boden. Das ist auf DICH spucken eigentlich, ne? Und spuckt direkt auf den Boden und dann, äh, erst mal, erwartest du so etwas nicht, ne? Weil, du kennst diese Person überhaupt nicht, der kennt dich überhaupt nicht“ (Afra, 236–240).

In der Erzählung beschreibt Afra die Begegnung als unerwartet und ist daher umso mehr überrascht von dem Vorfall. Insbesondere durch die Hervorhebung der Tatsache, dass Diskriminierende und Diskriminierte sich nicht kennen, möchte Afra zum Ausdruck bringen, dass die geschilderte Situation für sie nicht nachvollziehbar ist. Sie schreibt dem Spucken auf den Boden eine despektierliche Bedeutung zu, womit sie den verachtenden Umgang mit ihr als Person unterstreicht. Ihre Reaktion darauf war – solange keine Kinder dabei sind – abwehrend zu antworten und auf das Gesagte zu reagieren. Ihre Handlungsauswahl hier unterscheidet sich ebenfalls von ihrem Erlebnis mit dem beschimpfenden Mann im Fahrstuhl. Die hier ausgewählte Reaktion ist aus zwei Annahmen heraus möglich: Erstens ist Afra im Gegensatz zu der Fahrstuhlsituation nicht in einem geschlossenen Raum. Dort konnte sie weitere Übergriffe nicht ausschließen, weshalb sie sich angesichts der Unmöglichkeit eines Ausweichens zurückhaltender verhielt. Die beengten Räumlichkeiten schränkten Afra also in ihrer Handlungsmöglichkeit ein. Dem gegenüber hätte sie auf der Straße die Möglichkeit, sich aus der Situation wegzubewegen. Unter Umständen gibt es zudem in einem öffentlichen Raum wie der Straße weitere Passant*innen, die das Verhalten beider Beteiligten beeinflussen. Dies führt zu meiner zweiten Annahme, dass Afra durch den weitläufigen RaumFootnote 11 und die Beobachtungsmöglichkeit durch weitere Passant*innen mehr Handlungsfreiheit für sich sah und deshalb mit Widerspruch reagierte. Die diskriminierende Person könnte sich dagegen eher beobachtet fühlen, sodass weitere Übergriffe unwahrscheinlich(er) sind. Das Spucken stellt bereits ein grenzüberschreitendes Verhalten dar, welches als Übergriff interpretiert werden kann. Hinzu kommt, dass ihr Gegenüber nun einmal eine unbekannte Person ist, sodass Beziehungsarbeit an dieser Stelle keine Relevanz erhält, wie es bei Malika und ihrer Kollegin der Fall war. Darüber hinaus würde Afra wahrscheinlich die beschimpfende Person nicht erneut treffen. Im Gegensatz dazu muss Malika die Kollegin weiterhin in ihrem beruflichen Alltag wiedersehen und mit ihr zusammenarbeiten, wodurch die Reaktionsauswahl ebenfalls beeinflusst wird.

Das Bekanntheitsverhältnis steht somit auch mit der Schützenden Bewältigung in einer wechselwirkenden Beziehung. Während kurze und zufällige Begegnungen andere Möglichkeiten für die Schützende Bewältigung eröffnen, sind die Handlungsmöglichkeiten bei einem ‚bekannten‘ Bekanntheitsverhältnis beschränkt. Hier haben sowohl soziale Beziehungen als auch soziale Rollen und ihre Erwartungen an solche eine zentrale Bedeutung. Zusammenfassend kann gesagt werden, dass Bekanntheitsverhältnisse in vermeintlich gleichgestellten Kontexten wiederzufinden sind. Erst wenn ein Bekanntheitsverhältnis als Dimension vorliegt, kann eine zusätzliche Einteilung in ‚bekannt‘ oder ‚unbekannt‘ vorgenommen werden. Außer dem Bekanntheitsverhältnis gibt es noch zwei weitere Verhältnisdimensionen, die in den Daten ausfindig gemacht werden konnten. Diese generieren je andere Bedingungen, sodass die Handlungsauswahl der Betroffenen auf eine besondere Art beeinflusst wird.

Professionsverhältnis

Das Professionsverhältnis beschreibt die zweite Verhältnisdimension in meinem Theoriemodell, die unter den sozialen Bedingungen aufgelistet wird. Die Auswahl der Bezeichnung ist nicht willkürlich, sondern hängt eng mit einem sozialarbeiterischen Verständnis zusammen. Zunächst einmal ist zu klären, was unter dem Begriff zu verstehen ist: Unter Professionsverhältnis werden jegliche Beziehungen zwischen Diskriminierenden und Diskriminierten verstanden, die eine professionelle Beziehungsebene aufweisen. Ausgenommen sind die kollegialen Beziehungen, die bereits unter der Verhältnisdimension Bekanntheitsverhältnis aufgeführt wurden. Primär fallen unter Professionsverhältnis Beziehungen zwischen Klientel und Sozialarbeitenden. Inwieweit unterscheidet sich die Beziehung zwischen Kolleg*innen und Adressat*innen? Eine Möglichkeit der Unterscheidung liegt im Nähe-Distanz-Verhältnis. Hans Thiersch, der das Konzept der Lebensweltorientierung prägte, diskutiert die Frage von Nähe und Distanz sowohl im Umgang mit den Adressat*innen aus der Sozialen Arbeit als auch unter ihren Kolleg*innen (vgl. Thiersch 2019: 42). Nur weil Thiersch die Beziehungen zusammen denkt, bedeutet dies nicht, dass er sie auch gleichsetzt. Thiersch ist der Ansicht, dass Nähe und Distanz nicht nur die Rolle der Personen definiert: „Unterschiedliche Gemengelagen von Nähe und Distanz bestimmen aber nicht nur das Profil der Rollen neben- und gegeneinander, sondern auch das Gefüge einer Rolle in sich“ (Thiersch 2019: 44). Das Verhältnis von Nähe und Distanz zu der Klientel ist anders gelagert als zum Kollegium, weshalb nach meinem Theoriemodell der Schützenden Bewältigung auch eine andere Reaktionsauswahl der Betroffenen erfolgt. So wie beim Bekanntheitsverhältnis ist entweder ein Professionsverhältnis gegeben (‚ja‘) oder nicht gegeben (‚nein‘).

Ein Beispiel: Hamide ist 42 Jahre alt, trägt keine religiöse Bekleidung und ist in Deutschland geboren. Das Geburtsland ihrer Eltern ist die Türkei. Außerdem hat sie einen türkisch klingenden Namen. Während einer psychosozialen Beratung in einem Krankenhaus erlebte sie eine Diskriminierungserfahrung mit ihrem Klienten. Während des Beratungsgesprächs fragte sie der Klient plötzlich, ob Hamide ihren Ehemann selbst aussuchen durfte. Auf die Frage von Hamide, wie er darauf käme, diese Frage zu stellen, antwortete er, dass TürkenFootnote 12 ihre Ehemänner doch nicht selbst aussuchen dürften (Hamide, 90–91). Bevor auf die Reaktion von Hamide eingegangen wird, soll die hier beschriebene Situation zunächst aus einer intersektionalen Perspektive betrachtet werden. In dieser Situation sind mehrere Othering-Prozesse zu erkennen. Beispielsweise wurde mit der Bezeichnung ‚Türken‘ eine kollektive Zugehörigkeit benannt, womit zusammenhängend homogenisierende und pauschalisierende Zuschreibungen festzustellen sind. Eine wesentliche Eigenschaft von Othering-Prozessen ist, dass die Eigengruppe beschrieben wird, indem man primär über die ‚Anderen‘ spricht (vgl. Leiprecht 2018: 211). Im genannten Beispiel ist tatsächlich durch die Adressierung von ‚Türken‘ eine Grenzziehung nach dem ‚Wir‘– ‚Ihr‘-Prinzip zu erkennen, ohne dabei die Eigengruppe (‚Wir‘) explizit zu benennen. Carl-Friedrich Graumann und Margret Wintermantel entwickelten ein Analyseschema, um soziale Diskriminierung in ihren Funktionen erschließen zu können. Sie nennen dabei folgende Funktionen, die anhand ihrer Bezeichnung schon erahnen lassen, was damit gemeint ist (vgl. Graumann/Wintermantel 2007: 157–160):

  1. (1)

    Trennen: Differenzlinien zwischen der Eigen- und Fremdgruppe werden gezogen. Für gewöhnlich geschieht das auf der Grundlage des ‚Wir‘– ‚Sie‘-Prinzips.

  2. (2)

    Distanzieren: Mithilfe der Semantik wird ein sozialer Abstand zwischen der Eigen- und Fremdgruppe markiert.

  3. (3)

    Akzentuieren: Hier werden (vermeintliche) Unterschiede beider Gruppen hervorgehoben.

  4. (4)

    Abwerten: Die Eigengruppe wird aufgewertet, indem die Fremdgruppe abgewertet wird.

  5. (5)

    Festschreiben: Person(en) werden nicht in ihrer Individualität erkannt. Ihr Verhalten wird auf der Grundlage einer Gruppenzugehörigkeit erklärt.

Die hier aufgeführten Funktionen sozialer Diskriminierung nach dem Analyseschema der Autor*innen sind in dem Beratungsgespräch von Hamide mit ihrem Klienten wiederzuerkennen. Hamide wurde einer Fremdgruppe (‚Türken‘) zugeschrieben und als ‚Andere‘ im Gegensatz zu ihrem Klienten konstruiert. Hier laufen die Funktionen Trennen, Distanzieren und Festschreiben zusammen. Der Klient akzentuiert die Eigen- und Fremdgruppe dadurch, dass ‚Türken‘ ihre Ehemänner nicht frei wählen dürften. Dabei wirken patriarchische und gleichstellungrelevante Themen als abwertende Zuschreibungen der Fremdgruppe hinein. In dem hier beschriebenen Fall verschränken sich mehrere DifferenzlinienFootnote 13 ineinander und werden in der diskriminierenden Situation wirkmächtig. Neben der Kategorie der Ethnizität ist auch die geschlechtliche Differenzlinie zu erkennen. Es wird zwischen handelnden männlichen und handlungseingeschränkten weiblichen Subjekten unterschieden. Dabei wird das System der Zweigeschlechtlichkeit auf interaktionaler Ebene reproduziert. Der Klient nimmt Hamide als eine Frau wahr und setzt voraus, dass sie mit einem Mann liiert ist. Es ist davon auszugehen, dass die Wahrnehmung des Klienten zweigeschlechtlich strukturiert ist und durch seine Frage reproduziert er diese zweigeschlechtliche Differenz. Im Rahmen des doing genderFootnote 14-Konzepts nach West/Zimmermann (1987) fassen die Autor*innen Geschlecht als ein sozial konstruiertes Produkt auf, das in Herstellungsprozessen immer wieder erzeugt wird. Sie nehmen an, dass in jeder menschlichen Aktivität der benannte soziale Prozess sich vollzieht (vgl. Gildemeister 2010: 137). Damit eng verschränkt ist die Kategorie der Sexualität. In dieser Situation wird offensichtlich von einer HeteronormativitätsvorstellungFootnote 15 ausgegangen, da der Klient ohne weitere Hintergrundinformation voraussetzt, dass Hamide heterosexuell und mit einem Mann verheiratet ist. Diese Annahme basiert auf einer binär gedachten Geschlechterordnung. In der Aussage des Klienten werden die Denkstrukturen und die soziale Wirklichkeit, wie er sie wahrnimmt, sichtbar. In ihr ist die hegemoniale Ordnung von Sexualität und Geschlecht prägnant wiederzuerkennen. Dabei spielt es keine Rolle, ob Hamide sich selbst wirklich als heterosexuelle, weibliche Person versteht, sondern die Tatsache, dass diese Werte als eine vermeintliche Norm reproduziert werden.

Ohne sich in Einzelheiten zu verlieren und bereits ausgearbeitete Ansatzpunkte mehrfach zu wiederholen, sollte anhand der Beratungssituation nur verdeutlicht werden, welche verschiedenen Differenzlinien in einem punktuellen Kontext wirkmächtig werden können. Eine intersektionale Perspektive auf Situationen gibt über die unterschiedlichen Dominanzverhältnisse Aufschluss. Damit möchte ich den kurzen Exkurs an dieser Stelle zu Ende führen, ohne ihre Wichtigkeit zu relativieren. Auf eine intersektionale Perspektive wird in Abschnitt 7.3 gesondert eingegangen.

Zum Zeitpunkt des Interviews interessierte mich insbesondere, wie Hamide mit der hier beschriebenen Situation umgegangen ist, weswegen ich durch das Nachfragen eine Explikation einforderte:

„I: Was haben Sie in dem Gespräch genau gemacht? Also wie haben Sie reagiert?

A: Ich war erst erschrocken, habe ihn dann so angeguckt: ‚Wie kommen Sie denn auf diese Frage?‘. Ich wollte ihn auch nicht bloßstellen. Das war für mich auch nochmal wichtig. Er war ja als Patient bei mir. Und, äh, dann habe ich eine humorvolle Antwort ihm gegeben. Ich habe gesagt: ‚Meine Eltern waren großzügig. Ich durfte meinen Mann selber aussuchen.‘ Und mussten wir dann beide lachen“ (Hamide, 95–101).

Auf die Reaktionsfrage, wie Hamide sich verhalten habe, antwortet sie vorab mit ihrer emotionalen Reaktion in der Situation: Sie war erschrocken. Dieser Zustand lässt darauf schließen, dass sie solch eine Frage in diesem Kontext nicht erwartet hatte. Sie reagiert mit einer Gegenfrage und will wissen, was den Klienten dazu verleitet, diese Frage zu stellen. Offensichtlich berührt die Frage für Hamide einen sensiblen Aspekt. Ihre Reaktion mit der Gegenfrage begründet sie mit der Absicht, den Klienten nicht bloßstellen zu wollen. Hier wird das Phänomen der Schützenden Bewältigung beobachtbar: Dadurch, dass sie dem Nicht-Bloßstellen eine Wichtigkeit zuschreibt und diese Bedeutungszuschreibung damit begründet, dass der Diskriminierende ihr Patient sei, möchte sie die Beziehung zu ihm, die unter immaterielle Dinge subsummiert werden kann, schützen. Interessant wäre zu wissen, wie sie auf diese Situation reagiert hätte, wenn kein Professionsverhältnis gegeben wäre und sie den Diskriminierenden nicht gekannt hätte. Hätte sie dann die Person bloßgestellt? Hätte sie anders reagiert? Bekannt ist, dass sie auf die gegebene Situation ihrer Ansicht nach mit einer humorvollen Antwort reagiert hat. Auf diese Weise war es ihr gelungen, die Situation zu entschärfen. Das ist daran festzumachen, dass sowohl der Klient als Diskriminierender als auch Hamide als Diskriminierte anfingen, gemeinsam zu lachen. Hamide führte aus, dass sie dann in einem zweiten Schritt dem Klienten erläuterte, wie sie und ihre Freundinnen ihre Ehemänner tatsächlich kennenlernten. An dieser Stelle ist zu beobachten, wie der Klient Hamide in eine Position gedrängt hatte, in der sie ihre persönlichen Erfahrungen offenlegen sollte. Hamide nimmt also die ihr zugewiesene Position an und erläutert daher auch die Erfahrungen aus ihrem Umfeld. Es hat den Anschein, dass sie dem fremdzugeschriebenen Bild – Türken dürfen ihre Ehemänner nicht selbst aussuchen – widersprechen, es zurückweisen und den Klienten vom Gegenteil überzeugen wollte. Dieses Phänomen ist insbesondere daran zu erkennen, dass sie die adressierte Repräsentant*innenrolle für die kollektive Gruppe ‚der Türken‘ annahm, ohne die eigentliche Diskriminierung, die sie auch durchaus als solche interpretiert, zu thematisieren. Eine Annäherung wagt sie indirekt durch die humorvolle Reaktion. Eine tiefgehende Auseinandersetzung bzw. direkte Thematisierung des verbalen Übergriffs bleiben aus. Dies ist unter Umständen damit zu begründen, dass Hamide kein Risiko eingehen und die Beziehung zum Klienten nicht gefährden wollte. Das Benennen von Diskriminierung könnte gewisse DistanzierungseffekteFootnote 16 beim Gegenüber erzeugen, was die Beziehung und damit zusammenhängend auch die Gemengelage von Nähe und Distanz verändert hätte. Im schlimmsten Fall hat dies einschränkende Auswirkungen auf die weitere Zusammenarbeit mit dem Klienten. Hier greift die Schützende Bewältigung in die Reaktionsauswahl mit ein. Hamides Erzählung von der hier beschriebenen Diskriminierungserfahrung schloss sie mit dem Satz: „Also, es gibt ja auf beiden Seiten Vorurteile. Das muss man ja auch sagen“ (Hamide, 109) ab. Dadurch wird der Eindruck erweckt, dass Hamide ihren Klienten in Schutz nimmt, sein Verhalten damit relativiert und rechtfertigt.

Es ist festzuhalten, dass bei einem Professionsverhältnis die Beziehung zur Klientel Einfluss auf die Reaktionsauswahl hat. Wie am Beispiel des Beratungsgesprächs ausgeführt werden konnte, ist die Beziehungsarbeit zur Klientel ausschlaggebend und von großer Bedeutung. Hamide war es wichtig, gesichtswahrend und feinfühlig mit dieser Situation umzugehen, ohne den Klienten bloßzustellen, obwohl sie diejenige war, die in der Situation von der Diskriminierung betroffen war. Das Professionsverhältnis mag auf die hier beschriebene Zielgruppe von Sozialarbeitenden zugeschnitten sein, dennoch können die Bedingungen auch auf weitere Berufsverhältnisse übertragen werden, wie z. B., bei Bankangestellten und ihrer Kundschaft. Dies müsste jedoch noch empirisch geprüft werden.

Abhängigkeitsverhältnis

Nun wurden zwei von drei Verhältnisdimensionen am Beispiel von Interviewausschnitten mit ihren Merkmalen umschrieben und belegt. Die letzte Verhältnisdimension ist das Abhängigkeitsverhältnis. Das Abhängigkeitsverhältnis umschreibt alle Verhältnisse zwischen Menschen, in denen Diskriminierte eine Abhängigkeit zu Diskriminierenden aufweisen. Dies kann in unterschiedlichen Situationen gegeben sein. Das Abhängigkeitsverhältnis zeigt sich vor allem darin, dass die Möglichkeiten, Alternativen zu ergreifen, nur begrenzt vorhanden sind. Beispielsweise kann eine Person in einem Baumarkt erwarten, angemessen beraten zu werden. Stellt sich die Situation des Beratungsgesprächs als diskriminierend heraus, so kann die Person formelle Wege für eine Beschwerde wählen ohne großartige Konsequenzen befürchten zu müssen oder eine weitere Verkaufsperson anfragen bzw. hinzuziehen. Grundsätzlich hat der Baumarkt das Interesse, die Person nicht als Kund*in zu verlieren. Außerdem besteht die weitere Option, den Baumarkt komplett zu übergehen und den nächstliegenden Baumarkt anzufahren. Hier wird deutlich, dass die beratungswillige Person mehrere alternative Möglichkeiten hat und nicht von einer einzigen Beratungsperson abhängig ist. Ein Abhängigkeitsverhältnis ist also bei diesem Beispiel nicht gegeben (‚nein‘). In dieser Situation wirkt das Bekanntheitsverhältnis, da die betroffene Person sich in einem vermeintlich gleichgestellten Kontext, also ohne Abhängigkeit und ohne stark ausgeprägte Hierarchiestrukturen, bewegt und somit andere Möglichkeiten hat, auf diese diskriminierende Situation zu reagieren. Anders sieht es bei der Wohnungssuche aus, wo die Vermietenden den Zugang zu einer Ressource – in diesem Fall zu Wohnmöglichkeiten – bestimmen können. Der Wohnungsmarkt ist begrenzt und Ausweichmöglichkeiten sind nicht ausreichend vorhanden. Diese Bedingungen wirken auf die Reaktionsauswahl der Betroffenen ein, womit ein Abhängigkeitsverhältnis gegeben ist (‚ja‘).

Um ein konkretes Beispiel zu geben, kann auf das Interview mit Hanifa verwiesen werden: Hanifa ist 45 Jahre alt, in Deutschland geboren und aufgewachsen. Ihre Eltern kommen aus der Türkei. Sie trägt eine religiöse Kopfbedeckung und ist aufgrund ihrer Kleidung als Muslimin von außen erkennbar. Beruflich ist sie im Feld der Frauenarbeit unterwegs und arbeitet bei einer gemeinnützigen Organisation. Das Thema ‚Wohnungssuche‘ spielte sowohl bei ihr persönlich als auch bei der Arbeit u. a. mit Geflüchteten eine zentrale Rolle. Die Wohnungssuche beschreibt sie als eine prekäre Situation und erzählt von einer Diskriminierungserfahrung, die sie mit ihrem Mann erlebte:

„Wir hatten mal ein Haus gesehen, was zu verkaufen war und hatten dann halt geklopft und geklingelt und wollten dann fragen und dann hieß es auch: ‚Also an euch bestimmt nicht.‘ Die Erfahrung habe ich gemacht, gerade jetzt, weil wir [Hanifa und ihre Mitarbeitenden] sehr viel Flüchtlingsarbeit auch machen oder Betreuung von ähm Familien ähm in schwierigen Situationen halt, ne, wo wir dann auch nach Wohnungen suchen. Da haben wir gemerkt, gerade Wohnungsmarkt ist das ein sehr, sehr großes Problem eine Wohnung oder ein Haus zu bekommen“ (Hanifa, 169–174).

Die Verweigerung des Hausverkaufs erfolgte bei einer persönlichen Anfrage von Hanifa und ihrem Mann, die dabei als Personen sichtbar wurden. Anhand von äußerlich wahrgenommenen Merkmalen, die offenbar als fremd, muslimisch, als ‚Andere‘ gelesen wurden, erfolgte eine direkte Absage. Dabei wurde die Absage nicht allgemein oder neutral kommuniziert, sondern beinhaltete eine absichtlich verletzende Funktion, indem betont wurde, dass das Haus zwar verkauft werden sollte, aber nicht an Hanifa und ihrem Mann. Beim Othering handelt es sich um Grenzziehungen, die permanent zwischen konstruierten Gruppen erfolgen. Neben den diskriminierenden Folgen „festigt [Othering] auch die bestehenden Differenzordnungen und Verteilungen von Privilegien“ (Riegel 2018: 226). Das angeführte Beispiel zeigt zudem, wie stark sichtbare Merkmale in diskriminierenden Situationen eine bedeutende Rolle spielen. Die Begegnung zwischen Diskriminierenden und Diskriminierten verläuft hier zufällig und kurz. Die Auswirkung ist dennoch längerfristig, da die Diskriminierungserfahrung für Hanifa abrufbar ist und sie diesem eine relevante Bedeutung zuschreibt. Die gemachte Erfahrung überträgt sie auf ihre Arbeit mit Geflüchteten und Familien in schwierigen Situationen und sieht Parallelen zu ihrer Zielgruppe, da sie ähnliche Erfahrungen machen.

Um die Einflussbedingungen des Abhängigkeitsverhältnisses prägnanter darzustellen, möchte ich mich auf das Interview von Hamide beziehen, die bereits im Zuge der Diskriminierungserfahrung im Beratungsgespräch mit einem Klienten vorgestellt wurde. Hamide erzählte von einer Erfahrung aus dem schulischen Bereich. Anhand ihrer Schilderung konnte ich die hier beschriebene Verhältnisdimension präzisieren und ihre Bedeutung für die Reaktionsauswahl entsprechend ausarbeiten:

„Und unsere, ähm, Klassenlehrerin hat damals mir eine Haupt[schul]empfehlung gegeben, also obwohl meine Noten ja Durchschnitt waren. Und da war noch ein Junge, ein deutscher Junge, mit dem ich zusammensaß, der war viel schlechter als ich, hatte sogar Fünfen und der hatte eine Realschulempfehlung und daraufhin hatte ich als Kind die Lehrerin angesprochen, warum das so ist: ‚Ja, ich glaube nicht bei dir, dass du, äh, eine Realschule schaffst.‘. Ja, was ist geworden? Äh, ich habe es geschafft. Ich habe mein Abi geschafft“ (Hamide, 128–134).

Hamide vergleicht sich mit ihrem Mitschüler und stellt fest, dass die Schulformempfehlung nicht den Leistungsbeurteilungen entspricht. Sie spricht von einem Jungen und schiebt nach, dass es ein „deutscher Junge“ war, um die gedeutete merkmalsbezogene Ungleichbehandlung zu unterstreichen. Als junge Schülerin nahm sie die diskriminierende Andersbehandlung wahr, woraufhin sie das Gespräch zu der Lehrerin suchte. In ihrer Erzählung ist sie als handelndes Subjekt zu erkennen. Obwohl sich die hier beschriebene Situation in einem schulischen Kontext ereignete, wo die Lehrkräfte dazu aufgefordert sind, Schüler*innen nach möglichst objektiven Leistungskriterien zu bewerten, handelt es sich bei der Schulempfehlung für Hamide laut der Lehrerin um etwas anderes: Zutrauen. Hamide zufolge erfüllte sie zwar die faktischen Kriterien für eine Realschule, wobei jedoch die Lehrerin ihre eigenen zusätzlichen Kriterien in die Empfehlung miteinfließen ließ, von denen Hamide erst erfuhr, als sie sie darauf ansprach. Das Nicht-Zutrauen der Lehrerin stellt dabei kein messbares Kriterium dar, sondern vielmehr ein intransparent subjektives.

Hamide führte weiter aus, dass im Vergleich zu „deutschen“ Familien Eltern mit „Migrationshintergrund“ ihren Kindern nicht dieselbe Unterstützung bieten könnten (vgl. Hamide, 134–137). Gomolla/Radtke befassen sich mit institutioneller Diskriminierung und begründen die Mechanik der Diskriminierung darin, dass über die guten Leistungen der Kinder hinaus weitere soziale Erwartungen gestellt werden, die sich auch an das Elternhaus richten (vgl. Gomolla/Radtke 2009: 274). Diese Erwartungen beeinflussen die Leistungsbeurteilungen und die Schulübergänge (vgl. ebd.) von Migrant*innenkindern oder Kindern mit Migrationsgeschichte. Die Autor*innen kommen zu folgendem Fazit, welches sich ebenfalls auf die Situation von Hamide übertragen lässt: „Diskriminierung resultiert als Effekt also sowohl aus Formen der Gleichbehandlung von Migrantenkindern unter vermeintlich neutralen Leistungs- und Beurteilungskriterien als auch aus Formen der Ungleichbehandlung, jeweils im Vergleich mit ihren Mitschülern“ (ebd.: 275). Die Parallelen zu Hamides Situation sind zu erkennen.

In der Interviewsituation war es interessant zu wissen, wie Hamide auf die Antwort der Lehrerin reagiert hat:

„Ich war enttäuscht und gekränkt. Warum traut sie mir das nicht zu? Warum soll ich das nicht schaffen? Ich bin doch besser als der andere. Aber, was will man in der fünften, sechsten Klasse der Lehrerin entgegenbringen als Kind? Und dann habe ich trotzdem Realschule gemacht (lacht)“ (Hamide, 153–155).

Hamide beschreibt ihre emotionale Reaktion, wodurch erneut sichtbar wird, dass Emotionen in diskriminierenden Situationen eine zentrale Rolle spielen. Vor allem ist Hamide in der Lage, ihre als Kind empfundenen Gefühle zu beschreiben. Hätten diese Emotionen keine Relevanz, hätte sie diese auch nicht in ihrer Erzählung wiedergegeben. Unmittelbar nach der emotionalen Beschreibung formuliert Hamide rhetorische Fragen. Dadurch betont sie nicht nur die Ungleichbehandlung, sondern auch das asymmetrische Verhältnis zu der Lehrerin. Indem sie die Frage aufwirft, was ein Kind einer Aussage von einer Lehrerin entgegenbringen kann, markiert sie die Rollenverteilung zwischen machtvoller Lehrperson und Schüler*in. Dadurch wird die autoritäre Funktion der Lehrerin hervorgehoben. Hamide ist grundsätzlich als Schülerin abhängig gewesen von ihrer Lehrerin, da diese über Entscheidungs- und Beurteilungsmacht verfügt. Jeglicher Widerspruch gegen Äußerungen der Lehrerin könnte negative Folgen für Hamide bedeuten. Das zurückhaltende Verhalten von Hamide kann hier als ein Phänomen der Schützenden Bewältigung interpretiert werden. Ihre Erzählung beendet sie mit der Aussage, dass sie trotz der als Ungleichbehandlung erkannten Schulempfehlung die Realschule besuchte. Daran ist zu erkennen, dass Hamide in der diskriminierenden Situation selbst keine weitere Handlung durchsetzen konnte, jedoch später durch die selbstbestimmte Wahl der Schulform Handlungsmacht erzeugte. Das Abhängigkeitsverhältnis ließ für Hamide in der Diskriminierungssituation keine andere Wahl, als die Aussage der Lehrerin hinzunehmen. Das Lehrerin-Schülerin-Verhältnis bedingt die hier beschriebene Situation. Die Ausführung von Hamide belegen diese Annahme.

Die hier dargestellten Verhältnisdimensionen können auf eine reduzierte Weise visuell abgebildet werden. In der Abbildung 7.3 ist das Verhältnis zwischen den Diskriminierenden und Diskriminierten zu entnehmen. Ein stückweit soll die Grafik die Verhältnisse widerspiegeln, die nicht statisch zu verstehen sind, da sie ab dem Zeitpunkt der diskriminierenden Handlung neu verhandelt werden.

Abbildung 7.3
figure 3

Visuelle Darstellung von Verhältnissen zwischen Diskriminierende und Diskriminierte

Die linearen Gefälle sollen auf Machtverhältnisse hinweisen, die grundsätzlich von den Diskriminierten vorausgesetzt werden. Die Darstellung der Verhältnisse erfolgt ausgehend von den Betroffenen.

Die sozialen Bedingungen, die in der Diskriminierungssituation die Reaktionsauswahl der Betroffenen beeinflussen, bestehen zusammenfassend aus den Verhältnisdimensionen Bekanntheits-, Professions- und Abhängigkeitsverhältnis. In einer Situation kann nur je eine der Verhältnisdimension von Bedeutung und damit gegeben (‚ja‘) sein, sodass die weiteren dann nicht gegeben (‚nein‘) sind. Soziale Bedingungen sind in diesem Theoriemodell nur eine von drei Bedingungskategorien. Im nachstehenden Unterpunkt werden äußere Bedingungen als eine weitere Bedingungskategorie erläutert.

7.1.1.2 Äußere Bedingungen

Während soziale Bedingungen das Verhältnis zwischen Diskriminierenden und Diskriminierten beschreiben und je nach Art des Verhältnisses die Situation beeinflussen, gibt es darüber hinaus äußere Bedingungen, die ebenfalls als eine Kategorie der Situationsanalyse aufgefasst werden. Äußere Bedingungen beinhalten die Bedingungen (1) Gefahren/Konsequenzen und (2) Raum. Im Gegensatz zu den sozialen Bedingungen können sich äußere Bedingungen in den Situationen verändern, sodass es zu einer Neubewertung der Situation kommt und plötzlich ein anderes Bedingungsset vorhanden ist, was wiederum eine neue Reaktionsauswahl bedingt. Dieses Veränderungspotential macht es auch möglich, zwischen Reaktionstypen in derselben Situation zu wechseln, doch dazu später mehr. Da den Bedingungen einer Handlungssituation eine so große Bedeutung zugeschrieben wird, halte ich es für präziser, von situativen Reaktionstypen zu sprechen. Eine personenspezifische Typologisierung würde zum einen die Komplexität und zum anderen die Dynamik zwischen Situationen, Handlungen und Interaktionen außer Acht lassen. Auf die Reaktionstypen komme ich gleich noch zu sprechen. Die einzelnen Bedingungen, die im Rahmen der äußeren Bedingungen angesprochen sind, wirken situativ. Hinzu kommt, dass sie unterschiedliche dimensionale Einordnungsmöglichkeiten mit sich bringen, die in den jeweiligen Unterpunkten sogleich gesondert aufgegriffen werden. Eine derartige dimensionale Einordnung ermöglicht eine kontextuelle Unterscheidung, die die Reaktionsauswahl der Betroffenen in den Situationen angemessen einordnen und beschreiben. Dadurch, dass es sich beim Theoriemodell der Schützenden Bewältigung um dimensionale Anordnungen auf mehreren Kontinua handelt, können Spezifizierungen vorgenommen und bei ähnlicher Einordnung Muster erkannt werden (vgl. Strauss/Corbin 1996: 51). Die Anordnung der Eigenschaften der Bedingungskategorie äußere Bedingungen haben dabei eine bedeutende Relevanz für die Reaktionsauswahl in Verbindung mit dem Phänomen der Schützenden Bewältigung. Ein wesentlicher Grund dafür ist, dass hier das Schutzbedürfnis und die Risikobereitschaft aus einer anderen Perspektive heraus betrachtet werden.

Gefahren/Konsequenzen

Bei Gefahren/Konsequenzen als äußere Bedingung handelt es sich um die unmittelbare Einschätzung der Gefahrenlage bzw. der Konsequenzen in der diskriminierenden Situation. Die Einschätzung wird von den Betroffenen ausgehend vorgenommen. Die Gefahren/Konsequenzen können auf einer Skala von ‚gering‘ bis ‚hoch‘ positioniert werden. Doch worauf beziehen sich Gefahren und Konsequenzen? Sie beziehen sich auf das Phänomen der Schützenden Bewältigung und ihre drei Dinge, die es zu schützen gilt. Einerseits kann eine körperliche Gefahr für sich und/oder andere bestehen, andererseits kann es konsequentielle Folgen für sich und/oder andere haben, z. B., wenn der Zugang zu immateriellen Dingen eingeschränkt wird.

Um den Kern der äußeren Bedingung hier näher darzulegen, wird ein offensichtliches Beispiel hinzugezogen. Hanifa, die durch ihre religiöse Bekleidung von außen als Muslimin wahrzunehmen ist, berichtete von einer Diskriminierungserfahrung kurz vor Silvester. Sie lieh einen Dienstwagen aus, nachdem sie auf Zugfahrten mehrere Diskriminierungen erlebte. Sie gab an, dass sie durch Ostdeutschland fuhr, als sie diese Erfahrung machte. Die geografische Zuordnung empfand sie als notwendig, weswegen sie die Benennung in ihrer Rekonstruktion der Erfahrung vornahm. Im Interview setzte sie bei mir als Interviewerin das sozial geteilte Wissen voraus, dass die geografische Zuordnung – ob es sich in West- oder in Ostdeutschland ereignete – für rassistische Diskriminierungserfahrungen von Relevanz ist. Auf ihrer Fahrt machte sie einen Halt auf einem Rastplatz, wo sich die geschilderte Diskriminierung ereignete:

„Und dann hatte ähm ich drinnen Pause gemacht und wollte Kaffee trinken und da hatte man mich schon angeguckt. Das waren ja jüngere Männer. Und ähm sind dann rausgegangen. Ähm und dann bin ich dann zu meinem Auto, ne, und wollte dann einsteigen. Und dann hatte ich gesehen, dass sie [drei junge Männer] diese, äh diese Knaller nennt man die, ne. Äh, die haben sie dann in meine Richtung unters Auto, also immer so in meine Richtung und unters Auto. Und die knallten dann natürlich, ne. Und ich habe zuerst gar nichts gesagt und dann äh bin ich eingestiegen und wollte losfahren“ (Hanifa, 45–51).

Hanifa bemerkte Blicke und schätzte die Situation als gefährlich ein. Ihre Einschätzung der Situation als bedrohlich unterstrich und betonte sie durch die Personenbeschreibung, indem sie von „jüngere[n] Männer“ sprach. Die Merkmale jung und männlich werden hier interpretierend als besonders gefährlich dargestellt in Abgrenzung zu ihr, die sich im Vergleich als älter und weiblich einordnete. In dieser Situation werden die Merkmale ‚Alter‘ und ‚Geschlecht‘ als relevante Differenzkategorien von ihr angesprochen. Es kann angenommen werden, dass für die Diskriminierenden andere oder weitere Differenzkategorien bedeutend waren. Diese werden jedoch nicht verbal artikuliert, sodass sie nicht eindeutig zu benennen sind. Es können hier nur Vermutungen angestellt werden, die naheliegend sind. So werden äußerliche Merkmale wie etwa die religiöse Bekleidung von Hanifa eine entsprechende Bedeutung gehabt haben. Die Wahrnehmung von Hanifa als Muslimin kann als ein Unterscheidungsmerkmal erachtet werden, das hier als soziale Kategorie an Bedeutung gewinnt. Auf dem Rückweg zu ihrem Auto bemerkt sie, dass die jungen Männer ihr folgten und Feuerwerkskörper in ihre Richtung warfen. Die Situation ist eindeutig und stellt einen Angriff auf Hanifa dar. In dieser Situation blieb ihr nichts Anderes übrig, als sich von den Angreifern zu entfernen und in das Auto einzusteigen, um dadurch sich vor den Angriffen zu schützen. Die Einordnung der Gefahr auf dem Kontinuum ist in der hier beschriebenen Situation ‚hoch‘.

Im weiteren Verlauf der vorliegenden Dissertation werde ich auf das Beispiel von Hanifa zurückkommen, um vor allem die Eigenschaft Raum näher zu erläutern. An dieser Stelle möchte ich jedoch kurz ein Gegenbeispiel aufführen, bei dem die Einordnung auf dem Kontinuum von Gefahren ‚gering‘ ausfällt. Hier kann das Beispiel von Afra, die auf verbale Äußerungen auf der Straße mittels Gegenrede reagiert, erneut aufgegriffen werden. Afra ist bekanntlich als Muslimin sichtbar und wird deshalb immer wieder mit antimuslimischem Rassismus konfrontiert. Ohne das Gesagte zu wiederholen, möchte ich nur darauf hinweisen, dass sich die diskriminierenden Situationen auf der Straße auf dem Kontinuum von Gefahr eher bei ‚gering‘ einordnen lassen bzw. sie sie dort verortet. Dadurch erhält Afra andere Möglichkeiten der Reaktionen, weswegen sie auch mit Widerworten darauf reagiert. Anhand dieses Beispiels soll nur verdeutlicht werden, dass die Einordnung von Gefahrenlagen bzw. Konsequenzen die Auswahl der Reaktionsmöglichkeiten erheblich beeinflusst. Es ist zu beachten, dass weitere Faktoren hier von Wichtigkeit sind, wie etwa die Anzahl der Diskriminierenden und die Art und Weise des Angriffs. Während Hanifa keine andere Wahl sieht, als sich von der Situation zu entfernen und in ihrem Auto Schutz zu suchen, sieht Afra die Möglichkeit, auf die diskriminierende Situation zu reagieren, ohne sich dabei in Gefahr zu bringen. Mir ging es hierbei nur darum, kurz darzulegen, wie unterschiedlich eine Gefahrenlage bewertet wird. Festzuhalten ist, dass mit ‚hoher‘ Gefahr weniger und mit ‚geringer‘ Gefahr mehr Handlungsmöglichkeiten einhergehen.

Raum

Neben Gefahren/Konsequenzen gibt es in der Kategorie äußere Bedingungen noch den Raum als dimensionalen Einflussfaktor. Dieser ist an verschiedenen Stellen bereits ansatzweise angeschnitten worden, bedarf jedoch näherer Ausführungen. Nach der Raumsoziologie handelt es sich bei Raum um einen „relationalen Raumbegriff“ (Löw 2019: 156). Löw fasst „Raum [als] eine relationale (An-)Ordnung von Lebewesen und sozialen Gütern“ (ebd.: 154; Hervorhebung im Original). Löw bezieht sich auf Kreckel und versteht unter sozialen Gütern sowohl materielle (Tisch, Schrank, etc.) als auch symbolische (Werte, Vorschriften, etc.) Güter. In ihrer Arbeit spricht sie primär den materiellen Bedeutungsaspekt an, verwendet aber dennoch den Begriff „soziale Güter“, um den symbolischen Sinn nicht vollständig abgelöst davon zu betrachten (vgl. ebd.: 153 f.). Die oben aufgeführte Raumdefinition nach Löw geht also über eine physische Abgrenzung und somit einen klassischen Containerbegriff hinaus: „Vielmehr wird Raum selbst als sozial produziert, damit sowohl Gesellschaft strukturierend als auch durch Gesellschaft strukturiert und im gesellschaftlichen Prozess sich verändernd begriffen“ (Löw/Sturm 2019: 4). Außerdem spielen nicht nur die sozialen Güter und Lebewesen an sich eine zentrale Rolle, sondern auch deren relationale Beziehung zueinander (vgl. Löw 2019: 154 f.). Für den Einflussfaktor Raum wurde das soeben beschriebene Raumverständnis als Grundlage für das Theoriemodell hinzugezogen, um auch öffentliche Räume, die nicht physisch eingegrenzt sind, und ähnliche Räume miteinzubeziehen. Ruhne bezieht sich auf Holland-Cunz und verweist darauf, dass durch die Bedeutungszuschreibung von öffentlichen (und privaten) Räumen solche erst konstituiert werden (vgl. Ruhne 2011: 94 f.).

