Die theoretische Aneignung von Erhebungs- und Auswertungsmethoden besteht hauptsächlich darin, sich die Schritte für die methodische Durchführung anzulesen und das Forschungsvorhaben für eine praktische Anwendung planerisch vorzubereiten. Während der Umsetzung können Herausforderungen für die Forschungspraxis entstehen, die während der Planung nicht mitbedacht wurden bzw. werden konnten. Forschende sind daher dazu aufgefordert, ihre Vorgehensweisen kontinuierlich zu reflektieren, um auch prozessorientiert (re-)agieren zu können. Die Forschungspraxis erzeugt daher auch immer Lern- und Reflexionsprozesse, in denen die Kompetenzen der Forschenden fortschreitend weiterentwickelt werden.

Das Forschungsprojekt kann in drei wesentlichen Phasen unterteilt werden: (1) Erhebungsphase, (2) Aufbereitungs- und (3) Auswertungsphase. Im Folgenden werden die Phasen mit ihren methodischen Entscheidungen umschrieben, wobei die letzten zwei Phasen zusammengefasst dargestellt werden, da sie ineinander übergreifen und eine gesonderte Unterteilung keinen Mehrwert erzielt. Das Ziel der Ausführung ist es, einen Einblick in die Forschungspraxis des hier beschriebenen Projekts zu erhalten. Dabei werden die wichtigsten reflexiven Prozesse der Forschung sowie die soeben beschriebenen unvorhergesehenen Herausforderungen umfassend dargestellt. Insbesondere soll mithilfe der Strategie der Transparenz das Gütekriterium qualitativer Sozialforschung, die Nachvollziehbarkeit, sichergestellt werden. Während in Kapitel 2 die Auswahl der methodologischen und methodischen Ausrichtung begründet wurde, wird nachstehend die praktische Anwendung umschrieben. Auf diese Weise können Vorgehensweisen, aber vor allem auch wichtige methodenrelevante Entscheidungen von einer Außenperspektive entsprechend eingeordnet werden (vgl. Flick 2019: 483).

6.1 Forschungspraktische Vorgehensweise der Datenerhebung

Bevor der Zugang zum Forschungsfeld geschaffen werden konnte, wurden wichtige Vorarbeiten geleistet, um sich auf die Erhebungsphase vorzubereiten. Abgesehen davon, sich in wissenschaftlichen Arbeiten einzulesen, um ein Überblick über das zu beforschende Phänomen zu erhalten, und das Forschungsproblem für das eigene Projekt zu definieren, spielten auch formelle Aspekte bei der Vorbereitung eine wichtige Rolle. So wurde sich mit datenschutzrelevanten Aspekten intensiv auseinandergesetzt, um bei den zukünftigen Anfragen von potenziellen Interviewpartnerinnen eine rechtliche Grundlage für die Bearbeitung der personenbezogenen Informationen in der Hand zu haben. Dies schafft einen vertrauensvollen Rahmen und erhöht zudem die Teilnahmewahrscheinlichkeit der Erhebung. Forschende befinden sich grundsätzlich in einer rechtlich herausfordernden Situation, da bei Nicht-Beachtung von datenschutzrechtlichen Aspekten, die Personen gerichtlich belangt werden können (vgl. Friedrichs 2019: 71). Von Beginn an wurde an einem Vertrauensverhältnis gearbeitet, der mit der Zeit gesteigert wurde, um den Befragten einen geschützten Rahmen bieten zu können, in dem sie über ihre persönlichen Diskriminierungserfahrung frei erzählen konnten. Dabei ist zu erwähnen, dass datenschutzrechtliche Gesichtspunkte nicht im Ermessen der beteiligten Personen liegen, sondern bereits durch gesetzliche Regelungen reguliert sind wie z. B. in der europäischen Datenschutz-Grundverordnung (DSGVO) (vgl. Reichert 2018: 86).

Außerdem bilden datenschutzrechtliche Vereinbarungen immer auch forschungsethische Grundlagen. Es wurde insbesondere darauf geachtet, dass die Teilnahme am Forschungsprojekt ausschließlich freiwillig erfolgte und die Befragten in keinem Abhängigkeitsverhältnis zu mir als Forscherin standen wie z. B., durch weitere Projekte in einem aktuellen Förderverhältnis, Lehrverhältnis oder ähnlichem. Derartige Abhängigkeitsverhältnisse beeinflussen das Interviewverhalten der zu Befragenden, weil durch die Teilnahme und ggf. ausgewählter Aussagen eine Begünstigung erhofft werden könnte. Um derartige Einflüsse abzumindern oder erst nicht entstehen zu lassen, wurde deshalb bei der Auswahl der Befragten insbesondere auf das Verhältnis zu der Person geachtet.Footnote 1 Aus forschungsethischer Perspektive sollte die zu interviewende Person gar nicht erst in eine derartige Situation gebracht werden.

Ein weiterer Gesichtspunkt der Forschungsethik ist die ehrliche Kontaktaufnahme der zu interviewenden Personen. Von Anfang an sollte das Thema der Diskriminierungserfahrung offengelegt werden. Ein wesentliches Prinzip der hier vorliegenden Forschung war daher, keine verdeckten Daten zu erheben, d. h., den Befragten mithilfe von Fragetechniken etwas entlocken zu wollen. Das Forschungsprojekt basiert auf einen ehrlichen und vor allem respektvollen Umgang mit den Informationen der Befragten. Es wurde zu jedem Zeitpunkt darauf Wert gelegt, offen und aufrichtig zu kommunizieren.

Des Weiteren musste für die Interviewführung ein Leitfaden für das problemzentrierte Interview (vgl. Witzel 2000) konzipiert werden, die die in Abschnitt 5.2 beschriebenen Kriterien umfassen sollte. Um einen einseitig bzw. subjektiv geprägten Blick auf das zu beforschende Phänomen zu vermeiden, wurde auf der Grundlage des Vorwissens, abgeleitet aus der Literatur und in Kombination mit eigenen Berufserfahrungen aus der sozialarbeiterischen Praxis (siehe hierzu auch Strauss/Corbin 1996: 25–30), zunächst ein Leitfaden konzipiert, der in diversen Forschungskolloquien zur Diskussion gestellt wurde. Der interdisziplinäre Austausch ermöglichte eine erweiterte Sicht auf den Gegenstand. Anhand der Diskussionen und Gedankenimpulse wurde der Leitfaden entsprechend modifiziert. Die Modifizierung des Leitfadens im Rahmen von Forschungskolloquien wiederholte sich während der forschungspraktischen Phase mehrmals, da dieser Vorgang als ein methodisches Kriterium der Prozessorientierung zu verstehen ist.Footnote 2 Grundsätzlich beinhaltete der Leitfaden Fragen zu (1) bisher erfahrener Diskriminierung, (2) die unmittelbaren Reaktionen auf die Diskriminierung und (3) die Bewältigung der gemachten Erfahrungen. Diese drei Themenfelder wurden in der gesamten Erhebungsphase aus unterschiedlichen Perspektiven heraus betrachtet.

Darüber hinaus musste ich mich aus methodisch-taktischen Gründen über die Verwendung ausgewählter Begrifflichkeiten auseinandersetzen. In informellen Austauschgesprächen, die vor der Untersuchung mit Kolleg*innen, Studierenden oder auch Personen aus dem eigenen sozialen Umfeld geführt wurden, konnte festgehalten werden, dass Menschen mit Diskriminierungserfahrungen sich vom Begriff Rassismus distanzierten. Sie sind der Ansicht, dass sie bislang keine Rassismuserfahrung gemacht haben. Jedoch beschreiben sie in der Erzählung vom selben Phänomen, die nach einer soziologischen Definition (bspw. Scharathow 2017: 108) eine Rassismuserfahrung darstellt. Sowohl mit dem Begriff Rassismus, als auch mit Sexismus werden unterschiedliche Aspekte assoziiert und erzeugen beim Gegenüber ein einschränkendes oder zurückhaltendes Verhalten. Hinzu kommt die Herausforderung, dass die Perspektive der Intersektionalität nur bedingt mitbedacht wird, wenn ausschließlich der Begriff Rassismus verwendet wird. Das liegt u. a. darin, dass es eine bestimmte Vorstellung über Rassismus vorherrscht. Um diese Einschränkungen aufzulösen und vor allem eine niedrigschwellige Erzählsituation zu erzeugen, entschied ich mich für die Verwendung des Begriffs Diskriminierung bzw. Diskriminierungserfahrung. Der Begriff Diskriminierung ist inzwischen ein fester Bestandteil der Umgangssprache und schafft somit eher einen alltagsorientierten Zugang zu den Befragten. Diskriminierung als Begriff birgt außerdem den Vorteil, mehrere Ausgrenzungsformen gleichzeitig anzusprechen, ohne sie einzeln etikettieren zu müssen.