In den Daten war wiederkehrend zu erkennen, dass Raum die Reaktionsauswahl der Betroffenen in diskriminierenden Situationen bestimmt, wie bereits an einigen Stellen belegt werden konnte. Zum einen gab es das Beispiel von Afra, die sich in einem fahrenden Aufzug befand, wodurch sie ihre Handlungsmöglichkeiten begrenzt sah. Zum anderen beschrieb sie sich in diskriminierenden Situationen auf der Straße als durchaus handlungsfähige Person. Erst im ständigen Vergleichen zwischen den Situationen konnten die räumlich bedingten Unterschiede ausgearbeitet werden. Anhand dieser Beispiele könnte der vermeintliche Schluss gezogen werden, dass enge Räume immer handlungseinschränkende Bedingung produzieren. Diese Vorannahme hielt sich in der Analysephase aber nur zu einem gewissen Grad. Die Vorannahme wurde nicht vollständig verworfen, sondern spezifiziert. Für die Verdeutlichung des Einflussfaktors Gefahren/Konsequenzen wurde die Beispielsituation von Hanifa und ihres Rastplatz-Erlebnisses aufgeführt. Zu dem Zeitpunkt, als die jungen Männer anfingen, Feuerwerkskörper in ihre Richtung zu werfen, eilte sie zu ihrem Auto und stieg ein. Der Parkplatz war als Raum offen, weitläufig und nicht physisch abgegrenzt. Sie sah sich in diesem Moment ungeschützt und wollte sich in Sicherheit bringen. Sobald sie in ihr Auto eingestiegen war, hatte sich die Ausgangslage verändert: Sie befand sich nun in ihrem Auto, das hier als Raum definiert wurde, der ihr physischen Schutz bot. Ihre Handlungsmöglichkeiten konnten von diesem Zeitpunkt an neu bewertet und ausgewählt werden. Raum kann also in der Handlungsauswahl einschränkend oder optionserweiternd sein, weshalb dies auch die Gegenpole für die dimensionale Einordnung auf einem Kontinuum bildet. Um es an den genannten Beispielen festzumachen, war die Situation im Aufzug und auf dem Parkplatz unter dem Einflussfaktor Raum dimensional dem Pol ‚einschränkend‘ einzuordnen. Dahingegen war die Situation von Afra, welche sich auf der Straße ereignete, und von Hanifa im AutoFootnote 17 dem Pol ‚optionserweiternd‘ zuzuordnen.

In der Rekonstruktion der Diskriminierungserfahrungen der Betroffenen wird der Raum nicht als solcher benannt. Räume, in denen sich Diskriminierungen ereignen, müssen als solche zunächst erkannt werden, Betroffene weisen diese in ihrer Rekonstruktion nicht konkret aus. Sie nennen dabei nur den Ort, an dem sie ihre Diskriminierungserfahrung gemacht haben. Ausgehend davon müssen räumliche Gegebenheiten abstrahiert erfasst werden, um die Situationen nach dem hier vorliegenden Theoriemodell analytisch bestimmen zu können und diese als Bedingung zu interpretieren. So können auch Räume benannt werden, die eine größere Dimension aufweisen, wie etwa geographische Zuordnungen. Hanifa beispielsweise nahm diese räumliche Einordnung in ihrer Erzählung vor, als sie davon berichtete, dass sie in Ostdeutschland ihre Erfahrung mit den jungen Männern und den Feuerwerkskörpern machte. Die räumliche Zuschreibung „Ostdeutschland“ war mit Sinn- und Bedeutungsgehalt aufgeladen. Diskurse über den Ost-West-Unterschied sind nicht neu. Menschen mit Diskriminierungserfahrung schätzen ihre Erfahrungen in Ostdeutschland anders ein als in Westdeutschland. Hanifa setzte daher die Situation, die sich in Ostdeutschland ereignete, in einen Kontext zum Ort und schrieb der geographischen Zuteilung eine Bedeutung zu. So können mehrere räumliche Dimensionen in einer Situation ineinandergreifen. Diese analytische Perspektive ist mir erst durch die Betrachtung von Situationen auf unterschiedlichen Ebenen – Mikro-, Meso- und Makroebene – aufgefallen. Räumliche Mehrfachdimensionen sind in den Diskriminierungserfahrungen nicht festgeschrieben, sondern müssen situativ begriffen werden. Der Kerngedanke schließt an die komplex strukturierten sozialen Wirklichkeiten des Menschen an. Eine Zerlegung bzw. kleinteilige Betrachtung ermöglicht es, diese Bedingungen zu identifizieren. Das Theoriemodell unterstützt genau diesen Ansatz bei analytischen Betrachtungsweisen auf Diskriminierungserfahrungen.

7.1.1.3 Subjektbezogene Bedingungen

Die Kategorie der subjektbezogenen Bedingungen umfasst unterschiedliche soziale Merkmale der betroffenen Personen in den diskriminierenden Situationen, die von Relevanz sind. Mit sozialen Merkmalen sind personenbezogene Merkmale wie das Kopftuchtragen, Schwarzsein, weiß-Sein, Geschlecht, Alter, aber auch Merkmale wie Migrationserfahrung und damit einhergehend der Aufenthaltsstatus einer Person oder Ähnliches gemeint. In diskriminierende Situationen wirken diese Merkmale nicht nur hinein, sondern sind häufig auch Gegenstand der diskriminierenden Handlung. Um es an einem Beispiel festzumachen, möchte ich erneut einen Ausschnitt aus dem Interview mit Hanifa hinzuziehen. Wie ich bereits erwähnt habe, ist sie durch ihre religiöse Bekleidung und insbesondere durch das Kopftuchtragen als Muslimin sichtbar. Im Zuge der Frage, inwieweit sie Diskriminierungserfahrungen in ihrem professionellen Handeln bzw. ihrer Haltung prägen, antwortete Hanifa nach einer kurzen Erzählung über ihr Zugehörigkeitsgefühl Folgendes:

„Aber dass ich mit Kopftuch manchmal zweimal überlegt habe, was ich sage und dass ich ja nichts Falsches sage, weil ja dann auf alle Türken oder Muslime, ne. Ich musste mich ähm perfekt verhalten, weil ein Fehler wird dann auf alle dann, ne“ (Hanifa, 259–261).

Hanifa trifft allgemeine Aussagen über ihr Verhalten, die sich auch auf Diskriminierungssituationen übertragen lassen. Sie mutmaßt, dass das Kopftuchtragen für Außenstehende ein Bewertungskriterium darstellt. Der Erklärungsansatz liegt darin, dass sie in ihren Äußerungen nicht als individuelles Subjekt wahrgenommen, sondern mit den Kollektiven ‚Türken‘ und ‚Muslime‘ in Verbindung gebracht wird. Dabei wird ihr Verhalten auf die Kollektive generalisiert. Dieser Vorgang stellt dann wiederum eine Objektifizierung der Person dar, wobei ihre Individualität keine Anerkennung findet. Die beiden Aspekte – dass Hanifa „zweimal überlegt“ und sich „perfekt verhalten“ muss – weisen auf eine kontrollierte Verhaltenssteuerung hin mit der bewussten Intention, soziale Folgen, die aus rassistischen Zuschreibungen hervorgehen, möglichst abzuschwächen. Da sie dessen bewusst ist, als kopftuchtragende Person anders wahrgenommen zu werden, ist sie in ihren Handlungsmöglichkeiten eingeschränkt. Ihr subjektbezogenes Merkmal – das Kopftuch – spielt daher in Situationen mit hinein und bestimmt unter Umständen die Handlungsauswahl.

Während Hanifa hier eindeutig das soziale Merkmal benennen kann, weswegen sie mit ihren Aussagen sorgfältig und vorsichtig umgeht, können in anderen Situationen auch unbewusst soziale Kategorien und soziale Differenzen wirkmächtig werden, derer sich die Betroffenen nicht bewusst sind. Erst eine intersektionale Betrachtungsweise könnte Differenzen und ihre Dominanzverhältnisse erkennbar machen. Malala ist Anfang 30 und eine Schwarze Sozialarbeiterin. Außer ihrem Namen sind keine Rückschlüsse auf eine muslimische Religionszugehörigkeit möglich. Als Schwarze Frau macht sie im Gegensatz zu den weiteren Interviewpartnerinnen besondere Diskriminierungserfahrungen. Dass das Schwarzsein und insbesondere die Verschränkung mit dem Geschlecht verstärkte Diskriminierungserfahrungen hervorbringen, ist kein neuer Erkenntnisansatz (siehe hierzu bspw. Crenshaw 1989, 2013). Malala erzählte mir von einer Diskriminierungserfahrung, die sie in der Notaufnahme mit einem männlichen Arzt machte. Während sie nach einem Fahrradunfall untersucht wurde, waren sie, der Arzt und eine weitere Arzthelferin im Behandlungszimmer. Als die Arzthelferin das Behandlungszimmer kurzzeitig verließ, ereignete sich Folgendes:

„Er hat mich gefragt, ob ich einen Mann Zuhause habe, der mich mit/, weil ich hatte so auch meine Hände verletzt/, der mir helfen könnte, um Dinge zu tragen. Und ich habe gesagt: ‚Nein, ich bin allein mit meinem Sohn.‘ Und er hat gesagt: ‚Ich könnte dir helfen.‘ (1) Und, ja (lacht)/ und ich war so wie, (1) äh, ich habe nichts gesagt“ (Malala, 1217–1220).

In der hier beschriebenen Situation sind einige Differenzlinien und Dominanzverhältnisse zu erkennen. Als erstes nahm der Arzt grundlegend an, dass Malala heterosexuell und mit einem Mann liiert ist. Sowohl Sexualität als auch Geschlechterverhältnisse werden hier heteronormativ beschrieben und zum Ausdruck gebracht. Nachdem Malala dem widersprach und sich als alleinerziehende Mutter zu erkennen gab, fragte der Arzt nicht nach weiteren Personen aus dem Umfeld, die ihr zur Unterstützung kommen könnten. Stattdessen äußerte der Arzt seine Bereitschaft, ihr helfen zu wollen, wobei andere Intentionen mitschwangen. Anhand dieser Aussage ist ein Machtgefälle zwischen dem Arzt und der Patientin verstärkt zu erkennen. Ohne dass die Betroffene ihr Empfinden oder ein Bewerten der Aussage des Arztes explizit äußert, ist zu beobachten, dass sie offensichtlich entsetzt war. Die Handlung, mir dieses Ereignis im Zuge des Interviews zu Sprache zu bringen und es rekonstruktiv wiederzugeben, zeugt von einer Bedeutungsaufladung der Erfahrung. In der Interviewsituation kommunizierte Malala insbesondere über Mimik und Gestik, wodurch ihr Entsetzen in dieser Situation unterstrichen wurde. Die verstärkte Kommunikation über Mimik und Gestik kann auch darin begründet liegen, dass Malala die deutsche Sprache als Fremdsprache erworben hatte, wodurch das Ausdrücken von Gefühlen nur mit verbalen Mitteln erschwert ist.

Eine weitere Interpretationsmöglichkeit der oben beschriebenen Aussage des Arztes ist, dass hier rassistische Denkstrukturen wiederzuerkennen sind, die eng mit dem Geschlechterverhältnis verwoben sind. So fragt der Arzt gezielt nach einer männlichen Unterstützung zu Hause. Dabei werden Eigenschaftszuschreibungen gegenüber dem männlichen Geschlecht vorgenommen wie bspw. beschützend, helfend, rettend und ähnliche. Mit der Aussage, ‚Ich könnte dir helfen!‘, möchte der Arzt die Rolle des beschützenden, helfenden und rettenden Mannes festschreiben. Aus einer rassismuskritischen Perspektive kann die Situation auch dahingehend interpretiert werden, dass der weißeFootnote 18 Arzt sich in der Rolle sieht, Malala als Schwarze Frau ‚beschützen‘ zu wollen, da sie ohne die Unterstützung eines Mannes nicht zurechtkommen würde. Ihr wird dabei eine besondere Vulnerabilität zugeschrieben, die nach der Beurteilung der Verhaltensweise vom Arzt paternalistischer Unterstützung bedarf. Die Situation entfacht Geschlechterdynamiken und (re)produziert Dominanzverhältnisse, die erst im Rahmen einer intersektionalen Analyse sichtbar gemacht werden können. Ohne mich in Einzelheiten zu verlieren, möchte ich auf die Aussage zu sprechen kommen, die Malala als ihre Reaktion anführt: ‚[I]ch habe nichts gesagt.‘ Hier stellt sich mir die Frage, warum Malala sich dazu entschied, nichts zu sagen. Spürte sie das Machtgefälle, das grundsätzlich zwischen Ärzt*innen und Patient*innen vorherrscht? Wirkte das Abhängigkeitsverhältnis als Verhältnisdimension hier mit ein, sodass sie gezwungen sah, nicht zu widersprechen? Des Weiteren ist eine wichtige Zusatzinformation anzuführen, die den Blick auf diese Situation grundsätzlich verschärft: Malala hatte sich ihre Verletzungen durch einen Fahrradunfall zugezogen und wurde nach der Einlieferung in eine Notaufnahme stundenlang nicht behandelt. Aus Sorge um die Betreuung ihres Sohnes verließ sie die Notaufnahme vorzeitig, ohne sich behandeln zu lassen. In derselben Nacht ging sie, nachdem sie die Betreuung ihres Sohnes sichergestellt hatte, zu einem weiteren Notarzt, der sie nur oberflächlich medizinisch behandelte und dazu riet, zurück in die Notaufnahme zu gehen, wo sie mit dem Rettungswagen ursprünglich eingeliefert worden war. Am nächsten Tag ereignete sich dann die soeben geschilderte Situation. Malala erlebte also bis zu dem Zeitpunkt der hier beschriebenen Diskriminierungserfahrung bereits mehrere Zurückweisungen und Komplikationen in der medizinischen Versorgung, weswegen sie vermutlich der Diskriminierung nichts entgegenbringen konnte bzw. wollte. Im Gespräch mit mir schilderte sie die Umwege ihrer Behandlung, führte sie jedoch nicht als Grund für ihr Schweigen gegenüber der diskriminierenden Handlung an. Nichtsdestotrotz denke ich, dass dieser Fall nicht nur situativ, sondern kontextuell betrachtet werden muss. Hätte sie die Diskriminierung thematisiert, hätte es zu negativen Konsequenzen in der situativen medizinischen Versorgung führen können. Als Schwarze Frau kannte sie ihre prekäre Situation, weshalb sie sich in Anbetracht der Schützenden Bewältigung bewusst zurückgehalten hat. Wird der Blick situativ beschränkt, so sind andere Ausgangslagen zu beschreiben. Malala führte hierzu aus, dass sie im Nachhinein nicht wusste, was sie auf anderen Wegen hätte tun können,Footnote 19 um mit der gemachten Erfahrung umzugehen und ggf. rechtliche Mittel hinzuzuziehen, wie etwa in Form einer Beschwerde. Interessant ist, dass Malala hierbei ihre damalige Lebenssituation als eine insgesamt prekäre Situation beschreibt und dies als ein Hindernis bewertet, um entsprechend handlungsmächtig mit der Diskriminierungserfahrung umzugehen. Menschen, die Diskriminierungserfahrungen machen, befinden sich primär in prekären Situationen im Vergleich zu Privilegierten, die keine Rassismus- und Diskriminierungserfahrung machen müssen. Die Lebenssituation und ihre Bedingungen erschweren also eine angemessene Aufarbeitung von Diskriminierungserfahrungen. Es sind auch strukturelle Gegebenheiten zu erkennen, in denen soziale Kategorien wie ‚Migration‘ und ‚Geschlecht‘ ineinandergreifen und die prekäre Lebenssituation von Malala bedingen:

„Also damals war mein Kopf einfach voll. Also damals hatte ich gearbeitet, gleichzeitig habe ich einen, ähm, Sprachkurs gemacht. Also, so jeden Tag würde ich vormittags arbeiten, dann fahren auf meinem Fahrrad zu einem anderen Stadtteil in [Stadt in Deutschland], um diesen Integrationskurs zu machen. Dann wieder fahren, um meinen Sohn um 18 Uhr von der Kita abzuholen. Und er war damals nur zwei Jahre alt und so. Das ist schon zu lang ein Tag [für ihn]. Es war einfach so ganz viel Stress und ich könnte mich nicht damit einfach beschäftigen“ (Malala, 1225–1231).

Ihre Aussage ist ein Beleg dafür, dass die belastende Lebenssituation, in der sie zum Zeitpunkt der Diskriminierung befand, eine angemessene Auseinandersetzung damit nicht zuließ. Als migrierte Person befindet sich Malala in einer ressourcenarmen Struktur. Das meint, dass sie zunächst ein soziales Umfeld aufbauen muss, aus denen sie auch Ressourcen schöpfen kann, um derartige Situationen (schützend) zu bewältigen. Hinzu kommt, dass Personen mit Migrationserfahrung Zusatzbelastungen ausgesetzt sind im Vergleich zu Menschen, die von Geburt an in einem Land aufwachsen. Das wird insbesondere an dem Punkt deutlich, wo sie beschreibt, welchen Aufwand sie in ihrem Alltag bewältigen muss und dabei exemplarisch den Besuch des Sprachkurses benennt. Ihr Status als alleinerziehende Frau verstärkt benachteiligende Mechanismen, sodass ihre Möglichkeiten begrenzt sind. Hansen/Sassenberg thematisieren negative Folgen von sozialer Diskriminierung und kommen zum Entschluss, „dass das Bewältigen von sozialer Diskriminierung ebenfalls die Fähigkeit schwächt, das eigene Verhalten in anderen Bereichen, die nicht mit dem eigenen Stigma in Verbindung stehen, zu kontrollieren und regulieren“ (Hansen/Sassenberg 2020: 293). Folglich sieht sich Malala daher dazu gezwungen, eine Auswahl zu treffen, mit welchen Aspekten sie sich auseinandersetzen muss und mit welchen sie es aufgrund knapper Ressourcen nicht kann. Malalas Diskriminierungserfahrung während der medizinischen Versorgung ist ein passendes Beispiel, um die Wirkung sozialer Merkmale, die unter Umständen auch aus einem erweiterten Kontextrahmen betrachtet werden können, zu verdeutlichen. Es konnte nahegelegt werden, dass diese Merkmale in ihre Reaktionsauswahl mit einspielen.

Neben den bisher aufgeführten Aspekten habe ich ein weiteres Merkmal insbesondere ausdifferenziert: die Sprachmächtigkeit. Damit meine ich u. a. die Sprachfähigkeit einer Person. Sprache ist ein Schlüssel, um sich mit anderen zu verständigen, sich zu positionieren, Gefühle zum Ausdruck zu bringen oder Missstände zu verbalisieren. Dabei kommt es nicht nur darauf an, ob eine Person die Sprache vollständig beherrscht oder nicht. Es kommt auch darauf an, ob Personen in entsprechenden Situationen Diskriminierung auf einer sprachlichen Ebene verhandeln können. Hierzu gehören ebenso inhaltliche Aspekte wie Begrifflichkeiten und Wissen, die eng verbunden sind mit Sprache. Der hier ausgeführte Punkt bedarf keiner umfassenden Erläuterung, weswegen ich direkt zu einer Beispielsituation von Malala kommen möchte, die aufgrund ihrer Migrationserfahrung der deutschen Sprache nicht von Beginn an mächtig war. Sie beschreibt ihre Handlungsmöglichkeiten wie folgt:

„Am Anfang war es so, dass ich die Sprache einfach nicht hatte, und dann war es sowieso dann schwer gegen jemand zu argumentieren, dann musste ich einfach ‚bitte‘ sagen und losgehen“ (Malala, 681–683).

Sprachmächtigkeit ist als eine Bedingung zu interpretieren, die die Reaktionsauswahl von Malala erheblich beeinflusst. Sie selbst äußert einen Unterschied in ihrer Reaktionsauswahl, indem sie rückblickend auf Reaktionen schaut, mit denen sie auf Diskriminierungen reagierte, als sie noch nicht der Sprache mächtig war. Sie spricht in der Vergangenheitsform. Der zeitliche Vergleich stellt die Prozesshaftigkeit von Diskriminierungserfahrungen dar, die aufgrund der Erfahrung eine Lernkomponente impliziert. Es ist interessant zu beobachten, wie Malala umschreibt, dass sie über die Sprachmächtigkeit nicht verfügt. Sie spricht hierbei von Sprache als etwas, was sie besitzen könnte: „die Sprache einfach nicht hatte“. Es entsteht der Eindruck, dass sie die Sprache als ein wesentliches Werkzeug versteht, um auf Diskriminierungserfahrungen entsprechend reagieren zu können. Da sie das Werkzeug nicht besitzt, sieht sie sich gezwungen auf diese Situationen mit einem „bitte“ zu reagieren und die Situation zu verlassen. An dieser Stelle muss ich als Beobachterin der Interviewsituation die Information hinzufügen, dass die Äußerung „bitte“ von Malala selbstbewusst demonstriert wurde. Es war also keine gekränkte oder verunsicherte Äußerung. Dadurch versucht Malala trotz der Sprachbarriere, handlungssicher aufzutreten. Aus dieser Perspektive sind Rückschlüsse auf die Schützende Bewältigung möglich. Sie möchte durch die Handlungsfähigkeit sich selbst schützen und zeigen, dass sie sich nicht ohnmächtig fühlt. Inzwischen haben sich für sie die Bedingungen subjektbezogener Merkmale mit Blick auf Sprachmächtigkeit verändert.

In der Kategorie der subjektbezogenen Bedingungen berücksichtige ich neben den genannten sozialen Merkmalen auch Persönlichkeitsmerkmale oder Sozialisationsaspekte, die eine gewisse Relevanz für die Reaktionsauswahl in diskriminierenden Situationen haben. Das SORKC-Modell, um ein Beispiel zu erwähnen, stammt aus der Verhaltensanalyse. Das Modell dient dazu, durch das Einbeziehen von fünf Grundlagenelementen (Stimulus, Organismus, Reaktion, Kontingenz, Konsequenz) Lernvorgänge zu beschreiben (vgl. Heidenreich et al. 2009: 153). Um den Fokus nicht außer Acht zu lassen, möchte ich mich kurzfassen und nur darauf hinweisen, dass das SORKC-Modell aus der Psychologie eine Möglichkeit bietet, das Verhalten von Betroffenen und damit verbundene Faktoren in diskriminierenden Situationen zu betrachten. So können vorhandene Modelle ergänzend hinzugezogen werden. Die Daten können ebenfalls von einem psychologischen Analyseansatz heraus ausgewertet werden. Auf eine derartige Auswertung des Datenmaterials wurde Abstand genommen. Zum einen bringe ich nicht die entsprechende Fachlichkeit mit und zum anderen ist das nicht mein Erkenntnisziel dieser Dissertation. Nichtsdestotrotz möchte ich diese Aspekte nicht völlig außer Acht lassen und diese deskriptiv in die Kategorie der subjektbezogenen Merkmale als Bedingung einbeziehen.

7.1.2 Unmittelbare Reaktion

Abbildung 7.4
figure 4

Das Theoriemodell der Schützenden Bewältigung. Phase 2, unmittelbare Reaktion

Nachdem die Situationsanalyse als eine erste Phase beschrieben und mit ihren Bedingungen als Element vorgestellt wurde, wird in diesem Kapitel die zweite Phase der unmittelbaren Reaktion näher erläutert (Abbildung 7.4). Die zweite Phase ist eng mit der ersten Phase verwoben. Grundsätzlich können beide Phasen zusammengedacht werden. Nichtsdestotrotz ist eine Differenzierung zwischen den Phasen vorzunehmen, um sich auf die Einzelheiten der Elemente konzentrieren und dadurch die Bedeutung des Phänomens der Schützenden Bewältigung nachvollziehen zu können. Während in der ersten Phase der Situationsanalyse – wie bisher dargestellt – die Bedingungskategorien soziale, äußere und subjektbezogene Bedingungen zusammenwirken und unter Berücksichtigung des Phänomens der Schützenden Bewältigung eine Reaktionsauswahl bestimmen, beschreibt die zweite Phase die konkrete Reaktionsausführung. Grundsätzlich geschieht die Reaktionsauswahl im Übergang von der ersten zur zweiten Phase. Aufgrund der Datenlage scheint mir eine klare Einteilung, wann die Reaktionsentscheidung erfolgt, nicht möglich. Um die Dynamik der beiden Phasen zu verdeutlichen, beschreibe ich daher die Reaktionsauswahl im Zuge der Beschreibung der Reaktionstypen. Auch wenn hier eine formelle Einteilung der Phasen vorgenommen wurde, dient dies nur der deskriptiven Darstellung, die notwendig ist, um den Prozess der Schützenden Bewältigung begreifen zu können. Im Mittelpunkt der Reaktionsausführung steht ausdrücklich weiterhin das Phänomen der Schützenden Bewältigung. Zur Erinnerung rufe ich die Funktion der Schützenden Bewältigung erneut ins Gedächtnis: Durch die unmittelbare Reaktion der Betroffenen sollen entweder sie selbst, andere Personen oder immaterielle Dinge geschützt werden. Das Ziel ist es, die Situation schützend zu bewältigen. Bei der gesamten Reaktionsausführung ist das zu schützende Ding im Fokus der Betroffenen.

In der Auswertung der Daten konnten zu den unmittelbaren Reaktionen drei Reaktionstypen ausgearbeitet werden. Eine Typisierung der Reaktionsformen ist unabhängig von der Person. An Stelle einer personenbezogenen Typologisierung, die zu ‚Schubladen-Denken‘ verleitet und die Eigenschaften Variabilität und Komplexität in der sozialen Wirklichkeit randständig behandelt, tendiere ich zu einer situativ bezogenen Typologisierung. Ich bin der Auffassung, – darauf verweisen auch die Daten – dass die beschriebenen Bedingungen vielmehr die Reaktion der Betroffenen bestimmen als etwas Anderes. Das Bedingungsset variiert jedoch von Situation zu Situation, sodass eine allgemeine Aussage, wie sich eine Person grundlegend in einer diskriminierenden Situation verhält, dem Gegenstand nicht gerecht wird.

Die drei Reaktionstypen, die ich auf der Grundlage meiner Daten ausgearbeitet habe, beziehen sich ausschließlich auf die Betroffenen in diskriminierenden Situationen. Wie bereits darauf hingewiesen wurde, dass es sich hier um situative Reaktionstypen handelt, kann in einer diskriminierenden Situation mehr als ein Reaktionstyp von der betroffenen Person in Erscheinung treten. Das kommt dann vor, wenn während der Situation das Bedingungsset verändert wird, so wie es bei Hanifa und ihrer Rasthof-Erfahrung mit den drei jungen Männern der Fall war. Sie war für eine kurze Zeit einer körperlichen Gefahr ausgesetzt. Sobald sie in ihr Auto einstieg, war die Ausgangslage und somit die Bedingungen, die die Reaktion der Person bestimmen, eine andere. Insgesamt unterscheide ich zwischen den folgenden drei Reaktionstypen: (1) aktiv-handelnd, (2) passiv-zurückhaltend und (3) distanzierend (Abbildung 7.5). Der erste und der letzte Typ bilden die Kontrasttypen, wohingegen der zweite Typ ein gewisses Mittelmaß der Ausprägungen darstellt. Auch wenn Bezeichnungen wie aktiv primär positiv und distanzierend negativ assoziiert werden, stellen diese Bezeichnungen keineswegs eine Bewertung der Reaktionstypen dar, im Gegenteil. Die Reaktionstypen beschreiben die Betroffenen als handlungsfähige Personen, auch wenn sie sich in der Rekonstruktion selbst nicht als solche gedeutet haben. Warum sie dennoch handlungsfähig sind, wird sich in der Ausführung gleich zeigen. Das Theoriemodell gilt daher als eine Bereicherung für Betroffene, da sie sich mithilfe dieses Modells anders wahrnehmen und ihre Reaktionen situationsangemessen einordnen können. Es ist daher ein ressourcenorientiertes Modell.

Abbildung 7.5
figure 5

Darstellung der Reaktionstypen mit dem Phänomen der Schützenden Bewältigung im Fokus

Die soeben genannten drei Typen werden im Folgenden einzeln umschrieben. Es werden, so wie bei der Situationsanalyse, illustrative Zitationsbeispiele angeführt, um anhand der Situationsbeispiele die Reaktionstypen im Wesentlichen zu begreifen. Die Typenformen wurden dimensional ausgearbeitet, sodass die Ausprägung der Typen eindeutiger vorgenommen werden kann. So können alle drei Reaktionstypen folgende Eigenschaften aufweisen:

  • Physische Präsenz,

  • Intensität der Interaktion,

  • Intervention,

  • Kommunikationsform.

Bei dem physischen Präsenz handelt es sich um die körperliche Anwesenheit der Betroffenen in der diskriminierenden Situation. Dies meint hier auch den direkten Kontakt zu einer Person. Im Rahmen dieses Theoriemodells wurden ausschließlich face-to-face-Situationen ausgewertet. Virtuelle Räume stellen besondere Bedingungen dar, die in dieser Arbeit nicht untersucht wurden. Überlegungen zu virtuellen Räumen bedürfen eigenständiger Forschungsarbeiten, um das hier vorgestellte Theoriemodell der Schützenden Bewältigung daraufhin zu prüfen und ggf. entsprechend anzupassen. Wenn also von physischem Präsenz gesprochen wird, dann in dem Sinne, ob die diskriminierte Person sich weiterhin in der diskriminierenden Situation befindet oder ob sie sich von dieser Situation distanziert. Daher verfügt diese Eigenschaft eine Dimension mit den beiden Gegenpolen ‚nah‘ und ‚fern‘. Bei der Intensität der Interaktion ist der Grad der interaktionalen Wechselbeziehung zwischen Diskriminierenden und Diskriminierten gemeint. Die dimensionale Einordnung ist auf einem Kontinuum von ‚gering‘ bis ‚hoch‘ vorzunehmen. Die Intervention dahingehend zielt auf das Eingreifen in die diskriminierende Situation ab. Das bedeutet, dass in einer Situation die Interaktion sehr hoch sein kann, jedoch die Person wenig in die diskriminierende Situation eingreift und dadurch versucht, unter Umständen eine Zuspitzung abzuwenden. Worin der feine Unterschied liegt, wird beim Vergleichen zwischen aktiv-handelnd und passiv-zurückhaltend noch deutlicher. Für die Eigenschaft Intervention bilden die Pole ‚wenig‘ und ‚viel‘ das Kontinuum. Zuletzt wäre da noch die Kommunikationsform zu benennen. In den Reaktionstypen unterscheiden sich auch die Kommunikationsform, also in welcher Form hier eine Verständigung stattfindet. Dabei sind nicht nur verbale, sondern auch non-verbale Kommunikationsformen mitzudenken. Es werden in der Regel in den Situationen beide Kommunikationsformen angewendet, jedoch überwiegt eine Kommunikationsform die andere. Auch hier waren anhand der Kommunikationsformen Unterschiede festzustellen, weshalb sie als eine Eigenschaft für die Ausprägung der Reaktionstypen miteinbezogen werden. Selbsterklärend sind die Gegenpole des Kontinuums hier ‚verbal‘ und ‚non-verbal‘. Aus einer dimensionalen Ausdifferenzierung gelang es mir, die Unterschiede der Reaktionstypen auszuarbeiten und grundsätzlich eine derartige Typologisierung vorzunehmen.

Die Reaktionstypen beschreiben keine grundsätzliche Form der Reaktion, sondern beziehen sich auf die diskriminierende Handlung. Es besteht auch die Möglichkeit, dass zwischen den Typen in einer Situation gewechselt werden kann. Ausschlaggebend hierfür ist zum einen das Bedingungsset der diskriminierenden Situation und zum anderen das zu schützende Ding, was aus der Schützenden Bewältigung hervorgeht. Außerdem ist zu erwähnen, dass in der Analyse der Daten nicht ausschließlich anhand der Bedingungen die Reaktionstypen festgestellt wurden, sondern es konnten durch die Rekonstruktionen der Reaktionen auch Bedingungen als solche identifiziert werden. Dies ist ein Indiz dafür, dass das Theoriemodell nicht statisch verstanden werden kann, sondern eine Flexibilität aufweist. So können anhand der vorliegenden Informationen Rückschlüsse auf die je vorausgehende oder nachfolgende Phase vorgenommen werden. Einen weiteren Vorteil meines Theoriemodells sehe ich darin, dass die Frage danach, wie Ungleichheitsprozesse durchbrochen werden können, erst dann beantwortet werden kann, wenn ein grundsätzliches Wissen und Verstehen darüber bestehen, wie und inwieweit auf diskriminierende Situation reagiert und wie mit der gemachten Diskriminierungserfahrung umgegangen wird. Unter Umständen kann dadurch erklärt werden, was ein Durchbrechen von Ungleichheitsprozessen erschwert oder verhindert. So oder so ist ein Basiswissen über die Prozesshaftigkeit von Diskriminierungserfahrung erforderlich. Im Folgenden werden daher die bereits angedeuteten Typen der unmittelbaren Reaktion im Einzelnen vorgestellt.

7.1.2.1 Aktiv-handelnd

Aktiv-handelnd ist einer der drei Reaktionstypen, die ich im Rahmen meines Theoriemodells ausgearbeitet habe. Bei allen Reaktionstypen steht die als diskriminierend interpretierte Handlung im Vordergrund. Weiterhin gilt, dass durch die Reaktion einer der drei Dinge im Rahmen der Schützenden Bewältigung geschützt wird. Die drei Reaktionstypen unterscheiden sich in der dimensionalen Einteilung der Eigenschaften voneinander.

Im Interviewmaterial der Betroffenen wurden die verschiedenen Diskriminierungserfahrungen gegenübergestellt und miteinander verglichen. Das ständige Vergleichen begrenzte sich nicht auf einen Abgleich zwischen den Interviews, sondern vollzog sich auch innerhalb eines Interviews. So berichteten Betroffene in einem Interview von mehreren Diskriminierungserfahrungen. Der intra- bzw. interkategoriale Vergleich führte dazu, dass einige Konzepte in der Phase des offenen Kodierens ausgewiesen werden konnten, die sich auf die Reaktionen der Befragten konzentrierten. Die Ausweisung von Gemeinsamkeiten, Ähnlichkeiten und Unterschieden führte dazu, dass die ausgewiesenen Konzepte zu Kategorien zusammengefasst werden konnten. In dem darauffolgenden hermeneutischen Verfahren gelang es mir, zwischen drei wesentlichen Reaktionstypen zu unterscheiden. Der Reaktionstyp aktiv-handelnd war offensichtlich zu erkennen und kam im Gegensatz zum Reaktionstyp passiv-zurückhaltend weniger, aber immer noch häufiger als der Reaktionstyp distanzierend vor. Bei aktiv-handelnd handelt es sich um eine gesteigerte Form des physischen Präsenz in diskriminierenden Situationen. Die Betroffenen entfernen sich nicht unmittelbar von dem Ereignis, sondern bleiben im Geschehen vor Ort und werden aktiv. Sie sind daher physisch eher ‚nah‘ als ‚fern‘. Des Weiteren interagieren Betroffene mit dem Reaktionstyp aktiv-handelnd hochgradig intensiv mit der diskriminierenden Person. Sie treten in unmittelbaren Kontakt. Die Interventionslogik setzt dagegen woanders an als bei der Intensität der Interaktion. So kann die betroffene Person intensiv mit den Diskriminierenden in Interaktion treten und dabei auf die diskriminierende Handlung Bezug nehmen. Während die Eigenschaft Intensität der Interaktion nur das Interagieren im Allgemeinen anspricht, verweist die Eigenschaft Intervention explizit auf die diskriminierende Handlung der Diskriminierenden. Eine Unterscheidung zwischen diesen Eigenschaften halte ich daher für wichtig, um beim Theoriemodell auch das bewusste Ablenken oder Unterlassen als Handlung mitzuberücksichtigen und auf diese Weise das Blickfeld auf Betroffene als handlungsfähige Individuen zu weiten.

Unter der Kategorie soziale Bedingungen in Abschnitt 7.1.1.1 hatte ich im Kontext des Professionsverhältnis das Beispiel von Hamide aufgeführt, die in einem Beratungsgespräch von ihrem Klienten gefragt wird, ob sie ihren Ehemann selbst aussuchen durfte. Nachdem Hamide erfragt hatte, wie der Klient zu solch einer Frage käme ohne ihn dabei bloßzustellen, reagierte sie mit einer humorvollen Antwort. Die ironisierende Art von Hamide sollte auf die diskriminierende Handlung des Gegenübers pointieren. Der Verweis glückte ihr nur zum Teil, da der Klient sich nur dafür entschuldigte, ihr eine persönliche Frage gestellt zu haben: „Also dann meinte er: ‚Entschuldigen Sie. Ich wollte Ihnen da nicht nahetreten. Aber das hatte mich einfach interessiert‘“ (Hamide, 101–102). Dass die Handlung diskriminierend gewesen ist, wird nicht thematisiert und Hamide setzte den Dialog mit einem sich erklärenden und rechtfertigenden Erzählmuster fort. An dieser Stelle ist zu erkennen, dass Hamide versucht, aktiv-handelnd zu reagieren, indem sie mit der ironisierenden Art überspitzt auf die diskriminierende Handlung aufmerksam machen wollte. Auch wenn sie im weiteren Verlauf nicht erneut versucht, die diskriminierende Handlung zu thematisieren, hat sie in dieser Situation zunächst aktiv-handelnd reagiert: Sie ist dabei physisch präsent gewesen (‚nah‘) und trat in Interaktion mit dem Klienten (‚hoch‘). Die Kommunikationsform begrenzt sich zunehmend auf eine ‚verbale‘ Form.

Es kann sein, dass sie nicht erneut ein Risiko eingehen und die Beziehung zum Klient belasten wollte, indem sie wieder auf die diskriminierende Handlung zu sprechen kam, da sie eingangs betonte, dass es ihr wichtig war, ihn nicht bloßzustellen. Dadurch interveniert Hamide nur geringfügig, weshalb eine dimensionale Zuordnung eher bei ‚wenig‘ vorzunehmen wäre. Hier wirkte höchstwahrschein das Professionsverhältnis mit ein. Durch den Versuch der ersten Reaktion schätzte sie die Situation ab und entschied sich danach für eine andere Vorgehensweise, die eher dem passiv-zurückhaltendem VerhaltenFootnote 20 ähnelt. Bei der aktiv-handelnden Reaktion kommt es darauf an, inwieweit auf die diskriminierend interpretierte Handlung hingewiesen, gedeutet oder aufmerksam gemacht wird. Wird die diskriminierende Handlung nicht fokussiert, handelt es sich nicht um eine aktiv-handelnde Reaktion. Es sei darauf hingewiesen, dass die Handlung des Gegenübers dabei nicht direkt als diskriminierend bezeichnet werden muss, sondern auch durch andere Mittel indirekt darauf gedeutet werden kann, wie Hamide es in ihrer Diskriminierungserfahrung tat. Die Leistung der Betroffenen, inwieweit die diskriminierende Handlung thematisiert wird, ist ausschlaggebend.

Um ein weiteres Beispiel anzuführen, beziehe ich mich auf das Interview von Malika. Malika wurde bereits in der Diskussion mit ihrer Kollegin, als es um die Beschreibung ihres Kopftuchs ging, vorgestellt. Sie ist Mutter eines jungen Mädchens und beschrieb im Interview einen Besuch bei der Kinderärztin. Die Kinderärztin war ersichtlich aufgebracht, als sie feststellte, dass Malika ihre Tochter bilingual erzieht und in dieser Situation auf Arabisch kommunizierte:

„Ich glaube, das ist das, was mich vielleicht so am Meisten irgendwie verwundert hat, dass man sich also total so eine Szene draus gemacht hat, an den Kopf gefasst hat und gesagt hat: ‚Sagen Sie mal, wollen Sie denn WIRKLICH, dass Ihr Kind NICHT integriert wird in diese Gesellschaft?‘, wo ich erst einmal schlucken musste und gesagt habe: ‚Äh bitte was? Was ist denn passiert?‘. ‚Also das geht so GAR nicht. Sie müssen mit dem Kind Deutsch sprechen. Sie müssen das.‘ Und total auch so laut und da ist auch die Arzthelferin in den Raum gekommen und geguckt so ne: ‚Ist alles in Ordnung?‘“ (Malika, 373–379).

Die (deutsche) Sprache wird hier als Indikator für die Integration(swilligkeit) in die Gesellschaft angeführt. Beim Rassismus werden Merkmale wie Sprache dazu genutzt, um die Gruppenzugehörigkeit zu bestimmen. Die Gruppenzugehörigkeit ist eng mit Teilhabechancen verknüpft (vgl. Aygün-Sagdic et al. 2015: 111). Das wiederum bedeutet, dass Sprache als Merkmal darüber entscheidet, wer zu welchen Ressourcen Zugänge erhält. Sprache kann die soziale Integration fördern, jedoch ist diese Situation unter weiteren Aspekten zu berücksichtigen: Wer sagt was, zu wem? Malika ist mit ihrer Tochter als Patientin bei einer medizinischen Untersuchung. Sie nimmt in diesem Geschehen mit ihrer Tochter als Person of Color die Rolle der Patientin ein. Hinzu kommt, dass sie mit ihrer Tochter ausschließlich auf Arabisch und mit der Kinderärztin auf Deutsch kommuniziert. Die Kinderärztin nimmt dagegen eine weiße Sprecherinnenrolle ein und bekleidet durch ihren Beruf eine machtvolle Position, sodass das Verhältnis von Patientin und Ärztin (Abhängigkeitsverhältnis) hier mit hineinwirkt. Aus ihrer privilegierten Position spricht die Kinderärztin mit einem fordernden und vor allem bewertenden Ton mit Malika. In der Aussage der Kinderärztin wird Deutsch als Hegemonialsprache reproduziert. Aygün-Sagdic et al. weisen darauf hin, dass es bei der Sprache nicht nur um reine Verständigung gehe, sondern die „Vermittlung, Nahelegung und Durchsetzung von Einstellungen, Handlungsweisen und der Positionierung innerhalb von umkämpften Diskursen und deren Verbindung zu strukturellen Gesellschaftsverhältnissen“ (ebd.: 113). Dadurch, dass die Kinderärztin der deutschen Sprache eine hohe Bedeutung zuschreibt, findet eine Abwertung anderer Sprachen – in diesem Falle der arabischen Sprache – statt. Eine derartige hegemoniale Sprachpraxis kann nur stattfinden, wenn andere nicht-hegemonialen Sprachen abgewertet werden (vgl. ebd.: 112). Die Machtposition der Kinderärztin wird in diesem Moment relevant, als sie sich zu einem Thema in einer Weise positioniert, die ihren medizinischen Aufgabenbereich überschreitet. Sie hätte mit Malika in einen Dialog treten und das Thema erfragend verhandeln können. Stattdessen werden von vornherein Auf- und Abwertungen in Form einer Sprachhierarchie vorgenommen. Dabei argumentiert die Kinderärztin nach einem entweder/oder-Prinzip und verkennt die Option einer Mehrsprachigkeit, die die Mutter hier als ein Ziel in der Erziehung ihrer Tochter verfolgt. Die Kinderärztin markiert ihre Rolle hier als eine Art Sprachwächterin. In dieser Diskussion wird über die Tochter und ihre Spracherziehung verhandelt, ohne dabei die Mehrsprachigkeit als einen Teil ihrer Lebenswelt anzuerkennen. So findet seitens der Kinderärztin einzig und allein die deutsche Sprache und nicht die arabische Sprache oder die Mehrsprachigkeit Anerkennung. Malika führt zum Schluss des oben angeführten Zitats an, dass die Kinderärztin so außer sich war, dass die Arzthelferin hereinkam, um nach dem Rechten zu schauen. Diese Ergänzung unterstreicht das Ausmaß der beschriebenen Situation.

Entscheidender ist, wie Malika auf die hier geschilderte Situation reagiert hat. Malika beschrieb im Interview, dass sie die Kinderärztin zunächst darauf hinwies, dass sie ihre Tochter bilingual erzieht und stellte dann die Kinderärztin zu Rede, welches Problem sie in dieser Situation sehe. Sie wich den Aussagen der Kinderärztin nicht aus und trat mit ihr in eine Diskussion. Währenddessen wendete sie sich hin und wieder mal zu ihrer Tochter, da die Tochter nach dem Phänomen der Schützenden Bewältigung als eine andere Person zu schützen galt. Durch das beruhigende Ansprechen der Tochter wollte Malika die Situation schützend bewältigen: „Dann habe ich mich noch mit zu meiner Tochter gewandt und habe gesagt: ‚Brauchst keine Angst haben, alles in Ordnung, wir streiten nicht, wir reden nur. Das ist ne, Erwachsene reden manchmal ein bisschen laut, weil sie diskutieren‘“ (Malika, 404–406). In dieser Beschreibung wird ersichtlich, dass sie in ihrer unmittelbaren Reaktion weiterhin die zu schützende Person im Fokus ihrer Handlung hat. Das zeigt auch, dass sie physisch präsent (‚nah‘) und die Intensität der Interaktion mit der Diskriminierenden ‚hoch‘ ist. Der einzige Unterschied zum vorherigen Beispiel von Hamide ist, dass sie die als diskriminierend interpretierte Handlung der Kinderärztin zum Gegenstand der Handlung macht und somit stark interveniert (‚viel‘). Das wird insbesondere an der folgenden Ausführung deutlich:

„Sie sagte: ‚Na ja, ich bin Ärztin, ich kann mir eine Meinung darüber machen.‘ Habe ich gesagt: ‚Ja, vielleicht, aber das ist dann eine Meinung und keine wissenschaftlich fundierte, weil Sie bedienen sich hier Mustern, die absolut, also mega diskriminierend sind‘“ (Malika, 395–397).

Nach der Erzählung von Malika zu urteilen, hat sie die Haltung der Kinderärztin als ‚diskriminierend‘ bezeichnet und wich somit der Handlung – damit meine ich das Benennen von diskriminierender Handlung – nicht aus. Malika kommunizierte zunehmend ‚verbal‘ mit der Kinderärztin, was wiederum auf den Reaktionstyp aktiv-handelnd deutet. Im Großen und Ganzen wurden dadurch alle Eigenschaften des aktiv-handelnden Reaktionstyps identifiziert.

Abbildung 7.6
figure 6

Eigenschaften und Dimensionen von Malika mit einer höheren Intervention beim Reaktionstyp aktiv-handelnd

Festzuhalten ist, dass die in der Abbildung 7.6 angeführte dimensionale Einordnung nicht statisch zu verstehen ist. Es ist eine ungefähre Einordnung der beschriebenen Situation auf Grundlage der interpretativen Auslegung, die zuvor dargelegt wurde. Eine derartige Einordnung soll nur als eine Orientierungshilfe verstanden werden, um den Reaktionstyp, der situationsgebunden ist, zu bestimmen.

Während Malika hier die diskriminierende Handlung umfänglich thematisiert, nahm Hamide nur den Versuch auf, um die Situation entsprechend abzuschätzen. Weitere Unterschiede, die in diese zwei Situationen hineinwirken, sind nicht außer Acht zu lassen: So befand sich Malika zwar in einem Abhängigkeitsverhältnis, wollte aber ihre Tochter schützen, wodurch sie aktiv-handelnd reagiert. Hamide dagegen befand sich in einem Professionsverhältnis und wollte vermutlich die Beziehung zu ihrem Klienten nicht belasten, indem sie die diskriminierende Handlung in den Mittelpunkt stellt. Nichtsdestotrotz haben sowohl Malika als auch Hamide aktiv-handelnd reagiert, um die Situation schützend zu bewältigen. Der wesentliche Unterschied lag darin, dass Hamide versucht hatte, auf die diskriminierende Handlung zu verweisen, der ihr nur einschränkend geglückt ist. So musste sie situativ handeln und entschied sich zum Schluss für eine passiv-zurückhaltende Reaktion, die nachstehend ausführlicher erläutert wird.

7.1.2.2 Passiv-zurückhaltend

Der situative Reaktionstyp passiv-zurückhaltend stellt ein Mittelmaß aus aktiv-handelnd und distanzierend dar. Im Datenmaterial war passiv-zurückhaltend als Reaktionstyp in den beschriebenen Diskriminierungserfahrungen überwiegend vorzufinden. Diese Beobachtung hängt mit den einwirkenden Bedingungen zusammen. Auch hier hat das Phänomen der Schützenden Bewältigung eine zentrale Rolle eingenommen. Grundsätzlich ist zu sagen, dass Personen, die sich dem Reaktionstyp passiv-zurückhaltend entsprechend verhalten, in den Situationen physisch präsent sind, aber in der Intensität der Interaktion am wesentlichsten vom aktiv-handelnden Reaktionstyp unterscheiden. Nach diesem Reaktionstyp verhalten sich die Betroffenen mit Blick auf die diskriminierende Handlung zurücknehmend, sodass der Grad der Interaktion variieren kann. Dadurch verringert sich auch die Intention, auf die diskriminierende Handlung bezugnehmend zu agieren. Die Kommunikationsform bei passiv-zurückhaltenden Typen reduziert sich nicht ausschließlich auf das eine oder das andere. Es ist vielmehr eine Kombination aus den Polen ‚verbal‘ und ‚non-verbal‘. Durch das Einbeziehen beider Kommunikationsformen sollte ein bestimmtes Verhalten mit in die Analyse eingebracht werden, dass immer wieder in den rekonstruierten Erzählungen der Befragten zu erkennen war: Das bewusste Unterlassen bzw. Unterdrücken von Handlungen. Diese Nicht-Handlungen werden in Form der Zurückhaltung in der Art der non-verbalen Kommunikation beobachtbar. In den Erzählungen werden Nicht-Handlungen teilweise konkret benannt. Aus diesem Grund entsteht in diesem Reaktionstyp eine Mischung aus verbaler und non-verbaler Kommunikation, während bei den anderen Reaktionstypen eine der genannten Kommunikationsformen überwiegt. Eine Ausnahme stellt das bewusste Hinnehmen einer diskriminierenden Handlung dar, wenn z. B. bewusst von der Handlung abgelenkt wird. Dies kann dann in einer überwiegenden verbalen Form erfolgen. Solange die eigentliche diskriminierende Handlung nicht im Fokus der Reaktion steht, kann auch nicht die Rede vom aktiv-handelnden, sondern nur vom passiv-zurückhaltenden Reaktionstyp sein.

Asifa ist Mitte 40 und eine Schwarze Muslimin. Mit ihrer religiösen Kopfbedeckung ist sie als Muslimin von außen zu erkennen. Vor ungefähr 15 Jahren migrierte sie nach Deutschland. Bevor sie ihr zweites Studium begann, absolvierte sie eine Ausbildung im pflegerischen Bereich. Im Interview erzählte sie mir von immer wiederkehrenden Diskriminierungserfahrungen während ihrer Ausbildungszeit. Asifa berichtete mir von einer älteren Dame, die sie immer wieder mit der Frage konfrontierte, warum sie in Deutschland ist:

„Also aber da war meine Antwort ganz klar. So, ne, ich habe ja gesagt: ‚Ähm, hier ist meine Heimat. Das ist meine zweite Heimat und, äh, ähm, ich werde bleiben.‘, und dann: ‚Warum wollen Sie hierbleiben?‘. Ich habe gesagt: ‚Ich werde hierbleiben, weil ich studiere hier und wenn ich fertig bin, dann will ich für die hiesige Gesellschaft was tun. Ich werde nicht zuhause bleiben, aber ich werde ein Teil von dieser Gesellschaft.‘ Und ich habe [ihr] ja gesagt: ‚Ich bin Deutsche, fühle mich Deutsche und ich werde, äh, ähm, und wenn ich mich, äh, in [Land in Afrika] jetzt bin, dann will ich und es ist, dann bin ich Besucher, aber hier ist meine Heimat‘“ (Asifa, 466–473).

Aus diesem Beispielzitat geht eindeutig hervor, dass Asifa Othering-Prozessen ausgesetzt ist. Aufgrund ihrer phänotypischen Merkmale wird sie als fremd gedeutet und mit Zugehörigkeitsfragen konfrontiert. In der Rekonstruktion der Erzählung fällt auf, dass Asifa eine eindeutige Antwort auf die gestellten Fragen hat und diese auch äußert. Das würde bedeuten, dass sie in der geschilderten Situation physisch präsent (‚nah‘) ist und in eine Interaktion (‚hoch‘) mit der älteren Dame tritt. Der Anfang vom Zitat weist darauf hin, dass sie sich sicher war, wie sie in dieser Situation agieren sollte. Ihre Antworten auf die gestellten Fragen wirken so, als müsse Asifa sich erklären und ihr Dasein in Deutschland rechtfertigen. Vor allem wird ihre rechtfertigende Art daran deutlich, dass sie sagt: „Ich werde nicht zuhause bleiben“. Dieser Satz kann dahingehend interpretiert werden, dass sie ihr Gegenüber davon überzeugen wollte, dass sie nicht auf Kosten anderer leben, sondern eine Leistung für die Gesellschaft erbringen wird. Insbesondere in Integrationsdiskursen ist diese Verknüpfung von Leistung und Integration wiederzufinden. Hier wird zwischen Leistenden und Nicht-Leistenden unterschieden. Komplexe Lebenslagen und strukturelle Vorbedingungen werden bei der Leistungsfrage ausgeblendet. Das Scheitern von beruflichen Werdegängen von Migrant*innen wird als individuelles Versagen interpretiert. Außerdem ist festzustellen, dass Asifa durch ihre erklärende Art die diskriminierende Handlung der älteren Dame nicht thematisiert. Letztendlich reagiert sie auf die Fragen der Dame, ohne dabei in die eigentliche diskriminierende Handlung zu intervenieren. Hier wird der Unterschied zwischen Interaktion und Intervention als Eigenschaften der Reaktionstypen deutlich. Die Abbildung 7.7 fasst die dimensionale Verteilung der Eigenschaften der hier beschriebenen passiv-zurückhaltende Reaktion von Asifa.

Abbildung 7.7
figure 7

Eigenschaften und dimensionale Einordnung von Asifas Diskriminierungserfahrung als passiv-zurückhaltend

Den passiv-zurückhaltenden Reaktionstyp möchte ich an einem weiteren Beispiel einer Diskriminierungserfahrung von Maryam aufzeigen. Maryam ist in Marokko geboren und Ende 40. Zum Zeitpunkt des Interviews lebte sie bereits über 20 Jahre in Deutschland. Als Kopftuchträgerin kann sie von außen als Muslimin wahrgenommen werden. Sie hat drei Kinder und arbeitet in einem migrationsbezogenen Kontext als Sozialarbeiterin. Sie zählt zu einer von drei Interviewpersonen, die keine typische soziale Berufsausbildung hat, jedoch als Sozialarbeiterin eingestellt wurde. Das Telefoninterview eröffnete ich mit der Erzählaufforderung, mir von einer Diskriminierungserfahrung zu erzählen, die für sie eine besondere Bedeutung hat. Hierzu führte sie ein Elterngespräch mit ihrer Tochter und deren Klassenlehrerin als Diskriminierungserfahrung an. Aufgrund des Interviewsettings konnte ich sie nicht visuell wahrnehmen. Maryam erwähnte daher bereits zu Beginn, dass sie ein Kopftuch trägt. Diese Kontextinformation schien ihr von großer Relevanz zu sein, weswegen sie diese gleich zu Beginn einschob und immer wieder in ihren Erzählungen darauf verwies. Die Interviewpartnerin erläuterte, dass das Elterngespräch primär mit der Tochter geführt wurde:

„Und sie hat die ganze Zeit dabei meine älteste Tochter angeguckt. Bei mir ist es so, ich höre erstmal zu. Bei Lehrer ist es immer so, bei uns auch so, weiß nicht ob kulturbedingt, wir hören erstmal zu, weil die haben ein bestimmtes Wert bei uns in Kultur. Ich habe zugehört und dann irgendwann mal hat sie mich angeguckt und hat sie gesagt: ‚Verstehen Sie mich auch?‘. Die Frage: ‚Verstehen Sie mich auch‘, /also sie ist schon sofort davon ausgegangen, dass ich kein Deutsch verstehe, nur weil ich jetzt vor ihr so mit Kopftuch saß. Und die hat mich ja nichts gefragt, gar nichts, nur außer Begrüßung. Und dann hat sie die ganze Zeit mit meiner Tochter angesprochen und angeguckt“ (Maryam, 15–26).

Noch bevor Maryam auf die eigentliche diskriminierende Handlung zu sprechen kommt, erwähnt sie, dass Lehrkräfte für sie einen besonderen Stellenwert haben. Die kulturelle Begründung führt sie über ‚Wir‘- bzw. ‚Uns‘-Konstrukte aus. Sie sieht daher einen Unterschied im Umgang mit Lehrkräften im Vergleich zu anderen, die sie nicht unter ihr ‚Wir‘-Konstrukt fasst. Vermutlich zieht sie kulturelle Grenzen zwischen den Menschen aus ihrem ursprünglichen Herkunftsland Marokko und den Menschen hier in ihrem Migrationsland Deutschland. Ihre Verhaltensweise, „ich höre erstmal zu“, begründet sie ebenfalls kulturell und unterstreicht damit das Verhältnis zu der (Rolle der) Lehrerin. Die Frage der Lehrerin, ob sie sie verstehe, führt zu einem Normalitätsbruch bei Maryam. Die Interviewpartnerin versucht diesen Bruch einzuordnen und nimmt an dieser Stelle erste Deutungen vor. Sie deutet das Tragen ihres Kopftuchs als einen Auslöser für die Vorannahme der Lehrerin. Die Frage der Lehrerin führt zu einer Wahrnehmungsirritation bei Maryam, sodass von hier an ein Interaktionsbruch stattfindet, auf den bezugnehmend alle weiteren Handlungen aufgebaut werden.

Außerdem ist darauf hinzuweisen, dass sich die Interviewpartnerin in der hier beschriebenen Situation nicht adressiert fühlt. Vor allem wird dies an der Stelle deutlich, wo sie am Anfang und am Ende des Zitats darauf verweist, dass die Lehrerin beim Gespräch den Augenkontakt zu ihrer Tochter hält und dadurch primär sie im Gespräch fokussiert. Das wiederholte Hinweisen darauf, dass Maryam nicht angeschaut wird, kann so interpretiert werden, dass sie sich dadurch nicht anerkannt fühlt. Scherr/Breit führen in ihrer Studie als ein zentrales Ergebnis der Interpretationsarbeit an, dass die Diskriminierungserfahrungen, von denen die Befragten berichteten, eng mit Anerkennungserfahrungen verschränkt sind. Sie weisen auch darauf hin, „dass die subjektiven Deutungen, Bewertungen und Bewältigungsformen von Diskriminierungserfahrungen nicht verständlich werden, wenn Diskriminierungserfahrungen isoliert betrachtet werden“ (Scherr/Breit 2020: 50). Diesem Verweis der Autor*innen kann zugestimmt werden. Im vorliegenden Datenmaterial stellte die Interpretationsleistung der Betroffenen einen Großteil der zu analysierenden Daten dar. Sie halfen zu verstehen, welche Einordnungs-, Handlungs- und Abwägungsmuster die Befragten verfolgen. Dadurch konnte ebenfalls die Prozesshaftigkeit von Diskriminierungserfahrungen konkreter ausgearbeitet werden. Die gewonnenen Erkenntnisse wurden in die Konzeption des Theoriemodells der Schützende Bewältigung eingebettet. Um an den Gedanken von Scherr/Breit anzuknüpfen, kann davon ausgegangen werden, dass die Interviewpartnerinnen grundsätzlich ein positives Zugehörigkeitsgefühl und Anerkennung in den beschriebenen Situationen voraussetzen. Sobald diese in Frage gestellt, angezweifelt oder nicht zugesichert werden, kommt es zu einer Irritation. Diese Irritationen, die im Datenmaterial immer wieder zu identifizieren waren, werden gedeutet, bewertet und stellen einen Großteil des Interpretationsprozesses bei den Betroffenen dar. In der Beschreibung dieser Interpretationsprozesse ist zu beobachten, wie Betroffene Situationen dahingehend einordnen und bewerten, ob es sich bei der wahrgenommenen Situation um eine Diskriminierungserfahrung handele oder nicht. Der Deutungsrahmen der Betroffenen macht es erst möglich, die jeweilige Handlungsauswahl nachzuvollziehen.

Scherr/Breit beziehen sich auf Axel Honneth, der die Anerkennungstheorie prägte, und verweisen auf den Begriff der „Unrechtsempfindungen“ (Honneth 1981: 562; Scherr/Breit 2020: 50). So gelten Gerechtigkeitsvorstellungen als anerkannte Bewertungs- und Beurteilungswerkzeuge der Gesellschaftsordnung, wobei soziale Gruppen, die unterdrückt werden, diese Unrechtsempfindung verspüren (vgl. Honneth 1981: 562). In der rekonstruierten Erzählung von Maryam ist zu erkennen, dass sie sich ungleich behandelt fühlt: Erstens durch die Nicht-Adressierung im Elterngespräch, zweitens durch die primäre (Augen-)Kontaktaufnahme zu ihrer Tochter und drittens durch die vorurteilsgeladene Frage, ob sie die Lehrerin verstehen könne. Die Unrechtsempfindung von Maryam wird insbesondere daran erkennbar, als sie aufzeigt, dass es zuvor mit der Lehrerin bis auf die Begrüßung keinen Austausch gab. Nachdem lag keine Grundlage dafür vor, die Sprachkenntnisse von Maryam angemessen beurteilen zu können, um dann die sprachliche Verständnisfrage, ob Maryam die Lehrerin verstehen könne, zu stellen.

Interessant wird es an der Stelle im Interview, wo ich die Interviewpartnerin danach fragte, wie sie auf diese Situation reagiert hat. Maryam führte im Interview nicht nur aus, wie sie mit dieser Diskriminierungserfahrung umgegangen ist, sondern insbesondere warum sie so gehandelt hat, wie sie es beschrieb. Bei ihrer rekonstruktiven Ausführung werden nicht nur asymmetrische Machtgefälle, sondern auch Geltungsbedürfnisse der Beteiligten sichtbar:

„Ja, das hat mir natürlich nicht gefallen, aber ich habe gesagt: ‚Ja klar, verstehe ich Sie und ich bin auch Sozialarbeiterin und ehemalige Lehrerin aus Marokko. Also ich kann deutsch ganz gut, also ich verstehe Sie ganz gut.‘ – ‚Ja, alles klar, dann ist das okay.‘ Ja und dann die hat sich nicht dafür entschuldigt, aber so das geäußert, dass warum sie das gemacht hat oder so, dann eben hat sie dann weitergemacht. […] Ich reagiere nicht immer so richtig, weil ich bin erstmal leise und dann sage ich was. Aber bei der Lehrerin war ja auch so, weil meine Tochter bei ihr ist, dann dachte ich: ‚Okay, sag nicht zu viel.‘ Ja nachher hat sie die Tochter jetzt dann/ ja sie hat die Hand, also die höchste, obere Hand, sozusagen die Lehrerin und deswegen habe ich mich mit ihr nicht darauf eingelassen auf dieses Gespräch“ (Maryam, 37–52).

Maryam beschreibt ihre Reaktion auf die Frage der Lehrerin und gibt an, dass sie zustimmt, die Lehrerin zu verstehen. Zudem erwähnt sie, dass sie Sozialarbeiterin ist und in Marokko Lehrerin war. Die diskriminierende Frage führt dazu, dass die berufliche Zugehörigkeit bei Maryam plötzlich eine Relevanz erhält, weswegen sie diese mit Nachdruck einschiebt. Zu beachten ist: Maryam ist in diesem Elterngespräch als Mutter ihrer Tochter anwesend, wobei ihr Beruf hier im Grunde genommen keine Rolle spielt. Bis zum Zeitpunkt der Wahrnehmungsirritation bei Maryam hat ihr Beruf auch keine Bedeutung gehabt. Erst durch den Normalitätsbruch durch die Lehrerin schrieb Maryam ihrem Beruf eine Relevanz zu. Es scheint so, als würde Maryam durch das Offenlegen ihrer Tätigkeit gegenüber der Lehrerin ihre Kompetenzen als Person geltend machen wollen. Dabei handelt es sich nicht nur um die Verdeutlichung ihrer sprachlichen Kompetenz, die sie anhand ihrer Mehrsprachigkeit argumentativ hervorheben könnte. Maryam ging es in diesem Augenblick um viel mehr: Eine Interpretationsmöglichkeit dieser Handlung von Maryam könnte sein, dass sie nicht nur die eine Vorannahme der Lehrerin, die verbal zum Ausdruck gebracht wurde, wahrnimmt, sondern darüber hinaus weitere Ressentiments bei der Lehrerin vermutet. Da Maryam das Kopftuchtragen als Auslöser dieser diskriminierenden Handlung deutet, wird ihr anscheinend bewusst, dass mit dem Kopftuchtragen noch weitere Vorurteile verknüpft sind. Um diese Wahrnehmung wiederum bei der Lehrerin zu irritieren, erwähnt sie ihre eigene berufliche Rolle. Der (ehemalige) Beruf als Lehrerin im Herkunftsland kann als ein Versuch gelesen werden, sich mit der Lehrerin der Tochter gleichzustellen und eine Begegnung auf Augenhöhe durch die Erwähnung einer Gemeinsamkeit zu erzeugen.

Anscheinend war es auch ihre Absicht, durch die Nennung ihres Berufs auf die Ressentiments der Lehrerin indirekt zu verweisen. Das wird insbesondere deutlich, als Maryam im Gespräch anführt, dass die Lehrerin sich nicht bei ihr entschuldigt hatte. Ihre Aussage sollte also eine bestimmte Gegenreaktion bei der Lehrerin erzeugen, die jedoch nicht eintrat. Da die Deutung auf die diskriminierende Handlung nicht eindeutig genug vorgenommen wurde, wird dieser Versuch nicht unter der aktiv-handelnden Reaktion zugeordnet. Bei der Fokussierung der diskriminierenden Handlung kommt es darauf an, ob eine hohe und niedrige Interpretationsleistung vom Gegenüber erwartet wird oder nicht. Durch die alleinige Nennung der beruflichen Zugehörigkeit kann nicht vorausgesetzt werden, dass die Lehrerin die Deutung von Maryam ohne Weiteres versteht. Beim Beispiel von Hamide und ihrem Beratungsgespräch mit einem Klienten war es zu erwarten, dass die überspitzte Darstellung ihrer Antwort die diskriminierende Handlung des Gegenübers thematisiert unabhängig davon, ob der Klient diese auch als solches wahrnimmt. Bei Maryams Handlung in der hier beschriebenen Beispielsituation erfordert eine hohe Deutungsleistung vom Gegenüber, weshalb diese Reaktion als passiv-zurückhaltend betrachtet wird. Eine derartige feine Unterscheidung ist daher notwendig, da die Absicht der Reaktion nicht den Reaktionstyp bestimmen soll, sondern die tatsächliche Handlung und ihr Kontext. Des Weiteren merkt Maryam an, dass sie zunächst in solchen Situationen meist eine beobachtende Rolle einnimmt und sich zurückhaltend verhält. Anhand dieser Aussage kann davon ausgegangen werden, dass sie mit ähnlichen, diskriminierenden Situationen vertraut ist, weswegen sie ein Handlungsmuster für sich entwickelt hat und dies auch als solches benennen kann.

Des Weiteren legt Maryam ihren Gedankengang, „Okay, sag nicht zu viel“, offen. Diese Gedankenführung deutet auf ein allgemein vorsichtiges Verhalten hin. Ihre Vorsicht liegt darin begründet, dass hier ein Machtgefälle zwischen der Lehrerin und ihrer Tochter als Schülerin vorliegt. Maryam sieht sich als Mutter in einem Abhängigkeitsverhältnis zu der Lehrerin, da ihr eigenes Verhalten Konsequenzen für ihre Tochter bedeuten könnte. Die Beschreibungen „höchste“ und „oberste Hand“ symbolisieren das asymmetrische Machtverhältnis, das sie in dieser Situation wahrnimmt. Um diese Situation schützend zu bewältigen, verhält sich Maryam zurückhaltend und akzeptiert, dass die diskriminierende Handlung der Lehrerin nicht konkret und voll umfänglich thematisiert wird. An diesem Beispiel ist zu erkennen, dass Maryam mit der Form, wie sie reagiert, einen Versuch startet, sich selbst zu schützen. Indem sie ihre eigene berufliche Rolle markiert, versucht sie die Wahrnehmung der Lehrerin zu irritieren, was letztendlich zum Eingeständnis der Vorannahme und/oder einer Entschuldigung hätte führen sollen. Als sie jedoch an die Grenzen ihrer Absichten stößt und ein weiterer Versuch, die Lehrerin auf die diskriminierende Handlung hinzuweisen, Konsequenzen für die Tochter bedeuten könnte, verhält sie sich passiv-zurückhaltend. Die Eigenschaft der Intervention wird hier ersichtlich und siedelt sich auf dem Kontinuum bei einer mittleren Position ein. Eine derartige Einordnung ist vor allem deshalb vorzunehmen, da die Interviewpartnerin durch die Äußerung „sag nicht zu viel“ auf ein Unterlassen bzw. Unterdrücken einer Handlung als Handlungsstrategie hinweist.

Hier kollidieren also mehrere Dinge im Rahmen des Phänomens der Schützenden Bewältigung, jedoch überwiegt die eine Zielsetzung – die eigene Tochter vor Konsequenzen zu bewahren – vor anderen Interessen. Die Eigenschaften der Schützenden Bewältigung – Schutzbedürfnis und Risikobereitschaft – kamen hier insbesondere zur Geltung. Wie bereits eingangs in Kapitel 7 erläutert wurde, dass mehrere Dinge auch im Phänomen zusammenkommen können, konnte dies hier nun an einem Beispiel belegt werden. Dadurch, dass immer wieder durch ausgewählte Personengruppen wie Lehrkräfte diskriminierende Handlungen in einem Alltagskontext erfolgen, ist zu erkennen, „dass rassistische Deutungsmuster ‚kein Randphänomen‘, sondern in der ‚Mitte‘ der Gesellschaft etabliert sind“ (Schramkowski/Ihring 2018: 281). In diesem banalen Fall eines Elterngesprächs wird auch Schule als machtvolle Institution nicht nur im Verständnis und der Reaktion von Maryam, sondern auch in einem strukturellen Rahmen deutlich. Maryam erkennt die Asymmetrien und kann die Wirkung ihres Handelns abschätzen. Daran wird deutlich, wie soziale und äußere Bedingungen, z. B., das Abhängigkeitsverhältnis und der schulische Raum, die situative Reaktionsauswahl – sich nach dem Typ passiv-zurückhaltend zu verhalten – beeinflussen (Abbildung 7.8).

Abbildung 7.8
figure 8

Dimensionale Einordnung der Situation von Maryam und ihr Reaktionstyp passiv-zurückhaltend

Zusammenfassend kann gesagt werden, dass der Reaktionstyp passiv-zurückhaltend die diskriminierende Handlung nicht direkt thematisiert und durch Handlungen versucht, die Situation schützend zu bewältigen. Das Besondere an diesem Reaktionstyp im Vergleich zum aktiv-handelnden ist das reduzierte Maß an Intervention mit Blick auf die diskriminierend interpretierte Handlung. Eine Nicht-Handlung wie bei Maryam, die sich zurückhielt mit ihren Äußerungen und Einwänden, was vor allem in dem Ausdruck, „Okay, sag nicht zu viel“, wiederzuerkennen ist, stellt eine klassische Handlungsweise für den Reaktionstyp passiv-zurückhaltend dar. Was an dieser Stelle nicht deutlich wird, aber dennoch für eine tiefgehende Analyse interessant wäre, ist die non-verbale Reaktion, die Maryam in ihrem Interview nicht näher ausführt. Verhaltensweisen der Zurückhaltung schlagen sich häufig in non-verbaler Kommunikation nieder und werden bei der erzählerischen Rekonstruktion –nach meiner Beobachtung – überwiegend vernachlässigt. Erst wenn die Personen selbst den Nicht-Handlungen eine große Bedeutung zuweisen, werden sie von den Interviewpartnerinnen beschrieben. Diese grundsätzliche Beobachtung spiegelt sich in den drei Reaktionstypen wider. Im dritten Reaktionstyp erfährt die non-verbale Kommunikation jedoch eine besondere Bedeutung.

7.1.2.3 Distanzierend

Als letztes bleibt der dritte Reaktionstyp der zweiten Phase der unmittelbaren Reaktion übrig, die ich in meinem Theoriemodell der Schützenden Bewältigung gegenstandsverankert etabliert habe. Der Reaktionstyp distanzierend stellt den Gegenpol zu aktiv-handelnd dar und kam in den rekonstruierten Diskriminierungserfahrungen der Befragten am wenigsten vor. Es ist wichtig, an dieser Stelle wiederholt zu betonen, dass die Bezeichnung der Reaktionstypen und insbesondere beim distanzierenden Typ keine Schlussfolgerungen auf die Stärke oder Schwäche einer Person zulässt. Wie auch bei den anderen Reaktionstypen wird diese situativ durch ein Bedingungsset hervorgerufen und durch das Phänomen der Schützenden Bewältigung beeinflusst. Dabei ist das prägnanteste beim distanzierenden Typ, dass die Eigenschaft physische Präsenz im Gegensatz zu aktiv-handelnd und passiv-zurückhaltend auf dem Kontinuum bei ‚fern‘ eingeordnet wird. Betroffene in Diskriminierungssituationen, die sich distanzierend verhalten, versuchen aus verschiedenen Gründen, die Situation zu verlassen. Dadurch entstehen logischerweise Auswirkungen auf die Merkmale Intensität der Interaktion und Intervention: Da die Personen sich von der Situation physisch entfernen, ist die Möglichkeit der Interaktion ‚gering‘ und damit einhergehend auch die Intervention durch eine Einordnung bei ‚wenig‘ begrenzt. Der Reaktionstyp distanzierend äußert sich primär in Form der non-verbalen Kommunikation. Diese Form der Kommunikation kommt überwiegend in diesem Reaktionstyp zum Vorschein im Vergleich zu den anderen.

An dem Beispiel von Hanifa, die während einer Dienstreise zur Erholung auf einem Rastplatz einen Zwischenhalt machte, war bereits der Reaktionstyp distanzierend zu erkennen. Drei Männer begannen sie zu verfolgen und warfen auf dem Parkplatz Silvesterknaller unter ihr Auto. Der offensichtliche Angriff auf Hanifa veranlasste sie, zügig ins Auto einzusteigen, um sich vor diesen Knallern zu schützen. Diese Diskriminierungserfahrung ist ein prägnantes Beispiel für den Reaktionstyp distanzierend. Es enthält auch eine klassische Schlussfolgerung: Die Person befindet sich offenbar in einer Gefahr und deshalb verhält sie sich distanzierend, indem sie die Flucht ergreift. Um aufzuzeigen, dass es auch andere Situationen mit ausgewählten Bedingungen geben kann, wo Betroffene sich für den distanzierenden Reaktionstyp entscheiden, möchte ich auf zwei unterschiedliche Interviews zurückgreifen. Dadurch wird nicht nur der Reaktionstyp distanzierend umfassender beschrieben, sondern auch die einzelnen Bedingungen, die in dem Phänomen der Schützenden Bewältigung zur Geltung kommen. Zunächst beginne ich mit einer Diskriminierungserfahrung von Malala. Ich möchte an dieser Stelle ins Gedächtnis rufen, dass Malala eine Schwarze Muslimin ohne religiöse Bekleidung ist, die aufgrund der Hautfarbe andere und häufiger Diskriminierungserfahrungen macht im Vergleich zu einer Person, die nicht Schwarz ist oder nicht als Muslimin wahrgenommen wird. Die Interviewpartnerin berichtete von einer zufälligen Begegnung mit einer Fahrradfahrerin auf der Straße. Sie war in Begleitung ihres Sohnes, der mit dem Laufrad vor ihr herfuhr. Zum Zeitpunkt des Erlebnisses war der Sohn zwei Jahre alt. Die Situation gestaltete sich so, dass sich der Sohn mit dem Laufrad auf dem Gehweg fortbewegte, während eine Fahrradfahrerin, die ebenfalls auf dem Gehweg fuhr, den beiden entgegenkam. Malala beschrieb wiederholt bei der Erzählung, wie sich die Situation abspielte. Sie erzählt von Beginn an aus einer Rechtfertigungsposition. Die fokussierte Wiederholung der Fakten des Geschehens kann einerseits so interpretiert werden, dass es ihr wichtig war, mir als Interviewerin deutlich zu machen, dass sie sich auch bei einer objektiven Betrachtung des Geschehens nicht falsch verhalten hatte. Andererseits kann es sein, dass sie aufgrund von Vorerfahrungen vorgeprägt ist und das Gefühl hat, sich ständig erklären zu müssen. Vermutlich ist sie auch häufig mit Vorwürfen und Unterstellungen konfrontiert, ob es sich bei ihren Erzählungen tatsächlich um (rassistische) Diskriminierung handle oder nicht. Daher passt sie sich den Umständen an und strukturiert ihre rekonstruierenden Erzählungen nach ihren Erfahrungen. Das sind zwei verschiedene Formen der Interpretationsmöglichkeiten, die nach meiner Ansicht eine Erwähnung finden sollten. Meines Erachtens erscheint es mir wichtig, an dieser Stelle die Diskussion von subtiler Diskriminierung und Diskriminierungserfahrung erneut aufzugreifen. Zum einen handelt es sich bei Diskriminierungserfahrung um einen interpretativen Prozess. Das bedeutet, dass dieselbe Situation von verschiedenen Personen unterschiedlich bewerten werden können (diskriminierend vs. nicht-diskriminierend) (vgl. El-Mafaalani et al. 2017: 180). Bei der Erfahrungskomponente kann es sich daher nur um eine subjektive Einschätzung handeln (vgl. Scherr/Breit 2020). Zum anderen werden offensichtliche Diskriminierungsformen mehrheitlich von der Gesellschaft abgelehnt. Es würde sich um eine kurzsichtige Einordnung handeln, wenn bei Diskriminierung nur von offensichtlicher Ausgrenzungspraxis die Rede wäre. Subtile, unterschwellige, indirekte Diskriminierung muss mitberücksichtigt werden, um Diskriminierung ganzheitlich zu erfassen. Die große Herausforderung liegt darin begründet, diese Diskriminierungsformen auch als solche wahrzunehmen. Hinzu kommt die Schwierigkeit, die sich überwiegend bei den Betroffenen abzeichnet: Bei der Artikulation von subtilen Diskriminierungen sehen sich Betroffene mit einer Erklärungsunsicherheit konfrontiert (vgl. El-Mafaalani et al. 2017: 180). Im Gegensatz zu offensichtlicher Diskriminierung können Betroffene sich nicht auf eindeutige Fakten stützen, die auch von der Gesellschaft als Diskriminierung aufgefasst werden. Dies wiederum führt dazu, dass Betroffene wie Malala sich gezwungen sehen, ständig aus einer Rechtfertigungsposition heraus sprechen zu müssen.

Außerdem war zu beobachten, dass Malala zu Beginn des Interviews immer wieder ein Deutungsangebot machte, weshalb sie nach ihrer Wahrnehmung in den jeweiligen Situationen diskriminierend behandelt wurde. An dieser Stelle des Interviews machte sie kein Deutungsangebot. Sie leitete jedoch zu einer weiteren ähnlichen Situation über, wo sie eindeutig beschreibt, dass sie und ihr Sohn aufgrund ihrer Hautfarbe diskriminierend behandelt wurden. Aus diesem Kontext heraus schließe ich, dass die folgende beschriebene Situation den gleichen Deutungsrahmen von Malala beinhaltet wie ihre andere Diskriminierungserfahrung. Malala beschrieb die Situation und ihre Reaktion wie folgt:

„Dann sie musste bremsen ganz schnell und sie war so: ‚Ach!‘. Und ich war so: ‚Ah, Entschuldigung.‘. Weißt du, weil ich dachte: Es ist ein Kind. Weißt du, ich sage, Entschuldigung, weißt du? Und sie war so: ‚Nein, das ist keine Entschuldigung.‘ Und ich war so: Echt jetzt? […] Ich war so: ‚Aber du bist nicht auf dem Fahrradweg.‘ […] [I]ch habe ohne Grund eigentlich Entschuldigung gesagt, weil das ist einfach höflich und freundlich und dann diese Frau war so: ‚Nein, das ist kein Entschuldigung.‘. Und ich war so: ‚Du bist, du bist aber nicht auf dem Fahrradweg.‘. Und sie möchte etwas sagen und ich habe so (1) weitergelaufen und ich war so einfach meine Hand hoch und ich war so: ‚Bitte!‘. Und dann habe einfach so weggelaufen“ (Malala, 469–477).

Als es beinahe zu einer Kollision kam, musste die Fahrradfahrerin bremsen. Für diesen Umstand entschuldigt sich Malala umgehend. Bei der Erwähnung, „Es ist ein Kind“, drückt sie sich generalisierend aus. Sie erwähnt nicht, dass es ihr Kind ist, sondern beschreibt ihren Sohn grundsätzlich als ein Kind und möchte darauf verweisen, dass grundsätzlich Rücksicht bzw. Nachsicht geboten sein sollte. Sobald die Fahrradfahrerin ihre Entschuldigung nicht anerkennt, ist Malala irritiert und reagiert mit einer Abwehrhaltung. Dabei weist sie die Fahrradfahrerin darauf hin, dass sie sich selbst nicht auf dem Fahrradweg befinde. Malala schiebt dann die Kontextinformation nach, dass sie sich bei der Frau nur aus Höflichkeit entschuldigt hatte. Sobald sie bemerkte, dass die Frau etwas Weiteres sagen wollte, hob sie nur noch ihre Hand hoch, unterstrich diese Geste mit dem Ausdruck „Bitte“ und ging weiter. Sie entfernte sich physisch aus der hier entstanden Situation (‚fern‘). Es kam zu keiner weiteren Interaktion, als Malala registrierte, dass ihre Entschuldigung nicht angenommen wurde und die Frau offensichtlich in eine Diskussion eintreten wollte. Soziale und äußere Bedingungen, wie die zufällige Begegnung mit einer unbekannten Person auf offener Straße, begünstigten den Reaktionstyp distanzierend. Das abblockende Verhalten von Malala lässt Vermutungen darüber anstellen, dass Malala unter Umständen bereits ähnliche Erfahrungen gemacht hat, in denen eine weitere Diskussion nicht zielführend war. Doch eine nähere Begründung an einer späteren Stelle des Interviews löst die Situation auf. Hierzu gebe ich ein bereits angeführtes Zitat von Malala erneut wieder, das bereits im Zusammenhang der Sprachmächtigkeit aus der Kategorie Subjektbezogene Merkmale in Abschnitt 7.1.1.3 erscheint. Auf diese Weise fügen sich die Teile zusammen und der Gedankengang wird nachvollziehbar:

„Am Anfang war es so, dass ich die Sprache einfach nicht hatte, und dann war es sowieso dann schwer gegen jemand zu argumentieren, dann musste ich einfach ‚bitte‘ sagen und losgehen“ (Malala, 681–683).