Auch wenn Inowlocki et al. es nicht empfehlen, direkt nach Diskriminierungserfahrungen zu fragen, um weitere Erfahrungen, die von Bedeutung sein könnten, mit in den Forschungsblick zu nehmen (vgl. Inowlocki et al. 2010: 287), entschied ich mich explizit dafür, direkt nach den Diskriminierungserfahrungen der Betroffenen zu fragen. Die Empfehlung der Wissenschaftler*innen kann ich nachvollziehen und halte den Einwand für wertvoll. Jedoch ist dieser nicht per se für alle Forschungsarbeiten gleichzusetzen. Hier muss eine Abwägung in Form einer reflektierten Einschätzung erfolgen, die das Erkenntnisziel mit der Forschungsfrage der Untersuchung in den Mittelpunkt stellt. Ebenso ist es wichtig, mitzubedenken, dass durch die ausschließliche Fokussierung auf Diskriminierungserfahrung reduzierende Effekte auf dem Gegenüber projiziert werden könnte. Diskriminierungserfahrungen sind nicht alles, was einen Menschen definiert. Die Wirkmächtigkeit der Adressierung, Thematisierung, Kontextualisierung und Inszenierung durch mich als Forscherin musste ich von Beginn an mitreflektieren.

Neben dem Leitfaden wurde ebenfalls ein Kurzfragebogen für das problemzentriete Interview konstruiert. Das Erhebungsinstrument hier umfasste neben sozialdemographischen Daten auch einzelne Aspekte zu den Diskriminierungserfahrungen der Befragten. Der Fragebogen wurde aus den Erkenntnissen der Literatur und meines Vorwissens eruiert. Es ist von großer Bedeutung, Vorkenntnisse und bestehende Wissensbestände in die eigene Forschung miteinfließen zu lassen. Dieser Vorgang muss jedoch reflektiert vorgenommen werden und spielt bei der Erhebung und Auswertung eine zentrale Rolle. Dies ist ein Bestandteil der theoretischen Sensibilität (vgl. Equit/Hohage 2016: 16). In Form einer quantitativ angelehnten Two-Choice Tabelle, wurden Aussagen formuliert, die die Befragten zustimmen oder ablehnen konnten. Der Ursprungsgedanke war, dass mithilfe dieser Tabelle abgebildet werden sollte, in welchen Bereichen die Personen Diskriminierungserfahrungen gemacht haben. Die Konstruktion der Items erfolgte in Anlehnung an den Dimensionen von Rassismuserfahrung, die Mecheril formulierte (vgl. Mecheril 2003: 70; 2004: 199 f.; 2009: 468 f.). Mecheril bietet damit eine ausdifferenzierte und somit eine umfassendere Definition von Rassismuserfahrung, sodass hervorgehoben wird, dass Rassismuserfahrung sich nicht ausschließlich auf körperliche Übergriffe reduzieren lässt. Der Kurzfragebogen sollte vorerst nach dem Interview ausgehändigt werden. In der Praxis gestaltete sich das Ausfüllen des Kurzfragebogens anders als geplant, weshalb die Funktionalität des Kurzfragebogens für die Forschung während der Erhebungsphase variierte. Das Einsetzen des Kurzfragebogens wird in Abschnitt 6.1.3 näher diskutiert.

6.1.1 Forschungszugang

Die Kontaktaufnahme zu den Personen, die für das Forschungsprojekt als potenzielle Interviewpartnerinnen in Frage kamen, erfolgte per Mail. Eine Kontaktaufnahme per Mail ist kostengünstig, zeitgemäß und mit ihr kann grundsätzlich eine große Reichweite erzielt werden. Die Mailanfrage erfolgte mit Informationen zu meiner Person, die hauptverantwortlich und eigenständig das Projekt durchführte, zur Problemstellung und Ziele der Erhebung, die Zusicherung der Anonymität (siehe hierzu auch Kurz et al. 2009: 469) und Kontaktdaten bei weiterführenden Fragen. Die institutionelle Anbindung durch das Arbeitsverhältnis der Qualifikationsarbeit, die in der Anfragemail ebenfalls erwähnt wurde, sollte zur Steigerung der Seriosität dienen.

Die Auswahl der Personen wurde mithilfe von sogenannten Schlüsselpersonen vorgenommen. Im Rahmen des Arbeitsverhältnisses ergaben sich kollegiale Kontakte zu Personen mit großen sozialen Netzwerken. Vorab wurde ausschließlich festgelegt, welche Kriterien die zu befragenden Personen erfüllen mussten. Die Schlüsselpersonen nannten dann mögliche Interviewpartnerinnen, auf die die angeforderten Kriterien zutrafen. Im Anschluss daran kontaktierte ich die vorgeschlagenen Personen und fragte sie für ein Interviewgespräch an. Je nach Verhältnis zwischen Schlüsselperson und potenzielle Interviewpartnerin wurde bei vereinzelten Anfragen erwähnt, durch welche Person der Kontakt entstanden ist. Bei einigen Kontaktaufnahmen sprach zunächst die Schlüsselperson mit möglichen Interviewpartnerinnen, um zunächst ein vertrauteres Verhältnis zu schaffen und durch eine persönliche Empfehlung zu einer Interviewteilnahme zu motivieren. Vor allem bei sensiblen Themen wie persönliche Diskriminierungserfahrungen stellte sich heraus, dass die Einbeziehung einer vertrauten Person vorteilhaft ist. Nach meiner Erfahrung sagten die angefragten Personen mit einer Empfehlung durch eine Schlüsselperson zügiger einer Interviewteilnahme zu als in anderen Fällen.

Die Anfragen für ein Interviewgespräch erfolgten – wie bereits schon deutlich wurde – nicht einheitlich, sondern gestalteten sich individuell. Während bei einigen Personen die Mailanfrage allein ausreichte, wünschten andere vorab ein telefonisches Gespräch, um Unklarheiten zu klären. Es entstand der Eindruck, dass Personen sich in telefonischen Gesprächen vergewissern wollten, wer konkret zu was und vor allem zu welchem Zweck ein Gespräch über solch ein sensibles Thema führen wollte, obwohl diese Aspekte in der Mail schon angesprochen wurden. Durch den telefonischen Kontakt konnte noch intensiver an einem Vertrauensverhältnis gearbeitet werden als allein durch Mailkontakt. An der Art und Weise, wie Personen für ein Interview gewonnen wurden, konnte bereits festgestellt werden, dass Menschen unterschiedlich mit ihren Diskriminierungserfahrungen umgehen und vor allem ein vertrautes Verhältnis benötigen, um darüber offen sprechen zu können. Dabei ist zu beachten, dass einige Diskriminierungserfahrungen sich in Kontexten ereigneten wie bspw. am Arbeitsplatz, worüber die Betroffenen nur in einem vertrauten Rahmen sprechen wollen bzw. können, ohne Konsequenzen befürchten zu müssen. Nur die Betroffenen sind in der Lage, selbst für sich zu entscheiden, ob und inwieweit sie über ihre Erfahrung sprechen wollen. Die Offenbarung, dass den Menschen eine schmerzliche Erfahrung widerfahren ist und sie in den Situationen ggf. nicht entsprechend handeln konnten, ist häufig mit Scham verbunden. Hinzu kommt, dass die Bedeutungszuschreibung einer Erfahrung und damit einhergehend die emotionale Belastung von Person zu Person unterschiedlich ist. Scherr/Breit fassen es kurz und bündig zusammen: „Diskriminierungserfahrungen sind (.) voraussetzungsvoll und interpretationsabhängig“ (Scherr/Breit 2020: 46). Eine hierarchisierende Beurteilung der Erfahrungen von außen ist despektierlich und unzulässig.

In der Abbildung 6.1 ist der Verlauf der Anfrage, wie sie letztendlich erfolgt ist, vereinfacht dargestellt. Zum Teil gab es mehrere Schlüsselpersonen zwischen einzelnen Interviewanfragen, welche aufgrund der leichten Übersicht nicht aufgeführt worden sind. Nicht enthalten sind außerdem die Anfragen, die ohne Rückmeldungen ausblieben.

Abbildung 6.1
figure 1

Vereinfachte Darstellung der Kontaktaufnahme, die zum Interviewgespräch führten

Die Reichweite der Anfragen ist eine viel größere, als die in der Abbildung 6.1 dargestellt ist. Zwei weitere Besonderheiten sind dem Abbild zu entnehmen: Erstens wurde die dritte Interviewpartnerin aufgrund ihres sozialen Netzwerkes zu einer Schlüsselperson und schlug eine Person für ein weiteres Interview vor. Die Interviewpartnerin 5 teilte dann mit, dass sie wiederum eine weitere Person mit Diskriminierungserfahrung kenne, die für die Untersuchung eine Bereicherung sein könnte. Dieses Auswahlverfahren kommt dem Snowball Sampling gleich (siehe hierzu auch Scholl 2018: 36). Da zu dem Zeitpunkt die Suche nach einer bestimmten Person mit ausgewählten Kriterien erschwerteFootnote 3, wurde ein Interview mit der empfohlenen Person ergänzend vorgezogen. Zweitens ergab sich ein Interview aus einer Internetrecherche. Die Anfrage hier erfolgte ohne Schlüsselperson.

Es wurde bereits erwähnt, weshalb sich für den Begriff Diskriminierung entschieden wurde. Trotz all dem wurden in den ersten vier Interviewanfragen Rassismus und Sexismus als beispielhafte Ausgrenzungsformen genannt. Im späteren Verlauf wurde diese Vorgehensweise als voreinnehmend und beeinflussend reflektiert, weshalb die Anfrage dahingehend korrigiert wurde, dass keine Ausgrenzungsformen konkret benannt wurden. Dass die Anfrageform das Interviewgespräch unter Umständen beeinflusst haben könnte, wurde bei der Analyse mitbedacht. Ein Teilergebnis ist, dass in allen Interviews die rassistischen und sexistischen Ausgrenzungserfahrungen unabhängig von der Interviewanfrage dominierten. Zum einen entsteht dadurch die Annahme, dass diese Ausgrenzungsformen vorherrschend in den Lebensrealitäten der Befragten sind. Zum anderen besteht auch die Vermutung, dass bei den Befragten eher ein Bewusstsein über diese Ausgrenzungsformen vorhanden ist, weshalb diese von den Befragten primär wahrgenommen und in der Erzählung rekonstruiert wiedergegeben wird.Footnote 4 Sobald aus dem Kontext heraus die Situation ergab, gezielt von bestimmten Diskriminierungsformen zu sprechen, da bspw. die Interviewpartnerin den Begriff Rassismus selbst einbrachte, dann wurde dementsprechend darauf reagiert.

Eine weitere Problematik bestand in der Adressierung der potenziellen Interviewpartnerinnen. Sie wurden zum einen als Muslimin und zum anderen als eine Person, die in der Sozialen Arbeit tätig ist, adressiert. Die erste Herausforderung bestand darin, zu bestimmen, wer als Muslimin galt und wer nicht. Welche Kriterien sind hier wichtig? Reicht ein Eintrag im Reisepass oder ist die Frömmigkeit richtungsweisend? Da die Forschung sich nicht mit der Religiosität der Menschen befasst, sondern sich mit den Erfahrungen der Menschen, die sie als Musliminnen machen, auseinandersetzt, reichte das Selbstverständnisprinzip an dieser Stelle aus. D. h., sobald die Person sich selbst als Muslimin verstand, galt das Kriterium als gegeben. An dieser Stelle ist zu erwähnen, dass nicht nur Menschen mit einem muslimischen Selbstverständnis antimuslimische Diskriminierung erfahren, sondern auch Personen, die als vermeintliche Muslim*innen gelesen werden. Die Forschung begrenzt sich jedoch ausschließlich auf die tatsächlichen Musliminnen.Footnote 5 Das zweite Problem stellte sich als ein praxisbezogenes Problem dar: Die Handlungsfelder der Sozialen Arbeit sind genauso vielfältig wie die einzelnen Berufsausbildungen der Personen, die dort in dem Feld tätig sind. Es gestaltete sich schwierig, ausschließlich muslimische Sozialarbeitende ausfindig zu machen, weshalb das Erkenntnisziel der Arbeit dementsprechend angepasst wurde. Da grundsätzlich u. a. untersucht werden sollte, inwieweit Diskriminierungserfahrungen im beruflichen Alltag eine Rolle spielen, war es irrelevant, ob die Personen alle eine einheitliche Berufsausbildung haben oder nicht. Die einzigen Kriterien zu Beginn der Untersuchung waren, dass die zu Befragten in einem sozialarbeiterischen Handlungsfeld mit einem sozialarbeiterischen Auftrag tätig sind.

Anfangs waren ausschließlich face-to-face Interviews angedacht. Beim persönlichen Interview kann die zu interviewende Person zu Hause oder am Arbeitsplatz aufgesucht werden (vgl. Scholl 2018: 29). Um den (Kosten-)Aufwand der Befragten gering wie möglich und somit eine Interviewteilnahme niedrigschwellig zu halten, wurde immer ein persönlicher Besuch von meiner Seite angeboten, die die Interviewteilnehmenden auch in Anspruch nahmen. Dadurch wurden die Personen bei der Auswahl und Gestaltung des Interviewsettings miteinbezogen. Sie hatten die Möglichkeit, selbst zu entscheiden, in welchen (vertrauten) Räumlichkeiten sie über ihre Diskriminierungserfahrung sprechen wollten. Pandemiebedingt mussten die Erhebungsmethoden im Laufe der Erhebungsphase verändert werden, sodass letztendlich nicht nur face-to-face Interviews, sondern auch Video- und Telefoninterviews durchgeführt wurden. Eine deskriptive Darstellung folgt in Abschnitt 6.1.3 und eine entsprechende methodische Reflexion ist in Abschnitt 6.3 vorgesehen. Zunächst einmal erfolgt nun die Beschreibung des Theoretical Samplings, wie dieses in der praktischen Durchführung gestaltete.

6.1.2 Theoretical Sampling in der Praxis

In Abschnitt 5.1 wurde das Theoretical Sampling methodisch umschrieben. Die praktische Anwendung für die hier vorliegende Studie stieß jedoch auch auf unerwartete Herausforderungen. Vorab ist zu erwähnen, dass trotz zeit-ökonomischer Faktoren darauf geachtet wurde, nach Möglichkeit ein kumulatives Sampling zu erstellen. Die Abbildung 6.1 zeigte bereits die Kontaktgewinnung der hier insgesamt neun durchgeführten problemzentrierten Interviews. Davon wurden vier face-to-face Interviews und pandemiebedingt ein Video- und vier Telefoninterviews durchgeführt. Die Datenerhebung erfolgte zwischen Januar und November 2020. Die endgültige Analyse gestaltete sich logischerweise etwas über die Erhebungsphase hinaus. Im Folgenden soll nachvollziehbar dargestellt werden, wie die Vorgehensweise beim Theoretical Sampling sich gestaltete und welche methodisch relevanten Entscheidungen hierzu getroffen wurden. Es wird darauf hingewiesen, dass die Ergebnisdarstellung des Theoretical Samplings in einer reduzierten vereinfachten Form vorgenommen wird, um nicht wichtige Ergebnisse vorwegzunehmen. Das Entscheidungsverfahren, wobei das zu untersuchende Phänomen stets im Mittelpunkt stand, gestaltete sich in der Praxis vielfältiger und komplexer. Die folgende Beschreibung hat nur das Ziel, das Prinzip des Theoretical Samplings praxisorientiert zu verdeutlichen.