Malala sah sich in dieser Situation aufgrund der Sprach(ohn)mächtigkeit nicht in der Lage, eine angemessene Argumentation mit der Fahrradfahrerin zu führen, weswegen sie sich nach meiner Analyse für einen distanzierenden Reaktionstyp entschieden hatte. Der Satz, „dann musste ich einfach ‚bitte‘ sagen und losgehen“, verweist auf eine Diskrepanz zwischen Handlungswunsch und tatsächlicher Handlung hin. Diese Diskrepanz wurde bereits eingangs vom Kapitel 7 erläutert. Aufgrund der Umstände blieb ihr nichts Weiteres übrig. Es war somit ihre einzige Möglichkeit, mit dem Reaktionstyp distanzierend zu reagieren, um die beschriebene Situation schützend zu bewältigen. Die Abbildung 7.9 lässt eine Einordnung der soeben beschriebenen Situation von Malala in ihren Eigenschaften vornehmen.

Abbildung 7.9
figure 9

Dimensionale Einordnung von Malala als Reaktionstyp Distanzierend

An diesem Beispiel wird ebenfalls deutlich, dass keine unmittelbare Gefahr für Malala und ihrem Sohn bestand und sie sich aus anderen Gründen dennoch für eine distanzierende Reaktion entschied. Distanzierend meint somit nicht immer das Flüchten aus einer heiklen Gefahrensituation. Wie Malala in ihrer Erzählung zeigte, war für sie die einzige Möglichkeit, ihren Sohn und sich selbst psychisch zu schützen, sich nicht einer verbalen Diskussion auszusetzen, der sie sprachlich nicht erwidern konnte. Daher wählte sie eine Handlungsweise aus, in der sie sich als ebenbürtig handlungsfähig sah und lehnte eine Handlungsweise ab, in der sie sich als handlungsunfähig empfunden hätte.

An einem weiteren Beispiel aus dem Interview mit Maryam möchte ich den Reaktionstyp distanzierend näher erläutern. Maryam bringt eine eigene Migrationserfahrung mit und berichtete von einer Diskriminierungserfahrung mit einem Beamten vom Amtsgericht. Bei dem Termin am Amtsgericht wollte sie auf Empfehlung hin eine einstweilige Verfügung gegenüber ihrem drohenden Ex-Mann erwirken. Als schutzsuchende Frau legte sie dem Beamten ihr Anliegen nahe. Nachdem sie ihm E-Mails und weitere Belege für ihre bedrohte Situation anführte, beschrieb Maryam die Reaktion des Beamten wie folgt:

„Dann hat er mir gesagt: ‚Ja, Frau soundso. Was soll ich Ihnen sagen? Ich kann Ihnen das ja bescheinigen lassen. Sie sind ja/ Das wird für Sie eh nichts bringen, weil Sie wissen ja, wie Ihre Kultur ist und wie das da bei euch, äh bei Ihnen aussieht. Hatten Sie sich das von Anfang überlegt?Footnote 21‘“ (Maryam, 160–163).

Ihre Erzählung pausiert sie hier und erwartet eine Reaktion von mir als Zuhörerin. Maryam setzte bei mir einen „gemeinsam geteilten Erfahrungs-, Wissens- und Deutungshintergrun[d]“ (Helfferich 2011: 120) voraus, weswegen sie in diesem Augenblick von einer Erklärung des Gesagten absah. Um sicher zu gehen, fragte Maryam direkt nach, ob ich verstanden hätte, was mit der Aussage des Beamten angesprochen werden sollte. Ich erwiderte die Ermunterung zur Nachfrage und hakte nach, worauf der Beamte ihrer Interpretation nach hinauswollte. Daraufhin ergänzte Maryam die geschilderte Situation mit ihrer Beschreibung:

„Der meinte, dass ich zum Beispiel eine muslimische Frau, dass es bei uns üblich ist, dass die Männer die Frauen bedrohen oder schlagen oder weiß ich was auch immer. Und was ich da jetzt die Hilfe, die ich jetzt bei den deutschen Behörden suche, das wird eh nichts bringen, wenn mein Ex-Mann mich umbringen will oder schlagen will, der wird das so oder so tun, weil das kulturabhängig [ist]“ (Maryam, 171–175).

Maryam beschreibt die Situation zu Beginn und hat also auf eine Reaktion von mir als Interviewerin gewartet. Als die gewünschte Reaktion nicht kam, legt sie ihren Deutungsrahmen offen. Während bei dem Beispiel mit dem Elterngespräch die Kategorie Geschlecht wenig bis gar nicht thematisiert wurde, obwohl sich die diskriminierende Handlung der Lehrerin auf das Kopftuchtragen von ihr als weibliche Person zurückführen lässt, spielt in dieser Erfahrung das Geschlecht als Kategorie eine bedeutende Rolle. Dabei beschreibt Maryam eine binäre Geschlechterordnung, die mit der Religionszugehörigkeit verschränkt ist, weswegen sie von muslimischen Männern und Frauen spricht. Darüber hinaus wird die Differenzkategorie Kultur vom Beamten hinzugezogen, wodurch weitere Othering-Prozesse erzeugt werden. So wirken die Kategorien Geschlecht, Religion und Kultur zusammen und konstruieren insbesondere Maryam und ihren Ex-Mann als die Anderen. Auch wenn immer wieder in Diskursen gefordert wird, dass Muslim*innen sich der demokratischen Ordnung anpassen sollen (vgl. Saif 2018; Shooman 2014; Attia 2009; Wengeler 2006), wird hier das Gegenteil zur Sprache gebracht. Der Beamte suggeriert mit seiner Äußerung, dass die demokratischen Strukturen für sie als muslimische Frau nicht greifen, da sie einer Kultur zugehörig sei, die außerhalb der demokratischen Ordnung ihre eigenen Regelungen habe. Die Gegenüberstellung der konstruierten Personengruppen akzentuiert der Beamte mithilfe von ‚Wir‘- vs. ‚Ihr‘-Konstrukten. Die explizite Äußerung, „Sie wissen ja, wie ihre Kultur ist“, ist ein Indiz für die rassistisch geordnete Sichtweise des Beamten, die er klassisch nach Kulturen sortiert und sich von den Anderen abgrenzt. Bei der hier beschriebenen Interaktion kommt der Beamte seiner beruflichen Rolle und Pflicht – für alle Bürger*innen gleichermaßen in juristischen Angelegenheiten verantwortlich zu sein – nicht nach. Durch seine Äußerungen gibt er Maryam als schutzsuchende Einwohnerin nicht das Gefühl, dass sie in dieser Gesellschaft ein gleichberechtigtes Mitglied ist. Die Paradoxie liegt darin begründet, dass der Beamte zwar eine kulturabhängige und geschlechterdifferenzierte Benachteiligung bei Maryam und der ihr vermeintlich zugehörigen soziale Gruppe verortet, aber gleichzeitig durch seine eigenen Handlungen diese soziale Ungleichheit(en) selbst (re)produziert. Seine Äußerung führt dazu, dass Maryam sich nicht gleichberechtigt und gleichgestellt fühlt. Attia schreibt hierzu, dass „[h]äusliche Gewalt im Migrationskontext [.] demnach kein kulturelles Phänomen [ist], sondern eines in dem sich Rassismus und Sexismus kreuzen und in der Wechselwirkung von struktureller und diskursiver Ebene gegenseitig stützen“ (Attia 2013: 9). Eine mehrdimensionale Wirkungsweise wird ausgeblendet und auf kulturalisierende Weise als eine Problematik innerhalb einer bestimmten sozialen Gruppen – hier als Muslim*innen Markierte – verlagert. Dass Maryam zudem in einer besonders prekären Lebenssituation befindet aufgrund ihrer gesellschaftlichen Position (bspw. durch migrationspolitische Umstände), wird verkannt. Die Reaktion auf die Äußerung des Beamten beschrieb Maryam so, dass diese dem Reaktionstyp distanzierend gleicht:

„Ich hatte damals so viele Probleme. Ich war noch nicht so weit wie jetzt und hatte auch nicht so viele Kontakte. Ich bin einfach aufgestanden. Und ehrlich gesagt, dass bis jetzt, wenn ich dran denke, tut es weh, also dass das mir sowas gesagt worden ist. Und ich habe nichts gemacht. Ich bin aufgestanden, ich habe geweint und ich habe meine Sachen genommen und ich habe gesagt: ‚Brauche ich nicht‘, und ich bin gegangen“ (Maryam, 183–187).

Maryam beschreibt ihre damalige Situation, um ihre Reaktion in den Kontext zu stellen und damit mir zu verdeutlichen, warum sie sich so verhalten hat, wie sie es hier darlegt. Sie deutet ihre prekäre Lebenslage als ein Hindernis für eine andere Form der Reaktion. Dabei vergleicht sie ihre jetzige Situation und nennt Entwicklungen, die sie als Ressource für eine unmittelbare Reaktion auf eine Diskriminierungserfahrung interpretiert. Das Vergleichen der damaligen mit der jetzigen Situation ist an dem Satz, „Ich war noch nicht so weit wie jetzt“, zu erkennen. Kontakt zu anderen Menschen versteht Maryam hier als eine Ressource, die sie konkret benennt. Um genauer zu sein, würde der Kontakt zu anderen Menschen erst im Nachhinein eine Unterstützung bieten, wenn es um den Umgang mit der gemachten Diskriminierungserfahrung geht. Es darf jedoch nicht außer Acht gelassen werden, dass Maryam sich unter Umständen für einen anderen Reaktionstyp als den distanzierenden entschieden hätte, wenn sie wüsste, dass sie gut vernetzt ist und auf Unterstützung zurückgreifen kann. Insgesamt verweist dieser Interviewausschnitt darauf, dass die Lebenslage der Betroffenen einen wesentlichen Einflussfaktor auf die Reaktion und möglicherweise auf den Umgang mit der gemachten Diskriminierungserfahrung darstellt. In Abschnitt 7.1.1.3 wurde bereits ein Beispiel von Malala aufgeführt, in dem sie ihre belastende Lebenssituation als eine Begründung dafür nennt, sich nicht umfassend mit der Diskriminierungserfahrung bei dem Notarzt auseinandergesetzt zu haben. Diese beiden Interviewausschnitte legen zwei Vermutungen nahe: Zum einen hat die Lebenssituation darauf Auswirkung, wie die Betroffenen unmittelbar in Diskriminierungssituationen reagieren, und zum anderen beeinflusst die Lebenssituation auch den Umgang mit der gemachten Erfahrung. Das Phänomen der Schützenden Bewältigung wird also durch die Lebenssituation und die daraus resultierenden Auswirkungen gestärkt oder geschwächt.

Wird im Folgenden die Reaktion von Maryam genauer betrachtet, beschreibt sie eine Reihe von Handlungen als Reaktion, die sie selbst jedoch nicht als Handlungen wahrnimmt, da sie sagt, „ich habe nichts gemacht“. Anschließend an diese Einordnung ihrer Reaktion zählt sie auf, dass sie aufgestanden ist, geweint hat und – bevor sie sich von der Situation entfernte – noch dem Beamten mitteilte, dass sie die einstweilige Verfügung nicht benötige. Wenn die hier beschriebene Reaktion, die aus einer Handlungsfolge besteht, mit den Eigenschaften des distanzierenden Typs betrachtet wird, dann ist eine Entfernung der physische Präsenz festzustellen (‚fern‘). Darüber hinaus ist der Grad der Interaktion nur geringfügig ausgeprägt. Auf die Diskriminierungsäußerung an sich wird so gut wie gar nicht eingegangen, sodass für die Intervention eine Einordnung im Kontinuum bei ‚wenig‘ vorgenommen werden kann. Die beschriebene Situation enthält eine verbal kommunikative Reaktion, wobei jedoch die non-verbale Reaktion überwiegt. Die dimensionale Einordnung erfolgt ähnlich wie in Abbildung 7.9, weshalb auf eine gesonderte Darstellung an dieser Stelle verzichtet wird.

Die Äußerung des Satzes, „Brauche ich nicht“, deutet auf eine widerständige Reaktion von Maryam. Der Satz kann so interpretiert werden, dass der dem Beamten signalisieren sollte, Maryam wäre nicht auf ihn und die Unterstützung des Gerichts angewiesen. Es stellt einen Versuch der Betroffenen dar, das offensichtlich abhängige Machtverhältnis zu entkräften und als eine unabhängige, nicht auf die Hilfe des Rechtsstaates angewiesene Person aus der Situation zu gehen. Diese Haltung spiegelt die Schützende Bewältigung von Maryam in der hier beschriebenen Situation insbesondere wider. Den Verweis auf die emotionale Belastung, die bis heute noch anhält, schiebt Maryam mitten in der Reaktionsbeschreibung ein. Es scheint eine bedeutende Information zu sein, die sie unbedingt zur Erwähnung bringen wollte, noch bevor sie die Reaktionsbeschreibung fortführt. Das Einschieben der Bemerkung ist ein Hinweis darauf, dass eine emotionale Auseinandersetzung mit der gemachten Diskriminierungserfahrung bis heute erfolgt.

Zusammenfassend kann gesagt werden, dass der Reaktionstyp Distanzierend in unterschiedlicher Weise zum Vorschein kommen kann. Es konnte dargelegt werden, dass der physische Präsenz ein ausschlaggebendes Merkmal dieses Reaktionstyps darstellt. Anhand der zwei unterschiedlichen Beispiele konnte ebenso nahegelegt werden, dass die Einordnung als distanzierend keineswegs dazu dient, um pauschale Wertungen über die Persönlichkeitsstruktur einer Person vorzunehmen. Distanzierend als Reaktionstyp wird auf verschiedenste Weise bedingt, wobei weiterhin das Phänomen der Schützenden Bewältigung im Fokus der Handlung steht.

Abbildung 7.10
figure 10

Das Theoriemodell der Schützenden Bewältigung. Phase 3, Schutz und Stärkung

7.1.3 Schutz und Stärkung

Schutz und Stärkung bildet die dritte Phase des Theoriemodells der Schützenden Bewältigung. In dieser Phase werden die gemachten Erfahrungen sowohl in kognitiv-emotionalen als auch in sozial-interaktionalen Prozessen verarbeitet. Dazu werden Strategien entwickelt oder vorhandene modifiziert, die in die Alltagshandlung eingeschlossen werden. Diskriminierungserfahrungen stellen von diesem Zeitpunkt an einen Teil der Lebensrealitäten der Betroffenen dar, vorausgesetzt den Erfahrungen wird eine entsprechende Bedeutung zugeschrieben. Scharathow verweist in ihrer Definition von Rassismuserfahrung darauf, dass die Betroffenen gezwungen sind, „sich mit den Diskursen und Praktiken“ (Scharathow 2017: 108) auseinanderzusetzen, wo rassistische Verhältnisse zur Geltung kommen. Auch das Ausweichen von Diskriminierung wäre ohne eine Auseinandersetzung mit Diskriminierungen nicht möglich. In Zusammenhang eines Wissenssystems spricht Schütz davon, dass der „aktuelle Relevanzsystem“ (Schütz 2011: 64) umgeworfen wird. Diese Überlegungen können auf den Umgang mit den Erfahrungen übertragen werden. Das vorhandene Wissen über soziale Situationen, das aus den Erfahrungen resultiert, wird dazu genutzt, entsprechende Bewältigungsstrategien zu entwickeln und das Wissenssystem zu erweitern.

Die Schutz- und Stärkungsphase ist nicht als eine End- bzw. Zielstation zu betrachten, im Gegenteil. Das Theoriemodell stellt nämlich einen zirkulären Prozess dar, sodass die Phasen immer wieder von vorn beginnen können. Da mehrere Erfahrungen in kurzen Zeitabständen erfolgen können, sind dementsprechend mehrere Zyklen gleichzeitig möglich: Wenn eine Person eine erste Diskriminierungserfahrung macht und die Situation verlässt, fängt der Prozess von Schutz und Stärkung an. Die Person wird also für sich strategische Umgangsformen entwickeln, aneignen und gegebenenfalls erproben, um sich mit der gemachten Erfahrung zurechtzufinden. Während der Schutz- und Stärkungsphase kann es passieren, dass die Person eine weitere Diskriminierungserfahrung macht und sich nun mit beiden Diskriminierungserfahrungen auseinandersetzen muss. Es kann aber auch sein, dass bei einer der genannten Diskriminierungserfahrungen nicht der Bedarf entsteht, sich intensiver mit der gemachten Erfahrung zu befassen, da sie belanglos ist oder ihr keine größere Bedeutung zugeschrieben wird. Die Auseinandersetzung mit den gemachten Erfahrungen kann schlussfolgernd zeitlich unterschiedlich intensiv sein. So gibt es Erfahrungen, die mehr Zeit für eine Verarbeitung benötigen und es gibt Erlebnisse, nach denen nur wenig bis gar keine Auseinandersetzung erforderlich ist. Die Zeit der Auseinandersetzung ist daher von Erfahrung zu Erfahrung individuell, aber auch abhängig von den jeweils Betroffenen.

Durch das Erinnern oder das bewusste Abrufen der Erinnerungen zu späteren Zeitabschnitten werden Diskriminierungserfahrungen für die Diskriminierten mitunter immer wieder relevant. Im Datenmaterial waren auch Textsegmente zu finden, in denen Betroffene darauf hindeuteten, dass lang zurückliegende Erfahrungen sie in einem Ausmaß geprägt hatten, mit dem sie sich zu einem späteren Zeitpunkt durch das Erinnern immer wieder emotional befassen. Das Erinnern kann hier als ein Verarbeitungsmechanismus verstanden werden oder auch als eine Ressource, die zwischenzeitlich dazu entwickelt wurde, bestimmte Lebenssituationen schützend zu bewältigen. In der Abbildung 7.10 ist eine farbliche Markierung der zirkulären Pfeile in derselben Farbe vorgenommen worden wie sie auch die Schutz- und Stärkungsphase zugewiesen bekam. Die farbliche Markierung soll einen Verweis darauf darstellen, dass aus der Phase Schutz und Stärkung immer eine Veränderung in der Deutung bzw. in der Interaktion zwischen Diskriminierenden und Diskriminierten in den darauffolgenden Phasen bedeutet. Die zirkulären Übergänge sind als Lernprozesse zu begreifen, da Erfahrung Wissen erzeugt und damit Veränderung hervorbringt. Die Veränderung kann sich im Deutungsrahmen, in den Handlungsmöglichkeiten oder grundsätzlich in der Alltagsgestaltung der Betroffenen widerspiegeln.

Darüber hinaus hatte ich mich während meiner Analyse gefragt, ob Personen sich ihrer Verhaltensänderungen oder ihres Umgangs mit der gemachten Erfahrung bewusst sind. Gibt es nicht Anpassungen in der Alltagsgestaltung, die affektiv vorgenommen werden, um mit der gemachten Diskriminierungserfahrung oder künftigen Diskriminierungssituationen effizienter umzugehen? So vermeiden Betroffene etwa einen bestimmten Ort, wo sie eine prägende diskriminierende Erfahrung erlebt haben oder suchen explizit belebtere Orte auf, damit sie im Falle einer Diskriminierung auf die Unterstützung von Außenstehenden hoffen können. Die Frage nach der unbewussten Anpassung wird weiterhin unbeantwortet bleiben, da diese außerhalb des Erkenntnisinteresses liegt. Um auf diese Frage angemessen reagieren zu können, bedarf es eigener Untersuchungen. Mir scheint dabei ein psychologischer Ansatz als zielführend. Diese Frage ist für das handlungstheoretische Modell nicht von gesteigerter Bedeutung, da in diesen Überlegungen die Handlungen grundsätzlich als motiviert aufgefasst werden. Affektives Verhalten wird nicht einbezogen und ist nicht Gegenstand dieses Theoriemodells. Das heißt nicht, dass ich reaktives Verhalten im Rahmen von Diskriminierungserfahrungen bestreite. Diese sind nur nicht Teil meines analytischen Modells, da ich mit solchen Handlungsmustern der Betroffenen arbeite, die eine Regelmäßigkeit und somit eine Art Gesetzmäßigkeit beinhalten.

Bevor ich auf die konzeptualisierten Umgangsformen zu sprechen komme, möchte ich zunächst noch einmal auf die Gleichzeitigkeit mehrerer Zyklen – ich bezeichne es auch als Zirkularität – im Phasenmodell eingehen. Insgesamt ist zu sagen, dass die Zirkularität metaphorisch betrachtet mit einem Wirbel vergleichbar ist, der eine spiralförmige Gestalt annimmt. Der sinnbildliche Vergleich mit einem Wirbel ist adäquat gewählt, da mit jeder Diskriminierungserfahrung der Deutungsrahmen, das soziale Wissen und die Handlungsstrategien (innerhalb und außerhalb der Diskriminierungssituation) der betroffenen Personen erweitert werden. Ein Interviewausschnitt von Zara bestätigt die beschriebene Annahme:

„Und ich glaube das ist so halt so ein ausschlaggebender Grund, auch für die Diskriminierung, dass man damals nicht wusste, was geht, was nicht geht und heute halt einfach dieses Wissen hat, und weißt, nee, das kannst du dir jetzt gerade nicht leisten, also nicht bei mir“ (Zara, 425–428).

Zara beschreibt, dass sie zu einem früheren Zeitpunkt nicht über Wissen zu Diskriminierung verfügte. Inzwischen stellt sie bei sich einen Unterschied fest, sodass sie auf ein soziales Wissen zurückgreifen kann, das wiederum Auswirkung auf ihre Reaktion in Bezug auf diskriminierender Handlung hat. Diskriminierungserfahrungen stellen also stets einen Lernprozess für die Betroffenen dar, wodurch es immer zu Veränderungen in ihrem Alltag(shandeln) führt. Während der Umfang des unteren Teils eines Wirbels schmal und eng ist, weitet sich der Umfang des oberen Teils eines Wirbels immer mehr. Dieser Aspekt des Wachstums – oder interpretativ auch als Erweiterung von (Handlungs-)Möglichkeiten zu verstehen – eignet sich gut für den metaphorischen Vergleich mit einem Wirbel (Abbildung 7.11).

Abbildung 7.11
figure 11

(Quelle: Matthias Mohme/Hood Group Blog, 2014, blog.hood-group.com/blog/2014/12/02/agil-ist-gruen, Bearbeitung AL)

Prozesshaftigkeit und Entwicklung am Beispiel eines Wirbels

In der obenstehenden Abbildung soll gleichzeitig darauf aufmerksam gemacht werden, dass durch die Prozesshaftigkeit von Diskriminierungserfahrungen das Phänomen der Schützenden Bewältigung sich (weiter-)entwickelt und gestärkt wird. Dabei wirken hierfür mehrere Faktoren wie Diskriminierung(serfahrung), Aneignung von Wissen sowie gesellschaftspolitische Ereignisse ein. Insgesamt soll damit der grundsätzliche Umwelteinfluss beschrieben werden.

In der Schutz- und Stärkungsphase kommen verschiedene strategische Umgangsformen der Betroffenen zur Geltung. Während der Analyse konnte ich vier wesentliche Strategien identifizieren und ausarbeiten:

  1. (1)

    Sharing,

  2. (2)

    Proving,

  3. (3)

    Testing,

  4. (4)

    Pre-Reducing.

Diese vier Strategien stellten wiederkehrende Handlungsmuster der Befragten dar, die ich im Rahmen meiner Analyse konzeptualisiert habe. So wie bei der Situationsanalyse und der unmittelbaren Reaktion gilt auch hier das Phänomen der Schützenden Bewältigung als handlungsleitend. Jede Umgangsform, die ausgearbeitet wurde, umfasst eine Handlung, die auf ein Ding im Rahmen der Schützenden Bewältigung abzielt. So kann eine Handlung die eigene Person oder andere Personen schützen. Grundsätzlich zählen zu den Dingen der Schützenden Bewältigung auch immaterielle Dinge als zu schützender Aspekt. Jedoch wurden im Datenmaterial keine Hinweise dazu gefunden, wo die Personen Derartiges in dieser Phase schützen zu versuchen. Es kann daher davon ausgegangen werden, dass das Bedürfnis, sich und andere zu schützen, in der dritten Phase des Theoriemodells verstärkt wird und der Fokus auf immaterielle Dinge verschwindet. Immaterielle Dinge haben somit zumindest in meinen Befragungen keine Bedeutung für den Umgang mit den gemachten Diskriminierungserfahrungen. Bei der Beschreibung der Strategien wird die Bedeutung der Dinge gleich ersichtlicher.

Darüber hinaus konnte ich einzelne Eigenschaften für die Umgangsformen definieren. Eine dimensionale Einordnung der Eigenschaften schien mir an dieser Stelle nicht gegenstandsgerecht zu sein, weshalb ich die folgenden Einordnungen als zusätzliche Kriterien verstehe, die die Umgangsformen besser bestimmbar machen, aber nicht bei allen Umgangsformen gleichermaßen angewendet werden können. Wesentlich erschienen mir zwei Aspekte bei der Eigenschaftsbestimmung: Das Einbeziehen anderer und die Dauer der Maßnahmen.

Sobald andere Personen innerhalb einer Umgangsform einbezogen werden, kann bei den einbezogenen Personen zwischen vertrauten und institutionellen Personen differenziert werden. Zu der vertrauten Personengruppe zählen nahestehende Personen wie Freund*innen, Lebenspartner*innen oder Kolleg*innen. Dagegen zählen zu institutionellen Personen Menschen, die etwa in Beratungsstellen aktiv sind oder Polizeibeamt*innen, die eine Anzeige aufnehmen. Warum ist eine Differenzierung so bedeutend an dieser Stelle? Anhand der einbezogenen Person kann die Form der Umgangsweise konkreter bestimmt werden. Es macht also einen Unterschied, ob Betroffene einen rechtlichen Weg einschlagen oder sich im geschützten Rahmen mit vertrauten Personen nur austauschen. Bei beiden Variationen kann keine grundsätzliche Aussage darüber getroffen werden, wer dabei zu schützen gilt. Das Ding der Schützenden Bewältigung muss zu jedem Zeitpunkt gesondert betrachtet werden, da sich die Motivation der Betroffenen trotz äußerlich gleichartiger Handlung unterscheiden kann.

Neben dem Einbeziehen anderer Personen gibt es noch das Kriterium der Dauer der Maßnahme. Hier handelt es sich um Maßnahmen der Betroffenen, die aus Diskriminierungssituationen resultieren und explizit ergriffen werden. Diese Maßnahmen rufen eine Veränderung im Alltagsverständnis der Betroffenen hervor. Sie können von kurzer oder langer Dauer sein und von den Betroffen konkret benannt werden. Als ein Beispiel kann erneut die von Afra geschilderte Fahrstuhlsituation genannt werden. Afra erlebte eine Diskriminierungserfahrung in einem fahrenden Aufzug, wo sie sich mit einem weiteren Mann befand, der sie rassistisch beschimpfte. Nach dieser Erfahrung fuhr Afra für eine gewisse Zeit nur dann Fahrstuhl, wenn mehr als eine weitere Person mitfuhr. Diese Veränderung ergab sich nur aufgrund ihrer Erfahrung und Deutung der Gefahr, allein mit nur einer weiteren Person im Fahrstuhl zu sein. Derart angepasste Maßnahmen, wie ich sie gerade am Beispiel von Afra beschrieben habe, können von kurzer oder langer Dauer sein. Die Entscheidung darüber liegt bei den Betroffenen selbst. Die Betroffenen bewerten die Maßnahmen entweder als relevant oder halten sie nach einer Weile nicht mehr für notwendig. Die Dauer der Maßnahme gibt auch Aufschluss über die Veränderung und ihre Wirkung im Alltag: Inwieweit ist Afra durch diese Maßnahme eingeschränkt? Ab wann werden Veränderungsmaßnahmen abgemildert oder gar rückgängig gemacht? Dies sind Leitfragen, die dazu dienen, das Ausmaß der Auswirkungen von Diskriminierungserfahrungen umfassender zu begreifen.

Im Folgenden möchte ich mit Blick auf die soeben beschriebenen Kriterien die vier wesentlichen StrategienFootnote 22, die in der Schutz- und Stärkungsphase zum Vorschein kommen können, vorstellen. Entsprechende Textsegmente aus unterschiedlichen Interviews werden zu den näheren Erläuterungen hinzugezogen.

7.1.3.1 Sharing

Sharing als eine Umgangsform beschreibt grundsätzlich das Teilen der gemachten Diskriminierungserfahrung mit einer weiteren Person. Es ist entscheidend, um wen es sich beim Gegenüber handelt, denn an den unterschiedlichsten Stellen der Interviews wurden gleich mehrere Formen des Teilens unter diese Umgangsform subsummiert, worauf ich nun nach und nach eingehe. Betroffene entscheiden sich aus den verschiedensten Gründen dazu, ihre Diskriminierungserfahrung mit anderen Personen zu teilen. So können Betroffene durch den Austausch mit anderen Personen Schutz und Stärkung erfahren, weshalb diese Phase auch danach benannt wurde. Wenn Betroffene im Sinne der Schützenden Bewältigung sich selbst schützen wollen, dann möchten sie durch einen Austausch Unterstützung durch Außenstehende erhalten. In der Untersuchung von Melter konnte festgestellt werden, dass die Jugendlichen, die der Autor befragte, ihre Rassismuserfahrungen zunächst mit Verwandten und Freund*innen teilen, die selbst ähnliche Erfahrungen machen. Melter schlussfolgerte, dass dadurch eher auf Akzeptanz und Verständnis gestoßen wird im Vergleich bei Personen ohne Rassismuserfahrungen (vgl. Melter 2006: 295). Diesem Aspekt stimme ich zu und ergänze, dass nicht nur ähnliche Erfahrungswelten hier eine Rolle spielen, sondern auch die vertrauliche Beziehung, die durch Verwandtschaft und Freundschaft eher gegeben sein kann. Ein Interviewausschnitt von Hamide beschreibt sowohl den oben angeführten Aspekt der Schutz und Stärkung, als auch den ergänzenden Gesichtspunkt der vertraulichen Beziehung treffend:

„[I]ch spreche viel darüber, ich tausche mich auch viel mit meinem Mann darüber aus (1), und auch mit meinem privaten Umfeld. Und, ähm, wenn man das teilt, äh, tut das auch nicht mehr so viel weh“ (Hamide, 336–338).

An dieser Stelle wird deutlich, dass Hamide Diskriminierungserfahrungen als schmerzhafte Belastung empfindet und das Teilen als eine effektive Umgangsform für sich deutet, die ihren empfundenen emotionalen SchmerzFootnote 23 lindert. Dadurch, dass sie hier ihren Mann und ihr privates Umfeld als vertraute Bezugspersonen angibt, mit denen sie ihre Diskriminierungserfahrungen teilt, wird deutlich, dass sie eine bewusste Auswahl der Mitteilungspersonen trifft und sich nicht mit jeder Person auf eine derartige Umgangsform einlässt. Das Auswahlprinzip der Betroffenen kann sich ebenfalls aus anderen Gründen unterscheiden, weshalb ich mich auf einen weiteren Interviewausschnitt beziehen möchte. Aishe ist 40 Jahre alt, trägt keine religiöse Bekleidung und hat einen türkischen Namen. Sie ist in Deutschland geboren und erzählte mir im Interview, dass sie nur mit ausgewählten Freund*innen über ihre Diskriminierungserfahrung spricht. Auf meine Frage, warum sie nur mit Einzelnen darüber spricht, antwortete sie mir Folgendes:

„[A]lso manche im Freundeskreis oder Bekanntenkreis, die ticken ja auch so, dass sie sich permanent diskriminiert fühlen. Ne, die verstecken sich auch gerne hinter diesem Schild, dieser Opferrolle. Und das kann ich wiederum auch nicht so gut also nicht so ertragen, sage ich mal. Ne, wenn man so gewollt in solche Opferrollen dann reinkommt und (Ausdruck der Ablehnung): ‚Nee, das war auch diskriminierend‘. Wo ich denke: ‚Nee, nee. Du hast dich ja nur nicht an ein Gesetz gehalten‘“ (Aishe, 681–690).

Aishe teilt ihren Freund*innenkreis in zwei Gruppen auf: Es gibt nach ihrer Meinung nach die Personen, die das Erlebte angemessen beurteilen können und es gibt andere, die ständig zu Unrecht diskriminiert fühlen. Obwohl sie hier das Verb „fühlen“ anbringt, ist Aishe der Ansicht, dass die Deutungshoheit der Diskriminierungserfahrung nicht ausschließlich bei den Betroffenen liegt. Durch ihre Aussage, „Du hast dich ja nur nicht an ein Gesetz gehalten“, macht Aishe darauf aufmerksam, dass eine Beurteilung, ob etwas diskriminierend ist oder nicht, auch von Außenstehenden ihrer Meinung nach möglich ist. Durch die soeben beschriebene wörtliche Rede ist zu erkennen, dass Aishe auf der Grundlage eines juristischen Verständnisses einordnet, was Diskriminierung ist. Bei einem juristischen Verständnis wird zunehmend die Legalität als Beurteilungsgrundlage genutzt, wohingegen die Legitimität von Gesetzen nicht in Frage gestellt wird. Gleichzeitig beschreibt sie sich in der Rolle, Diskriminierungen objektiv beurteilen zu können. Es entsteht der Eindruck, dass für sie die Wahrnehmung von Diskriminierung nach eindeutigen Regeln verläuft. Diskriminierungen sind für sie daher festgeschrieben und klar erkennbar. Darüber hinaus wäre es interessant zu wissen, ob sie ihrem Gegenüber ihre Einschätzungen, ob es sich bei der Äußerung um (k)eine Diskriminierung handelt, auch artikuliert. Im Zitat spricht sie aus einer gedanklichen Perspektive, da sie sagt, „ich denke“. Des Weiteren verwendet Aishe die Metapher eines Schildes. Das Schild soll symbolisch für den Diskriminierungsvorwurf stehen. Aishe behauptet, dass es Menschen gibt, die sich hinter diesem Vorwurf verstecken. Ein Schild würde Schutz und Abwehr bedeuten. Dabei erwähnt Aishe zweimal den Begriff der „Opferrolle“, der für sie in diesem Zusammenhang eine Bedeutung gewinnt. Die Frage wäre hierbei, wovor sich die Personen nach ihrer Interpretation verstecken. Diese Frage muss unbeantwortet bleiben, da im Interview nicht weiter darauf eingegangen wurde.

So wird die Umgangsweise des Sharings, und hier insbesondere die Variante des Teilens, von Aishe bei anderen Personen ebenfalls wahrgenommen und bewertet. Auf der Grundlage ihrer Bewertung passt sie ihre eigene Umgangsweise des Sharings an und beschließt, nicht jeder Person aus dem Freund*innenkreis von ihren Erfahrungen zu berichten. Sie grenzt sich mit ihrer Umgangsweise auch zu anderen Personen ab. Hinzu kommt, dass sie während des Teilens immer wieder der Frage nachgeht, ob eine tatsächliche Diskriminierung vorliegt oder nicht. Anhand dieses Gesichtspunkts wird ihr Reflexionsgehalt in dieser Umgangsform ersichtlich. Dabei geht es nicht ausschließlich um die Diskriminierungserfahrung, sondern auch um die Umgangsformen mit dieser.

Durch das Teilen werden also Reflexionsprozesse ausgelöst, sodass immer die eigene Reaktion in den diskriminierenden Situationen thematisiert wird. Auf diese Weise werden Unsicherheiten durch den kommunikativen Austausch aufgelöst. Die Entscheidungsmacht darüber, mit wem die Betroffenen ihre Erfahrung teilen möchten, liegt allein bei ihnen. Die Auswahl der Mitteilungsperson – wie bisher dargelegt werden konnte – ist an individuelle Kriterien der Betroffenen geknüpft. Die motivierte Handlung, eigene Diskriminierungserfahrungen mit ausgewählten Personen zu teilen, kann unterschiedliche Absichten haben. Malala bspw. möchte durch ihre subjektiven Erlebnisse anderen aufzeigen, dass Diskriminierung ein reales Problem vor Ort ist:

„[I]ch denke, dass es ist auch wichtig, ähm, Geschichte zu teilen, weil ich denke, dass manchmal ist es so, dass Leute denken: Ja, sie lesen Dinge in Nachrichten oder da steht eher eigentlich nicht. Ähm, aber vielleicht hören sie nicht von Leuten, die sie wissen, dass ich habe auch Diskriminierung erlebt und auch ganz krass. Und dass Leute können nicht sagen, dass Diskriminierung ist jetzt kein Problem in Europa zum Beispiel, das ist nur ein Problem in Amerika“ (Malala, 345–350).

Malala erzählt bewusst von ihren Diskriminierungserfahrungen, um bei Außenstehenden einen persönlichen Bezug zu der Thematik herzustellen. Von der personalisierten Art des Teilens erhofft sich Malala, dass Diskriminierung nicht länger als ein Problem des Auslands geschildert wird. Die direkte Konfrontation mit ihren Erfahrungen –wie sie im Zitat beschreibt – bringt das Bedürfnis von Malala zum Vorschein, Diskriminierung als einen Teil ihrer Lebensrealität anzuerkennen. Dieser Aspekt bringt mich zu der Annahme, dass Malala bereits Vorerfahrungen mit Vorwürfen, wie es gäbe hier vor Ort keine Diskriminierung bzw. Rassismus, gemacht haben könnte. Hätte sie in ihrem sozialen Umfeld die Erfahrung gemacht, dass Diskriminierung als Thema unumstritten ist, hätte sie gar kein Bedürfnis, gegenüber anderen ihre Diskriminierungserfahrung aus den bisher genannten Gründen zu thematisieren.

Die aufgeführten Beispiele, die das Sharing als eine Umgangsform repräsentieren sollten, bezogen sich primär auf den Schutz der eigenen Person. Mit Blick auf das Phänomen der Schützenden Bewältigung möchte ich noch ein weiteres Beispiel dafür aufführen, wie es im Rahmen des Sharings zu einer Art Korrelation der zu schützenden Dinge, eigene und andere Personen kommt. Malika empfindet es als eine angemessene Art, mit anderen Menschen die Diskriminierungserfahrungen zu teilen. Im Interview kam eine Textstelle auf, wo das Bedürfnis, andere Menschen während des Sharings zu schützen, beobachtet werden konnte. Es ist dabei zu erwähnen, dass ich als Interviewerin gezielt danach gefragt habe, wem sie nicht von ihren Diskriminierungserfahrungen erzählt. Um den Erzählimpuls nachzuvollziehen, finde ich es angebracht, meine Frage an dieser Stelle mit aufzuführen:

„I: Also Sie haben ja auch gesagt, Sie erzählen und teilen auch Erfahrung mit Ihren Kolleg*innen oder auch Freund*innen und meine Frage hier wäre auch, gibt es auch Personen, von denen sie/ also denen sie Ihre Erfahrungen nicht mitteilen würden?

B: Also ich muss ganz ehrlich sagen, dass man beispielsweise jetzt meinen Eltern immer so die abgeschwächte Version, wenn überhaupt ja (lacht), erzähle. Vor allen Dingen seit den Pegida-Aufmärschen sind auch viele, also das erzählen mir auch viele Freund*innen, deren Familien ne Migrationsgeschichte haben, dass die Eltern seitdem total aufgescheucht sind“ (Malika, 460–467).

Aus der Absicht heraus, ihre Eltern nicht in zu große Sorge zu versetzen, achtet Malika beim Sharing darauf, welche Informationen ihrer Diskriminierungserfahrungen sie offenlegt. Der Ausdruck „abgeschwächte Version“ weist auf die bewusste fürsorgliche Motivation ihrer Handlung. Die Entscheidung, das Sharing gegenüber ihren Eltern nur beschränkt vorzunehmen, stützt sich auf den Erfahrungsaustausch mit ihren Freund*innen, die ähnliche Erfahrungen machen. Malika beobachtet eine Verhaltensänderung bei ihren Eltern, die ebenfalls bei den Eltern der Freund*innen festzustellen waren. Diskriminierungserfahrungen können somit als Zugang zu Erfahrungen von anderen dienen. Gleichzeitig bewirken diese Vorgänge des Erfahrungsaustausches immer eine Erweiterung des Deutungs- und Wissensrahmens der Beteiligten. Interessant zu beobachten ist, dass die Verhaltensänderung bei den „Eltern“ in Zusammenhang mit diskursiven Ereignissen der PEGIDA-Bewegung gebracht werden. Hier wird die Bedeutung von Diskriminierungserfahrungen und diskursiven Ereignissen noch einmal betont. Dies ist u. a. ein Grund dafür, warum der zirkuläre Prozess des Theoriemodells in einem emotionalen und diskursiven Rahmen eingebettet ist. Auf die Bedeutung dieses Rahmens komme ich noch zu sprechen und werde diese in Abschnitt 7.1.4 gesondert erläutern.

Neben dem Sharing als Form des Teilens gibt es noch eine weitere Variante, das Mitgeben. Während ich in den bisher genannten Beispielen primär das Schutzbedürfnis der eigenen Person in den Fokus nehmen konnte, möchte ich nun auf die Stärkungskomponente aufmerksam machen, die sich auf andere Personen bezieht. Wen gilt es hier außer der eigenen Person zu stärken? Wann und in welchen Kontexten laufen derartige Stärkungsprozesse anderer ab? In der Analyse konnte ich insbesondere durch das axiale Kodierungsverfahren erkennen, dass es sich bei den Stärkungsprozessen um andere Menschen handelt, die ähnliche diskriminierende Erfahrung machen oder zur Zielgruppe diskriminierender Handlung werden können. Ich gehe davon aus, dass vor allem der Blick auf die Fachkräfte der Sozialen Arbeit als Adressat*innen hierbei eine zentrale Rolle spielt. Einen Beleg für meine Annahme entnehme ich aus dem Interviewgespräch mit Zara, die Jugendliche als Zielgruppe ihrer Arbeit hat:

„Und ähm ich kann auch nachvollziehen, dass Menschen sich mit den Themen einfach nicht identifizieren, weil sie einfach selber diese Erfahrung nicht gemacht haben, aber wie viel das einfach ausmacht gegenüber einem anderen Menschen, ist echt heftig so würde ich sagen. Und das beeinflusst schon äh also mich und auch die Projekte auf jeden Fall, weil das halt meistens so aufgebaut ist, dass ich den Jugendlichen das halt auch nochmal mitgeben möchte“ (Zara, 97–102).