Anhand der zwei wesentlichen Kriterien, die sich an die Zielgruppe richtete, zum einen das muslimische Selbstverständnis und zum anderen das Tätigkeitsfeld, entschied ich mich dazu, für den Einstieg eine Person zu befragen, die die genannten Kriterien in hohem Maße erfüllte. Dazu sollte eine Person befragt werden, die offensichtlich als Muslimin anhand religiöser Bekleidung oder ähnlichem zu erkennen war und eine langjährige Berufserfahrung in der Sozialen Arbeit verfügte. Im Gespräch wurde deutlich, dass die Diskriminierungserfahrungen sich stark auf das Kopftuchtragen begrenzten, weshalb sich für mich die Frage stellte, wie es bei Personen aussah, die keine religiöse Bekleidung trugen. So wurde für das zweite Interview im Kontrast zu der ersten Interviewpartnerin eine junge Person mit wenig Berufserfahrung und ohne religiöse Bekleidung ausgewählt, um auf diese Weise die Gemeinsamkeiten und Unterschiede der Diskriminierungserfahrungen und ihre Bewältigungsformen herauszuarbeiten. In der Aufbereitung des zweiten Interviews konnte eine starke Fokussierung auf die Kategorie Geschlecht in Zusammenhang des Arbeitskontextes festgestellt werden. Es entstanden Fragen wie bspw., inwieweit werden eigene Diskriminierungserfahrungen für die berufliche Tätigkeit relevant oder welche Vorteile birgt das sozialarbeiterische Tätigkeitsfeld für die Bewältigung der eigenen Diskriminierungserfahrungen. Aus diesen Fragen heraus legte ich fest, das dritte Interview mit einer Person zu führen, die ein Klientel hat, die mit ähnlichen Herausforderungen konfrontiert ist in Bezug auf Diskriminierung, wie die Befragte selbst. Die Überlegungen und Recherchen führten zu einer Interviewpartnerin, die in der Frauenarbeit tätig ist und überwiegend muslimische Frauen als Zielgruppe hat. Es ergaben in dem Interview viele Aspekte zum Thema Intersektionalität, weshalb an dieser Stelle eine vertiefte literarische Auseinandersetzung zum Konzept der Intersektionalität erfolgte.Footnote 6 Die Kriterien für das vierte Interview wurden vielmehr literarisch eruiert. Da erste Überlegungen der Intersektionalität auf den Black Feminism zurückzuführen sind,Footnote 7 kam die Frage auf, inwieweit sich Diskriminierungserfahrungen von muslimischen Schwarzen Frauen von den anderen unterschieden. Dabei sollte sowohl eine Interviewpartnerin mit und ohne Kopftuch befragt werden, um möglichst die Komplexität von Diskriminierungserfahrungen abdecken zu können. Das vierte Interview wurde daher mit einer Schwarzen muslimischen Frau durchgeführt, wobei an dieser Stelle erwähnt werden muss, dass die Suche nach einer Person mit den entsprechenden Kriterien schwierig gestaltete. Das bisher genutzte Netzwerk reichte nicht aus, weshalb über mehrere Personen hinweg kommuniziert und gesucht wurde. Die Suche nach einer muslimischen Schwarzen Frau mit religiöser Kopfbedeckung, die zudem in der Sozialen Arbeit tätig ist, gestaltete sich noch schwieriger. Aufgrund zeitlicher Faktoren, musste vorübergehend die Suche nach solch einer Person zurückgestellt werden, weshalb erst das siebte Interview mit einer Person zu realisieren war, auf die die genannten Kriterien zutrafen. Währenddessen wurde das fünfte Interview mit einer Person angestrebt, die nicht in einem klassischen Bereich der Sozialen Arbeit tätig war. Das Interesse und eine derartige methodische Entscheidung resultierte daraus, da die vorherige Interviewpartnerin ein fachliches, umfassendes Wissen über Diskriminierung mitbrachte, das aus ihrer Tätigkeit hervorging.Footnote 8 Um einen Kontrast hierzu zu bilden zu können, wurde für das fünfte Interview eine Person ausgewählt, die im Gesundheitsbereich als Sozialarbeiterin tätig war und nur wenig inhaltliche Berührungspunkte zum Thema Diskriminierung aufwies.Footnote 9 Nach dem fünften Interview ergab sich immer noch keine Gelegenheit für ein Interviewgespräch mit einer Schwarzen, muslimischen, kopftuchtragenden Frau, weshalb auf Empfehlung der fünften Interviewpartnerin hin ein zusätzliches Interview mit einer weiteren Person durchgeführt wurde, die vermehrt Diskriminierungserfahrungen im beruflichen Feld machte. Bis zu diesem Zeitpunkt wurden von den Befragten nur vereinzelte Diskriminierungserfahrungen aus der beruflichen Tätigkeit zur Sprache gebracht, weshalb der vorgeschlagene Fall eine Relevanz für das zu untersuchende Phänomen darstellte und der Empfehlung der Interviewpartnerin nachgegangen wurde. Anschließend daran erfolgte schlussendlich das siebte Interview mit einer Schwarzen Muslimin, die einen Kopftuch trug.

Nachdem die meiste analytische Arbeit in Form von Konzepten ausweisen, Kategorien bilden, ständiges Vergleichen, intersektionale Interpretation von Daten, etc., vorgenommen war, musste für das selektive Kodieren ein achtes und ein neuntes Interview durchgeführt werden. Hierzu mussten die Personen außer den Grundkriterien keine Besonderheiten aufweisen. Die achte Interviewpartnerin wurde durch eigene Recherche ausfindig gemacht und die neunte Person wurde durch eine kollegiale Vermittlung angefragt. Über beide Personen war bekannt, dass sie zum Thema eigene Diskriminierungserfahrungen etwas beitragen konnten. An den letzten beiden Interviews sollte nur der (modifizierte) Theorieentwurf mit seinen hypothetischen Überlegungen überprüft werden, weshalb die unspezifische Auswahl der Interviewpartnerinnen im Vergleich zu den anderen gerechtfertigt war. Nachdem keine großartig neuen Aspekte aus den Interviews entnommen werden konnten, die für das zu untersuchende Phänomen von Bedeutung war, wurde eine theoretische Sättigung festgestellt und die Erhebungsphase wurde damit eingestellt.

Obwohl die Adressierung der Befragten sich auf das Muslimin im Selbstverständnis und die Tätigkeitsfelder der Sozialen Arbeit begrenzte, entfaltete sich im Sampling ein diverses Abbild der Befragten. Da im Kurzfragebogen sozialdemographische Daten erfasst wurden, konnten anhand dieser und weiteren Daten, wie z. B. durch visuell ersichtliche Informationen in der Begegnung oder Internetprofile, die Tabelle 6.1 über das Sampling erstellt werden, die die Vielfältigkeit trotz reduzierter Adressierung widerspiegeln soll.

Tabelle 6.1 Sozialdemographische Angaben des Samplings

Die vielfältige Aufstellung ist auch in der beruflichen Qualifikation wiederzufinden. So waren eine Dipl. Pädagogin, zwei Dipl. Sozialpädagoginnen und drei staatlich anerkannte Sozialpädagoginnen/Sozialarbeiterinnen im Sampling vertreten. Hinzu kommen drei Personen, die eine Qualifikation außerhalb des sozialen Bereichs hatten, aber vertraglich als Sozialarbeiterinnen angestellt waren.

Die deskriptive Beschreibung, wie sich das Sampling für die hier vorliegende Untersuchung kumulativ zusammensetzte, erweckt den Eindruck, dass die Rekrutierung der Befragten linear und vor allem statisch nacheinander erfolgte. Es ist auch dem Punkt geschuldet, dass die Aufbereitungs- und Auswertungsphasen aus inhaltlichen Gründen nicht mitaufgeführt wurden. Grundsätzlich gestaltete sich der Prozess iterativ-zirkulär und war der einen oder anderen Herausforderung ausgesetzt. Zwischenzeitig gab es bspw. keine Aussicht darauf, die gewünschte Interviewpartnerin mit entsprechenden Kriterien, die zum bestimmten Phänomen etwas berichten könnte, ausfindig zu machen. Auf diese Situationen musste forschungspraktisch reagiert werden, ohne dabei das Forschungsziel aus den Augen zu verlieren. Damit einhergehend entstanden auch zeitlich-ökonomische Herausforderungen, weshalb dann auf ein vorübergehendes Alternativverfahren zurückgegriffen werden musste, die methodische Begründungen erforderten. Die Quintessenz daraus ist, dass Forschungen nicht bis ins kleinste Detail im Voraus planbar sind, indem alle Eventualitäten mitbedacht werden. Dies gilt insbesondere für prozessorientierte Forschungsdesigns wie in der Arbeit mit der Grounded Theory. Außerdem findet die Forschungspraxis ebenfalls in einer komplexen sozialen Wirklichkeit statt, die eine theoretische Planung nur begrenzt zulässt. Wichtig ist dabei, mögliche Abweichungen mitzubedenken und die Umsetzung eines Forschungsprojekts stets prozessorientiert zu gestalten bzw. mitzugestalten. Die bisherigen Erfahrungen zeigen, dass trotz den Herausforderungen ein Verfahren nach dem Theoretical Sampling zielführend war und den Erkenntnisgewinn erheblich beeinflusst hatte. So konnte erstens das zu untersuchende Phänomen vorläufig bestimmt werden, sodass anschließend daran prozess- und gegenstandsorientiert gearbeitet wurde. Die wechselseitig reflexive und analytische Vorgehensweise deckte weiterführende Fragen zum Phänomen auf, die in der nachstehenden Erhebungsphase eingearbeitet und somit berücksichtigt werden konnten. Zweitens konnte auf die Komplexität des Phänomens reagiert werden, indem heterogene Fälle hinzugezogen wurden. Die analytischen Fragen und Teilerkenntnisse bestimmten fortwährend die Kriterien für den nächsten Fall. Drittens konnten Erkenntnisse schrittweise generiert werden, sodass ausgewiesene Konzepte und Kategorien durch das ständige Vergleichen zwischen den Fällen verfestigt und immer wieder ausdifferenziert wurden. Einige Arbeiten mit der GT verzichten aus verschiedenen Gründen auf das iterative Verfahren. Dementsprechend büßen diese an analytische Qualität ein und ihre Möglichkeiten einer gegenstandsverankerten Theorieentwicklung sind begrenzt. Das Verfahren des Theoretical Samplings in der hier vorliegenden Arbeit stellt ein wesentliches Gütekriterium für die Wissenschaftlichkeit der Arbeit dar.

6.1.3 Interviewdurchführung

Die Corona-Pandemie, die seit Frühjahr 2020 anhält, beeinflusste den Forschungsplan und erforderte grundlegende methodische Veränderungen. Sowohl face-to-face Interviews als auch Video- und Telefoninterviews bringen methodische Vor- und Nachteile mit sich, die in Bezug auf die Forschungspraxis reflektiert betrachtet werden müssen. Zudem wurden nach jedem Interview, unabhängig von der Form, ein individuelles Postskriptum angefertigt. Das Postskriptum diente mir als ein Reflexions- und zugleich auch als ein Dokumentationsmittel. Es wurden Angaben und Besonderheiten zum Interviewsetting und -verhalten aller Beteiligten in den Interviewsituationen gemacht. Aber auch besondere Vorkommnisse wurden dokumentiert bspw., wenn ein Interview zwischenzeitlich unterbrochen oder die Interviewsituation durch Zwischengespräche von anderen Personen beeinflusst wurde. Im Folgenden werden alle drei Erhebungsmethoden kurz umschrieben. Aufbauend darauf wird dann dargelegt, wie die Methoden ihre Anwendung fanden und welcher forschungspraktischen Überlegungen sie bedürfen.

Face-to-face-Interview

Das face-to-face Interview wurde bei vier Befragten durchgeführt. Dabei wurden nach dem eigenen Wunsch drei Personen an ihrem Arbeitsplatz und eine Person bei sich zu Hause aufgesucht. Persönliche Interviews bringen den Vorteil mit sich, dass durch die direkte Begegnung effektiver an einem Vertrauensverhältnis gearbeitet werden kann. Durch die methodische Vielfalt, die zwangsläufig während der Forschungspraxis entstand, konnten die Interviewsituationen auch miteinander verglichen werden. Das Fazit ist, dass in persönlichen Interviews am effektivsten an einem Vertrauensverhältnis gearbeitet werden konnte im Vergleich zu den anderen Erhebungsverfahren. Dies wiederum hatte Auswirkung auf die Interviewgespräche, die intensiver und erzählanregender geführt wurden. Die (Teil-)Anonymität der Befragten, aber auch von mir als Forscherin wurde durch die persönliche Begegnung aufgehoben. Dies wiederum führte zu einer „höheren Akzeptanz der Befragung“ (Scholl 2018: 38). Der Nachteil dieser Erhebungsmethode ist ein hoher (Kosten-)Aufwand. Zudem ist die Feldphase einer Studie durch das persönliche Aufsuchen der Personen zeitlich intensiv angesetzt (vgl. ebd.: 38 f.). Es darf nicht unerwähnt bleiben, dass die persönliche Begegnung auch weitere Vorteile mit sich bringt: In der Begegnung konnten phänotypische Merkmale beobachtet werden, die bspw. bei einem Telefoninterview nicht ersichtlich sind. Soziale Merkmale aller Beteiligten wirken in der Begegnung beim Interviewsetting ein und bestimmen das jeweilige Interviewverhalten. Diese Annahme konnte in den Gesprächen direkt beobachtet werden: So wurde ich immer wieder aufgrund der sichtbaren Merkmale einer sozialen Gruppe zugehörig bzw. nicht-zugehörig zugeschrieben. Damit einhergehend wurden Erzählungen voraussetzungsvoll rekonstruiert. Andererseits wurden bestimmte Informationen näher ausgeführt, weil davon ausgegangen wurde, dass ich durch die Nicht-Zugehörigkeit zu einer sozialen Gruppe nicht das soziale Wissen darüber verfügen konnte. In face-to-face Interviews kann bei vorausgesetztem Wissen oder auch unverständlichen Aussagen entsprechend interveniert werden, indem gezielt nachgefragt wird. Dies gilt auch für die Befragten, wenn eine an sie gerichtete Frage für sie unverständlich ist. Im Gegensatz zu Telefoninterviews können die Interviewer*innen in persönlichen Gesprächen umfassender und tiefgreifender Informationen erhalten (vgl. ebd.). Zu den bisher genannten Aspekten möchte ich zusammenfassend auf ein Zitat von Charmaz zurückgreifen, die sich zum Forschungsverlauf wie folgt positioniert:

„Wir konstruieren Forschungsprozesse und die Produkte der Forschung, aber diese Konstruktionen finden unter existierenden strukturellen Bedingungen statt, ergeben sich in emergenten Situationen und werden von den Perspektiven, Privilegien, Positionen, Interaktionen und geografischen Standorten der Forscher/innen beeinflusst“ (Charmaz 2011: 184).

Die Aussage von Charmaz fasse ich so auf, dass Forschungsprozesse als Konstrukte erachtet werden können, aber vielmehr durch zusätzliche Faktoren mitbestimmt werden, die den Forschenden oftmals nicht bewusst sind. Es ist daher wichtig darauf zu schauen, wer zu welcher Forschungsfrage wie forscht. So wurde ich ausschließlich in den face-to-face Interviews zum Ende hin nach meiner Herkunft und/​oder Religionszugehörigkeit gefragt. Meine gesellschaftliche Position hatte Auswirkung auf das gesamte Interview. Denn ich kann davon ausgehen, dass meine tatsächliche Zugehörigkeit die Interviewpartnerinnen von Beginn an interessiert und somit ihr Interviewverhalten beeinflusst hat. Sie trauten sich erst zum Schluss, nachdem ein bestimmter Rahmen gesetzt wurde, diese Fragen zu thematisieren. Eine weitere Vermutung, die ich daraus ableite, ist, dass die Interviewpartnerinnen erst recht durch mein Sichtbarwerden mir gegenüber öffneten und mit mir über ihre Diskriminierungserfahrungen sprachen, da sie (vermeintliche) Ähnlichkeiten und Gemeinsamkeiten in mir sahen, die auf eine ähnliche Lebensrealität hinwiesen. Dieses Phänomen wäre gar nicht oder nur in einer anderen Form aufgetreten, wenn ich bspw. ganz andere phänotypische Merkmale aufgewiesen hätte. Im gesamten Interviewverlauf wurden schlussendlich sowohl von den Befragten als auch von mir als Forscherin Selbst- und Fremdpositionierungen vorgenommen. Mithilfe der Abbildung 6.2, die von Kruse konzipiert wurde, kann der kommunikative Prozess der Positionierung, der sich zwischen mir als Forscherin und den Befragten erzeugte, entsprechend visuell abgebildet werden.

Abbildung 6.2
figure 2

(Quelle: Kruse, 2015, 91)

Kommunikative Selbst- und Fremdpositionierung.

Die bisherigen Ausführungen sind ein Beleg dafür, dass qualitative Interviewsituationen als ein Beziehungsraum anzusehen sind. Die Vorgänge der Positionierungen beeinflussen den Diskussionsverlauf. In Gruppendiskussionen tritt das Phänomen der Selbst- und Fremdpositionierung verstärkter auf im Gegensatz zu Einzelinterviews (vgl. Kruse 2015: 90).

Insgesamt ist festzuhalten, dass die Interviewsituationen künstlich erzeugte Situationen und keine zufälligen alltagsähnlichen Situationen sind. Helfferich spricht von einem „asymmetrische[n] und komplementäre[n] Rollenverhältnis“ (Helfferich 2019: 670) der Interviewbeteiligten. Allein die Adressierung der Interviewpartnerin durch mich als Forscherin setzt einen Rahmen, der in dieser Form nicht im Alltag der Befragten wiederzufinden ist. Die zu interviewende Person nimmt das gesetzte Interviewsetting mit ihm verbundene Rollenverteilung und Verhältnis wahr und gestaltet diese aktiv mit (vgl. ebd.).

Alle Einzelinterviews wurden mithilfe eines Aufnahmegeräts dokumentiert. Es wurde offengelegt, wann das Gerät ein- und ausgeschaltet wurde. Am Anfang konnten bei vereinzelten Personen eine Art Anfangsnervosität beobachtet werden, die sich auch in ihrer Sprache widerspiegelte. Das Suchen nach ausgewählten Begriffen oder das verzögerte, langsame, bewusste Sprechen waren ein Indiz dafür, dass das Aufnahmegerät das Interviewverhalten der Befragten beeinflusste. Nach einer gewissen Zeit wurde von den Befragten das Aufnahmegerät ignoriert und der Erzählfluss baute sich auf. Diese Beobachtung muss nicht ausschließlich auf das Tonbandgerät zurückzuführen sein. Die Befragten könnten auch unter einem Erwartungsdruck gestanden haben, sodass sie versuchten, „eine als sozial erwünscht eingeschätzte Antwort zu geben“ (Scholl 2018: 39), bspw. durch eine bewusst ausgewählte Sprache. Diese Situation könnte zum einen durch die Interviewanfrage und zum anderen durch das Interviewsetting beeinflusst worden sein. Erstens wurden die Befragten als Personen angefragt, die in der Sozialen Arbeit tätig sind. Dadurch werden sie indirekt in einen Expertinnenstatus gedrängt, obwohl es in erster Linie nicht um ihr praktisches Wissen als Sozialarbeiterin handelt. Zweitens wurden die ersten drei Personen an ihrem Arbeitsplatz aufgesucht, wodurch das Interviewgespräch auch räumlich beeinflusst wurde. Obwohl ich die Befragten als Privatperson interviewte, ist in diesem Augenblick eine Abgrenzung ihrer professionellen Rolle aufgrund des Interviewsettings nur bedingt möglich. Erschwert wird die Situation im weiteren Interviewverlauf, wenn gezielt Fragen nach dem beruflichen Alltag erfolgen. Diese Zuweisung der sozialen Position kann mit Erwartungen einhergehen, indem Befragte den Druck verspüren, im Interviewgespräch auch als eine Person zu verhalten, dessen Werte und Normen mit den sozialarbeiterischen Ansichten zu vereinbaren sind. An dieser Stelle wird erneut deutlich, dass die Selbst- und Fremdpositionierung im gesamten Forschungsprojekt eine zentrale Rolle einnimmt.