Zara differenziert zwischen den Personen mit und ohne Diskriminierungserfahrungen, indem sie sagt, dass sie einen gravierenden Unterschied im Umgang mit Diskriminierung als Thema sieht. Erfahrung steht an dieser Stelle für das sozial geteilte Wissen, das die Personen ohne Diskriminierungserfahrung nicht mitbringen. Mecheril/Hoffarth fassen hierzu Folgendes zusammen: „Das Wissen über Gesprächssituationen und über dominante Erwartungen, das Wissen über die Alltäglichkeit des Rassismus ist ein geteiltes soziales Wissen, das in bestimmten lokalen Zusammenhängen, Milieus und Peergroups zum Alltagswissen gehört“ (Mecheril/Hoffarth 2009: 255). Zara zählt sich selbst zu der Personengruppe mit Diskriminierungserfahrungen und beschreibt die Erfahrungen als einen Einflussfaktor auf sich als Person und ihre Projekte. Sie greift also auf das Wissensrepertoire zurück, das in Diskriminierungskontexten erzeugt wurde und sieht es als ein Mittel, das sie im Rahmen ihrer Arbeit als Ressource nutzen kann, um ihre Zielgruppe zu stärken. Zaras Erfahrung beeinflusst ebenso ihr professionelles Handeln und die soziale Beziehung zu ihrer Zielgruppe.

In den weiteren Interviewgesprächen kam neben der Zielgruppe auch das Schützen der eigenen Kinder als Aspekt der Handlung im Kontext der Schutz- und Stärkungsphase auf. So sagte Asifa Folgendes:

„Und natürlich versuche ich meine Kinder jetzt, äh, richtig locker und, äh, richtig selbstbewusst zu sein. Und nicht wie ich, wo ich sage: Auch, ich war nie sicher, nie, nie sicher“ (Asifa, 795–796).

Mit dem Ausdruck „natürlich“ möchte Asifa die Selbstverständlichkeit in der Erziehungskonsequenz, die aus ihren Erfahrungen resultieren, unterstreichen. In ihrer Ausführung ist ein Vergleich zwischen Asifa und ihren Kindern zu erkennen. Dabei beschreibt sie sich als eine unsichere Person. Um dieser Unsicherheit bei ihren Kindern vorzubeugen, verfolgt Asifa das Erziehungsziel, ihre Kinder zu selbstbewussten Personen zu erziehen. Diskriminierungserfahrungen spielen, wie hier aufgezeigt werden konnte, in die verschiedensten Lebensbereiche hinein. In der Alltagsgestaltung von Asifa, wo die Erziehung ihrer Kinder eine zentrale Rolle spielt, wirken Diskriminierungserfahrungen ebenfalls ein. Diskriminierungserfahrungen können daher als eine Reflexionsfolie erachtet werden, die das Alltagshandeln neu modifiziert. Asifa sieht sich somit gezwungen, ihre Alltagshandlungen im Kontext ihrer Diskriminierungserfahrungen zu betrachten und mögliche Anpassungen im Alltag – hier in der Mutterrolle – vorzunehmen. Mit der Beschreibung ihrer Unsicherheit, die sie zum Schluss mehrfach betont, wird an dieser Stelle deutlich, dass es ihr dabei um die Stärkung ihrer Kinder geht. Denn ihre gezielte Erziehung beabsichtigt, die Kinder in diskriminierenden Situationen zu schützen, indem sie sie hier und jetzt stärkt. Auch wenn sie nicht explizit äußert, dass sie hierzu ihre Diskriminierungserfahrungen mit ihren Kindern teilt, um ihnen bestimmte Inhalte zu vermitteln, zählt der Ansatz, dass Veränderungen in der Erziehung aufgrund ihrer gemachten Diskriminierungserfahrungen erfolgen. Es ist davon auszugehen, dass sie dabei auf das (Erfahrungs-)Wissen zurückgreift, das sie in diesen Kontexten gesammelt hat.

Neben dem Teilen und Mitgeben gibt es noch eine letzte Form des Sharings: das Melden. Unter Melden werden alle Formen des Sharings aufgeführt, bei denen betroffene Personen sich dazu entschließen, einen formell institutionalisierten Weg einzuschlagen. Hierzu wenden sie sich an institutionelle Personen. So gibt es rechtlich betrachtet verschiedene Möglichkeiten, Diskriminierungserfahrungen zu melden. Dies kann in Form einer Anzeige bei der Polizei oder als Thematisierung bei einer Beratungsstelle erfolgen, wie z. B. der Anti-Diskriminierungsstelle des Bundes. Das Melden als Form des Sharings kann sowohl von Beginn an angewendet werden oder es resultiert aus Phasen des Teilens. Oftmals werden vor dem Melden bestimmte Kalkulationen durchgeführt, um den Aufwand und die Folgen abzuschätzen. Malika berichtete von einer rassistischen Diskriminierungserfahrung auf der Straße, wo ein Mann im Auto an ihr vorbeifuhr, kurz anhielt, sie rassistisch beleidigte und weiterfuhr. Daraufhin notierte sich Malika das Autokennzeichen und gab eine Strafanzeige auf. Die Wahl ihrer Umgangsform – des Meldens – beschrieb sie wie folgt:

„Aber ich muss auch sagen, ich bin auch empowert diesen Weg gegangen, weil ich auch wusste, was erwartet dich, wen kannst du mit einbinden, wen kannst du fragen. Das macht auch ganz viel aus, ob man weiß, was auf einen wartet und welche Handlungsstrategien man hat oder nicht“ (Malika, 181–184).

Malika konnte somit auf ein Netzwerk von Personen zurückgreifen, das sie bei der Umgangsform des Meldens aktiv unterstützte. Es wird erneut ersichtlich, dass ein breites soziales Netzwerk eine Ressource bei der Bewältigung von Diskriminierungserfahrungen darstellt. Es kam zu einer Strafanzeige, weil ein derartiges Vorgehen als wirkungsvoll angesehen wurde. Im Interview mit Hanifa konnte ich erkennen, dass sie das Anzeigen von Straftaten – im Zusammenhang mit der Diskriminierungserfahrung auf dem Rastplatz, wo sie von drei jungen Männern mit Feuerwerkskörpern angegriffen wurde – als ineffizient erachtet. Nachdem sie in ihr Auto eingestiegen war und beim Losfahren bemerkt hatte, dass sie von den Männern ebenfalls mit dem Auto verfolgt wurde, entschied sie sich für die folgende unmittelbare Reaktion:

„Und dann habe ich dann auf einen Zettel deren Kennzeichen aufgeschrieben und habe dann so gezeigt, ich habe euer Kennzeichen. Und dann waren sie total irritiert und ich bin dann weitergefahren, aber ich habe dann nichts mehr gemacht. Ich habe immer das Gefühl, das bringt eh nichts“ (Hanifa, 54–57).

Obwohl Hanifa sich hier als wehrende und vor allem handlungsfähige Person beschreibt, entschied sie sich im Nachgang gegen eine Anzeige bei der Polizei. Ihre Begründung liegt darin, dass die Anzeige nicht die Wirkung zeigen würde, die sie sich erhofft. Mit einer Anzeige hätte sie den Tätern zeigen können, dass deren Handlungen rechtliche Konsequenzen nach sich ziehen. Das Gefühl würde auch dann ausgelöst, wenn es nicht zu einer Verurteilung käme. Jedoch denke ich, dass es Hanifa an dieser Stelle um noch etwas anderes ging: Hanifa beschrieb sich bei dieser Diskriminierungserfahrung zu Beginn als sich zurückziehende und sich nicht wehrende Person, da sie eine direkte Gefahr für sich erkannt hatte. Um sich zu schützen, stieg sie umgehend in ihr Auto ein. Doch da sich durch das Einsteigen in das Auto das Bedingungsset für die Situation verändert hatte, erhielt sie die Möglichkeit, sich zu wehren, indem sie den Männern signalisierte, dass sie ihr Kennzeichen aufgeschrieben hatte und somit nicht länger eine Anonymität zwischen Diskriminierenden und Diskriminierter bestand. Die Handlungsmacht, die Hanifa in diesem Moment (wieder) erlangte, machte sie zu einer handlungsfähigen Person. Dieses Gefühl der Handlungsermächtigung könnte durch eine scheiternde Anzeige relativiert werden. Um aus dieser Situation ebenfalls in der Phase von Schutz und Stärkung als handlungsermächtigte Person hervorzugehen, kann es sein, dass Hanifa sich gegen eine Anzeige entschieden hat. Die unterlassene Handlung von Hanifa muss daher unter dem Fokus der Schützenden Bewältigung betrachtet werden.

In der hier vorliegenden Arbeit wurden Umgangsformen des Sharings primär in persönlichen Situationen zwischen Menschen beschrieben. Der virtuelle Raum kann allerdings auch eine Plattform für Betroffene bieten, über die sie Sharing betreiben können. Die Relevanz des virtuellen Raums wird bei der Erzählung einer Diskriminierungserfahrung von Hamide deutlich, die während ihrer Ausbildungszeit zur Krankenpflegerin von einer Patientin nicht angefasst werden wollte aufgrund ihrer Herkunft:

„I: Ja. Haben Sie von dieser Erfahrung jemandem davon erzählt?

B: Ja, ähm, bei der MeTwo Bewegung habe ich das im Internet, äh, nochmal veröffentlicht, weil mich das schon sehr, äh/ das berührt mich immer noch, wenn ich daran denke“ (Hamide, 42–45).

Auf die Frage, ob sie einer Person von ihrer Erfahrung berichtet hat, erwähnt Hamide hier die MeTwo-Bewegung. Die MeTwo-Bewegung wurde 2018 in Form eines Hashtags auf Twitter ins Leben gerufen und thematisiert Diskriminierungserfahrungen von Menschen mit Migrationsgeschichte. Unter diesem Hashtag bestand die Möglichkeit, eigene Diskriminierungserfahrung mit anderen Menschen zu teilen. Hamide hat ihre Diskriminierungserfahrung, obwohl sie bereits ein paar Jahre zurückliegt, auf Social Media geteilt. Da ich als Interviewerin auf die Umgangsform in direkten zwischenmenschlichen Beziehungen konzentriert war, führte Hamide nicht näher aus, weshalb sie ihre Erfahrung in einem virtuellen Raum geteilt hatte. Es ist daher interessant zu wissen, welche Vor- bzw. Nachteile das Sharing für Betroffene in virtuellen Räumen hat. Dieser Aspekt wurde nicht näher beleuchtet und muss in weiterführenden Untersuchungen gesondert betrachtet werden, um entsprechende Aussagen darüber zu treffen.

Schlussendlich kann gesagt werden, dass das Sharing als Umgangsform drei Varianten umfasst: Teilen, Mitgeben und Melden. Betroffene wählen ihre Umgangsform des Sharings nach ausgewählten Kriterien aus und können sich in den Situationen bewusst für oder gegen eine Variante entscheiden. Die Formen des Sharings weisen unterschiedliche Bedeutungen und somit Wirkung für die Betroffenen auf. Dabei können nicht angewendete Formen des Sharings als eine schützende Handlung erachtet werden, wie es am Beispiel von Hanifa belegt werden konnte. Es gilt daher, bei jeder Handlungsentscheidung das Phänomen der Schützenden Bewältigung mit zu berücksichtigen.

7.1.3.2 Proving

Neben dem Sharing gibt es eine weitere Umgangsform, dem Proving, die ich als ein Handlungsmuster in den Interviews identifizieren konnte. Beim Proving handelt es sich um das Beweisen. Bekanntlich werden in diskriminierenden Handlungen Stereotypisierungen, Zuschreibungen oder Bewertung von Personen(gruppen) vorgenommen. Das Beweisen zielt auf diese Prozesse der Assoziationen ab, wobei es in erster Linie darum geht, diese Zuschreibungen von sich zu weisen und vom Gegenteiligen zu überzeugen. Es kann allgemein für alle Umgangsformen gesprochen werden, wenn davon ausgegangen wird, dass in dieser Phase die Bedürfnisse der Betroffenen sichtbar werden. Diesen Aspekt möchte ich am Beispiel von Zaras schulische Situation verdeutlichen. Wie bereits erfahren, hatte Zara eine konfliktäre Beziehung zu einem Lehrer, der sie aufgrund ihrer Herkunft anders behandelte im Vergleich zu ihren Mitschüler*innen. Zara berichtete, dass der Lehrer ihr gegenüber äußerte, dass sie niemals studieren werden könne. Doch zu einem späteren Zeitpunkt ihrer schulischen Laufbahn, erhielt sie die Möglichkeit, dem Lehrer unter Beweis zu stellen, dass sie gute Leistungen aufzeigen kann:

„[I]ch hatte dann in der zehnten Klasse, waren die Abschlussprüfungen und ich hatte dann extra nochmal Literatur bei dem damaligen Lehrer belegt, weil ich wusste, dass die mündliche Prüfung, die wir belegen müssen, die wollte ich sowieso bei ihm machen, weil in der mündlichen Prüfung nicht er alleine sitzt, sondern noch ein anderer Lehrer mit sitzt“ (Zara, 305–308).

Die Aussage des Lehrers, dass Zara niemals studieren werden könne, wertete sie als Person und ihr Können ab. Um die Zuschreibungen des Lehrers von sich weisen zu können, fasst Zara den bewussten Entschluss, bei der Abschlussprüfung ein Fach zu belegen, wo er sie erneut bewerten muss. Auf diese Weise kann sie ihm unter Beweis stellen, dass die Aussage des Lehrers an Bedeutung verliert, wenn sie das Gegenteil dessen belegt. Diesen Weg als Umgangsform wählt Zara jedoch nur mit dem Wissen, dass am Prozess der Leistungsbeurteilung eine weitere Lehrkraft beteiligt sein wird. Aufgrund des Mehraugenprinzips während der Prüfung ist die Machtposition des Lehrers relativiert. Bei der erzählerischen Rekonstruktion ist zu erkennen, dass es Zara darum geht, die negativen Zuschreibungen des Lehrers durch ihre guten Leistungen zu widersprechen. Das Bedürfnis der Anerkennung ist deutlich zu beobachten, die ihr Lehrer immer wieder verwehrte. Zara führt zum Schluss aus, dass ihre Leistung gut bewertet wurde. Zara nimmt in diesem Augenblick an, dass die Leistungsbewertung die Annahme des Lehrers widerlegt. Grundsätzlich widerspricht die positive Leistungsbeurteilung die Zuschreibungen des Lehrers, wodurch Zara eine Neubewertung der Situation ermöglicht wird. Ihre bewusste Auswahl, die Prüfung bei dem Lehrer zu belegen und dafür eine gute Benotung zu erhalten, dient Zara dazu, sich als handlungsfähige Person wahrzunehmen. Bei der damaligen Aussage des Lehrers, wo Zara in der siebten Klasse befand, blieb eine Reaktion aus, wodurch sie sich handlungsunfähig sah. Jahre später kam es zu einer handlungsbefähigten Situation. Daran ist zu erkennen, dass Diskriminierungserfahrungen zu den verschiedensten Zeitpunkten im Leben wieder an Bedeutungen erlangen können. Indem sie eine Umgangsform für sich entwickelt hatte, die sie auch zu einem späteren Zeitpunkt als der diskriminierenden Handlung anwendet, erweitert sie ihre Handlungsoptionen sowohl im Umgang mit bereits gemachten Diskriminierungserfahrungen als auch in künftigen diskriminierenden Situationen. Dadurch kann davon ausgegangen werden, dass sie ihre gemachte Diskriminierungserfahrung schützend bewältigt hat. Es ist festzuhalten, dass die Umgangsformen stets Auswirkungen auf die darauffolgenden diskriminierenden Situationen haben, weshalb die farbliche Markierung der Pfeile und der dritten Phase in einer gleichen Farbe im Theoriemodell vorgenommen wurde.

Sowie Zara hat Hamide ähnliche Erfahrung in ihrer schulischen Laufbahn erlebt. Jedoch finde ich es wichtig, den Ausschnitt von Hamides Interview hier ebenfalls aufzuführen, da die Bedürfnisse von Hamide, sich selbst etwas zu beweisen, deutlicher hervorgehen. Die Situation von Hamide wurde bereits an einer weiteren Stelle näher beschrieben. Bei der Schulübergangsempfehlung wurde ihr eine Hauptschulempfehlung nahegelegt, obwohl im Vergleich zu einem Mitschüler mit schlechteren Leistungsbeurteilungen eine Realschulempfehlung erfolgte. Hamide fühlte sich in der Situation, wo sie ihre Lehrerin zur Rede stellte, handlungsunfähig u. a. aufgrund des Abhängigkeitsverhältnisses. In der Erzählung, wie sie mit dieser Situation nach dem Verlassen der diskriminierenden Handlung umging, beschrieb sie sich als eine handlungsfähige Person:

„Und dann habe ich trotzdem Realschule gemacht (lacht). Bin auf eigenen Wunsch dann dahin und, ähm, dann immer weiter hoch und hoch. Und das wollte ich glaube ich auch nochmal mir zeigen, dass sie falsch liegt quasi. Sie habe ich ja nicht mehr wieder gesehen. Ich weiß ja nicht, ne? Aber um zu sagen: ‚Nee, du liegst falsch. Das stimmt nicht. Ich schaffe das, wenn ich das will‘“ (Hamide, 155–167).

Hamide handelt entgegengesetzt zu der Empfehlung der Lehrerin und besucht die Realschule. Dabei meidet sie die kommunikative Kommunikation zu der Lehrerin und setzt die bewusste Auswahl ihres Schulwunsches aktiv um. Es kann angenommen werden, dass grundsätzlich der Wunsch, eine Realschule zu besuchen, auch vor dem Gespräch mit der Lehrerin bestand. Dadurch, dass die Lehrerin Hamide diesen Werdegang nicht zutraute und trotz guter Schulnoten ihr Zuschreibungen des Nicht-Könnens machte, könnte das Bedürfnis, die Realschule erfolgreich abzuschließen, verstärkt worden sein. Der Schulbesuch wurde von diesem Zeitpunkt an anders bewertet als zuvor. Interessant ist jedoch, dass Hamide an dieser Stelle sagt, dass sie sich selbst beweisen wollte, dass die Lehrerin Unrecht hat. Hier ist ein Gefühl der Unsicherheit zu beobachten, der vermutlich durch die Aussage der Lehrerin ausgelöst wurde. Um diese Unsicherheit zu beseitigen, aber auch die Zuschreibungen der Lehrerin von sich weisen zu können, konzentrierte sich Hamide verstärkt auf die schulische Leistung. Dem Bedürfnis, der Lehrerin persönlich zu sagen, dass ihre Einschätzung falsch war, konnte Hamide nicht nachkommen, da sie ihre Lehrerin nicht mehr wiedersah. Sowie bei Zara setzte sich Hamide lange nach der diskriminierenden Handlung mit der Erfahrung auseinander, um einen entsprechenden Umgang für sich zu finden. An dieser Stelle wage ich die Behauptung aufzustellen ohne diesem in meiner Forschung nachgegangen zu sein, dass die Diskriminierungserfahrungen zwar nicht täglich bis zur Qualifikationsabschluss präsent waren, jedoch sie in ihr Handeln geprägt und beeinflusst haben. Mithilfe der Retroperspektive waren Zara und Hamide in der Lage, die prägende Diskriminierungserfahrung und die daraus resultierenden Handlungen in Zusammenhang zu bringen und erzielte Erfolge in der Bewältigung zu erkennen. Es scheint in beiden Fällen eine Diskriminierungserfahrung zu sein, mit denen sie sich umfassend auseinandergesetzt haben.

Das Proving als Umgangsform löst insgesamt Handlungen aus, die die Betroffenen aktiv und bewusst vornehmen, um die gemachte Diskriminierungserfahrung schützend zu bewältigen. Das Ziel dabei ist es, die abwertenden Zuschreibungen von sich zu weisen und ihr Gegenüber vom Gegenteil zu überzeugen. Die oftmals stereotypisierenden Zuschreibungen, die wiederkehrend in diskriminierender Handlungspraxis wiederzufinden sind, werden als beschränkend und eingrenzend von den Betroffenen interpretiert. Um aus diesen Zuordnungen auszubrechen, erscheint das Proving für sie eine wirkungsvolle Umgangsform zu sein. In den oben aufgeführten Beispielsituationen handelt es sich um eine Diskriminierungserfahrung, die die Betroffenen in jungen Jahren erfahren hatten und wo sich die Zuschreibung auf die Zukunft der Betroffenen bezog. Eine direktes Proving war unmöglich, weshalb sie sich lange mit dieser Diskriminierungserfahrung befassen mussten, bis diese Umgangsform eine sichtbare Wirkung zeigte. Hinzu kommt, dass die Befragten kaum Angaben zu den Maßnahmen machten, die sie für das Proving ergriffen. Hamide äußerte direkt, dass sie gegen die Empfehlung der Lehrerin die Realschule besuchte. Zara dagegen wählte gezielt in der Abschlussphase das Fach aus, wo ihr Lehrer geprüft hatte. Darüber hinaus lässt sich nur erahnen, welche zusätzlichen Maßnahmen hierfür ergriffen worden waren, um eine Wirkung durch die Umgangsform des Provings zu erzielen. Erste hypothetische Überlegungen wären dabei das zielstrebige bzw. verstärkte Lernen in der Schule. Worüber keine Aussage getroffen werden kann, ist, wann die Maßnahmen eingestellt worden waren oder ggf. modifiziert wurden. Dies bedarf näherer Befragungen der Interviewpartnerinnen, die in diesem Rahmen der Erhebung nicht erfolgten.

Des Weiteren ist an dieser Stelle darauf hinzuweisen, dass jegliche Art von Umgangsformen in den anderen zwei Phasen, der Situationsanalyse und der unmittelbaren Reaktion, hineinwirken können. Da wäre ich wieder an dem Punkt angelangt, darauf zu verweisen, dass die Umgangsformen grundsätzlich Veränderungen in den darauffolgenden Phasen bedeuten. Das würde heißen, dass aus den Diskriminierungserfahrungen Verhaltensänderungen abgeleitet und in den Alltag integriert werden, mit dem Ziel, künftige Diskriminierungen schützend bewältigen zu können. Hanifa bspw. hat durch die Diskriminierungserfahrungen erlernt, im Zusammentreffen mit anderen Menschen die Haltung zu deuten. Sobald sie das Verhalten der Menschen als voreinnehmend erachtet, verhält sie sich selbst wie folgt:

„[W]o ich gemerkt habe, dass die Menschen Vorurteile haben, dann bin ich lächelnd auf diese Gruppe zu und äh beim Unterhalten habe ich dann gezeigt oder versucht denen zu zeigen: ‚Ah, die ist doch eine von uns‘, also ne. ‚Die ist ja locker und spricht‘, ne“ (Hanifa, 388–391).

Hanifa entwickelte stützend auf ihren Vorerfahrungen ein Gefühl dafür, zu schauen, wie die Menschen sich ihr gegenüber verhalten. Ihr sensibler Umgang, vorurteilendes Verhalten bei den Menschen zu identifizieren, ist eine Verhaltensänderung, die sie in ihrer Alltagshandlung integrierte, da sie bereits ähnliche Erfahrungen im Vornhinein gemacht hatte. Basierend auf diesem Wissen ist sie in der Lage, Verhaltensweisen anzueignen, um vorurteilendes Verhalten vom Gegenüber abzuwenden. Ihre Strategie dabei ähnelt dem Proving, da sie dem Gegenüber vom Gegenteil ihrer Annahmen überzeugen wollte. Dabei kommen die Bedürfnisse von Hanifa, zugehörig zu fühlen und angenommen zu werden, zur Geltung. An diesem Beispiel sollte aufgezeigt werden, dass die Kerngedanken der Umgangsformen sich in den unmittelbaren Reaktionen wiederfinden können.

Proving als Umgangsform im Theoriemodell Schützende Bewältigung konzentriert sich auf Diskriminierungserfahrungen, um daraus zielorientierte Handlungen abzuleiten, um einen gewünschten Zustand zu erreichen, der von den Betroffenen individuell angestrebt wird. Meines Erachtens muss es nicht bedeuten, dass die Betroffenen seit der Diskriminierungserfahrung kontinuierlich sich nur mit diesem Ereignis auseinandergesetzt haben. Viel mehr können diese Ereignisse als eine handlungsauslösende Erfahrung betrachtet werden. Erfolge, wie bspw. das Erreichen von Bildungsqualifikationen, dienen dann der rückblickenden Neubewertung der Diskriminierungserfahrung und der Handlungsfähigkeit der eigenen Person.

7.1.3.3 Testing

An der Umgangsform des Testings wird der Lernprozess im Theoriemodell der Schützenden Bewältigung am deutlichsten. In den diskriminierenden Situationen wird Wissen generiert, das Informationen, Hinweise und Handlungsregeln beinhalten, die dazu genutzt werden können, in die eigene Alltagsgestaltung und Handlungsaufbau zu integrieren.Footnote 24 Denn wenn Betroffene in der Lage sind, diskriminierende Handlungen in ihrer Struktur zu erkennen, können sie mit diesem Wissen eigene Handlungsstrategien generieren und künftig auf diskriminierende Situationen gezielt einwirken. Hierzu werden sinnvolle und wirksame Handlungen, die Effektivität erzeugen, rückblickend reflektiert und ggf. modifiziert. Dieser Reflexionsprozess kann in den verschiedenen Formen des Umgangs hergestellt werden. Beim Testing werden Handlungsstrategien überlegt und als künftige Reaktionsform erlernt und verinnerlicht. Auf diese Art können Betroffene ihre Handlungsfähigkeit beeinflussen. Nicht außer Acht zu lassen ist weiterhin das Bedingungsset in einer diskriminierenden Situation, dass die Möglichkeiten, das Handeln einzuschränken oder zu begünstigen, zum Großteil festsetzt. Jedoch ist vor Augen zu führen, dass das zu schützende Ding und die Bedeutungszuschreibung, sowohl dem Ding als auch den Bedingungen, weiterhin an eine hohe Wichtigkeit gewinnt. Durch das Testing wird versucht, das Schutzbedürfnis und den Schutz, sich selbst, andere oder immaterielle Dinge zu schützen, zu steigern. Als ein Beispiel kann angenommen werden, dass in einer diskriminierenden Situation die betroffene Person sich selbst schützen möchte, weshalb sie sich in ausgewählten Situationen bisher passiv-zurückhaltend reagiert hat. Durch das Testing gelingt der Person eine Handlungsstrategie sich zurecht zu legen und in der nächsten ähnlich diskriminierenden Situation aktiv-handelnd zu verhalten. Dadurch schützt sich die Betroffene weiterhin selbst, fühlt sich jedoch durch die Handlungsfähigkeit ermächtigt und erfährt Selbstwirksamkeit. Das Konzept der Selbstwirksamkeit ist auf die Psychologie zurückzuführen. Barysch bezieht sich auf Schwarzer und Jerusalem und beschreibt Selbstwirksamkeit „als die subjektive Gewissheit einer Person, neue oder schwierige Anforderungssituationen aufgrund eigener Kompetenzen bewältigen zu können“ (Barysch 2016: 202). Die sogenannten Anforderungssituationen – hier Diskriminierungssituationen – sind also nicht mit den bisherigen routinierten Alltagshandeln der Betroffenen zu bewältigen. Selbstwirksamkeit ist eng verbunden mit den eigenen Ressourcen, die dem Menschen zu Verfügung stehen bzw. generiert werden können. Der konzeptionelle Ursprung der Selbstwirksamkeitserwartung ist in der sozial-kognitiven Lerntheorie von Bandura zu verorten (vgl. Barysch 2016; Egger 2015: 283–289; Jerusalem/Hopf 2002; Jonas/Brömer 2002). Mithilfe der Selbstwirksamkeit – um den inhaltlichen Bezug wiederherzustellen – könnten diskriminierende Situationen schützender bewältigt werden. Das Phänomen der Schützenden Bewältigung bleibt nicht starr, sondern entwickelt sich durch das Schutzbedürfnis, das sich mit der Zeit verändert, stets weiter. So hätte das Schutzbedürfnis zunächst nur sein können, Situationen zu bewältigen, ohne in eine direkte Interaktion mit Menschen gehen zu müssen. Später könnte jedoch das Schutzbedürfnis sein, Situationen künftig handlungsfähig zu bewältigen. Beide Bedürfnisse haben die Absicht, die eigene Person zu schützen. Zu schauen ist, ob das Schutzbedürfnis der Person auch beim Verlassen der diskriminierenden Handlung zufriedenstellend ist. Mit dieser Beschreibung wird die zirkuläre Prozesshaftigkeit des Theoriemodells beobachtbar.

Um den Prozess des Testings zu veranschaulichen und gleichzeitig die Selbstwirksamkeitserfahrung vor Augen zu führen, ziehe ich ein Beispiel aus dem Interview von Malala hinzu. Malala berichtete von einer zufälligen Begegnung mit einer Fahrradfahrerin auf der Straße, die mit ihr und ihrem Sohn despektierlich umging. Diese Situation ist nicht die gleiche Diskriminierungserfahrung, die in Abschnitt 7.1.2.3 dargelegt wurde. Hierbei handelt es sich um eine separate Situation, die kürzlich vor dem Interview ereignete, weshalb diese Erfahrung für Malala zum Zeitpunkt der erzählerischen Rekonstruktion präsent war. Die Interviewpartnerin schilderte mir, dass sie sich im Anschluss einer DemonstrationsteilnahmeFootnote 25 mit ihrem Sohn unter einer Überführung unterstellte aufgrund des regnerischen Wetters. Während der Sohn auf dem Gehweg sich spielerisch beschäftigte, war Malala gerade dabei, eine Freundin mit ihrem Smartphone zu kontaktieren, als eine Fahrradfahrerin auf dem Gehweg den beiden entgegenkam. Als Malala registrierte, dass ihr Sohn auf dem Gehweg die Durchfahrt behindern könnte, obwohl die Fahrradfahrerin nicht auf dem Fahrradweg fuhr, rief sie ihren Sohn zu sich. Malala versicherte, dass die Fahrradfahrerin problemlos hätte weiterfahren können. Jedoch gab die Fahrradfahrerin ein Kommentar ab, der Malala signalisieren sollte, dass sie ersichtlich von dieser Situation genervt war. An einer weiteren Stelle macht Malala deutlich, dass der Umgang mit ihr nur aufgrund ihrer Hautfarbe erfolgt und deutet diese Handlung als rassistisch. Auf die diskriminierend-interpretierte Handlung tritt Malala mit ihr in Interaktion und erklärt der Fahrradfahrerin beim Vorbeifahren, dass die Dame sich nicht entsprechend auf dem Fahrradweg befand. Als Malala bemerkte, dass die Fahrradfahrerin eine Abwehrhaltung einnahm und der Reaktion von Malala widersprechen wollte, bezeichnete Malala die Fahrradfahrerin zu ihrer Verteidigung als „Deutsche Rassist“Footnote 26. Die Interaktionsabläufe in dieser Situation beschäftigte Malala weiterhin, weshalb sie unmittelbar nach der diskriminierenden Situation das Gespräch mit ihrer Mitbewohnerin aufsuchte. Malala kommt zum folgenden Entschluss:

„Aber dann musste ich zu Hause kommen und meine Mitbewohnerin fragen, weil ich dachte, dass sie [die Fahrradfahrerin] deutsch ist, ist eigentlich egal, aber ich möchte das jetzt häufiger sagen, wenn ich denke, dass ich rassistisch behandelt wurde. Und deswegen: Muss ich mit jemand auf der Straße streiten, würde ich jetzt sagen etwas wie ‚Scheiße Rassist‘ oder ‚Scheiße Rassistin‘. Und das würde ich jetzt ab jetzt machen, weil es hat eigentlich ganz gut gefühlt, diese Frau eine Rassist zu nennen“ (Malala, 572–577).

In der Erzählung von Malala ist vor allem zu beobachten, wie sehr die erlebte Diskriminierung sie nach der Situation weiterhin beschäftigt. Dabei reflektiert sie ihr eigenes Verhalten im Austausch mit ihrer MitbewohnerinFootnote 27 in zweierlei Hinsicht: Zum einen versucht sie ihre Reaktion so zu modifizieren, dass es für sie angemessen erscheint. Dabei stellt sie fest, dass die Zugehörigkeit der diskriminierenden Person keine Relevanz darstellt, weshalb sie die Bezeichnung „Deutsch“ durch „Scheiße“ ersetzt. Zum anderen bewertet sie die Wirkung der Reaktion und kommt zum Entschluss, dass sie durch diese Reaktionsform eine Erleichterung empfindet: „weil es hat eigentlich ganz gut gefühlt“. Malala beschließt dadurch, rassistisches Verhalten der Menschen im öffentlichen Raum eindeutig zu benennen und sichtbar zu machen. Die einmalige Erfahrung hat sie also darin bestärkt, diese Reaktionsform als bewusste Handlungsstrategie zu verinnerlichen und es in künftigen diskriminierenden Situationen bewusst anzuwenden. Diese bewusste Auseinandersetzung mit Reaktions- und Handlungsformen, wie die Personen künftig auf Diskriminierungssituationen reagieren wollen, bezeichne ich hier als Testing. Eine Modifizierung und Bewertung der Reaktionsform konnte nur mit der Umgangsform des Testings hervorgerufen werden. Damit Malala grundsätzlich über eine Handlungsstrategie nachdenken konnte, musste sie zunächst ihre Erfahrung mit ihrer Mitbewohnerin teilen. So können mehrere Umgangsformen ineinandergreifen und zusammenlaufen. Malala hätte jedoch auch das Testing ohne das Teilen anwenden können. Die Auswahl, mit dieser Erfahrung so umzugehen, wie sie es bisher beschrieben hat, beschreibt sie als einen Lernprozess:

„Ich glaube, ich habe das vorher nicht gemacht, weil in der Situation bin ich immer so schockiert. Aber weil ich das jetzt so ein paar Mal [erlebt habe] […] so wie jetzt, ich lerne durch Tun. Und jetzt bin ich so ein bisschen mehr vorbereitet oder ich denke, […] dass es jetzt ein paar Mal passiert hat, denke ich, okay, ich muss jetzt [von vorneherein] schon ein bisschen mehr vorbereitet sein. Wie möchte ich umgehen in den Situationen?“ (Malala, 677–681).

Den Schockzustand bezeichnet Malala als ein bisheriges Hindernis für ihre Handlung. Bis zum Zeitpunkt der soeben beschriebenen Situation hat sie sich vorher nicht so verhalten. Als einen Grund für die verbale Handlung führt Malala die Häufigkeit der Diskriminierungserfahrung an. Sie beschreibt, dass sie durch das Tun lernt und verweist auf einen Lernprozess bzw. Lerneffekt hin. Durch das bewusste Zurechtlegen der Handlungsstrategie, in der nächsten rassistischen Erfahrung die diskriminierende Person als „Scheiß Rassist“ oder „Scheiß Rassistin“ zu bezeichnen, schätzt sich Malala nun als vorbereitet ein auf künftig folgende Situationen. Die Häufigkeit der Diskriminierungserfahrung gab zum Anlass, sich bewusst auf darauffolgenden Diskriminierungssituationen vorzubereiten.

In dem hier beschriebenen Beispiel ist die Abfolge des Testings, dass aus einer konkreten Diskriminierungserfahrung hervorging, eindeutig zu erkennen. Es gibt jedoch auch allgemeine Situationen, wo das Testing als Umgangsform ihre Anwendung findet ohne einen direkten Bezug zu einer ausgewählten Diskriminierungserfahrung. Um diesen Standpunkt zu verdeutlichen, ziehe ich ein Textausschnitt aus dem Interview mit Hanifa hinzu. Eingangs erzählte sie mir umfassend von einer Diskriminierungserfahrung auf der Straße, wo sie auf die Diskriminierenden zugegangen ist und das Gespräch gesucht hatte. Kurze Zeit später gab Hanifa an, wie sie ihre Reaktion in der beschriebenen Diskriminierungserfahrung zuvor aneignete. Sie kam darauf zu sprechen, als ich sie fragte, inwieweit ihre Diskriminierungserfahrung ihr professionelles Verhalten prägt:

„Und dass wir, wie ich das mit dem Mann gemacht habe, dass wir auf sie zugehen […]. Also, dass wir die direkt jetzt ansprechen, ne. Und so stärken wir jetzt gerade unsere Frauen durch kleine Seminare und durch Rollenspiele, indem wir das spielen, ne, und wie sie dann zu reagieren haben. Ich glaube, das war [der Grund], warum ich dann zu diesem Mann auch gesagt habe, weil wir das auch ein bisschen geübt hatten. Und da habe ich gesagt, so ja, dass ich davon überzeugt bin, dass er ein wunderbarer Mensch ist“ (Hanifa, 274–280).

Hanifa arbeitet im Feld der Frauenarbeit und spricht von ihrer Zielgruppe im Kontext ihrer Tätigkeit als sie die Bezeichnung „unsere Frauen“ verwendet. Sie benennt die Seminare, die im Rahmen ihrer Tätigkeit durchgeführt werden, als eine Übungshilfe, um Handlungsstrategien zu erlernen, die in diskriminierenden Situationen angewendet werden können. An dieser Umschreibung von Hanifa ist die Umgangsform des Testings wiederzuerkennen. Auch wenn das Testing in einem formalisierten und institutionalisierten Rahmen erfolgte, ist davon auszugehen, dass das Seminar nur dadurch entstanden ist, weil die Diskriminierungserfahrungen allgegenwärtig sind und somit einen Bedarf sowohl bei der Zielgruppe als auch bei Hanifa darstellt. In dem angeführten Zitat nennt Hanifa Reaktionsaussagen, die sie im Seminar erlernt und nun als Handlungsformen verinnerlicht hat: „‚Was ist denn wirklich ihr Problem?‘ Oder: ‚Was haben Sie denn so Schlimmes erleiden müssen, dass Sie so denken?‘“ (Hanifa, 275–276). Die Beispiele, die Hanifa wiedergibt, können als ein Indiz dafür gewertet werden, dass die Übungen in ihrem habituellen Verhalten übergegangen sind. Die wörtliche Rede lässt das Zitat lebendig wirken und spiegelt den Reflexionsgehalt der Umgangsform wider. Außerdem kann die Behauptung aufgestellt werden, dass erst das Sprechen über ihre Erfahrung in Verbindung mit ihrer professionellen Rolle dazu geführt hat, dass sie ihre Reaktion in der diskriminierenden Situation, wovon sie zuvor berichtete, als einen Lerneffekt aus ihrem Seminar deutet. Hier sind zwei wichtige Punkte zusammenzufassen: Erstens hat Hanifa Seminare für ihre Zielgruppe konzipiert, da sie aus ihren eigenen Erfahrungen eine Relevanz für derartige Seminare herleitet.Footnote 28 Zweitens hatte sie vermutlich bis zum Zeitpunkt des Interviews die unmittelbare Verbindung ihrer Reaktion und dem Seminar nicht gesehen. Meine Annahme geht insbesondere aus dem Aspekt hervor, dass sie den Satz mit „Ich glaube“ beginnt. Interviewgespräche stellen immer auch Reflexionsprozesse dar. Obwohl Hanifa im oben aufgeführten Zitat von „Wir“ und „Sie“ spricht, die dichotomisierende Wirkungen hervorbringen, löst sie die Konstrukte mit ihrer Aussage zum Mann auf, den sie als wunderbaren Menschen beschrieb. Ihre Strategie dabei ist es, kategorisierende Bezeichnungen abzulehnen und über die allgemeine Form des Menschen zu argumentieren. Auf diese Art und Weise führt sie eine wesentliche Gemeinsamkeit zwischen ihr als Diskriminierte und ihm als DiskriminierendeFootnote 29 an: Sie beide sind Menschen.

Das Testing beschreibt somit die Umgangsform, wo eine bewusste Auseinandersetzung mit Handlungsstrategien erfolgt, die erlernt oder angeeignet werden, um auf künftige diskriminierende Situationen vorbereitet zu sein. Das präparierende Merkmal der Umgangsform Testing hat das Ziel, die Handlungsfähigkeit und somit auch die -ermächtigung der Betroffenen zu steigern. Diskriminierende erfahren durch das Testing Selbstwirksamkeitserfahrung, die positive Auswirkung auf das Phänomen der Schützenden Bewältigung haben kann. Durch die Darlegung der soeben aufgeführten Beispiele, aus denen ich die Umgangsform Testing anhand der beschriebenen Handlungsmuster der Betroffenen ableiten konnte, konnten vor allem die Prozesshaftigkeit und ihre zirkuläre Wirkung des Theoriemodells betont werden.