Unabhängig der Erhebungsmethode stützten sich alle Interviews auf einen Leitfaden, der nach und nach modifiziert wurde. Es wurde direkt nach Erlebnissen gefragt, die die Interviewpartnerinnen als eine Diskriminierungserfahrung gedeutet und interpretiert haben. Das gezielte Fragen nach einzelnen Erlebnissen ermöglichte eine Grundlage für das ständige Vergleichen zwischen den Fällen (vgl. Scholl 2018: 110). Die retroperspektive Rekonstruktion der Erlebnisse müssen weiterhin als subjektive Deutungen gewertet werden, die davon abhängig sind, inwieweit die Personen sich an die erlebten Ereignisse erinnern. Hinzu kommt, dass keine schlussfolgernden Aussagen über die Handlungslänge wie z. B., die Reaktion auf eine Diskriminierung, getroffen werden können. Zu beachten gilt, dass die Dichte der Narration durch eine aktuelle Stimmungslage der Interviewpartnerinnen beeinflusst sein kann (vgl. ebd.: 111). Eine Differenzierung ist mithilfe der gewählten Erhebungsmethode ohne Weiteres nicht möglich. Dies sind die methodischen Grenzen. Dabei ist zu betonen, dass die qualitative Forschung keinen Anspruch auf wahre Wirklichkeit erhebt. In den Wirklichkeitskonstruktionen der verschiedenen Interviews lässt sich ein wesentlicher Kern des sozialen Handelns wiederfinden (vgl. Kruse 2015: 40). Soziales Handeln erfolgt nicht in einem luftleeren Raum. Wernet bezieht sich auf das Konzept der Regelgeleitetheit und sagt, „dass jede Handlung, jede soziale Praxis, sich in einem Raum regelerzeugter Möglichkeiten bewegt. […] Die Lebenspraxis kann sich ihr weder entziehen, noch kann sie die Regelgeltung außer Kraft setzen“ (Wernet 2009: 13). Hier möchte die vorliegende Forschungsarbeit ansetzen. Das Ziel ist es, diese „sinnhaften Regeln und Relevanzen“ (Kruse 2015: 40) zu identifizieren und in einem Sinnzusammenhang zu überführen.

Des Weiteren wurde bei den ersten drei persönlichen Interviews der konzipierte Kurzfragebogen anschließend an das persönliche Gespräch ausgehändigt. Anschließend verließ ich den Raum, um den Personen die Möglichkeit zu geben, in Ruhe die Fragen zu beantworten. Da der Fragebogen quantitativangelehnte Items beinhaltete, die die Lebensbereiche, in denen Diskriminierungserfahrungen gemacht wurden, erfassen sollte, wurde sich bewusst dafür entschieden, erst im Anschluss des Gesprächs den Fragebogen ausfüllen zu lassen, um eine mögliche Lenkung der Interviewinhalte zu umgehen. Es konnte durch die Rückmeldung der Befragten jedoch folgende Feststellung gemacht werden: Die Befragten fühlten sich durch den Fragebogen an bestimmte Lebensbereiche erinnert, in denen sie ebenfalls Diskriminierung widerfahren haben, die aber im Interviewgespräch nicht angesprochen wurden. Aus den daraus hervorgehenden methodischen Gründen wurde der Kurzfragebogen im vierten Interview an den Anfang gestellt, sodass dieser nicht länger nur eine instrumentelle Funktion hatte, sondern auch die Erinnerung der Befragten anregen sollte (vgl. Witzel 2000). Die prozessorientierte Umstellung des Kurzfragebogens hatte positive Effekte auf die Erzählung der Befragten. Ähnliche Feststellungen konnten bei den darauffolgenden Erhebungsmethoden beobachtet werden.

Videointerview

Als die Auswirkungen der Pandemie immer mehr die Feldphase beeinflusste, musste die Anfrage der Befragten für die Teilnahme an einem Interview demensprechend modifiziert werden. Es wurde zusätzlich zum face-to-face Interview unter Beachtung der Hygieneregeln alternativ das Video- oder Telefoninterview angeboten. Nachdem vierten Interview lehnten die Befragten aufgrund der zuspitzenden Situation, aber auch der neuverändernden Möglichkeiten der Alltagsgestaltung ein persönliches Interview eher ab und bevorzugten die Option der Video- oder Telefoninterviews. Darunter ergab sich nur ein einziges Videointerview. Das Videointerview wurde mithilfe eines kostenlosen Onlineanbieters durchgeführt. Es wurde von einer Videoaufnahme des Interviews bewusst abgesehen. Der visuelle Mitschnitt hätte erstens die Teilnahmewahrscheinlichkeit eingedämmt. Zweitens hätte eine Aufnahme der Befragten die Interviewsituation und somit auch das Interviewverhalten der Beteiligten erheblich beeinflusst. Drittens hätte der Mitschnitt neue datenschutzrechtliche Fragen aufgeworfen, die im Voraus geklärt werden müssten, und dies wiederrum wäre mit einem höheren zeitlichen Aufwand verbunden. Der einzige Vorteil würde darin bestehen, dass dadurch mehr Material zur Auswertung vorliegen, wobei das Interviewverhalten der Personen spezifischer hätte analysiert werden können. Für das Erkenntnisziel stellt das Videomaterial keinen Mehrwert dar. Es wäre als ein unterstützendes Material bewertet worden. Da die Vorteile eines Mitschnitts nicht in Verhältnis zu den entstehenden Nachteilen zu setzen waren, war die reine Tonaufnahme methodisch gerechtfertigt. Obwohl auf eine Videoaufnahme verzichtet und der Befragten dieses auch zugesichert wurde, verhielt sie sich bedacht. Zudem antwortete die Person am Anfang kurz und gezielt und sah von großartigen Erzählungen ab. Die vermehrten Möglichkeiten digitaler Kommunikation sind mit Vorbehalten und Unsicherheiten verbunden. Dabei spielt der Datenschutz eine zentrale Rolle (vgl. Thimm/Nehls 2019: 973). Die Frage, ob solch ein digitales Tool einen umfassenden Schutz der Nutzer*innen bietet, sei dahingestellt. Die Kontrolle über ein digitales Tool liegt nicht ausschließlich bei den Nutzenden, sondern auch bei den Softwareentwickler*innen, die sich für die Datenverwaltung und den Datenschutz verpflichten. Erst nach einer gewissen Zeit konnte mithilfe von Gesprächstechniken und das wiederholte nachfragen eine narrativähnliche Erzählung generiert werden. Um ähnliche Situationen in Zukunft zu vermeiden, hielt ich ein längeres Vorgespräch als eine gute Methode, um die Befragten mit der Videosituation vertraut zu machen. Die Vorgespräche könnten alltägliche Inhalte umfassen, aber auch grundsätzlich Aspekte der Videosituation, indem offen angesprochen wird, dass es eine ungewohnte Situation für alle Beteiligten ist. Face-to-face Interviews kommen eher einer alltäglichen und vor allem vertrauter Situation nahe. Eine Videosituation ist da eher künstlich erzeugt. Videogespräche gehören zwar inzwischen zum Alltag der Menschen, aber nicht mit unbekannten Personen, sondern eher in Familien- und Freund*innenkreisen. Trotz der methodischen Reflexion, Optimierung und Vorbereitungen der Interviewabläufe in Videogesprächen kam es zu keinem weiteren Videointerview.

Telefoninterview

Nach dem fünften Interview sprachen sich alle weiteren Befragten für ein Telefoninterview aus. Es wurden insgesamt vier Telefoninterviews durchgeführt. Hierfür wurden Telefonnummern ausgetauscht und zum vereinbarten Termin die zu befragenden Personen angerufen. Für das Interviewgespräch wurde ein Aufnahmegerät entsprechend verwendet. Die Ein- und Ausschaltung des Geräts erfolgte per Ansage, da die Personen das Gerät nicht sehen konnten. Die Nicht-Sichtbarkeit des Geräts und der eigenen Person wurde dahingehend gedeutet, dass die Personen dazu neigten, mehr zu erzählen im Vergleich zum Videointerview. Durch die Nicht-Sichtbarkeit der Interviewparteien entsteht eine gewisse Schein-Anonymität, sodass dies ein Erklärungsansatz sein könnte, warum die Befragten zügiger in das offene Gespräch einstiegen und vom Erzählumfang einem persönlichen Interview nahekam. „Das telefonische Interview ist als fernmündliche Befragung weniger persönlich als das direkte face-to-face Interview, aber es basiert ebenfalls auf einer Beziehung“ (Scholl 2018: 39). Im Durchschnitt pendelten die Telefoninterviews auf ca. 50 Minuten ein.Footnote 12 Ein weiterer Vorteil wurde im neu angesetzten Raumverständnis gesehen: So wurde ein Dialog in einem Raum erzeugt, indem die Sprechenden nicht sichtbar und physisch anwesend waren. Dadurch konnten Personen aus ihren häuslichen Räumlichkeiten am Interviewgespräch partizipieren. Auf diese Weise ist eine Interviewteilnahme möglich, ohne dabei anderen Personen einen Einblick ins Private gewähren zu müssen. Diese Möglichkeit ist weder im face-to-face Interview noch im VideointerviewFootnote 13 möglich.

Die Vorteile des Telefoninterviews spiegelten sich durch geringe Kosten und wenig Zeitaufwand wider (vgl. hierzu auch Hüfken 2019: 761). Telefoninterviews können von überall geführt werden, solange eine Telefonverbindung sichergestellt ist. Eine An- und Abreise, sowie beim face-to-face Interview, entfielen. Zudem waren eine erhöhte Erreichbarkeit und damit verbundene Flexibilität aller Beteiligten gegeben. Die gemeinsame Terminfindung gestaltete sich daher einfacher. Außerdem empfand ich die Gesprächsführung grundsätzlich angenehmer und konzentrierter, da ich mich nicht länger auf Augenkontakt, Mimik und Gestik meiner Interviewpartnerin konzentrieren musste. Daraus ergab sich der Vorteil, dass ich mich ausschließlich auf meine Unterlagen, Notizen und nur auf das Gesagte der Befragten zu fokussieren brauchte. Obwohl Scholl einen Vorteil des Telefoninterviews darin sieht, dass die Interviewgespräche „besser kontrollierbar“ (Scholl 2018: 42) sind, konnte dem nicht zugestimmt werden. Ganz anders zu Scholl wurde das angemessene Intervenieren als schwierig empfunden. In face-to-face Interviews ist das Intervenieren einfacher, da durch den Präsenz der Beteiligten auch non-verbal miteinander kommuniziert wird. So konnte am Verhalten der Interviewpartnerinnen eingeschätzt werden, ob die gestellten Fragen verständlich waren oder die Person gerade dabei ist, ihre Erzählung zu beenden. In den Telefongesprächen ist die Herausforderung zu bewältigen, angemessene Zwischenfragen zu stellen ohne dabei den Erzählfluss der Befragten zu unterbrechen. In Telefongesprächen musste sich ausschließlich auf die Tonlage der Befragten und auf das eigene Bauchgefühl verlassen werden, um ein angemessenes Intervenieren abzuschätzen. Zusätzliche Informationen, welche Mimik oder Gestik die Befragten zu ausgewählten Themen machten, entfielen durch die Unsichtbarkeit der Beteiligten. Damit zusammenhängend bestand nur eine begrenzte Möglichkeit, an einem Vertrauensverhältnis zu der Befragten zu arbeiten (vgl. ebd.: 43). Gerade das Vertrauensverhältnis spielte in diesem Forschungsprojekt eine zentrale Rolle, da es um sensible Erfahrungen der Befragten geht. Dies wiederum heißt nicht, dass die methodische Einschränkung ohne Weiteres hingenommen, sondern insbesondere in den Vorgesprächen bzw. Kontakten an einem Vertrauensverhältnis gearbeitet wurde.Footnote 14

Da eine persönliche Begegnung nicht mehr möglich war, musste der Kurzfragebogen anders ausgehändigt werden. In allen Fällen wurde der Kurzfragebogen elektronisch und in nur einem Fall auf Wunsch postalisch zugestellt. Ein Nachteil war, dass der Zeitpunkt des Ausfüllens vom Kurzfragebogen nicht länger kontrollierbar war. Die Personen erhielten vorab die Unterlagen, wobei eine Person diese aus Zeitgründen erst nach dem Interview ausfüllen konnte.Footnote 15

Die bisherige Darlegung der Anwendung von verschiedenen Erhebungsmethodiken zeigen bereits auf, dass die Forschungspraxis prozessorientiert erfolgte. Insbesondere die Pandemiesituation führte zu verstärkten Veränderungen des Forschungsablaufes. Bevor jedoch zu der Pandemie noch einige wichtige Anmerkungen gemacht werden können, folgen nun methodische Angaben zu den verbleibenden Prozessen, der Datenaufbereitungs- und Datenauswertungsprozessen.

6.2 Methodische Vorgehensweise der Datenaufbereitung und Datenauswertung

In Abschnitt 6.1.2 wurde bereits der erste Teil des iterativen Prozesses näher dargelegt. Die Phasen der Datenaufbereitung und -auswertung erfolgten parallel bzw. versetzt zur Erhebungsphase. Erst die Simultaneität machte es möglich, die Daten auf eine besondere Art zu erschließen und parallel das entdeckte Phänomen weiter zu spezifizieren. Im Folgenden werden im ersten Teil die Schritte der Aufbereitung beschrieben. Im zweiten Teil erfolgen Angaben zum praktischen Kodier- und damit zusammenhängend dem Interpretationsprozess. An verschiedenen Stellen sollen auch die Formen der Forschungsdokumentation Erwähnung finden.

6.2.1 Transkription und das Programm MAXQDA

Die Interviews wurden auf einem Tonband aufgenommen und mussten für die analytische Weiterarbeit aufbereitet werden. Hierzu wurden Transkriptionen mithilfe des Programms namens f4transkript angefertigt: „Transkription[en] bezeichne[n] im Wesentlichen die Verschriftlichung audiovisuell aufgezeichneter Materialien“ (Knoblauch/Kahl 2018: 233). Vorab wurden Transkriptionsregeln festgelegt, die ein einheitliches Verfahren bei der Transferierung von Tonaufnahme in Textform sicherstellen sollten. Die für das vorliegende Forschungsprojekt verwendete Transkriptionslegende ist als Anhang im elektronischen Zusatzmaterial einsehbar. Durch den Prozess der Transkription werden bestimmte Aspekte aus dem audiovisuellen Material durch die Verschriftlichung hervorgehoben, andere wiederum rücken in den Hintergrund (vgl. ebd.: 233). Aus diesem Grund wurde während der Analysephase immer wieder mal auf die Original-Tonbandaufnahmen zurückgegriffen.

Beim Transkribieren wurde auf eine vereinfachte Lesbarkeit bewusst verzichtet, da durch die Eins-zu-Eins Transkription mehr Informationen, wie z. B., „Art und Weise der Versprachlichung“ (Kruse 2015: 346), erfasst werden konnte, auch wenn es den eigentlichen Lesefluss erschwert. Kruse verweist explizit darauf hin, dass fehlerhafte bzw. lückenhafte Transkriptionen, in denen viele grammatikalische Korrekturen vorgenommen werden oder nur sequenziell transkribiert wird, „die potentiell erreichbare Analysetiefe [.] von vornherein stak reduziert“ (ebd.: 341).Footnote 16 Die einzelnen Zitate aus den Interviews, die im späteren Verlauf in Kapitel 7 noch aufgeführt werden, wurden für eine einfache Lesbarkeit sprachlich geglättet. Hier nehmen die Zitate nicht länger eine analytische, sondern eine illustrierende Funktion ein. Der inhaltliche Sinngehalt bleibt unberührt.

Von Beginn an wurden zum Schutz der Befragten die Interviewgespräche beim Transkribieren anonymisiert, sodass bereits bei der Analyse ohne die Aufnahmen keine Rückbezüge auf die Personen geschlossen werden konnten. Die einzelnen Interviews erhielten eigene Bezeichnungen, dessen Einordnung nur durch mich möglich waren. Vorbereitend auf eine Veröffentlichung der Ergebnisse wurden den einzelnen Interviews fiktive Namen zugewiesen (siehe hierzu auch Reichert 2018: 86 f.).

Nach der Anfertigung der Transkriptionen wurden die Transkripte in das Programm MAXQDA eingepflegt. MAXQDA ist ein computergestütztes Analyseprogramm. So konnten sowohl die einzelnen Transkripte, als auch sämtliche Zwischenergebnisse, analytische Gedanken und Interpretationsverläufe in Form von Memos gebündelt verwaltet werden. Parallel dazu wurde sowohl elektronisch im Programm als auch händisch ein Forschungstagebuch geführt, in dem alle Forschungsschritte dokumentiert wurden. Ein Nachteil stellte das Programm in ausgewählten Bereichen dar, in denen eine zu starke Vorstrukturierung gab. Zu unterschiedlichen Zeitpunkten der Analyse war es daher erforderlich, Abstand zum Programm zu gewinnen und sich durch die Vorstrukturierung nicht beeinflussen zu lassen. Hierzu wurden Transkripte ausgedruckt und händisch weiter analysiert. Die Ergebnisse wurden dann nachträglich in das Programm eingepflegt. Derartige Zwischenprozesse waren zielführend, um neue Perspektiven im Datenmaterial zu erlangen, auch wenn der Vorgang umständlicher und zeitintensiver gestaltete.