7.1.3.4 Pre-Reducing

Die vierte Umgangsform in der Schutz- und Stärkungsphase ist das Pre-Reducing. Bei dieser Umgangsform geht es darum, Maßnahmen im Voraus zu ergreifen, die künftige Diskriminierungen abzuwenden versucht oder erst nicht entstehen zu lassen. Während der Analyse meiner Daten identifizierte ich anhand der rekonstruierten Handlungsmuster der Interviewpartnerinnen eine präventiv-ähnliches Verhalten, weshalb ich für die weitere Ausführung das Konzept der Prävention dieser Umgangsweise zu Grunde lege. Prävention entstammt aus dem Lateinischen und hat ihren konzeptionellen Ursprung in der Medizin. Das Konzept soll sowohl physische als auch psychische Erkrankungen abwenden. Aber auch „die Verhinderung von unerwünschten Ereignissen sowie deren Folgen“ (Nissen et al. 2019: 134) zählen zu konzeptionellen Überlegungen von Prävention. Im Rahmen der Schützenden Bewältigung würde es sich bei den unerwünschten Ereignissen die Diskriminierungssituationen handeln, die abzuwenden gilt. Präventionsmaßnahmen sind in der Regel im Bereich des Gesundheitswesens und primär in professionalisierten Kontexten zu verorten. Bei dem präventiven Handeln, die ich hier beschreibe, handelt es sich um schützende Verhaltensweisen, die auf der Grundlage bereits erlebter Diskriminierungserfahrungen entwickelt werden. Es wurde bereits der Standpunkt verdeutlicht, dass an den Betroffenen durch diskriminierende Handlungen die Anforderungen gestellt wird, sich immer wieder mit diesen Praktiken und damit einhergehenden Diskursen zu befassen (vgl. Scharathow 2017: 108). Dies gilt ebenfalls für den Aspekt, wenn Betroffene Diskriminierungssituationen und damit die Diskriminierungserfahrung mindern oder gar vermeiden wollen. Pre-Reducing beinhaltet zwei wesentliche Aspekte: (1) den vorbeugend präventiven Aspekt und (2) den einschränkenden Aspekt. Die Einschränkungen beziehen sich primär auf die Alltagsgestaltung der Betroffenen. Das Zusammendenken der beiden Aspekte ist deshalb von hoher Relevanz, da meistens eine vorbeugende Maßnahme ebenso eine einschränkende Maßnahme und umgekehrt bedeutet. Zu einer inhaltlichen Vertiefung komme ich gleich noch. Vorher möchte ich auf die Maßnahmen, die allgemein im Rahmen von Pre-Reducing ergriffen werden, zu sprechen kommen. Betroffene leiten auf der Grundlage ihres Wissens, das sie durch ihre Erfahrungen generieren, Maßnahmen in Form von Handlungen ab. Das Ziel der Handlungen ist dabei, künftige Diskriminierungen präventiv zu umgehen. Während das Testing sich auf den Zeitpunkt konzentriert, sobald eine Diskriminierung auftritt, einzugreifen und gezielt zu reagieren, möchte das Pre-Reducing als Umgangsform erst gar nicht eine Diskriminierung entstehen lassen. Wie kann Diskriminierung auf einer individuellen Ebene vorgebeugt werden? An verschiedenen Stellen im Datenmaterial wurden auf Handlungen verwiesen, wo Betroffene versuchten, durch Veränderungen im Alltag, Alltagsgestaltung oder Alltagshandlung Diskriminierung zu umgehen. Dazu veränderten sie bspw. äußere Merkmale, die nach ihrer Wahrnehmung zum Anlass von diskriminierenden Handlungen führten. Betroffene benennen somit nicht nur die Merkmale, aufgrund dessen sie nach ihrer Interpretation diskriminiert werden. Sie zeigen auf, welche Aspekte für sie Relevanz erlangen, um diskriminierende Handlungen zu deuten. Erst wenn eine Person weiß, wie Diskriminierung funktioniert und verläuft, können Betroffene intervenieren. Aufgrund der erlebten Diskriminierungserfahrungen findet sozusagen eine Reorganisation der Verhaltensweisen auf. Es ist wie ein Kartenspiel zu betrachten: Sind einem die Regeln nicht bekannt, können auch keine strategischen Überlegungen vorgenommen werden, um Einfluss auf das Spiel zu nehmen. Dieser metaphorische Vergleich ist grundsätzlich auf alle bisher dargestellten Umgangsformen zu übertragen.

Die Maßnahmen, die aus den Diskriminierungserfahrungen als ein Lerneffekt hervorgehen, sind temporär und gelten somit nicht ewig, wenn sie einmal eingeführt worden sind. Die Betroffenen entscheiden aufgrund von Bedeutungszuschreibungen wann, in welcher Form und für wie lange die Maßnahme in den Alltag implementiert wird. Die Umgangsform wird nach Bedarf angewandt und kann jederzeit wieder an Bedeutung verlieren, sodass die Handlung ggf. modifiziert und in die Alltagsgestaltung integriert oder gänzlich verworfen wird. Zunächst gebe ich ein Interviewausschnitt aus dem Setting mit Afra als ein Beispiel für die hier beschriebene Umgangsform wieder. Afra trägt ein Kopftuch und trifft folgende Aussage hierzu:

„Und ansonsten sind wir natürlich bei Arbeitssuche, Ausbildungssuche [von Diskriminierung betroffen], äh, kamen immer wieder die Diskussionen über Kopftuch insbesondere. Ich habe auch eine Weile kein Kopftuch getragen. Äh, da hatte ich diese Diskussionen überhaupt nicht, ne? Und sobald Sie Kopftuch tragen, dann werden Sie angesprochen“ (Afra, 98–101).

Afra benennt eine strukturelle Dimension der Diskriminierung und erwähnt konkrete Lebensbereiche wie „Arbeitssuche“ und „Ausbildungssuche“. Damit fasst sie den Arbeitsmarkt als eine Institution zusammen, wodurch sie sich strukturell diskriminiert sieht. Es entsteht der Eindruck, dass sie das Kopftuch als ein Symbolbild für Diskriminierung verwendet. Da sie unmittelbar danach die Kontextinformation hinzufügt, dass es eine Zeit gab, in der sie kein Kopftuch trug, kann die Vermutung aufgestellt werden, dass sie dies tat, um den zuvor beschriebene strukturellen Diskriminierungen zu entkommen und den Zugang zum Arbeitsmarkt, der ihr mit Kopftuch verwehrt bleibt, zu gewährleisten. Eine Schlussfolgerung von Afra könnte hierbei gewesen sein, dass sie erst ohne Kopftuch als einen vollwertigen Menschen von außen wahrgenommen wird. Es gibt zahlreiche Studien, die das muslimische Kopftuchtragen in Verbindung mit struktureller Diskriminierung im Kontext des Arbeitsmarktes untersuchen und eine Benachteiligung empirisch belegen (vgl. bspw. Abdelhadi 2019; Khattab/Hussein 2018; Ali et al. 2015; Kreutzer 2015; Ghumman/Ryan 2013; Syed/Pio 2010; Unkelbach et al. 2010; Blaschke 2000). Afra verweist in ihrer Erzählung auf eine zeitliche Komponente, „eine Weile“, woraus sich erschließen lässt, dass die Maßnahme, ihr Kopftuch nicht zu tragen, zeitlich begrenzt war. Sie stellt während dieser Zeit fest, dass keine Diskussionen bezüglich des Kopftuchs entstanden, weswegen sie schlussfolgert, dass ein unterschiedlicher Umgang mit ihr auf das Kopftuchtragen zurückzuführen ist. Dadurch, dass sie das Personalpronomen „Sie“ verwendet, adressiert Afra mich direkt. Meines Erachtens sollte die direkte Ansprache dazu dienen, ihre Betroffenheit auf eine personalisierte Ebene stärker zu verdeutlichen.

Ebenso erzählte Asifa von einem Bewerbungsgespräch, wo sie ihr Kopftuch ablegte, um die Jobchancen zu erhöhen und die Diskriminierungswahrscheinlichkeit zu senken. Zuvor berichtete sie von einer Diskriminierungserfahrung in einem Auswahlgespräch als Auszubildende, weswegen ich davon ausgehe, dass diese Erfahrung grundlegend mit dieser Verhaltensweise zusammenhängt. Um eine voreilige Ablehnung aufgrund sichtbarer Religionszugehörigkeit zu entkommen, setzte sie das Kopftuch präventiv ab und sah sich gezwungen, sich in ihrer religiösen Freiheit, einzuschränken:

„[W]enn du Kopftuch hast, wirst du schon gestempelt, das ist ja klar. […] [Z]um Gespräch für meine Arbeit, da musste ich mein Kopftuch weg[lassen], um diesen Stempel nicht zu haben“ (Asifa, 333–336).

Mit dem metaphorischen Vergleich des Gestempelt werden möchte Asifa darauf aufmerksam machen, dass Menschen mit Kopftuch stereotypisiert bzw. stigmatisiertFootnote 30 werden. Sie formuliert diese Schlussfolgerung als eine Gesetzmäßigkeit, die vergleichbar ist mit eine Art Alltagsregel, die sie durch ihre Erfahrung generiert hat. Durch das Hinzufügen von „das ist ja klar“, unterstreicht sie ihre Beobachtung als eine Selbstverständlichkeit, die allgegenwärtig sein zu scheint. Ihre als Regel formulierte Benachteiligung lässt sich durch einfachen Umkehrschluss revidieren, weswegen sie zum Entschluss kommt, ihr Kopftuch für das Bewerbungsgespräch wegzulassen, um nicht „gestempelt“ zu werden. Durch diese Maßnahme, möchte Asifa Diskriminierung vorbeugen und schränkt sich dadurch selbst ein. Ihr Ziel dabei ist es, den Zugang zum Arbeitsmarkt (immaterielles Ding) zu erhalten, die grundlegend für ihre Existenz ist. Einschränkungen werden somit hingenommen, um Situationen schützend zu bewältigen.

Bisher habe ich zwei Beispiele angeführt, wo beide Interviewpartnerinnen sich bewusst für das Kopftuchablegen als eine vorbeugende Maßnahme entschieden hatten, weil sie aufgrund dessen Diskriminierungen erfuhren. In meinem Theoriemodell fasse ich jedoch auch Nicht-Handlungen als bewusste Handlungen mit ein. Nicht-Handlungen werden von den Interviewpartnerinnen aktiv artikuliert und setzen eine Auseinandersetzung mit diesen Handlungen voraus, weswegen ich diese in den Umgangsformen miteinbeziehe. So hatte Hanifa im Interview konkret benennen können, was sie nicht machen würde und welche Alternativen dafür für sie in Frage kommen:

„Ich würde niemals mein Kopftuch ablegen deswegen, damit ich zum Beispiel nicht angegriffen werde. Das Einzige, was ich mache, halt, dass ich dann wirklich lächelnd auf diese Leute zugehe. Es sei denn, die schreien dann gerade: ‚Türken raus!‘. Dann würde ich natürlich mich zurückhalten“ (Hanifa, 391–394).

Hanifa nennt im oben angeführten Zitat, dass es für sie nicht in Frage käme, ihr Kopftuch abzulegen. Allein die Tatsache, dass sie diese Nicht-Handlung im Interview konkret benennt, lässt diesen Aspekt grundsätzlich in den Vordergrund rücken und lässt vermuten, dass diese Aussage für Hanifa eine besondere Bedeutung hat. Hanifa führt eine Alternative an und sagt, dass sie primär auf die Leute mit einer bewussten Haltung zugeht. Ihr Verhalten, „lächelnd auf (.) Leute zugehen“, soll dazu dienen, dass die Menschen sie als freundliche Person begegnen. Es kann davon ausgegangen werden, dass Hanifa immer wieder diesen Druck verspürt, Ressentiments durch freundliches Auftreten auflösen zu müssen, um diskriminierende Handlungen abzumindern. Darüber hinaus führt sie an, dass ihre vorbeugende Maßnahme nicht immer anwendbar ist und im Falle extremer Anfeindungen diese unterlässt („zurückhalten“). Die Anspannung, die Diskriminierte immer wieder verspüren, spiegelt sich in der Aussage von Afra am deutlichsten wider:

„[W]enn man Diskriminierungen umgehen möchte, dann kann man nicht sich selbst sein. Dann muss man immer wieder auch noch [den] Stärkeren spielen, denke ich. Das ist der Schutz, ne. Das andere ist auch Schutz. Einfach sich fügen oder nicht sichtbar werden, ist auch ein Schutz“ (Afra, 671–674).

Die Aussagen, die Afra an dieser Stelle vornimmt, können auf ihr Verhalten zurückgeführt werden im Umgang mit Diskriminierungssituationen und den daraus resultierenden Erfahrungen. Die Beschreibung, „nicht sich selbst sein“, ist ein Hinweis dafür, dass Afra möglicherweise in entsprechenden Situationen ihr Verhalten anpasst, um die Wahrscheinlichkeit oder das Ausmaß von Diskriminierung zu verringern. Afra formuliert ihre Schlussfolgerung – „Wenn man Diskriminierungen umgehen möchte, dann kann man nicht sich selbst sein“ – basierend auf ihren Erfahrungen. Das würde bedeuten, dass sie immer Diskriminierung erfahren hatte, wenn sie sich nicht verstellt oder Verhaltensanpassungen vorgenommen hatte. Weiter beschreibt Afra bezugnehmend auf Diskriminierungserfahrungen, dass die Betroffenen immer den „Stärkeren“ spielen müssen. Da sie den Begriff des Schutzes verwendet, entsteht der Eindruck, als müssten die Betroffenen zunächst eine bestimmte Rolle in der Interaktion mit Diskriminierenden einnehmen, um die Situation schützend zu bewältigen. Ergänzend hierzu erwähnt sie das zurückhaltende Verhalten als eine Form des Schutzes. Jedoch verwendet sie hier Begriffe wie „sich fügen“ und „nicht sichtbar werden“, wodurch ihrer Aussage eine bewertende Wirkung verliehen wird. Insgesamt ist die Aussage von Afra als eine vorbeugende Maßnahme zu verstehen, um Diskriminierung zu mindern oder erst gar nicht begegnen zu müssen. Dass das präventive Verhalten einschränkende Auswirkungen auf die Betroffenen hat, wurde damit explizit betont.

Die Umgangsform Pre-Reducing hat somit immer eine vorbeugende Handlung, die einschränkende Auswirkung auf die Person in ihrem Alltag zur Folge hat. Während Afra allgemein über Verhaltensweisen spricht, um Diskriminierungen zu umgehen, benennt Hamide ein konkretes Beispiel. Im Interview fragte ich sie explizit nach ihrer Umgangsweise:

„I: Gab es schon mal Situationen, wo Sie gesagt haben: ‚Ich verhalte mich jetzt anders, um Diskriminierungen zu umgehen?‘

B: [A]lso ich merke bei mir, dass ich bei manchen Veranstaltungen sage, oh nee, darauf habe ich einfach keine Lust jetzt, irgendwie als einzige mit Migrationshintergrund da zu sein, dass ich dann irgendwie als Außenseiterin dastehe und dann diese komischen Fragen beantworten muss“ (Hamide, 360–366).

Ohne mich zu wiederholen, gehe ich auf vereinzelte Punkte vom aufgeführten Zitat ein. In diesem Interviewausschnitt ist zu erkennen, dass Hamide ausgehend von ihren Erfahrungen Entscheidungen darüber trifft, an welchen Veranstaltungen sie teilnimmt. Dabei spielt zum einen die Repräsentanz von Menschen mit Migrationsgeschichte eine Rolle, und zum anderen die Erwartungshaltung von Menschen ohne Migrationsgeschichte an Personen sowie Hamide. Die Anforderungen, die im Rahmen solcher Veranstaltungen an ihr gerichtet werden, empfindet sie als eine Belastung, die in ihrer erschöpften Ausdrucksweise wiederzuerkennen ist. Um erst gar nicht diese Fragen sich stellen zu müssen, meidet sie bewusst derartige Veranstaltungen, wo nach ihrer Meinung nach, solche Fragen aufkommen könnten. Es könnte davon ausgegangen werden, dass Hamide unabhängig von den Fragen jedoch Interesse hätte, an dieser Veranstaltung teilzunehmen. Aufgrund der Tatsache, wie sie von außen wahrgenommen und welche Belange an sie adressiert werden, muss sie in ihrer Alltagsgestaltung Entscheidungen treffen und zum Teil sich einschränken, um Diskriminierungen nicht zu begegnen. Die Einschränkung von Hamide geht mit dem Ziel einher, sich selbst zu schützen. Pre-Reducing ist von allen Umgangsweisen jene, die von außen beobachtbar ist. Eine Nicht-Teilnahme an einer Veranstaltung kann vielseitig interpretiert werden. Erst durch die erzählerische Rekonstruktion von Hamide, wurde diese Form der Umgangsweise für mich sichtbar, nachdem ich ähnliche Handlungsmustern zusammenführte und miteinander verglich. Konkrete Anwendungen von Handlungsweisen, wobei es sich nicht um Nicht-Handlungen geht, sind von außen nicht immer als Pre-Reducing erkennbar. Das signifikanteste Beispiel ist von Afra, die mir im Interviewgespräch offenlegte, wie sie ihr Kopftuch trägt. Dabei nannte sie Schönheitsaspekte, die sie beim Kopftuchtragen insbesondere achtet, um auf diese Weise Diskriminierung zu umgehen. Dass an der Art und Weise, wie eine Person ihr Kopftuch trägt, eine Umgangsform mit Diskriminierungserfahrung dahintersteckt, war zuvor nicht zu erahnen.

Bis hier her wurden alle vier Umgangsformen, die zur Bewältigung der gemachten Diskriminierungserfahrung genutzt werden können, in ihrer Ausführlichkeit vorgestellt. In welcher kontextualisierten Rahmung das Phänomen der Schützenden Bewältigung eingebettet ist, wird im Nachstehenden konkretisiert.

7.1.4 Emotionale und diskursive Einbettung der Phasen

Das Theoriemodell der Schützenden Bewältigung besteht neben den drei Phasen, die bislang in ihren Eigenschaften und dimensionalen Ebenen erläutert wurden, aus einer gesamten emotionalen und diskursiven Umrahmung. Dieser Rahmen soll eine Einbettung symbolisieren, in die die Phasen integriert sind. Sowohl eine emotionale als auch eine diskursive Komponente waren kontinuierlich in der Analyse zu beobachten. Das Handeln der Betroffenen wird auf einer subjektiven Ebene beeinflusst, die mit der emotionalen Rahmung beschrieben werden soll. Des Weiteren ist das Handeln der Betroffenen auf einer etwas abstrakteren Ebene analytisch zu betrachten, was durch die diskursive Rahmung abgedeckt werden soll. Im Folgenden wird auf beide Aspekte separat eingegangen.

7.1.4.1 Emotionale Konfrontation und (Schützende) Bewältigung

Emotion ist ein Begriff, der primär der Psychologie zugeschrieben wird. In der Umgangssprache ist meist die Rede von Gefühlen. In der Soziologie fand Emotion lange Zeit nur wenig Beachtung.Footnote 31 Die Problematik bestand darin, dass Emotionen zunächst als „intra-individuelles Phänomen“ (Scherke 2009: 64) behandelt wurden. Bei Emotionen handelt es sich um Reaktionsmuster, die von Objekten oder Menschen freigesetzt werden können (vgl. Hamm 2012: 628). Sie charakterisieren sich in physischen Reaktionen, die teilweise von außen beobachtbar sind, und psychischen Reaktionen, die sich vor allem im subjektiven Gefühlserleben niederschlagen (vgl. ebd.: 634). Menschen drücken ihre Emotionen als Gesichtsausdruck (Mimik), Körpersprache (Gestik) und Vokalisation aus (vgl. ebd.: 628). Bereits in der Erhebungsphase konnte ich als Interviewerin in den Interviewsettings bei den Befragten Emotionen beobachten, als sie mir von ihren Diskriminierungserfahrungen berichteten. In der tiefgehenden Analyse am Datenmaterial spiegelten sich ihre Emotionen in ihren Erzählungen wider. Es war frühzeitig festzustellen, dass Emotionen in der Prozesshaftigkeit von Diskriminierungserfahrungen eine Schlüsselrolle spielen. Hamm bezieht sich auf Lang und beschreibt Emotionen als „Handlungsdispositionen“ (ebd.), was wiederum bedeutet, dass Emotionen als eine Voraussetzung für Handeln verstanden werden können. Ist dieser Punkt auf Diskriminierungssituationen zu übertragen, dann werden Emotionen in den Prozessen hervorgerufen, die gegenwärtiges Verhalten und weitere soziale Prozesse unterbrechen. Emotionen erlangen in diesen Situationen eine hohe Relevanz, damit auf dieser Grundlage ein Handlungsaufbau stattfinden kann. Da das Theoriemodell der Schützenden Bewältigung an den Ansätzen vom symbolischen Interaktionismus angelehnt ist, wird bei der emotionalen Rahmung ein ähnlicher Ansatz hinzugezogen: Es wird davon ausgegangen, dass Emotionen nicht ausschließlich durch ein Ereignis – hier die diskriminierende Handlung – ausgelöst werden, sondern vielmehr mit einer subjektiven Bewertung von Ereignissen einhergehen. Dieser Ansatz nennt sich Bewertungshypothese (vgl. Schmidt-Atzert et al. 2014: 135; Beier 2019: 15). Meiner Meinung nach ist der Ansatz der Bewertungshypothese im Zusammenhang der Entstehung von Emotionen daher geeignet, da die Überlegungen entsprechend an die Definition von Diskriminierungserfahrung anknüpfen lassen. Es sei daran erinnert: Diskriminierungserfahrungen sind immer auch Deutungs- und Interpretationsprozesse (vgl. Scherr/Breit 2020: 37), woran die Bedeutungskomponente ersichtlich wird. Darüber hinaus kann Emotionen eine motivationale Eigenschaft zugesprochen werden, die davon ausgeht, dass die daraus entstehende Handlung zu beabsichtigen versucht, die erlebte Emotion „zu bestärken und beizubehalten oder diese abzuwenden“ (Beier 2019: 11). An diesen Punkt könnte die Schützende Bewältigung als Phänomen anknüpfen, die durch schützende Handlungen die Emotionen, die erlebt werden, zu verarbeiten versucht. Daher halte ich fest, dass Emotionen soziale Situationen und insbesondere die Interkationen der Betroffenen im Kontext von Diskriminierungserfahrungen prägen.

Im Theoriemodell der Schützenden Bewältigung spielen die Emotionen in allen drei Phasen eine Rolle. Sie können durch die Interpretation und Wahrnehmung von diskriminierender Handlung erzeugt werden. Weiterhin haben Emotionen in der Umgangsform, die zur Schützenden Bewältigung von Diskriminierungserfahrungen hinzugezogen werden, Bestand. Ein einleuchtendes Beispiel hierfür ist das Sharing: Wenn Betroffene ihre Erfahrungen wiedergeben, können die empfunden Emotionen rekonstruiert und teilweise sogar zum Zeitpunkt der Erzählung (wieder) hervorgerufen werden. Dies war in den Interviewsettings beobachtbar, wo die Betroffenen mir von ihren Diskriminierungserfahrungen berichteten. In diesen Situationen ging ich dem Hinweis von Helfferich nach, die postuliert, dass „die Fähigkeit zum Verzicht auf beratungsrelevante Interventionen und eine Zurückhaltung als Interviewende“ (Helfferich 2011: 50; Hervorhebung im Original) gerade in problemzentrierten Interviews geboten sein sollte. Emotionen können bereits erlebte Erfahrungen immer wieder hervorrufen. Zara erzählte mir von einer ihrer Diskriminierungserfahrungen, als ich nach einem konkreten Beispiel fragte, und eröffnete die Erzählung mit dem Satz: „[A]lso ich glaube ein Beispiel, was mich immer wieder prägt“ (Zara, 58). Die Beschreibung von Zara kann so ausgelegt werden, dass die eine Diskriminierungserfahrung, von der sie mir erzählte, sie wiederkehrend beschäftigt. Der Ausdruck „immer wieder prägt“ deutet sowohl auf die Häufigkeit der Auseinandersetzung als auch auf den Einfluss der Diskriminierungserfahrung, die sie als wiederkehrende Auswirkung empfindet. Würden Emotionen in dieser Prozesshaftigkeit nicht berücksichtigt, wäre Diskriminierungserfahrung als ein rein rational-kognitiver Prozess zu betrachten, was zu einer verzerrten Darstellung des Gegenstands geführt hätte. Der Ansatz des früheren Behaviorismus, dass der Mensch ein rationales Wesen und vergleichbar mit einer Art Blackbox sei, ist längst überholt. Um diesen Standpunkt stärker zu betonen, möchte ich auf weitere Beispielzitate aus meiner Erhebung zurückgreifen. Als Malika mir mitteilen wollte, welche emotionale Auswirkung sie zum Zeitpunkt einer ihrer Diskriminierungserfahrung erlebte, beschrieb sie es wie folgt:

„Die Welt blieb irgendwie stehen und ich wusste nicht recht, warum man so mit mir umgeht. Genau, also das hat mich so geprägt“ (Malika, 17–19).

Auch Malika verwendet hier die Begrifflichkeit des Prägens. Wenn ich das Beispiel einer Münze hinzuziehe, die durch eine Prägung ihre grundsätzliche Form und ihr Äußeres verändert, dann ist im Zusammenhang mit einer Erfahrung Ähnliches mit angesprochen. Die Betroffenen möchten damit verdeutlichen, dass sie sich durch diese Erfahrung grundsätzlich verändert haben. Diese Änderung kann sich bei ihnen in Wahrnehmung, Verhalten, Deutungsrahmen oder Interaktionen mit Menschen äußern. Darüber hinaus verwendet Malika eine metaphorische Bezeichnung, um ihren emotionalen Zustand, den sie in der diskriminierenden Situation empfand, auszudrücken. Hamm verweist darauf, dass Menschen nicht immer dazu fähig sind, ihre Emotionen adäquat zu beschreiben. Um sich dennoch ausdrücken zu können, greifen sie daher auf Metaphern zurück (vgl. Hamm 2012: 628). Malika verwendet an einer weiteren Stelle metaphorische Stilmittel, um mir ihre Gefühlslage im Interviewgespräch genauer zu beschreiben:

„Ich war – würde ich mal sagen, der Klassiker, ne – also so eine Freeze Situation. Man ist wie versteinert. Ich wusste nicht, was ich sagen soll“ (Malika, 27–28).

Zunächst beschreibt Malika ihre Gefühlslage mit dem Begriff „Freeze“, wofür sie auf einen englischen Begriff zurückgriff. Danach umschreibt sie ihre Emotionen mit dem Adjektiv „versteinert“. Sie verleiht ihrer Beschreibung eine endgültige Bedeutung, indem sie konkret benennt, dass sie nicht wusste, wie sie sprachlich auf diese Situationen reagieren sollte. Diesem kurzen Ausschnitt kann entnommen werden, dass sie sich möglicherweise durch die emotionale Belastung in diesem Augenblick ihrer Handlungsfähigkeit beraubt sah. Es könnte außerdem ein Hinweis darauf sein, dass die Situation, die sie in diesem Kontext beschrieb, unerwartet und plötzlich auftrat. Unvorhersehbare Ereignisse entziehen den Betroffenen den Zugriff auf eine schnelle Handlungsreaktion. Hinzu kommen die Bedingungen, die in diese Situationen hineinwirken und den Handlungsspielraum ein stückweit festsetzen. Das emotionale Empfinden verstärkt die soziale Situation und beeinflusst den Handlungsaufbau. Wie bereits erwähnt geht es nun darum, durch die Handlung die Emotionen zu verstärken, aufrechtzuerhalten oder abzuwenden. Hinzu kommt, dass Emotionen in Diskriminierungserfahrungen nur teilweise beobachtbar sind. Das klassische Beispiel von Afra im Fahrstuhl ist ein Beleg dafür. Während ein Mann sie in einem fahrenden Fahrstuhl rassistisch beleidigte, zitterte Afra am ganzen Körper. Sie deutete das Zittern als Wut und verspürte den Drang, dem Mann eine Ohrfeige zu verpassen. Da sie die Gefahrenlage nicht umfassend einschätzen konnte, unterließ sie diese Handlung. Das Zittern in Kombination mit einer Nicht-Handlung könnte für den außenstehenden Mann, der hier als Angreifer bzw. Diskriminierender auftrat, als verängstigt und eingeschüchtert wahrgenommen werden. Erst die Deutungsangebote von Afra ermöglichen eine entsprechende Einordnung ihrer Verhaltensweise.

Es gibt zudem Situationen, die von den Betroffenen beschrieben werden, wo sie die Emotionen nicht sichtbar werden lassen wollen. Dies würde bedeuten, dass im Prozess der Diskriminierungserfahrungen eine Kontrolle darüber besteht, wann Emotionen sichtbar werden sollen und wann nicht. Ein Beispiel kommt von Hanifa, die sich in einer Diskriminierungserfahrung als handlungsfähige, selbstbewusste und vor allem starke Person beschrieb. Die Diskriminierungserfahrung fand zuvor auf der Straße im Freien statt. Zudem war die Straße mit vielen Menschen belebt, da sie sich zum Zeitpunkt der Situation auf einem Flohmarkt befand. Hanifa wurde vor der Menschenmenge rassistisch beleidigt. Sie entschied sich dazu, in Interaktion mit den Diskriminierenden zu treten. Dabei sprach sie mit einer wertschätzenden Haltung die Personen an und versuchte, einen Dialog aufzubauen. Diese Strategie hatte sie zuvor im Rahmen eines Seminares erlernt. Ihre Erzählung der Diskriminierungserfahrung schloss sie mit dem folgenden Satz ab: „Und im Hotel, ich weiß auch nicht, dann flossen die Tränen, ne“ (Hanifa, 141). Erst als sie sich in einem geschützten Raum befand – hier ihr Hotelzimmer – ließ sie emotionale Reaktionen zu, die in dieser Form während der Diskriminierungssituation nicht festzustellen waren. Es ist anzunehmen, dass sie sich im Nachgang mehr Zeit dazu hatte, die Situation aus einer reflektierenden Haltung zu betrachten, die bereits vorhandene Emotionen verstärkte. So oder so: Emotionen schienen für Hanifa sowohl in der direkten diskriminierenden Situation als auch in der Phase von Schutz und Stärkung zentral zu sein. Die Äußerung der Traurigkeit gegenüber mir als Interviewerin zeigt mir erneut, dass Emotionen im Relevanzsystem der Betroffenen mit Diskriminierungserfahrung eine hohe Bedeutung haben. Es ist anzunehmen, dass Emotionen in der Phase von Schutz und Stärkung Einfluss auf die Auswahl der Umgangsformen haben. Insgesamt kann festgehalten werden, dass Emotionen somit Bestandteil der Konstruktionsprozesse von sozialer Wirklichkeit bilden, weshalb sie in mein Theoriemodell Eingang gefunden haben. Eine eindeutige Zuordnung, wann in welchem Rahmen Emotionen relevant werden, kann nicht vorgenommen werden. Emotionen bilden eine kontinuierliche Bedeutsamkeit. Mit der Schützenden Bewältigung im Fokus sehen sich Betroffene immer wieder mit einer emotionalen Konfrontation befasst. Diese erfolgt zum Teil unaufgefordert – durch das plötzliche Auftreten von diskriminierender Handlung – und zum Teil freiwillig, wenn Betroffene sich bewusst damit auseinandersetzen möchten.

7.1.4.2 Diskursive Ereignisse im Kontext von Diskriminierungserfahrungen

Im Feld der Diskursanalyse schreitet einem diskursiven Ereignis ein tatsächliches Ereignis vor. Dabei ist zu beachten, dass nicht alle tatsächlichen Ereignisse zu diskursiven Ereignissen werden. Zentral hierfür ist die Art der Verbreitung vom tatsächlichen Ereignis, die vorwiegend medial erfolgt (vgl. Jäger/Zimmermann 2010: 40). Hinzu kommt, dass durch mediale Verbreitung der bestehende Diskurs erheblich beeinflusst wird.Footnote 32 Eine umfassende diskurstheoretische Definition von diskursivem Ereignis scheint meiner Meinung nach in Anbetracht der hier zu behandelnden Forschungsinteressen nicht relevant zu sein. Ein allgemeines, kurz gehaltenes Verständnis reicht dabei vollkommen aus, um die erarbeiteten Gesichtspunkte zu verdeutlichen: In meinem Theoriemodell verstehe ich unter diskursiven Ereignissen gesellschaftspolitische Vorkommnisse, die medial besondere Aufmerksamkeit erlangen und dadurch eine zentrale Präsenz für Menschen haben. In den Interviews nannten einzelne Interviewpartnerinnen verschiedene diskursive Ereignisse, die für sie eine Relevanz im Kontext der Diskriminierungserfahrungen hatten. Hierbei sind zwei wesentliche Aspekte voneinander zu unterscheiden: Zum einen gab es spezifische Diskriminierungssituationen, wo die Befragten gezielt in ihren rekonstruierenden Erzählungen in Zusammenhang ihrer Diskriminierungserfahrung ein diskursives Ereignis konkret benennen. Zum anderen thematisieren Interviewpartnerinnen im Allgemeinen diskursive Ereignisse und stellen ihre Diskriminierungserfahrung in den Kontext. Im weiteren analytischen Prozess konnte ich bezüglich der diskursiven Ereignisse insgesamt vier funktionale Aspekte in der Erzählung der Befragten herausarbeiten:

  • Zeitliche Einordnung: Das diskursive Ereignis wird benannt, um die erlebte Diskriminierungserfahrung zeitlich zu bestimmen. Beispielsequenz: „[F]ängt er an, mich zu beschimpfen, so RICHTIG beschimpfen. Und das war nach, äh, elfter September. ‚Sie Islamist‘, ‚Terrorist‘“ (Afra, 224–225).

  • Zusammenhangsbeschreibung: Es erfolgt eine Feststellung über einen korrelativen Zusammenhang zwischen gemachter Diskriminierungserfahrung und einem diskursiven Ereignis. Beispielsequenz: „Das ist jetzt schon so eine Sache seit 9/11 sind Moslems sowieso hier Zielscheibe“ (Aishe, 780–781).

  • Häufigkeitsmessung: Anhand diskursiver Ereignisse werden Anstiege von diskriminierenden Situationen erklärt und ggf. Verhaltensänderungen zum Schutz der eigenen Person vorgenommen. Beispielsequenz: „Es gab auch Situationen, nach 11. September hat sich sehr sehr sehr oft ergeben“ (Afra, 235–236).

  • Kontextualisierung: Ein diskursives Ereignis dient dazu, die gemachte Diskriminierungserfahrung in einem weit gefassten gesellschafts-politischen Rahmen zu betrachten. Beispielsequenz: „[H]aben diese Leute irgendwie Mut gekriegt, durch diese Brexit war das eigentlich meistens auf eine also rassistische diskriminierende und anti-Immigrant-Rhetorik, ähm, auf dieser Basis wurde es so argumentiert“ (Malala, 106–108).

Die beschriebenen Funktionen von diskursiven Ereignissen im Kontext eigener Diskriminierungserfahrungen können im gesamten Verlauf des Theoriemodells eine Bedeutung erlangen, weshalb sie als eine gesamtheitliche Rahmung dargestellt werden. Es ist deshalb von großer Wichtigkeit, diskursive Ereignisse nicht ausschließlich mit der Diskriminierungssituationen bzw. den diskriminierenden Handlungen zusammen zu führen, da im Rahmen diskursiver Ereignisse, wie etwa bei medialer Berichterstattung, Diskriminierungserfahrungen gemacht werden können. So führt Mecheril bezugnehmend auf seine Dimensionalisierung von Rassismuserfahrungen Folgendes aus:

„Die Erfahrung von Rassismus kann gewissermaßen unmittelbar über soziale Interaktionssituationen vermittelt werden. Sie kann aber auch über Vorstellungen, Träume und bildhafte Befürchtungen (imaginative Vermittlungsweise) wie auch über Zeitungs-, Radio-, Fernsehberichte und andere Informationen aus beispielsweise Internet oder Werbung (mediale Vermittlungsweise) hervorgerufen werden“ (Mecheril 2003: 70 f.).

In Anlehnung an diese Erfahrungen werden dann Umgangsformen abgerufen, die der Schützenden Bewältigung dienen. Die vorliegende Arbeit befasst sich jedoch ausschließlich mit face-to-face-Diskriminierung – um es mit den Worten von Mecheril zu beschreiben – „soziale Interaktionssituationen“ (ebd.).

7.2 Bedeutungen von Diskriminierungserfahrungen im sozialarbeiterischen Kontext

Die Untersuchung von Mai zeigte, welche Bedeutung rassistische Diskriminierung bei Pädagog*innen of Colour in einem professionellen Kontext haben kann. Dabei ging es der Autorin hauptsächlich darum, das Wissen über Rassismus im Arbeitskontext herauszuarbeiten, um dann in einem zweiten Schritt sich die Entwicklung von Professionalität bei den Befragten genauer zu betrachten. Daraus erarbeitete sie Umgangsweisen der Pädagog*innen, sobald diese rassismusrelevante Erfahrungen in ihrem Arbeitskontext machten (vgl. Mai 2020).

In meiner Studie verwende ich bewusst den Begriff des Alltags, wozu auch der Arbeitsalltag zählt. Meine Absicht hierbei war es, die unterschiedlichen Erfahrungsräume, in denen Diskriminierungen möglich sind, zusammenzuführen. Bekräftigend hierzu schreibt Tißberger, dass Menschen mit Diskriminierungserfahrungen sich bemühen, „Teil der Professionellen der Sozialen Arbeit in Praxis, Forschung und Lehre zu werden, doch auch dort stoßen sie auf ausgrenzende Strukturen“ (Tißberger 2020: 103). Meine Annahme ist, dass die Erfahrungen aus den unterschiedlichen Räumen sich gegenseitig beeinflussen. Letztendlich ist es mir gelungen, wechselwirkende Zusammenhänge von Erfahrungen und Bedeutungszuschreibungen, die sich aus diskriminierenden Situationen ergeben, herauszuarbeiten. Dieses Ergebnis möchte ich im Folgenden darlegen. Vorwegzunehmen ist, dass ich aus analytischen Gründen zwei Bereiche nachskizziert habe, um die Erfahrungsräume voneinander zu differenzieren. So werde ich nachfolgend zwischen den Erfahrungsräumen innerhalb und außerhalb des Arbeitskontextes unterscheiden. Sicherlich sind weitere und vor allem spezifische Unterscheidungen möglich, jedoch erschien mir eine wesentliche Differenzierung zwischen diesen beiden Erfahrungsräumen für meine Untersuchung und insbesondere für mein Erkenntnisinteresse als ergiebig. Bekanntlich ist die soziale Wirklichkeit komplexer und weist eine strukturelle Verwobenheit auf. Um jedoch erste Verstrickungen nachkonstruieren zu können, sehe ich mich gezwungen, vorläufig auf derartige Vereinfachungen zurückzugreifen.

Abbildung 7.12
figure 12

Überlappung der Erfahrungsräume innerhalb und außerhalb des Arbeitskontextes

Auf der Grundlage dieser Unterscheidung konnte ich den Zusammenhang von Diskriminierungserfahrungen im Allgemeinen und dem professionellen Kontext herausarbeiten. Im Mittelpunkt der Erfahrungsräume stehen zum einen die Erfahrungen selbst und zum anderen das Wissen, das u. a. durch Erfahrung generiert wird. Hierzu zähle ich ebenfalls das fachliche Wissen, welches insbesondere in einem professionellen Kontext von Bedeutung ist. Wie sich noch zeigen wird, ist Wissen wesentlich für den Umgang mit Diskriminierungserfahrungen, die in den beiden Erfahrungsräumen gemacht werden. Bevor ich anhand ausgewählter Beispiele auf die verschiedenen Bedeutungsformen von Diskriminierungserfahrungen innerhalb und außerhalb des Arbeitskontextes eingehe, möchte ich kurz auf die Schnittstelle, die in Abbildung 7.12 zu erkennen ist, eingehen. Die Überlappung der beiden Erfahrungsräume symbolisiert die Schnittmenge von Wissen und Erfahrung, obwohl sie in unterschiedlichen Kontexten generiert wurden. Erfahrungsräume sind nicht statisch voneinander abzugrenzen. Der Mensch agiert nicht rational. Wissen und Erfahrungen können nicht getrennt voneinander und ausschließlich in den jeweiligen Erfahrungsräumen betrachtet werden, in denen sie generiert wurden. Vielmehr bewegt sich der Mensch zwischen diesen Erfahrungsräumen ambivalent hin und her und bringt die Erfahrungen und das damit einhergehende Wissen in andere Bereiche mit. Der menschliche Erfahrungsschatz wächst durch die verschiedenen Erfahrungsräume. So kann das Wissen, das im Erfahrungsraum innerhalb des Arbeitskontextes erlangt wird, nützlich für den Erfahrungsraum außerhalb des Arbeitskontextes sein und umgekehrt. Nun folgen drei zentrale Ergebnisse aus meiner Analyse zur Bedeutung von Diskriminierungserfahrung im sozialarbeiterischen Kontext.

7.2.1 Rassifizierte Wahrnehmung von Professionellen

In interaktionalen Prozessen werden Menschen (sozial) positioniert. Positionierungen können sich sprachlich und bildlich äußern oder in der Art und Weise, wie mit Personen(gruppen) umgegangen wird. Es besteht die Möglichkeit, sich eigenständig zu positionieren oder durch andere positioniert zu werden. Gerade bei Positionierungsversuchen geht es um Zugehörigkeitsaspekte, die machtvoll umkämpft sein können. Vor allem in rassistischen Zusammenhängen erfolgen Othering-Prozesse, indem Menschen(gruppen) von Außenstehenden als fremd und anders definiert und dadurch als nicht-zugehörig verortet werden. So dienen Differenzkategorien letztendlich dazu, andere zu positionieren und dadurch immer auch sich selbst und die eigene Position zu definieren. In der hier vorliegenden Analyse wurde seitens der Befragten das Positionieren insbesondere als (kompetente) Fachkraft als Herausforderung erachtet. Während bestimmte Berufsgruppen anhand äußerlicher Merkmale wahrgenommen werden können, gestaltet sich die Visibilität von Sozialarbeitenden etwas anders. Ausgewählte Berufsgruppen wie die Polizei oder Fachkräfte aus der Medizin können anhand ihrer Uniformierung bzw. Kleiderordnung von außen erkannt werden. Diese sogenannten beruflichen Codes – so will ich sie hier nennen – können sich ebenfalls in Kleinigkeiten widerspiegeln wie etwa bei einem Namensschild, das ein Verkäufer in seinem Geschäft trägt. Hier erlangt das Namensschild jedoch erst durch den Kontext, in dem sich die Person befindet, an Bedeutung. Würde sich die Person mit dem Namensschild draußen an einer Straßenkreuzung als Fußgänger befinden, wäre nicht ersichtlich, welchen Beruf die Person tatsächlich ausführt, da es mehrere Berufe gibt, die das Tragen von Namensschildern in ihrem Etikett veranlassen. Schlussfolgernd gibt es sowohl Kleidungsordnungen, die etwas über die berufliche Positionierung verraten, als auch die Kontexte, in denen die Berufe ausgeübt werden. In der Sozialen Arbeit können keine einheitlichen Aussagen über Kleiderordnungen und Kontexte getroffen werden, da es eine Vielzahl von Handlungsfeldern gibt. Es kann jedoch gesagt werden, dass es grundsätzlich keine besonderen KleiderordnungenFootnote 33 gibt und die Personen primär durch den Kontext, etwa in einer ausgewiesenen Beratungsstelle, als Sozialarbeiter*innen sichtbar werden. Sind Klientel und Sozialarbeitende gemeinsam unterwegs, um zum Beispiel Behörden aufzusuchen, dann muss bei einem sensiblen Umgang zunächst erfragt werden, welche Person in welcher Rolle anwesend ist, oder die Beteiligten signalisieren es selbst durch Äußerungen. Dass Fachkräfte of Colour nicht immer als (kompetente) Fachkräfte wahrgenommen werden, scheint in meiner Untersuchung eine wesentliche Herausforderung für die Befragten darzustellen. Dieser Umstand ist nicht nur den fehlenden beruflichen Codes geschuldet, sondern vielmehr einer rassistisch geprägten Normalität, die vorschreibt, wer als professionell wahrgenommen wird und wer nicht. Diese Herausforderung möchte ich unter der Bezeichnung rassifizierte Wahrnehmung von Professionellen zusammenführen. In diesem Zusammenhang wähle ich bewusst den Begriff der RassifizierungFootnote 34, da ich vor allem den interaktionalen Prozess, wie Fachkräfte of Colour zu Anderen gemacht werden, unterstreichen möchte. Um die Herausforderung umfänglich zu beschreiben, beziehe ich mich zunächst auf die Erfahrung von Afra, die mit ihrer Klientin bei einem Amt einen Gesprächstermin wahrnahm. Afra berichtete von einer Situation, in der sie vom Beamten vermeintlich als eine Klientin wahrgenommen wurde, um die es in diesem Gespräch gehen sollte:

„Die Klientin trägt kein Kopftuch, du trägst ein Kopftuch. Und der Beamte guckt immer die Klientin an, spricht mit ihr statt mit dir zu sprechen, weil du bist in de[m] Moment, äh, derjenige, der betreut wird und, äh, der andere ist die Sozialarbeiterin oder, äh, ne, Sozialpädagogin. Und ähm, dann (1), habe ICH zum Beispiel direkt eingreifen müssen“ (Afra, 173–177).

Bevor sie zum eigentlichen Kernaspekt der Situation kommt, führt Afra vorweg an, wer in der beschriebenen Situation ein Kopftuch trägt. Demzufolge schreibt sie dem Kopftuch eine hohe Bedeutung zu und bietet somit ein Deutungsangebot, weshalb sie versehentlich als Klientin wahrgenommen wurde. Dadurch, dass sie diese Angabe bereits eingangs erwähnt, rahmt sie ihre Erzählung, sodass eine rassistische Einordnung und Deutung offengelegt werden. Anhand der Gesprächsadressierung und des Blickkontakts nimmt Afra die Rollenzuteilung des Beamten wahr. Sie beschreibt hierbei eine subtile Diskriminierungsform. Bis hierher kann festgehalten werden, dass der Beamte anhand äußerer sichtbarer Merkmale die eigentliche Klientin als Professionelle und Afra als vermeintliche Klientin verwechselt und durch die Gesprächsführung beide Anwesenden als solche in diesem Gesprächssetting positioniert. In Zusammenhang mit einer Critical-Whiteness-Perspektive kritisiert Breiter exakt diesen Aspekt sozialer Situationen: „Die Beschäftigten hinter dem Schreibtisch glauben vermeintlich sofort zu erkennen, wer hier Klient*in und wer Sozialarbeitende*r ist und urteilen unbewusst anhand phänotypischer Merkmale, dass die rassistisch markierte Person nicht in der Lage sei, (für sich) zu sprechen“ (Breiter 2021: 101). Mit dieser Argumentation von Breiter im Hinterkopf schaue ich auf die hier beschriebene Situation von Afra und komme zu der Schlussfolgerung, dass das Kopftuch vom Beamten doppeldeutig interpretiert worden sein könnte: Erstens sind Menschen, die Kopftuch tragen, ausschließlich Klientel der Sozialen Arbeit. Zweitens ist das Kopftuchtragen ein Ausschlussprinzip, um eine Fachkraft der Sozialen Arbeit zu sein. Die Adressierung der Klientin als vermeintliche Professionelle könnte aus einer intersektionalen Perspektive weiterführende Überlegungen ermöglichen: Wenn von einer klient*innenzentrierten Haltung ausgegangen werden kann, hätte der Beamte auch bei der vermeintlichen Annahme von Afra als Klientin sie direkt adressieren müssen, da sich das Gespräch inhaltlich um die Klientin dreht. Nichtsdestotrotz führt er das Gespräch ausschließlich mit der vermeintlichen Sozialarbeiterin und lässt somit Afra komplett außen vor, ohne sie dabei auch nur annähernd in das Gespräch miteinzubeziehen. An dieser Stelle können weitere Vorannahmen des Beamten ersichtlich werden. Eine Vorannahme des Beamten könnte sein, dass Afra nach einem rassistisch geprägten Stereotyp der muslimischen Frau wahrgenommen wird. So könnte ihr unterstellt werden, dass sie die Sprache nicht versteht. Weiter könnte der Beamte von starren Geschlechterrollen ausgehen. Daraus resultierend nimmt er an, dass Afra den Umgang zu anderen männlichen Personen meidet. Das sind nur hypothetische Annahmen, die unter anderem in diese Situation hineingewirkt haben könnten. Die Umgangsweise des Beamten lässt Afra als ein passives Individuum dastehen. Derartige Rollenbilder, die rassistisch und sexistisch aufgeladen sind, können in soziale Situationen hineinwirken. Im Grunde genommen hätte der Beamte zu Beginn einleitend erfragen müssen, wer wen in welcher Funktion begleitet. Eine weitere Möglichkeit wäre, die Personen, die das Amt aufsuchen, grundsätzlich in ihrem Anliegen anzuhören. Stattdessen kam es zu einem voreiligen Entschluss, der durch eine rassistisch strukturierte Wahrnehmung beeinflusst ist. Zugleich nimmt der Beamte in seinem Arbeitskontext eine machtvolle Position ein und positioniert Afra und ihre Klientin, die gleichzeitig auch seine Klientin ist. Durch den Einschub „spricht mit ihr statt mit dir zu sprechen“ wird deutlich, dass Afra anhand der Umgangsweise mit ihr feststellt, dass es sich um eine missverständliche Wahrnehmung handelt. Dadurch, dass sie sich auf die Rekonstruktion ihrer Diskriminierungserfahrung konzentrierte, bleiben weitere Kontextinformationen aus, die zum Beispiel mehr Auskunft darüber geben könnten, woran sie neben dem Blickkontakt und der Gesprächsführung noch festmachte, dass sie sich als Klientin adressiert fühlte. Aus dem Missverständnis entsteht der Zwang für Afra, in dieser Situation intervenieren zu müssen, um das Gespräch aus der professionellen Rolle führen zu können. Dabei betont sie im Interview, dass sie schnell eingreifen musste, um die Positionierung durch den Beamten zu korrigieren. Mit der Umschreibung „direkt eingreifen müssen“ beschreibt sie neben der Notwendigkeit auch eine Dringlichkeit, die einen zeitlichen Aspekt beinhaltet. Es kann sein, dass Afra zügig handeln musste, ohne dabei Zeit verstreichen zu lassen, um weitere Missverständnisse zu vermeiden. Afra führt außerdem aus, wie sie in diese Situation eingegriffen hat und welche Absichten sie dabei verfolgte:

„[I]rgendwie bin ich dann ins Wort gefallen und habe gesagt: ‚Ja, okay, können wir nicht da/ das Problem anders lösen und so weiter.‘ Und, äh (1), die/ also ohne anzusprechen, ‚HALLO, ich bin hier, ich bin die Sozialarbeiterin, nicht sie.‘ So mache ich nicht, sondern eher, äh (1) aus dieser Situation macht man ein/ aus Not macht man ein[e] Tugend, versucht man auch die anderen nicht so unbedingt, äh (1), ja, in Verlegenheit zu bringen, ne? Und äh (1), wir ziehen immer die Kürzeren vielleicht“ (Afra, 178–183).

Afra beschreibt eine strategische Vorgehensweise, die sie bewusst auswählt, ohne dabei die Diskriminierung, die sie erfahren hat, anzusprechen. Indem sie ihre Stimme erhebt und in die Gesprächsführung interveniert, positioniert sie sich aktiv als eine Fachkraft der Sozialen Arbeit. Dadurch macht sie dem Beamten kenntlich, dass sie nicht die Klientin ist, um die es in diesem Gespräch geht, sondern die Fachkraft, die die Klientin begleitet. Mit der Aussage „aus Not macht man ein[e] Tugend“ verweist sie darauf, dass sie hier klug vorgehen musste, um aus der misslichen Lage dennoch profitieren zu können. Ihr war es wichtig, den Beamten nicht in Verlegenheit zu bringen, weshalb sie ihre Handlungen dementsprechend abwägt. An dieser Stelle finde ich die Aussage von Mai zutreffend, die ich hier wiedergeben möchte: „Mit Wut, Schmerz und Trauma kompetent umgehen zu können [sic!] kann eine Voraussetzung sein, um sich selbst zu schützen und sich gleichzeitig an professionellen Orten sicher bewegen und kompetent sowie im Sinne der eigenen professionellen Vorstellungen handeln zu können“ (Mai 2020: 258). Mai verweist also darauf, dass es zu einer professionellen Haltung von Sozialarbeitenden of Colour gehört, mit diskriminierenden Situationen trotz emotionaler Diskrepanzen entsprechend umgehen zu können. Afra ist zudem bewusst – und das zeigt sich zum Ende des Zitats –, dass sie sich in einer Position befindet, wo sie sich und ihre Bedürfnisse hintenanstellen muss. Im Interview führt sie diesen Gedanken mit der Begründung aus, dass sie in diesem Setting wegen ihrer Klientin bei dem Beamten war. Sie war sich also durchaus bewusst, welche machtvolle Position der Beamte in diesem Setting einnahm (Abhängigkeitsverhältnis). Um mit dem Worten der hier vorliegenden Arbeit zu sprechen: Afra bewältigt die Situation schützend, indem sie passiv-zurückhaltend agiert, um keinen Nachteil für die Klientin zu erzeugen. Sie schätzte das Ansprechen der Diskriminierung als riskant ein.

Auch Malika berichtete im Interview von einer Situation im Arbeitskontext, wo die rassifizierte Wahrnehmung von Professionellen als Herausforderung aufkam. In ihrer Beschreibung wird sie aufgrund des Kontextes zwar als Fachkraft, jedoch von einem Klienten nicht als kompetent genug wahrgenommen:

„I: Hm. Und gab es auch Diskriminierungserfahrung zwischen Klientel und Ihnen?

B: Sagen wir es mal so, dass man dich dann/ äh jemand unterschätzt, ja. Beispielsweise man sitzt dann auf der Etage und jemand sucht nach einer Beratungsmöglichkeit, kommt dann vorbei im Büro und dann fragt jemand: ‚Gibt es denn jemanden anderen, der hier noch auf dieser Etage ist, der mir helfen kann?‘ Und da sagt man: ‚Okay gut, also, ne, wir sind hier von einer, sage ich mal, einer Fachausrichtung. Wie kann ich Sie unterstützen?‘ – ‚Nee nee, jemand anderes.‘ Und dann liest man dann ganz konkret die deutschen Nachnamen von den deutschen Kolleg*innen vor nach dem Motto: ‚Die, ne.‘ Und das Gelesene des deutschen Namen ist da auf jeden Fall mehr Professionalität dahinter, die sie sich versprechen“ (Malika, 282–291).

Malika spricht allgemein über die Erfahrung mit ihrer Klientel, wenn sie mit ihnen in den Erstkontakt tritt. Dabei befindet sie sich in einem sozialarbeiterischen Kontext – hier die Beratungsstelle – und ist somit unmissverständlich als Fachkraft wahrzunehmen. Es scheint so, als würde Malika zwar als Fachkraft wahrgenommen werden, jedoch nicht für kompetent (genug) gehalten. Die Interviewpartnerin verweist auf die Reaktion der Klientel, die von Kolleg*innen mit deutschem Namen beraten werden möchten. So ist ihre Schlussfolgerung, dass mit deutschen Namen mehr Professionalität assoziiert wird. Letztendlich spielen hier sowohl der Name als auch Äußerlichkeiten eine zentrale Rolle, die zur Einschätzung der Professionalität der Fachkräfte führt. Denn Malika trägt eine religiöse Kopfbedeckung, was in solchen Situationen dazu führt, dass sie als Andere wahrgenommen wird. Es wird der Eindruck erweckt, dass Professionalität nicht ausschließlich mit formalen Bildungsabschlüssen oder Berufserfahrungen zu tun habe, sondern auch mit sichtbaren (etwa religiöse Bekleidung) und nicht-sichtbaren (Name oder Religionszugehörigkeit) sozialen Merkmalen. Weiter ist das Phänomen der Schützenden Bewältigung hier präsent. Denn Malika beschreibt einen konkreten Vorfall, in dem sie passiv-zurückhaltend reagierte und führte folgende Begründung dafür an:

„Und wo dann aber zum Beispiel in einer Situation – total lustig – ich dann auch gesagt habe: ‚Ja, kein Problem.‘ Ich meine, die Klient*innen suchen sich aus, von wem sie beraten werden und dann die Kollegin kam und dann sagte: ‚Ja, entschuldigen Sie, aber hier die Spezialistin für dieses Thema ist aber eher [Name]. Ich müsste Sie dann an sie wieder weiterverweisen.‘ Und dann total perplex so: ‚Ach wirklich? Ach, okay. Wusste ich nicht‘“ (Malika, 291–295).

Während sie beim ersten Zitat einleitend von einem allgemeinen Erfahrungswert spricht, nicht ausreichend als kompetente Fachkraft wahrgenommen zu werden, beschreibt Malika hier eine konkrete Beispielsituation. Mit dem Satz, dass Klient*innen sich selbst aussuchen dürfen, von wem sie beraten werden wollen, relativiert sie die Handlung der Klientel. Dadurch entsteht der Anschein, dass Malika hier eine Berechtigung für das Verhalten der Klientel sucht. Dies kann eine Form der Schützenden Bewältigung sein, indem das Verhalten des Gegenübers legitimiert wird. Die Interventionsbeschreibung der Kollegin, die die beratungssuchende Person dann später darauf verweist, dass Malika über die eigentliche Expertise für das Anliegen des Ratsuchenden verfügt, unterstreicht das Phänomen, das hier beschrieben werden soll: Die Person bedurfte zunächst einer Bestätigung, dass Malika als eine fachlich-kompetente Person gilt, bevor sie sich auf eine professionelle Beziehung einlässt. In der Regel sollten Fachkräfte in ihrem Bereich von Beginn an als kompetente Personen wahrgenommen werden, bis sie vielleicht später durch negative Erfahrungen als inkompetent eingeschätzt werden. Bereits im Vorhinein Fachkräften anhand sozialer Merkmale die fachliche Kompetenz abzusprechen, knüpft an eine voreingenommene Haltung an. Wenn eine Person mit Schmerzempfinden eine*n Ärzt*in aufsucht, dann in der Hoffnung, dass die*der Ärzt*in aufgrund ihrer*seiner Fachlichkeit die Schmerzen lindern kann. Erst anhand erster Behandlungsmethoden und Vorgehensweisen sowie im Umgang mit der Person selbst kann ein Urteil gefällt werden, inwieweit die Fachkraft als kompetent eingeschätzt wird. Es bedarf also zunächst eines Vertrauensvorschusses.

An einer weiteren Stelle im Interview mit Malika wird ein altbekanntes Problem angesprochen, mit dem die meisten Fachkräfte of Colour vertraut sein müssten:

„Oder: ‚Ja super, du sprichst ja auch mehrere Sprachen, vor allen Dingen auch die Sprache XY, dann berätst du einfach nur noch die.‘ – Wo ich mir denke: ‚Nee, dafür habe ich nicht Soziale Arbeit studiert, Leute‘“ (Malika, 239–241).

In dem aufgeführten Beispiel gibt Malika einen Dialog mit ihrem Kollegium wieder. Mithilfe der nachgestellten Redewendungen nennt die Interviewpartnerin ein konkretes und vor allem ein lebendiges Beispiel. Dabei war ihr wichtig, die Problematik, die sie ansprechen will, zu akzentuieren. Auffällig hierbei ist, dass sie die von der außenstehenden Person verwendete Redewendung als Aussage und ihre Reaktion als gedanklichen Vorgang beschreibt, da sie sagt, „[w]o ich mir denke“. Zum Schluss ihrer gedanklichen Rede fügt sie eine Adressierung der „Leute“ an. Es kann hier die Vermutung aufgestellt werden, dass die Zuteilung gleichsprachiger Adressat*innen an Malika nicht nur einmal erfolgte. Malika beschreibt auch im Nachgang keine konkrete Reaktion auf diese Situation. Es bleibt daher ungeklärt, wie sie mit dieser Situation umgegangen ist. Tuider bezieht sich auf die kritische Anmerkung von Walgenbach und gibt wieder, dass die fachliche Expertise bei Sozialarbeitenden of Colour in den Hintergrund rückt, indem eine (vermeintliche) interkulturelle Expertise in den Vordergrund gestellt wird (vgl. Tuider 2017: 64 f.). Die Autorinnen Özdemir/Högerl sehen dabei die Gefahr, dass in diesem Zusammenhang eine „[a]utomatisierte Zuständigkeit“ (Özdemir/Högerl 2015: 142) entsteht, wobei Fachkräfte of Colour einer bestimmten Adressat*innengruppe zugewiesen werden, wie es bei Malika der Fall ist. So werden die zugesprochenen Kompetenzen oftmals als eine Ressource der Person hervorgehoben, mit der das Team meist effizienter arbeiten könnte. Bei dem genannten Beispiel liegt der ressourcenorientierte Ansatz bei der Mehrsprachigkeit von Malika.

Fachkräfte wie Malika und Afra scheinen zunächst signalisieren und beweisen zu müssen, dass sie (1) eine Fachkraft und (2) in ihrem Handeln somit auch kompetent sind. Fachkräfte, die der Dominanzkultur angehören, stehen nicht unter einer sogenannten Beweispflicht ihrer Professionalität. In der rassifizierten Wahrnehmung von Professionellen gelten sie von Beginn an als fachlich-kompetente Sozialarbeitende. Anhand der beiden angeführten Beispiele aus der Praxis sollte die rassistisch strukturierte Normalitätsvorstellung, die den Berufsalltag von Fachkräften of Colour beeinflusst, dargestellt werden. Fachkräfte of Colour müssen sich wiederkehrend mit Herausforderungen auseinandersetzen, die die Fachkräfte der Dominanzkultur aus ihrer Lebensrealität nicht kennen. Ein Bewusstsein des unterschiedlichen Berufsalltags ist an dieser Stelle erforderlich, um kollegiale Beziehungen zu spezifizieren und im Rahmen des Tätigkeitsfelds füreinander da zu sein. Der berufliche Arbeitskontext kann jedoch auch Potenziale im Umgang mit Diskriminierungserfahrungen aufweisen, die nun aufgezeigt werden sollen.

7.2.2 Sozialarbeiterischer Arbeitskontext als Ressource

Soziale Arbeit als Profession bietet im Kern viele Möglichkeiten, um Problemlagen zu bewältigen. Das Tätigkeitsfeld bietet Methoden, Reflexionsangebote, Raum für kollegialen Austausch und vieles mehr. Daher können grundlegende Aspekte, die sich im Rahmen der Tätigkeit für Klientel wiederfinden, auch für Fachkräfte of Colour im Umgang mit Diskriminierungssituation und -erfahrung hilfreich sein. Auf diese Weise kann ebenso auf ein Wissensrepertoire zurückgegriffen werden, das aus dem Arbeitskontext hervorgeht. Dies kann für alle Phasen der Schützenden Bewältigung nützlich sein, unabhängig davon, ob die Diskriminierung innerhalb oder außerhalb des Arbeitskontextes stattfindet. Die These, dass der sozialarbeiterische Arbeitskontext Ressourcen für die unmittelbare Reaktion als auch für den Umgang mit Diskriminierungserfahrung birgt, kann grundsätzlich auf alle Professionen übertragen werden. Ein Beispiel: Eine Polizistin, die mit den polizeilichen Abläufen vertraut ist, weiß sicherlich, was zu tun ist, wenn sie selbst Opfer eines Diebstahlsdelikts wird. Sie weiß, welche Möglichkeiten sie hätte, diese Straftat anzuzeigen und welche Ansprüche ihr zustehen. In diesem Augenblick greift sie auf ihr Wissen und bisherige Erfahrungswerte zurück, die sie im Rahmen ihrer Tätigkeit generiert hat. Vergleichbar sieht es bei Sozialarbeitenden aus. Die Interviewpartnerinnen schilderten einige beispielhafte Situationen, in denen sie ihren professionellen Rahmen als eine Bereicherung für den Umgang mit Diskriminierungserfahrungen nannten. Um der Vielfalt der Nennungen annähernd gerecht zu werden, führe ich kurze Ausschnitte aus mehreren Interviews auf und gehe punktuell auf diese ein. Beim ersten Beispiel handelt es sich um einen Interviewausschnitt von Malala:

„Und jetzt, wenn etwas so passieren würde, würde ich mich doch/​ mein Wissen von meiner Arbeit nutzen“ (Malala, 1231–1232).

Malala bezieht sich auf ein vergangenes Ereignis, da sie das Zitat mit „und jetzt“ einleitet. Sie beschreibt reflektierend eine Verhaltensveränderung, also wie sie aus der heutigen Sicht reagieren würde. Der vergleichende Ansatz lässt auf eine Reflexion von Malala schließen. Insbesondere das Wort „doch“ verstärkt diese Annahme. Die Verwendung des Begriffs „passieren“ signalisiert ein situatives Geschehen. Sie scheint zudem überzeugt zu sein, dass die nun beschriebene Vorgehensweise für sie zielführend wäre, weshalb sie es zum Ausdruck bringt. Malala entscheidet sich dafür, künftig auf ein Wissensrepertoire aus dem Arbeitskontext zurückzugreifen. Dabei führt sie nicht aus, um welche Form des Wissens es sich konkret handelt. So könnte es zum einen theoretisch vermitteltes und zum anderen Erfahrungswissen aus dem professionellen Rahmen sein. Da sie von „mein Wissen“ spricht, individualisiert sie diesen Aspekt. Es muss sich hier nicht um ein ‚Entweder-Oder‘-Prinzip handeln. Das Wissen von Malala kann sowohl aus theoretischem Inhalt als auch (persönlicher) Erfahrung bestehen. Malika dagegen beschreibt die Wissensform, auf die sie sich bezieht, konkreter und verwendet hierfür eine Metapher:

„Ich muss sagen, dass ich mit meiner Tätigkeit als Sozialarbeiterin doch schon auf einen Methodenkoffer zurückgreifen kann, der sehr hilfreich ist“ (Malika, 447–448).

Die sinnbildliche Verwendung des Begriffs „Methodenkoffer“ veranschaulicht die Nützlichkeit von Wissen und Erfahrung innerhalb des Arbeitskontextes. Ein Koffer ist etwas, was Menschen individuell ein- und auspacken können. Dieser ist dann immer griffbereit, wenn er benötigt wird. Diesen Aspekt des Koffers scheint Malika anzusprechen, wenn sie sagt, dass sie auf einen „Methodenkoffer“ „zurückgreifen kann“. Mit „Methodenkoffer“ meint Malika im übertragenen Sinne Wissen und Erfahrung, Konzepte, Techniken und Strategien aus dem Arbeitskontext. Mir scheint hier der Vergleich mit einem Werkzeugkasten ebenso naheliegend. So wie ein Werkzeugkasten wird der Methodenkoffer nach Bedarf verwendet. Dies wird an dem Verb „zurückgreifen“ deutlich. Indem Malika sagt, dass der Koffer „sehr hilfreich ist“, kann davon ausgegangen werden, dass diese Aussage basierend auf einer Erfahrung getroffen wird. Unter Umständen wurde der Methodenkoffer schon mal von ihr verwendet, sodass sich diese Handlungsweise als erfolgreich erwies. Wenn der Vergleich des Kofferpackens weitergeführt wird, dann ist darauf zu verweisen, dass er nicht nur individuell, sondern auch zu jeder Zeit umgepackt werden kann. Dies kann dann geschehen, wenn neue Methoden hinzukommen, andere wiederum aussortiert oder ersetzt werden. Dieser Aspekt signalisiert einen fortlaufenden Entwicklungsprozess. Maryam dagegen sieht in anderen Bereichen des Arbeitskontextes Ressourcen für sich:

„[A]lso ich bin froh, dass ich jetzt hier in dem Bereich bin, dass ich auch viele gut vernetzt bin, [in] viele Netzwerke auch bin, wo ich mir dann auch Hilfe holen kann“ (Maryam, 102–103).

„Oder ich reagiere ganz anders,Footnote 35 komme her und bespreche den Fall mit meiner Kollegin“ (Maryam, 290–291).

Im ersten Zitationsbeispiel spricht Maryam die Netzwerkarbeit an. Sozialarbeitende müssen im Rahmen ihrer Tätigkeit gut vernetzt sein. Dies kann unterschiedliche Gründe haben wie etwa (fachlicher) Austausch, Kooperationsbereitschaft oder Steigerung der Hilfevielfalt. Es kann angenommen werden, dass Maryam in den genannten Gesichtspunkten im Umgang mit ihren Diskriminierungserfahrungen eine bereichernde Möglichkeit sieht. Es bleibt jedoch unklar, inwieweit für sie die Netzwerkarbeit von Vorteil ist. Des Weiteren verwendet Maryam den Begriff „Hilfe“. Die Verwendung von „Hilfe“ signalisiert eine Alarmsituation und lässt Situationen dramatischer erscheinen im Vergleich zum Begriff ‚Unterstützung‘. Eine Überlegung könnte sein, dass Maryam erst in Ausnahmesituationen auf ihr Netzwerk zurückgreift und vorher versucht, mit ihren individuellen Strategien die Situationen schützend zu bewältigen. Gleichzeitig beschreibt sich Maryam in einer aktiven Rolle und verdeutlicht, dass sie über das Wissen darüber verfügt, wo sie Hilfe erbitten kann. Der zeitliche Verweis durch den Satz „dass ich jetzt hier in dem Bereich bin“ weist auf einen Reflexionsvorgang von Maryam hin. Sie scheint ihre jetzige Situation mit einer vergangenen zu vergleichen. Im zweiten Zitationsbeispiel beschreibt Maryam eine konkrete Handlung, die sie im Rahmen ihrer Tätigkeit für sich nutzt, um mit Diskriminierungserfahrungen umzugehen. Interessant ist, dass sie bei ihren Diskriminierungserfahrungen von einem „Fall“ spricht. Dabei ist ‚Fall‘ ein Begriff, der in der Sozialen Arbeit unter Fachkräften genutzt wird. Damit werden konkrete Situationen oder auf eine abstraktere Weise Lebensumstände von einzelnen Klient*innen bezeichnet, die durch den sozialarbeiterischen Auftrag bearbeitet werden. Da in der Arbeit mit Klient*innen die Verwendung des Begriffs ‚Fall‘ gängig ist, ist es besonders auffällig, dass Maryam diesen im Zusammenhang mit ihrer eigenen Diskriminierungserfahrung – die sich außerhalb des Arbeitskontextes ereignet – verwendet. Dadurch, dass sie nicht von persönlicher Erfahrung oder privaten Ereignissen spricht, verleiht dies dem Ganzen eine fachliche Note des Umgangs. Bestärkt wird dieser Aspekt durch die eigentliche Umgangsweise: Der Austausch mit einer Kollegin. Eine mögliche Erklärung für die Auswahl der Austauschperson wäre, dass sie einerseits dadurch eine fachliche Einschätzung einholen kann. Im Vergleich hierzu verfügen Freund*innen und Familienmitglieder in der Regel über keine fachlichen Grundkenntnisse, worin sich der Austausch mit einer Kollegin in diesem Aspekt unterscheiden würde. Andererseits kann das kollegiale Verhältnis eine vertrauensvolle Beziehung beinhalten. Zudem könnte der Austausch mit einer Kollegin das private Umfeld entlasten. Dies sind jedoch nur mögliche Annahmen, die von der Interviewpartnerin nicht weiter ausgeführt und somit nicht bestätigt wurden.

An den angeführten Zitationsbeispielen sollte der erste Teil der Überlappung von Abbildung 7.12 verdeutlicht werden. Hier greifen Wissen und Erfahrung innerhalb des Arbeitskontexts mit dem Bereich des Arbeitskontextes außerhalb ineinander. Dies ist gleichzeitig ein Beleg für das eingangs beschriebene Argument, dass der Mensch nicht rational agiert und Bereiche eindeutig voneinander differenziert betrachtet. Vielmehr führt der Menschen Wissen und Erfahrung aus beiden – und sicherlich aus vielen weiteren – Bereichen zusammen und nutzt diese, um Situationen schützend zu bewältigen. Schlussendlich stellt der Arbeitskontext viele Möglichkeiten dar, die für die Schützende Bewältigung genutzt werden können. Die Betroffenen wägen hierbei individuell die Nützlichkeit der Ressourcen für sich ab. Dies wiederum bedeutet, dass eine generelle Zuschreibung, welche konkreten Aspekte aus dem Arbeitskontext sich für die Einzelnen zur Bewältigung von Diskriminierung(serfahrung) als hilfreich erweisen, nicht möglich ist.

7.2.3 Diskriminierungserfahrungen als Orientierungspunkt für den sozialarbeiterischen Kontext

Bisher konnte dargelegt werden, inwieweit Wissen und Erfahrung aus dem Arbeitskontext nützlich sein können, um Diskriminierungssituationen oder die daraus resultierenden Erfahrungen schützend zu bewältigen. Nun gibt es auch den umgekehrten Fall, wo Diskriminierungserfahrungen hilfreich für den professionellen Kontext sein können. Ein anschauliches Beispiel hierzu gab es bereits in Abschnitt 7.1.3.3, auf das ich mich erneut beziehen möchte. Bei diesem Beispiel ging es um Hanifa, die im Interview reflektierend feststellte, dass sie Inhalte aus einem Seminar – welches sie im Rahmen ihrer Tätigkeit besuchte –, nutzte, um die Diskriminierungssituation schützend zu bewältigen. Vorher sah sie den Bedarf, muslimischen Frauen ein Seminar anzubieten, in dem die Zielgruppe lernt, in diskriminierenden Situationen entsprechend zu handeln. Im Rahmen dieser professionellen Tätigkeit lernte Hanifa selbst, wie sie sich in diskriminierenden Situationen verhalten könnte. Dass sie dieses Wissen aus dem Arbeitskontext in einer Situation außerhalb des Arbeitskontextes anwandte, stellte sie reflektierend im Interviewgespräch fest. Hanifa führte weiter aus,Footnote 36 wie sie reagierte, als sie die diskriminierende Situation verließ. Sie befand sich auf einer Dienstreise, weshalb sie nach der diskriminierenden Situation ihr Hotelzimmer aufsuchte: „Und im Hotel, ich weiß auch nicht, dann flossen die Tränen, ne. Das war einfach zu viel glaube ich an dem Tag, echt“ (Hanifa, 141–142). Auf die Frage, was aus sozialarbeiterischer Sicht wichtig wäre, um Diskriminierung gegenüber weiblichen Musliminnen entgegenzuwirken, reflektierte Hanifa bezugnehmend auf ihre Diskriminierungserfahrung Folgendes:

„Also dass sie gestärkt werden, indem sie nicht nur in dem Moment, sondern auch SPÄTER damit klarzukommen, weil ähm, wie das mit [Ort]. Denn in dem Moment schien das so, als wäre ich total stark und habe mit dem Mann gesprochen, aber ich bin ins Hotel und bin in Tränen ausgebrochen, weil ich so enttäuscht war, ne. Also dass man diese Frauen soweit stärkt, dass sie auch das danach verarbeiten können“ (Hanifa, 440–444).

Bei der hier von mir formulierten Frage hielt Hanifa es für relevant, die Diskriminierungssituation, die sie mir zu Beginn des Interviews erzählte, erneut aufzugreifen. Anhand ihrer Erfahrung versucht sie, den professionellen Bedarf zu begründen. Die Einteilung von „in dem Moment“ und „SPÄTER“ verweist auf die Phasen unmittelbare Reaktion und Schutz und Stärkung. Dadurch macht Hanifa deutlich, dass es nicht nur darum geht zu vermitteln, wie Betroffene in den diskriminierenden Situationen handeln. Darüber hinaus bedarf es der Stärkung im Umgang mit der gemachten Diskriminierungserfahrung. Der Satz „in dem Moment schien das so“ verweist auf eine Reaktion, die von außen zwar als Stärke zu beobachten war, aber anscheinend doch mit einer Verletzlichkeit einherging. Mit dem Verb „schien“ wollte Hanifa auf eine Wirklichkeitskonstruktion hinweisen, die sie aus ihrer Perspektive anders erlebt hatte, als es letztendlich zu beobachten war. Durch die Beschreibung ihrer emotionalen Reaktion wird die Diskrepanz der Wirklichkeitskonstruktionen deutlich. Der Aufbau des Zitats wird also vorerst allgemein formuliert, dann auf die eigene Erfahrung zurückgegriffen, um dann den Bedarf für die Zielgruppe konkret abzuleiten. Die hier beschriebene Reflexion von Hanifa stellt ein maximales Beispiel für die Wechselwirkung von Diskriminierungserfahrungen und Arbeitskontext dar. Wenn die Komplexität der sozialen Wirklichkeit reduziert wird, um die beschriebene Wechselwirkung vereinfacht visuell abbilden zu können, dann würde die Darstellung sowie in Abbildung 7.13 aussehen.

Abbildung 7.13
figure 13

Wechselseitige Auswirkung von professionellem Handeln und individueller Diskriminierungserfahrung. Ein zirkulärer Ablauf

Mit dem Beispiel von Hanifa sollten primär zwei Aspekte aufgezeigt werden: Zum einen sollte dargelegt werden, dass durchaus solche Diskriminierungserfahrungen, die außerhalb des Arbeitskontextes gemacht werden, für die professionelle Tätigkeit eine Relevanz besitzen. Zum anderen sollte deutlich werden, dass zwischen den Bereichen innerhalb und außerhalb des Arbeitskontextes eine dynamische Wechselwirkung besteht. So werden Wissen und Erfahrung aus einem Bereich jeweils relevant für den anderen Bereich. Auf diese Weise entsteht eine Prozesshaftigkeit. Insgesamt gelten Diskriminierungserfahrungen als sogenannte Orientierungspunkte, um anhand dieser entsprechende Bedarfe für die Zielgruppe abzuleiten, die aus subjektiver Sicht von den Betroffenen selbst als relevant erachtet werden. Dabei möchten sie im Rahmen der Schützenden Bewältigung andere Personen schützen.

7.2.4 Gemeinsamer Erfahrungsraum

Nun besteht zwischen Sozialarbeitenden mit Diskriminierungserfahrungen und einem Teil der Zielgruppe der Sozialen Arbeit, die ebenfalls Diskriminierungserfahrungen macht, eine Ähnlichkeit: Ihr gemeinsamer Erfahrungsraum. Da rassistische Diskriminierung oft über äußere Merkmale vorgenommen wird, erfolgt die Deutung eines gemeinsamen Erfahrungsraums ähnlich. Begegnet eine Frau mit Kopftuch einer weiteren Frau mit Kopftuch, dann kann angenommen werden, dass die jeweils andere Person ähnliche Erfahrung in Bezug auf das Kopftuchtragen macht. Es kann die Aussage getroffen werden, dass der Erfahrungsraum am Körper des Menschen eingeschrieben ist. Personen mit ähnlichen Erfahrungen nehmen demnach andere entsprechend wahr. Dies funktioniert nur, da rassistische Zuschreibungen eng mit Äußerlichkeiten und Wahrnehmungen verknüpft sind. Ein zutreffendes Beispiel liefert Malala, in dem sie ihr Schwarzsein explizit thematisiert:

„[E]s könnte auch sein, dass jemand, der Schwarz ist zum Beispiel […] sie weiß nicht besonders, dass ich das und das und das und das Diskriminierung, ähm, erlebt [habe]. Aber ich glaube, dass sie wissen doch, dass Deutschland ist so eine rassistische Gesellschaft, dass wenn man einmal nicht weiß ist, automatisch […] hätte man, ähm, Diskriminierung erlebt müssen einfach. Ähm (1), und, äh, das heißt, dass die manchmal auch sagen: ‚Ich würde eher jemand, der Schwarz ist, haben […].‘ [M]anche Leute fühlen […], dass dieser Ort vielleicht geschützter ist, wenn sie ihre, ähm, Ereignis oder, ähm, Erfahrung, ähm, mit einem Mensch teilen, die auch, ähm, die auch Rassismus dann erlebt oder die, die auch Diskriminierung oder Rassismus besonders erfährt“ (Malala, 799–815).

In dem Ausschnitt ist ein Bewusstsein von Malala dafür zu erkennen, welche Rolle ihre Positionierung als Schwarze Frau im professionellen Kontext spielen kann. Dabei beschreibt Malala, dass es nicht darum gehe, welche Erfahrung Malala selbst tatsächlich gemacht hat, sondern vielmehr darum, dass sie überhaupt diese Erfahrungen als Schwarze Person macht oder machen könnte. Diese Tatsache schafft einen gemeinsamen Erfahrungsraum. Gleichzeitig bedeutet dies, dass Menschen mit ähnlichen Erfahrungen ein Verständnis davon haben, was die Betroffenen erlebt haben. Weiß positionierte Sozialarbeitende kennen diese Erfahrung nicht, weshalb es schwieriger ist, sich in die Person mit Diskriminierungserfahrung hineinzuversetzen. Das soll nicht heißen, dass Sozialarbeitende ohne rassistische Diskriminierungserfahrung keine fachgerechte Beratung diesbezüglich vornehmen können. Jedoch verfügen Sozialarbeitende mit Diskriminierungserfahrungen über die Möglichkeit, den Zugang und die Beziehungsarbeit basierend auf Ähnlichkeiten vorzunehmen. Dies verschafft ihnen einen Vertrauensvorschuss. Damit zusammenhängend beschreibt Malala, „dass dieser Ort vielleicht geschützter ist“. Mit dem „Ort“ meint Malala wahrscheinlich das professionelle Setting, in dem sich Sozialarbeitende und Klient*in begegnen. Die Bezeichnung des Orts als „geschützter“ lässt Orte der Sozialen Arbeit grundsätzlich als einen geschützten Rahmen beschreiben. Malala verwendet das Adjektiv in gesteigerter Form, was wiederum die Schlussfolgerung nahelegt, dass ihrer Meinung nach in der Zusammenarbeit von Sozialarbeitenden und Klientel mit Diskriminierungserfahrung das Schutzpotenzial erhöht werden kann. In Abschnitt 3.4.2 wurde bereits dargelegt, dass Fachkräfte der Sozialen Arbeit rassistische Denk- und Handlungsmuster auch reproduzieren können. Umso wertvoller ist die Erkenntnis von Malala, dass bei Fachkräften of Colour andererseits zusätzliche Vorteile gesehen werden können, um asymmetrische Machtverhältnisse ein Stückweit zu entkräften. Schlussendlich ist Malala der Auffassung, dass Klient*innen mit Diskriminierungserfahrung eher dazu bereit sind, Fachkräften mit ähnlichen Erfahrungen oder Erfahrungspotenzial ihre Erlebnisse zu offenbaren.Footnote 37

Letztendlich kann davon ausgegangen werden, dass Fachkräfte of Colour mit ihrer Repräsentation auch einen gewissen Erfahrungsraum repräsentieren. Sie teilen einen gemeinsamen Erfahrungsraum, der sich mit dem einiger ihrer Klient*innen überschneidet. So wie Malala den Kernaspekt des gemeinsamen Erfahrungsraums bereits verdeutlich hatte, stecken hier viele Potenziale für die Soziale Arbeit, die sicherlich von den Fachkräften of Colour genutzt werden. Es bedarf für den professionellen Kontext eines stärkeren Bewusstseins über die Vorteile eines gemeinsamen Erfahrungsraums zwischen Fachkräften und Klientel. Gleichzeitig wurde am Beispiel von Malala ersichtlich, welche machtvollen Auswirkungen die Position von Sozialarbeitenden haben kann. Diese Prozesse sind weiterhin zu reflektieren. Es besteht dennoch die Möglichkeit, die machtvollen Auswirkungen durch Fachkräfte so zu flankieren, dass sie sinnvoll für den sozialarbeiterischen Auftrag genutzt werden können.