6.2.2 Kodier- und Interpretationsprozesse

Wie schon bereits unter Abschnitt 5.1 ausführlicher beschrieben wurde, lässt sich die methodologische Vorgehensweise der Grounded Theory in den Kodierverfahren offen, axial und selektiv einteilen. Um einen ersten Einstieg in den vorhandenen Daten zu erhalten, wurde beim offenen Kodieren zunächst das Transkript in einzelnen Abschnitten unterteilt. Die einzelnen Abschnitte wurden dann im ersten Durchgang paraphrasiert. Paraphrasierungen führen die Problematik mit sich, dass währenddessen interpretatorische Leistungen ausgelöst werden.Footnote 17 Das Paraphrasieren wurde hier primär dazu verwendet, um eine kurze thematische Beschreibung vorzunehmen, ohne dabei auf die Versprachlichung der Interviewpartnerinnen zu verzichten. Dieser Vorgang ermöglichte, die Daten thematisch zu ordnen und inhaltlich konkreter zu erschließen. Als Zweites wurden die Textabschnitte in kleinere Einheiten zerlegt und je nach Bedarf line-by-line oder an manchen Stellen sogar word-by-word interpretiert. Dadurch konnten erste Konzepte entdeckt und ausgewiesen werden. Das gesamte Vorgehen wurde in einzelnen Memos festgehalten. Die Memos wurden je nach Kodierverfahren farblich gekennzeichnet, um auch beim Erstellen und Sortieren der Memos eine Systematik in der Analysedatei zu implementieren.

Qualitative Sozialforschung lebt von der gemeinsamen Interpretation von Forschenden. Von Beginn an sollte eine theoretisch sensible Haltung gegenüber den Daten eingenommen werden, weswegen frühzeitig ausgewählte Transkriptausschnitte in verschiedenen Kolloquien und Forschungsgruppen mit weiteren Beteiligten interpretiert wurden. Interdisziplinäre Konstellationen halfen dabei, den eigenen subjektiven Blick immer wieder zu hinterfragen und neue Perspektiven aufzuzeigen. Durch die routinierten Interpretationstreffen war ich dazu angehalten, immer wieder mein Vorwissen reflektiert zu betrachten. Strübing spricht sich für eine „gemeinsame analytische Arbeit“ (Strübing 2014: 38) aus und betont, dass insbesondere in offenen und axialen Kodierphasen Forschende im Austausch voneinander profitieren können (vgl. ebd.). Die Interpretationstreffen erfolgten zu Beginn in persönlichen Begegnungen, später dann pandemiebedingt in Video-Online-Formaten.

Am Anfang des Forschungsprojektes entstanden vielmehr innere Konflikte und Unsicherheiten, ob die Vorgehensweise der Kodierungen gerechtfertigt war oder nicht. Die Unsicherheit lag auch darin begründet, dass zuvor noch nie mit der Grounded Theory gearbeitet wurde. Aus diesem Grund gestalteten sich die Kodierprozesse zu Beginn mühsam und zeitintensiv. Erst nach dem Besuch von Weiterbildungsangeboten, die sich auf die Grounded Theory spezifizierten, konnte eine sichere Forschungshaltung entwickelt werden. Zudem ist es wichtig an dieser Stelle zu erwähnen, dass es kein richtig oder falsch gibt, sondern nur bessere oder weniger bessere Vorgehensweisen.

Während der gesamten Analyse wurde immer wieder versucht, die Ergebnisse visuell darzustellen, um vor allem die Beziehungen zwischen Kategorien besser herausarbeiten zu können. Dementsprechend befinden sich im Ergebnisteil dieser Arbeit ebenfalls verschiedene Abbildungen. Sowohl Memos als auch Diagramme, die den gesamten Verlauf der Analyse begleiten, sehen in den verschiedenen Kodierprozessen unterschiedlich aus. Sie entwickeln sich mit der Analyse immer weiter (vgl. Strauss/Corbin 1996: 175). Durch das Voranschreiten der Analyse gewann auch das Theoriemodell der Schützenden Bewältigung immer mehr an Präzision.Footnote 18

6.3 Pandemiebedingte Auswirkung auf die Forschungspraxis: Eine Anmerkung

Wie bereits mehrfach erwähnt wurde, hatte die weltweite Covid-19 Situation Auswirkungen in allen Lebensbereichen. Nicht ausgenommen ist die Sozialforschung, die neuen Herausforderungen ausgesetzt ist. Es war nur bis zu einem gewissen Zeitpunkt möglich, die geplante Erhebungsmethode des face-to-face Interviews anzuwenden. Als jedoch sich die Pandemiesituation immer mehr zuspitzte, war auch bei den Befragten eine Veränderung zu vermerken, sodass zum Schutz aller Beteiligten eine unveränderte Erhebungsphase nicht weiter möglich war. Die Pandemiesituation prägte die Erhebungsphase erheblich. Diese Aspekte mussten entsprechend in der Analyse immer wieder neu aufgegriffen und reflektiert betrachtet werden. Es schien mir unumgänglich zu sein, ein paar wichtige Anmerkungen zu der pandemiebeeinflussten Forschungspraxis vorzunehmen.Footnote 19

Es ist beinahe eine seltene Ironie, dass sich das Forschungsprojekt mit dem Begriff des Alltags befassen möchte, in dem Diskriminierungserfahrungen gemacht werden und dann die Pandemie den Alltagsverständnis grundlegend beeinflusste. So musste die ausgearbeitete Erhebungsmethodik der Pandemiesituation angepasst werden. Es musste auf Methoden zurückgegriffen werden, die den direkten Kontakt zwischen Menschen vermieden. Unterstützend hierfür waren ausschließlich elektronische Geräte wie Handys, Computer, Laptop, etc. Sie alle fungierten von nun als ein „Zwischenmedium“ zwischen den Befragten und mir als Forscherin. Dieser Aspekt veränderte auch die Möglichkeiten der Interaktionen. Ohne sich wiederholen zu wollen, soll darauf aufmerksam gemacht werden, dass vor der Pandemie die Möglichkeit bestand, die Befragten vor Ort in ihrem Alltag aufzusuchen und dadurch in eine direkte Interaktion zu treten, indem die non-verbale Interaktion noch eine Selbstverständlichkeit darstellte. Der Punkt ist, dass die alternativen Methoden (Video- und Telefoninterview) für das Forschungsprojekt weiterhin auch als Ersatzmethoden zu betrachten sind. Sie erfassen nicht dieselben Informationen, die ansonsten in einem direkten Kontakt entstanden wären. Dadurch wird der Informationsgehalt und somit die Dichte bzw. Sättigung der Daten erheblich beeinflusst. Die Frage, mit der immer wieder befasst werden musste, war, passen die Ersatzmethoden weiterhin zum untersuchenden Gegenstand. Trotz Pandemie galt weiterhin das Prinzip, dass die Methoden zum Gegenstand passen mussten und nicht umgekehrt. Schlussendlich sind die Daten, die mithilfe der Ersatzmethoden erhoben wurden, kritisch-reflektiert zu betrachten.

Des Weiteren ist darauf aufmerksam zu machen, dass nicht nur die Erhebungsphase durch die Pandemie beeinflusst wurde, sondern auch die Auswertungsphase. Während vor der Pandemie Forschende sich im Rahmen von Forschungswerkstätten vor Ort trafen und in aktive Interaktionen traten, mussten derartige Interpretationstreffen von nun an digital durchgeführt werden. Es ist vielmehr strukturiert und die Entwicklung einer eigenen Dynamik des Austauschs ist nur begrenzt möglich. Dies ist dem geschuldet, dass die Kommunikation in digitalen Räumen anders koordiniert ist im Vergleich zu interaktiven Austauschtreffen wie bei face-to-face Situationen. Direkte Bezugnahmen zum Gesagten verlaufen holprig und verzögert. Hinzu kommt, dass wichtige Informationen wie bspw. die Reaktionen der Personen zu einer bestimmten Aussage nicht mehr im vollen Umfang beobachtet werden können. Der direkte Vergleich zwischen den Austauschformen ist durch die Pandemiesituation gegeben, wobei ich mich für einen persönlichen Austausch außerhalb digitaler Räume ausspreche. Nichtsdestotrotz waren aufgrund der Pandemie digitale Interpretationstreffen unumgänglich und sollten insbesondere für qualitative Forschungsprojekte nicht gänzlich ausbleiben.

Die hier angesprochenen Aspekte schienen vor der Pandemie keine besondere Erwähnung im Rahmen von Forschungsprojekten zu finden, da sie als gegeben und selbstverständlich erachtet wurden. Die Covid-19 Maßnahmen schränken diese wertvollen Gesichtspunkte für die Sozialforschung ein, weshalb sie nun an eine besondere Bedeutung gewinnen. Einen positiven Effekt hatte die Pandemie dennoch: Erhebungsphasen gestalteten sich kürzer und es entstanden insgesamt betrachtet mehr Zeit für die Analyse und das Voranschreiten des Projekts. Die hier angeführte methodische Diskussion brachte dennoch erkenntnisreiche Ergebnisse mit sich, die nun im nachstehenden Kapitel vorgestellt werden.