7.3 Intersektionale Perspektive: Mutter

An verschiedenen Stellen der Arbeit wurde bereits auf intersektionale Perspektiven verwiesen. Sowohl in Abschnitt 3.2 als auch in Abschnitt 3.3 wurde die Kategorie Geschlecht in Zusammenhang mit Rassismus intensiviert thematisiert. Im Rahmen der Analyse interessierte mich insbesondere ein intrakategorialer Ansatz. Zudem befasse ich mich mit einer ausgewählten Personengruppe, die sich nicht ausschließlich zu anderen, sondern auch innerhalb ihrer selbst voneinander abgrenzen lässt. Ausgangspunkt hierfür war die Problematik, die sich zu Beginn der Frauenforschung abzeichnete. Zinn et al. beschreiben diese wie folgt: „In the 1960 s and 1970 s, womenʼs studies focused on the differences between women and men rather than among women and men“ (Zinn et al. 2005: 2; Hervorhebung im Original). Wenn ich im Folgenden – und auch vorher – intrakategoriale Unterscheidungen vornehme, dann sind diese nicht als statisch zu verstehen. Vielmehr erachte ich diese als ambivalent. Die Differenzpraktik, die ich dadurch vornehme, soll der analytischen Relevanz dienen. Denn erst die intrakategoriale Perspektive auf das Datenmaterial ermöglichte einen gegenstandsgerechteren Zugang. Eine intrakategoriale Vorgehensweise wird bereits beim Theoretical SamplingFootnote 38 beobachtbar. Ein entsprechender analytischer Ansatz bei der Auswertung trug dazu bei, eine Kategorie zu generieren und ihre Inhalte mehr in den Fokus zu stellen, die meines Erachtens bisher im Zusammenhang mit Diskriminierungserfahrung wenig Aufmerksamkeit erlangte und randständig behandelt wird. Daher plädiere ich für eine Implementierung dieser Kategorie als eine zusätzliche Analysekategorie insbesondere für die Untersuchung von Diskriminierungserfahrungen: Mutter. Nachstehend werde ich aus einer intersektionalen Analyse heraus eine Beschreibung dieser Kategorie vornehmen und gleichzeitig darlegen, was ihre eine gesonderte Betrachtung notwendig macht. Das in diesem Kapitel festgelegte Ziel ist nicht, alle möglichen Zusammenläufe von Macht- und Herrschaftsverhältnissen aufzudecken, sondern die Besonderheit der Diskriminierungserfahrung, die mit der Kategorie Mutter analysiert werden kann, auszuarbeiten. Erst eine intersektionale Forschungsperspektive zeigte auf, was sich auf dem Feld des Sichtbaren und des Unsichtbaren abspielt.

Acht von neun der befragten Interviewpartnerinnen waren zum Zeitpunkt der Erhebung Mütter. Ihre Mutterrolle ist ein Teil ihrer Lebenserfahrung und somit im Alltag von Bedeutung. Während der Konzeptualisierung meiner Forschungsfrage und meines Forschungsdesigns hatte das Mutter-Sein zunächst keinen Stellenwert von mir erhalten. In den ersten Interviewgesprächen aber kristallisierte sich die Bedeutung des Mutter-Seins immer mehr heraus. Entsprechend der Grounded Theory reagierte ich auf diese Entwicklung und stellte diesen Aspekt nach und nach immer mehr in den analytischen Fokus. Erste Erkenntnisse bestanden darin – wie bereits im Rahmen der Schützenden Bewältigung beschrieben –, dass Mütter in diskriminierenden Situationen anders reagierten, sobald Kinder dabei waren. Zu jedem Zeitpunkt galt dabei die Maßgabe, die Situation schützend zu bewältigen. Dabei wurde in Kapitel 7 anhand zweier Beispiele näher ausgeführt, dass der Schutz sowie die Entscheidung, wie und wer geschützt werden soll, einer subjektiven Deutung unterliegen. Aufbauend darauf erfolgen (Nicht-)Handlungen der Betroffenen. Aus anderer Sicht ist genauso zu fragen, inwieweit Frauen anders diskriminiert werden, wenn ihnen eine Mutterrolle zugeschrieben wird. Hierzu sei angeführt, dass aus feministischer Perspektive die Forderung gilt, zwischen Gebärfähigkeit und Mutterschaft zu unterscheiden. Während es sich bei Gebärfähigkeit um einen biologischen Aspekt handelt, handelt es sich um bei einer Mutterschaft um eine „sozial zugewiesene Rolle“ (Villa 2011: 76).

Was bedeutet nun die Kategorie Mutter? Mit ihr wird ein soziales Konstrukt beschrieben, mit dem die rassistisch strukturierte Wahrnehmung und ein ebensolcher Umgang mit Müttern erfasst werden sollen. Als Analysekategorie ermöglicht sie einen besseren Zugang zur sozialen Wirklichkeit und dem Gegenstand von Diskriminierungserfahrung als Mutter. Mithilfe dieser Kategorie sollen rassistische Denk- und Handlungsmuster, die mit dem Mutter-Sein verflochten sind, identifiziert und aufgebrochen werden. In rassistischen Verhältnissen sind jedoch bereits die Gebärfähigkeit und die Mutterschaft ineinander verflochten und werden nicht differenziert voneinander betrachtet. Personen, die als Mütter wahrgenommen werden, erleben daher eine besondere Dimension der Diskriminierung. Häufig wurden Frauen durch die Anwesenheit von Kindern in sozialen Situationen als Mütter wahrgenommen. Ein Blick auf die Kategorie Mutter schärft nicht nur das Hinterfragen von bereits bestehenden Geschlechterfragen, sondern wirft auch neue Fragen in Bezug auf Machtverhältnisse auf. Es ist nicht von der Hand zu weisen, dass Frauen, die als Mütter erkannt werden, anderen Zuschreibungen ausgesetzt sind als Frauen, die nicht als solche wahrgenommen werden. Anhand drei unterschiedlicher Fallbeispiele wird sich gleich noch zeigen, dass das soziale Handeln in diskriminierenden Situationen ein anderes ist, sobald eine Frau in einem rassistischen Kontext als Mutter konstruiert wird. Dabei spielt die Sichtbarkeit der Mutterschaft eine wesentliche Rolle. Denn dies ist zunächst einmal dann erst möglich, wenn Schwangerschaften sichtbar oder Kinder unmittelbar in den Situationen anwesend sind. Sicherlich gibt es Situationen, wo aus den Kontexten eine mögliche Mutterrolle abgeleitet werden kann. Da derartige Situationen in meinem Datenmaterial kaum auftraten, widme ich mich im Folgenden ausschließlich denjenigen Situationen, wo eine Mutterschaft direkt durch sichtbare Schwangerschaft oder durch die Anwesenheit von Kindern erkennbar wurde. Vorwegzunehmen ist, dass die Mutterschaft nicht für alle Frauen in gleicher Weise eine Bedeutung erlangt. Hier laufen mehrere soziale Kategorien zusammen: „Deshalb ist es wichtig zu sehen, daß beispielsweise Mutterschaft in vieler Hinsicht für Schwarze Frauen etwas anderes ist als für weiße Frauen – eben auf Grund des Rassismus“ (Essed 1994: 25). Auf diese Erfahrungsunterschiede werde ich nun nach und nach eingehen. Dafür habe ich drei Fallbeispiele aus dem Datenmaterial ausgesucht, die die Erfahrung als MutterFootnote 39 auf unterschiedlichen Ebenen deutlich machen soll. Für die intersektionale Perspektive habe ich das Analyseraster von Winker/Degele (2009) hinzugezogen.

7.3.1 Fallbeispiel 1: Schwangerschaft

Beginnen möchte ich mit der Erfahrung von Afra. Im Interview berichtete mir Afra von einem Vorfall, den sie als Schwangere im fortgeschrittenen Stadium erlebte. Zum Zeitpunkt des Ereignisses war sie tagsüber in einer gut besuchten Fußgänger*innenzone in der Nähe eines Hauptbahnhofs in einer deutschen Großstadt. In der Menschenmenge ereignete sich Folgendes:

„So sieben Monate schwanger war ich. Ich bin am Laufen, da/ (1), von gegen/ äh, also von, äh, von gegenüber kommt eine Frau und ZACK mit Ellenbogen direkt in meinen Bauch. Ne? Sie ist/ (1) ich hatte das gar nicht erwartet und/ das war eine ganz normal/ ne, eine Frau und ZACK hat sie, äh, direkt mit Ellenbogen in meinen Bauch geschlagen. Vor Schmerz konnte ich nichts machen. Dann habe ich mich gedreht und dann habe ich mich/ habe ich geschimpft und so weiter, aber, ne? Erst habe ich Angst gehabt, Angst um mein Kind gehabt, das Kind könnte Schaden bekommen oder, äh (1) sterben und so weiter. Das war richtig eine heftige, ähm, Schlag, zum Beispiel. Also das, das habe ich auch erlebt, ne? Ich hatte Kopftuch an“ (Afra, 251–258).

Zunächst einmal bietet Afra ein Deutungsangebot an, indem sie zum Schluss des Zitats anführt, dass sie ein Kopftuch trägt. Sie interpretiert daher die Interaktion mit der unbekannten Frau als eine diskriminierende Handlung, die ausgehend von ihrer religiösen Kopfbedeckung vorgenommen wird. Eine weitere Interpretationsmöglichkeit ist mithilfe der Kategorie Mutter möglich, denn Afra ist im siebten Monat schwanger. Dass sie schwanger ist, wird durch den Schwangerschaftsbauch sichtbar. Aus einer intersektionalen Perspektive wirken zudem die Kategorien Geschlecht und Religion hinein. Das Zusammenwirken dieser Kategorien macht die Zuschreibungen, die insbesondere muslimische Frauen betreffen, beobachtbar. Wie Afra als Schwangere wahrgenommen wird, kann aus einer rassistisch konnotierten Betrachtung analysiert werden. Essed bspw. führt aus, welcher Kerngedanke hinter der rassistischen Argumentation, die immer wieder in Bezug auf Geburtenraten aufgegriffen wird, transportiert wird: „Die sogenannte Überbevölkerung wird als Bedrohung für das Leben der weißen Rasse gesehen“ (Essed 1994: 25). Durch derartige Aussagen wird ein rassistisch geprägtes Bild vermittelt, das sowohl rassistische Kategorien als auch geschlechtsbezogene Zuschreibungen verfestigt. Diese plakative Ausführung verfolgt einen naturorientierten Ansatz, da von ‚Bedrohung‘ und ‚Überbevölkerung‘ die Rede ist. Wird dieser Argumentationsstrang auf das hier vorliegende Beispiel übertragen, signalisiert die Schwangerschaft von Afra die Bedrohung der weißen Rasse. Der körperliche Übergriff der unbekannten Frau kann als ein Versuch interpretiert werden, diese Bedrohung zu stoppen, indem sie Afra und ihrem ungeborenen Kind Schaden zufügt. Eine weitere, ähnliche Interpretation dieser Situation setzt an die Vorüberlegungen von Shooman an, die ich bereits in Abschnitt 3.3 erläutert hatte. Muslimische Frauen erleben eine widersprüchliche Stereotypisierung. Sie bewegen sich zwischen kontrastierenden Bildern von Viktimisierung und Dämonisierung (vgl. Shooman 2014: 98). Die Fortpflanzung muslimischer Frauen wird als unemanzipiert, gleichzeitig aber auch als eine Bedrohung wahrgenommen: „Weil sie so unemanzipiert ist, bekommt sie so viele Kinder, weil sie so viel Nachwuchs produziert, vermehren sich Muslime als unerwünschter Bevölkerungsteil so überproportional und werden dadurch zur Bedrohung“ (ebd.: 97). Werden diese rassistischen Ansichten auf den Vorfall von Afra übertragen, so ist sie als muslimische Frau durch das Tragen des Kopftuchs sichtbar. Ihre Schwangerschaft wird als Folge ihrer unemanzipierten Lebenssituation gedeutet. Da Geschlechterrollen polarisierenden Charakter haben, wird hier nicht nur die muslimische Frau, sondern auch der muslimische Mann konstruiert, was ich an dieser Stelle nur als Randnotiz anführen möchte. Insgesamt ist an dieser zufälligen Begegnung, die eine kurze Abfolge von Interaktionen mit sich bringt, beispielhaft anzuführen, wie Rassismus zur Geltung kommen kann. Unausweichlich ist die Frage zu stellen, ob es zu einem körperlichen Angriff gekommen wäre, wenn Afra nicht sichtbar bzw. gar nicht schwanger wäre. Hätte es exakt zu dieser diskriminierenden Situation geführt oder hätte sich unter Umständen die Art und Weise der diskriminierenden Handlung verändert? Hätte Afra nur subtile, abwertende Blicke erhalten? Wäre sie überhaupt der unbekannten Frau aufgefallen? Anhand dieser Fragen kann ein Bewusstsein darüber geschaffen werden, dass die Schwangerschaft in dieser sozialen Situation einen besonderen Wert erhält. Letztendlich wurde Afra nur diskriminiert, weil sie als Schwangere wahrgenommen wurde und es damit eine rassistische Konnotation gibt. Hinzu kommt, dass auf eine gewaltvolle Weise Macht auf Afra ausgeübt wird, der sie nicht ausweichen kann. Dieser machtvolle Akt wird durch die Unterlassung jeglicher Hilfe von außen verfestigt. Afra fügt weiter hinzu:

„Und mitten in der Stadt, Hauptbahnhof, wo viele, äh (1) Fußgänger, äh, unterwegs sind //ne//

I: //Also// es gab Leute, die das gesehen haben?

B: Natürlich, drumherum. Keiner hat etwas gesagt, äh, getan, ne? […] Wahrscheinlich haben viele das nicht mal gemerkt. Nicht mal, nicht mal mitbekommen“ (Afra, 259–267).

Um sie herum gab es weitere Personen, die das Ereignis mitbekommen haben sollten. Afra schätzt die Situation so ein, dass voraussichtlich einige Personen den Vorfall nicht mitbekommen haben. Doch was ist mit den Menschen, die das Geschehen durchaus beobachtet haben? Der Einschub von Afra kann als ein Relativierungsversuch angesehen werden, um sich selbst zu schützen. Ihre Annahme leitet sie mit dem Begriff „wahrscheinlich“ ein. Sie sucht an dieser Stelle nach einer Begründung, warum niemand eingeschritten ist. Es entsteht der Eindruck, dass sie durch die Suche nach einer Begründung eine gewisse Hoffnung aufrechterhalten möchte: Je mehr Personen es mitbekommen hätten, desto wahrscheinlicher wäre es gewesen, dass jemand eingreift.

7.3.2 Fallbeispiel 2: Bedrohung der eigenen Gruppe

Nun komme ich auf ein zweites Beispiel zu sprechen, dass ebenfalls die Kategorie Mutter in ihrer Dringlichkeit für Analysen gut umschreibt. Malala rekonstruierte im Interview ein diskriminierendes Ereignis, das sie in einem europäischen Land erlebte, bevor sie nach Deutschland migrierte. In diesem ist sie auch geboren und aufgewachsen. In der Erzählung berichtete sie mir von einer Diskriminierung in ihrem Alltag, als sie mit ihrem Säugling im Kinderwagen den Bus nehmen wollte. Laut Malala war der Bus zum Zeitpunkt des Ereignisses auslastend mit Fahrgäst*innen besucht. Weiter fügt sie hinzu, dass die Busfahrt mit Kinderwagen nur in einem dafür vorgesehenen Bereich möglich ist. Ist dieser Bereich besetzt, kann eine Fahrt mit dem Kinderwagen nicht angetreten werden. Als sie mit dem Kinderwagen zu dem dafür markierten Bereich wollte, traf sie auf zwei Männer, die dort als Fahrgäste standen, während andere bereits für sie den notwendigen Platz machten. Einen der Männer deutete sie aufgrund der Kleidung als einen Pfarrer. Als sie ihn bat, für sie den Platz freizugeben, erwiderte der Pfarrer Folgendes, woraufhin eine Reihe von Interaktionen ausgelöst wurde:

„‚Wir wollen unser Land zurück‘. Und ich war so/ also ich war dort, mein Sohn hat geweint. Er war so sieben Monate alt, es war so Abend, ich möchte nur nach Hause gehen und ich dachte so: Was ist das? So, ich war so, HIER geboren. Also ich bin eigentlich in diesen (1) zwei Kilometer Kreise wurde ich geboren, weißt du (lacht), und ähm, (1) dann andere Leute auf dem Bus, also: „Ja, du kannst das nicht sagen, dass die so ein Au/“, ich war einfach so schockiert […] Und ich habe zum Busfahrer gerufen und gesagt: ‚Kannst du bitte die Tür wieder aufmachen? Ich möchte aussteigen.‘ Und dann andere Leute auf dem Bus waren so: ‚Nein, du solltest nicht aussteigen. Diese Leute sollten sich aussteigen.‘ […] dann hat der Fahrer aufgestanden und der Fahrer hat gesagt: ‚Bitte bewegen [Sie] sich, das ist der Ort für Kinderwagen.‘ Und der Mann […] war dann auch so: ‚Nein, das ist, das ist diese Bereich für Leute, die eine Behinderung haben. Ich habe eine Behinderung.‘ Aber er hat dort gestanden. […] Es ist für Leute, die einen Rollstuhl nützen müssen und er war in keinem Rollstuhl. Und dann waren Leute wie: ‚Aber du kannst irgendwo anders stehen.‘ Und dann hat jemand neben mir einfach gesagt […]: ‚Ja, du kannst diesen Notknopf drücken und dann, also, dann kannst du einfach aussteigen.‘ Und das habe ich dann gemacht“ (Malala, 60–89).

In der sozialen Situation, die Malala hier besonders ausführlich beschreibt,Footnote 40 sind viele Aspekte gleichzeitig angesprochen. Zunächst möchte ich mit der Paraphrase „Wir wollen unser Land zurück“, der mit rassistischen Inhalten aufgeladen ist, beginnen. In der zufälligen Begegnung zwischen dem Pfarrer und Malala werden seinerseits ohne jegliche verbale Kommunikation oder Hintergrundinformation zu Malala Rückschlüsse auf ihre (vermeintliche) Zugehörigkeit vorgenommen. Dies belegt, dass die Wahrnehmung und Deutung von phänotypischen Merkmalen in rassistischen Konnotationen weiterhin ausschlaggebend sind. Der Pfarrer sieht Malala und konstruiert sie in seiner Aussage als fremd bzw. anders. Die Betroffene selbst bietet in ihrer Erzählung kein Deutungsangebot an, weswegen sie ihrer Ansicht nach diskriminiert wird.Footnote 41 Vor allem beinhaltet der Satz einen national-politischen Sinngehalt, da es um „unser Land“ geht, das zurückgefordert wird. Gleichzeitig erhebt der Mann einen Anspruch auf das Land, indem er explizit von „unser“ spricht. Eine Interpretationsmöglichkeit des Satzes wäre also, dass der Pfarrer in Malala eine Bedrohung für sich und seine soziale Gruppe sieht, weshalb er diesen auffordernden Satz von sich gibt. Dabei spricht er von einem ‚Wir‘-Konstrukt. Wen er konkret mit „Wir“ meint, wird nicht ersichtlich. Was jedoch erkennbar ist, ist, dass er Malala nicht in seinem ‚Wir‘-Konstrukt miteinschließt. Auch ohne eine nähere Ausführung des ‚Wir‘ wissen die Beteiligten, wie der Satz zu deuten ist. Die daraus resultierenden Folgereaktionen der weiteren Fahrgäst*innen sind ein Indiz hierfür. Aus dem Kontext ist abzuleiten, dass der Satz von den Beteiligten rassistisch gedeutet wird. Da der Pfarrer sich dem nicht widersetzt, wird seine rassistische Absicht durch die Nicht-Handlung untermauert. Bevor ich auf einen strukturellen Aspekt zu sprechen komme, möchte ich erneut auf die Bedrohung verweisen: Malala wird –wie ausgeführt – also als eine Bedrohung für das ‚Wir‘-Konstrukt des Pfarrers gesehen. Wird die Situation nun durch die geforderte Analysekategorie Mutter betrachtet, kann die Behauptung aufgestellt werden, dass erst die Wahrnehmung von Malala zusammen mit ihrem Säugling im Kinderwagen zu einer rassistischen Diskriminierung führte. Frauen werden in rassistisch strukturierten Gesellschaften auch „als biologische Reproduzentinnen von Mitgliedern ethnischer/nationaler Gruppen“ (Yuval-Davis/Anthias 1994: 17) erachtet. So wird die Reproduktion Schwarzer Frauen hier als eine Bedrohung interpretiert. Der Deutungsstrang führt dabei dazu, dass das Kinderkriegen von Women of Colour als Beitrag zu einer Überbevölkerung wahrgenommen wird, die eine Gefahr für die eigene Gruppe darstellt (vgl. Essed 1994). In diesem Deutungsmuster werden ‚Wir‘ vs. ‚Ihr‘-Konstrukte gefestigt und gegeneinander ausgespielt. So sind neben der Kategorie Mutter nicht abschließend auch die Kategorien ‚Rasse‘, Geschlecht, Herkunft und Nation angesprochen, die alle ineinandergreifen und dadurch in die soziale Situation hineinwirken.Footnote 42 Malala argumentiert, dass sie im näheren Umkreis geboren ist und sich daher als zugehörig versteht. In der Erzählung betont sie ihren Geburtsort mehrfach, um dadurch auch ihr emotionales Entsetzen über dieses Geschehnis mir gegenüber deutlich zu machen. Es schien so, als wollte sie mir dadurch näherbringen, welche Wucht diese Erfahrung für sie hat. In der diskriminierenden Situation erlebt sie eine exkludierende Erfahrung. Mit der Erwähnung ihres Geburtsorts möchte sie diese Diskrepanz ausgleichen und unterstreicht ihre Zugehörigkeit anhand ihrer Sozialisationsgeschichte in dem beschriebenen Ort.

Nun möchte ich auf einen strukturellen Gesichtspunkt zu sprechen kommen, den ich zuvor schon angedeutet hatte. Nachdem der Busfahrer mit in die Situation zu eingreifen versucht, nennt ein weiterer Mann, der sich bislang noch nicht geäußerte hatte, einen gesundheitlichen Aspekt, um seine Nutzung des Bereichs zu legitimieren. Er führt eine Behinderung an, weshalb er berechtigt sei, in dem dafür vorgesehen Bereich zu stehen. Bildlich gesprochen ist grundsätzlich in einem Bus der Bereich für Menschen mit Behinderung und Elternteile mit Kinderwagen eng bemessen. Der Raum, der für diese Menschengruppen zur Verfügung gestellt wird, ist in dem genannten Beispiel also umkämpft. Somit sind beide Personengruppen benachteiligt, da ihnen insgesamt nur wenig Raum zur Verfügung steht. Gleichzeitig symbolisiert die Größe der Fläche, wie viel Anerkennung und Akzeptanz die Gesellschaft ihnen entgegenbringt. Hier sind sowohl Struktur- als auch Repräsentationsebene aus dem Analyseraster von Intersektionalität angesprochen (vgl. Winker/​Degele 2009). Villa zählt eine Reihe von (weiblichen) Personengruppen auf – darunter auch Mütter –, die „nicht gleichwertig und wertfrei nebeneinander [stehen], sondern als kulturell kodierte soziale ‚Platzanweiser‘, die in (materielle wie symbolische) Ungleichheit umschlagen“ (Villa 2011: 56). Die strukturelle Ungleichheit, die sowohl materiell als auch symbolisch aus diesem Fallbeispiel hervorgeht, betrifft marginalisierte Gruppen, zu denen Malala als Mutter auch zählt. Eine weitere Frage, die unbeantwortet bleiben muss, ist, wie die Situation für Malala ausgegangen wäre, wenn sie ohne Kind und in einem Rollstuhl in die Situation gekommen wäre? Die Antwort bleibt spekulativ, aber eins ist weiterhin klar: Sie hätte eine ganz andere Erfahrung gemacht. Die hier angeführten Punkte sind als weiterführende Gedanken zu verstehen.

Die Handlungsweise des Mannes, anzugeben, dass er eine Behinderung habe und somit in dem Bereich stehen dürfe, kann ebenfalls als eine anknüpfende Interaktion interpretiert werden zu dem, was der Pfarrer geäußert hatte: Es handelt sich hier um eine symbolische Verteidigung eines bestimmten Raumes. Während die Forderung des Pfarrers sich auf die nationalstaatliche Ebene bezog, verhandelt der zweite Mann den tatsächlichen Raum, in dem er sich aktuell befindet. Die Menschen im Bus schreiten ein und fügen hinzu, dass der Mann genauso gut irgendwo anders im Bus sich hinstellen könnte, so wie er es bisher auch tat. Im Zitat ist zu erkennen, wie Malala die Erläuterung anführt, dass der Bereich nur für körperlich stark eingeschränkte Menschen reserviert ist und nennt dabei explizit die Personengruppe in Rollstühlen, für die der Bereich gedacht ist. Mithilfe von (Nicht-)Handlungen des Pfarrers und des Mannes verdeutlichten sie Malala ihre eigene Position ihr gegenüber. Es geht hier um Macht: Wer ist (nicht) zugehörig? Wer darf (nicht) in dem Busbereich stehen? Wer darf (nicht) mit dem Bus mitfahren?

Malala hat vom Zeitpunkt der Diskriminierung bis hin zum Schluss den Aushandlungsprozess an die umherstehenden Beteiligten abgegeben. Fahrgäst*innen bestimmten, warum nicht sie, sondern die zwei Männer den Bus verlassen sollten, und der Busfahrer versuchte zusätzlich, die Situation zu beschleunigen, indem er direkt eingriff. Die Interviewpartnerin nahm als Betroffene eher eine beobachtende Position ein. Sie beschreibt im Zitat, dass sie schockiert war. Sie wurde von der Diskriminierung überrascht und war überfordert. Hinzu kommt, dass ihr Sohn, ein Säugling, weinte. Das Geschrei des Babys könnte bei Malala zu noch mehr Stress in der Situation geführt haben. Der soziale Druck kann ebenfalls eine Rolle gespielt haben, in der Situation eine ‚gute Mutter‘ verkörpern zu müssen. Erziehungsberechtigte sind in der Öffentlichkeit der Beobachtung durch andere und dem Druck ausgesetzt, pädagogisch sinnvoll zu handeln. Ein gestresster bzw. überforderter Umgang mit Kindern wird sozial geächtet.Footnote 43 Dieser Grund kann eine untergeordnete Rolle in der hier beschriebenen Situation gespielt haben. Überdies haben die Fahrgäst*innen bereits bestimmt, wie Malala sich in der diskriminierenden Situation zu verhalten hat. Aus der Stelle, an der sie sagt, „es war so Abend, ich möchte nur nach Hause gehen“, ist ihr Gemütszustand abzuleiten. Der Tag naht dem Ende, weshalb sie weniger Kraft und Konzentration zur Verfügung gehabt haben könnte, um sich mit der geschilderten Situation adäquat auseinanderzusetzen. Von Beginn an entschied sie sich aus verschiedenen Gründen dafür, distanzierend zu reagieren. Zuvor war dies nicht möglich, da die Türen verschlossen waren. Erst durch den Hinweis einer weiteren Person im Bus, dass sie mithilfe des Notknopfs die Türen aufmachen könnte, gelang es ihr, distanzierend reagieren zu können, um die Situation für sich schützend zu bewältigen.

7.3.3 Fallbeispiel 3: Soziale Kontrolle in der Erziehung

Im letzten Beispiel finde ich es besonders interessant, dass die Befragte selbst die Diskriminierungsdimension, die ich hier unter der Kategorie Mutter subsumiere, explizit anspricht. Als ich Hamide im Interview nach weiteren Diskriminierungserfahrungen fragte, die vielmehr außerhalb des Arbeitskontextes gemacht wurden, berichtete sie von alltäglichen Erfahrungen:

„[A]lso wenn man so mit kleinen Kindern zum Beispiel unterwegs ist, äh, ich merke immer, dass, wenn man Migrationshintergrund hat oder wenn die Kinder ein bisschen lauter sind, dass die Leute schneller reagieren wie wenn eine deutsche Mutter mit Kindern unterwegs ist, dass da mal ein Auge zugedrückt wird. Und ähm/ wenn man mit Migrationshintergrund mit Kindern unterwegs ist, dass man dann gleich, manchmal von oben herab: ‚War ja klar, typisch, die wieder‘, irgendwie so, so einen Spruch. (1) Oder im Bus, dass man sich umdreht: ‚Können Sie ein bisschen leiser‘“ (Hamide, 115–121).

An der Umschreibung „ich merke immer“ ist festzustellen, dass Hamide selbst die Beobachtung macht, gerade dann Diskriminierung zu erleben, wenn sie mit Kindern unterwegs ist. Interessant ist, dass sie nicht von ihren eigenen, sondern allgemein von kleinen Kindern spricht. Hier stellt sich die Frage, ob sie ähnliche Erfahrungen gemacht hat, als sie nicht mit ihren eigenen Kindern unterwegs war und deshalb eine allgemeine Umschreibung wählte. Entscheidend wäre hierbei, ob es einen Unterschied in der Reaktions- und Umgangsweise mit dieser Erfahrung gibt. Um eine adäquate Antwort auf diese Frage zu erhalten, müssten weiterführende Untersuchungen angestrebt werden. Weiter bietet Hamide ein Deutungsangebot an, womit die diskriminierenden Handlungen zusammenhängen könnten. Dabei erwähnt sie zum einen den Migrationshintergrund und zum anderen das Verhalten von Kindern als Anlass für Diskriminierungserfahrung. Auffällig ist, dass sie zunächst beide Gründe unter der Verwendung der Konjunktion „oder“ aufzählt. Dadurch entsteht der Eindruck, dass die Gründe nicht zusammengedacht, sondern einzeln und voneinander differenziert betrachtet werden. Hamide vergleicht die Reaktion der Außenstehenden im Vergleich zu einer deutschen Mutter und fügt hinzu, dass bei dieser Nachsicht geübt wird, was sie mit „da mal ein Auge zugedrückt wird“ zu umschreiben versucht. Hier sind zwei zentrale Aspekte zu nennen: (1) Hamide verwendet den Begriff der deutschen Mutter in Abgrenzung zu sich selbst. Das soll nicht heißen, dass sie sich nicht als deutsch versteht. Vielmehr möchte sie ihr Deutungsangebot dafür offenlegen, nach welchem Merkmal kategorisiert wird und darauf aufbauend die Ungleichbehandlung erfolgt. So wird sie nicht als deutsche Mutter konstruiert. Außerdem dient die banale Beschreibung grundsätzlich dazu, die eigentliche Andersbehandlung zwischen Müttern überhaupt erst verbalisieren zu können. Hierfür musste sie auf eine plausible Kategorisierung zurückgreifen, die verständlich und einleuchtend erscheint. (2) Durch die Personenbeschreibung der deutschen Mutter wird der Aspekt, dass sie die Merkmale ‚Migrationshintergrund‘ und ‚Verhalten der Kinder‘ differenziert betrachtet, relativiert. Denn der Migrationshintergrund ist etwas, was der deutschen Mutter nicht zugeschrieben werden kann. Dies bedeutet, dass Hamide die Diskriminierungserfahrung macht, weil ihr ein Migrationshintergrund zugeschrieben und die Kinder sich lauter verhalten. Explizit erwähnt sie das intersektionale Zusammenwirken in dem darauffolgenden Satz, als sie einen weiteren Umstand diskriminierender Handlungen zu umschreiben versucht: „wenn man mit Migrationshintergrund mit Kindern unterwegs ist“. Ein wesentlicher Unterschied zwischen den hier genannten Merkmalen ist, dass die Zuschreibung eines Migrationshintergrunds, die häufig auf phänotypischen Merkmalen basiert, dauerhaft gegeben ist, im Gegensatz zu einer meist nur situativ zugeschriebenen Mutterrolle.

Im gesamten Zitat beschreibt Hamide subtile Diskriminierungserfahrungen. Obwohl diese grundsätzlich schwieriger zum Ausdruck zu bringen sind, gelingt es Hamide mithilfe von Redewendungen aus den erlebten Situationen, diese prägnant zu schildern. Es könnte sein, dass im Interviewsetting meine gesellschaftliche Zugehörigkeit als Person, die ebenfalls Diskriminierungserfahrungen macht bzw. machen könnte, Einfluss auf die Erzählform der Interviewpartnerin(nen) hatte. So könnte Hamide davon ausgegangen sein, dass sie die subtilen Diskriminierungserfahrungen nicht näher erläutern und ggf. rechtfertigen musste, ob es sich hier wirklich um eine Diskriminierungserfahrung handle oder nicht, da sie bei mir ein sozial geteiltes Wissen voraussetzt. Dies sind mögliche Reflexionen, die mitberücksichtigt werden müssen.

Festzuhalten ist, dass Hamide in ihrem Alltag in ihrer Mutterrolle wahrgenommen und mit rassistischen Zuschreibungen zu einer bestimmten Mutter konstruiert wird. Dadurch erfährt sie eine besondere Dimension der Diskriminierung. Gleichzeitig ist es beeindruckend, wie Hamide die Feststellung macht, dass sie besonders dann Diskriminierung erfährt, wenn sie mit Kindern unterwegs ist. Darüber hinaus ist sie in der Lage, diese besonderen Erfahrungen, die sich primär als subtile Diskriminierungen einordnen lassen, zu artikulieren.

7.3.4 Forderung der Analysekategorie Mutter: Eine Vorüberlegung

Die Kategorie Mutter ist eine Analysekategorie. Sie kann als eine ergänzende Kategorie für die Forschung erachtet werden, die hier primär für die Untersuchung von Diskriminierungserfahrung vorgeschlagen wird. Sicherlich kann sie auch im Zusammenhang weiterer Untersuchungsgegenstände nützlich sein. Eine Überführung muss entsprechend fruchtbar gemacht werden.

Was zeichnet die Kategorie Mutter aus? In den drei Fallbeispielen wurde deutlich, dass äußere Merkmale dazu dienten, die Betroffenen als ‚Mutter‘ zu konstruieren und sie mit rassistischen Vorannahmen zu bewerten, die sich in der Interaktion widerspiegelten. Die Anwesenheit von Kindern, aber auch die Sichtbarkeit von Schwangerschaftsbäuchen waren hier sogenannte äußere Merkmale der Kategorie Mutter. Nicht zu vergessen ist die Kategorie Geschlecht. Sie dient hier als Strukturierungsprinzip, das die Betroffenen in der Interaktion als Frauen konstruiert. Erst durch die Zuweisung der Betroffenen zum weiblichen Geschlecht ist eine (rassistische) Zuschreibung bestimmter weiterer Lebensweisen möglich.

Durch die zugewiesene Position der Betroffenen als Mutter werden sie in den beschriebenen sozialen Situationen anders wahrgenommen. Damit einhergehend sind (rassistische) Zuschreibungen. Die Zuschreibungen sind in den Verhaltensweisen zu den Betroffenen zu beobachten. In allen drei Fallbeispielen kann von einer sozial geteilten Wissensstruktur bei den Diskriminierenden ausgegangen werden, die bestimmte Erwartungen an die Betroffenen als Mutter richten, ihnen ausgewählte Eigenschaften zuschreiben und ihre Lebensweise (ab)wertend einordnen. Aus diesen Faktoren folgt der interaktionale Umgang zwischen Diskriminierenden und den Diskriminierten.

Die hier präsentierten Teilergebnisse sind als zusätzliche Analyseinhalte zu verstehen. Die inhaltlichen Aspekte sind als Vorüberlegungen zu verstehen und bedürfen weiterführender und vor allem tiefergehender Untersuchungen. Nichtsdestotrotz wurden die Ergebnisse im Rahmen meiner Arbeit erzielt und sollten meiner Meinung nach nicht unbeachtet bleiben. Im Folgenden möchte ich anhand zweier Thesen wesentliche Kernaussagen zusammenfassen.

1. (Muslimische) Frauen erleben besondere (und andere) rassistische Diskriminierungserfahrung, als jene, die nicht als Mutter konstruiert werden

In den drei Fallbeispielen, die sich im Vergleich voneinander unterscheiden, konnte aufgezeigt werden, dass eine besondere Dimension der Diskriminierungserfahrung vorhanden ist, sobald Betroffene als Mütter wahrgenommen werden. Die Gemeinsamkeit der Betroffenen ist, dass sie von Außenstehenden als Mutter wahrgenommen und einer bestimmten sozialen Rolle zugeschrieben wurden, die von den Betroffenen als rassistisch eingeordnet wurde. Der maximale Unterschied zwischen den Fallbeispielen war, dass alle drei Betroffenen nicht als die (deutsche) Mutter wahrgenommen wurden. So trägt Afra ein Kopftuch und war zum Zeitpunkt des Geschehens als Muslimin zu erkennen. Malala und Hamide hingegen tragen keine religiösen Bekleidungen, wobei Malala Schwarz ist und Hamide aufgrund phänotypischer MerkmaleFootnote 44 (etwa dunkles Haar) eine Migrationsgeschichte zugeschrieben wird. Der Deutungsrahmen dafür, weshalb eine rassistische Diskriminierung erfolgte, ist also jeweils unterschiedlich. Dies wiederum bedeutet, dass die soziale Kategorie Mutter Subkategorien beinhalten kann, die die Erfahrungswerte als muslimische Mutter oder Schwarze Mutter zusammenfassen. Die übergreifende Gemeinsamkeit liegt weiterhin in der Kategorie der Mutter.

2. Analysekategorie Mutter deckt rassistische Zuschreibungsmuster auf

In bisherigen Untersuchungen ist die Rolle der Mutter kaum beachtet worden; wenn überhaupt, dann nur randständig und nicht in ihrer analytischen Tiefe. Die soziale Kategorie Geschlecht hilft bereits, Geschlechterkonstrukte in rassistischen Zusammenhängen zu identifizieren und aufzudecken. Beim Rassismus sind Geschlechterkonstrukte zentral, um sich von anderen sozialen Gruppen abzugrenzen. Was ist nun der Unterschied zwischen den Kategorien Geschlecht und Mutter? Werden die Aspekte der Kategorie Mutter nicht bereits unter Geschlecht mitbedacht? Teilweise. Es ist richtig, dass der Frau eine Schlüsselrolle in rassistischen Denkstrukturen gegeben wird und diese auch unter der Kategorie Geschlecht immer wieder mitberücksichtigt werden. Was unzureichend passiert, ist, dass insbesondere die Rolle als Mutter (oder auch Vater) in rassistischen Verhältnissen und vor allem in ihrer Diskriminierungserfahrung thematisiert wird. In meiner Untersuchung habe ich mich auf Diskriminierungserfahrungen der Betroffenen fokussiert. In der Analyse reichte die Kategorie Geschlecht allein nicht aus, um die rassistische Erfahrungsdimension abzudecken, die die Betroffenen erlebt haben. Um diesen Punkt deutlicher zu machen, möchte ich ein kurzes Gedankenspiel anführen:

Eine muslimische Frau geht die Straße hinunter. Sie ist durch das Kopftuchtragen von außen als Muslimin erkennbar und ihr widerfährt in der Interaktion zu anderen Menschen eine rassistische Zuschreibung als muslimische Frau. Stereotypen, die ich in Abschnitt 3.3 zu der muslimischen Frau erläutert hatte, werden reproduziert. So werden vage Vorstellungen, wie sie als muslimische Frau sei, vorgenommen, ohne sie dabei näher zu kennen.

Nun läuft dieselbe beschriebene Frau mit zwei Kleinkindern die Straße hinunter. Sie wird nun als Mutter konstruiert. Aufgrund der veränderten sozialen Situation, dass sie nun als Mutter wahrgenommen wird, werden andere rassistische Stereotypisierungen hinsichtlich der Person vorgenommen. Ausgangspunkt ist die Konstruktion der Person als Mutter. So spielt die Geschlechtszuschreibung als Frau nun mehr und vor allem eine andere Rolle, aber auch die Tatsache, dass sie Kinder hat, beeinflusst die soziale Interaktion. Rassistische Zuschreibungen erfolgen nicht zwangsläufig, weil sie eine Frau, sondern weil sie zudem Mutter ist. Genauso ist es interessant zu wissen, wie die Veränderung der Interaktion zu einer Person wäre, die ein muslimischer Vater mit zwei Kindern repräsentiert.

Es kann sein, dass Mutter als Analysekategorie nur vorläufig notwendig ist, um die Kategorie Geschlecht mit Blick auf diesen Gegenstand zu erweitern. Sie kann als vorrübergehend notwendig erachtet werden, um für diesen Forschungsblick sensibel zu werden. Die Gedanken hierzu sind noch lange nicht abgeschlossen, sie beginnen gerade erst.