Bislang wurde aus einer theoretischen Ebene die Relevanz der Thematik herausgearbeitet. Da es sich hier um ein wenig bekanntes Phänomen handelt, wie Menschen mit Diskriminierung und den damit einhergehenden Erfahrungen umgehen, erschien es mir am naheliegendsten, eine qualitative Untersuchung anzustreben. Dabei sei erwähnt, dass qualitative Daten nicht alleine den Anspruch auf theoriegenerierende Daten erheben kann, sowie quantitative Daten nicht ausschließlich eine theorieprüfende Funktion innehaben (vgl. Breuer et al. 2019: 3), im Gegenteil. Beide Formen der Sozialforschung können vielfältig genutzt werden. So können quantitative Daten auch Informationen zu einer Theorieentwicklung beitragen und umgekehrt. Zudem kommt hinzu, dass sowohl qualitative als auch quantitative Methodologien jeweils Stärken und Schwächen aufweisen. Ein mixed-methods VerfahrenFootnote 1 kann hierbei bereichernd sein.

Da das Forschungsprojekt nicht nur erste Erkenntnisse über das Phänomen der Diskriminierungserfahrungen erhalten, sondern auch den Umgang mit ihr erklären möchte, indem eine Theorie entwickelt wird, ist es schlüssig, sich an dieser Stelle für eine qualitativ (re)konstruktive Methodologie zu entscheiden. Bei einer rekonstruktiven Forschung steht nicht das was im Vordergrund, sondern vielmehr das wie und wozu (vgl. Kruse 2015: 26).Footnote 2 Die Grounded TheoryFootnote 3 bietet einen angemessenen Rahmen hierfür. Um vorne herein Missverständnisse zu vermeiden, sind zwei wichtige Aspekte vorweg zu nehmen: Erstens gibt es nicht die eine Grounded Theory, dass im weiteren Verlauf noch einmal näher ausgeführt wird. Zweitens ist Grounded Theory eine Methodologie, die sich auf epistemologische Grundkenntnisse stützt. Sie verfügt über eigene heuristische Verfahren, mit dem Ziel, eine gegenstandsverankerte Theorie zu generieren (vgl. Strauss/Corbin 1996: 8). Da sie offen lässt, wie Daten generiert werden können, ist das Hinzuziehen weiterer Methoden für das hier vorliegende Forschungsprojekt unabdingbar.

Im Folgenden wird die Grounded Theory Methodologie nach dem Traditionszweig Strauss/Corbin vorgestellt. Dabei werden die wichtigsten Merkmale dieser näher erläutert. Anschließend wird das problemzentrierte Interview als Methode beschrieben, die zur Datenerhebung in der vorliegenden Forschung angewandt wurde. Die praktische Anwendung und eine reflektierte Betrachtung wird vorenthalten und ist erst im darauffolgenden Kapitel gesondert vorzufinden. Das Ziel dieses Kapitels ist es, einen theoretischen Überblick über die Vorgehensweisen zu erhalten, um im darauffolgenden Kapitel den forschungspraktischen Hintergrund angemessen einordnen bzw. nachvollziehen zu können.

5.1 Grounded Theory

„Für mich liegt die Bedeutung der Grounded-Theory-

Methodologie nicht darin, wessen Ansatz man wählt,

sondern in der Qualität der Forschungsergebnisse,

die durch den jeweiligen Ansatz hervorgebracht.

werden“ (Corbin 2011: 179).

Bei der Grounded Theory handelt es sich um einen Forschungsstil, der von Barney Glaser und Anselm Strauss in den 1960er Jahren entwickelt wurde. Sowohl Glaser als auch Strauss veröffentlichten nach ihrer gemeinsamen Publikation The Discovery of Grounded Theory. Strategies for Qualitative Research.Footnote 4 gesonderte Werke, in der jeweils ihr eigenes Verständnis der Grounded Theory mit entsprechender Vorgehensweise zu Grunde liegt (vgl. Strübing 2019: 525 f.). Mittlerweile gibt es zahlreiche Varianten und Ausführungen der Grounded Theory von verschiedenen Wissenschaftler*innen, weswegen von Methodologien in der Mehrzahl gesprochen werden kann. Als ein Beispiel können die Theoretiker*innen Kathy Charmaz (konstruktivistische Grounded Theory) und Franz Breuer (Reflexive Grounded Theory) erwähnt werden (vgl. Charmaz 2011; Breuer et al. 2019), die inzwischen eine prominente Rolle in der Forschungspraxis der Grounded TheoryFootnote 5 einnehmen oder auch Adele E. Clarke, die nicht länger von der Grounded Theory, sondern vielmehr von einer Situationsanalyse spricht (vgl. Breuer et al. 2019: 25).Footnote 6 Insgesamt kann zu der Entwicklungslinie der Grounded Theory zusammenfassend Folgendes gesagt werden, dass vor allem den Vorteil unterschiedlicher Varianten zu unterstreichen versucht:

„Die Entwicklung der GTM war mit Konfliktlinien und Brüchen verbunden, die letztlich in die Formierung unterschiedlicher Schulen mündete. […] Diese können nicht nur als polemische Kritik und persönliche Auseinandersetzung um den vermeintlich wahren Charakter der GTM – insbesondere von Seiten Glasers – eingeordnet werden. Vielmehr lassen sich diese Differenzen als eine Art Kompass nutzen, um anhand der unterschiedlichen epistemologischen Auffassungen eine Orientierung gegenüber der nebeneinander bestehenden Varianten mit ihren jeweiligen methodischen Spezifika zu gewinnen“ (Equit/​Hohage 2016: 14).

Die hier vorliegende Forschungsarbeit grenzt sich von der Grounded Theory Schule nach Glaser ab, der in seinen theoretischen Überlegungen einen „naiven Induktivismus“Footnote 7 (Strübing 2019: 526; Strübing 2014: 70 f.) vertritt. Das Forschungsprojekt widmet sich vielmehr der Grounded Theory Tradition(en) nach Strauss/Corbin, die meines Erachtens einen angemesseneren Umgang mit dem Vorwissen der Forschenden pflegt, worauf im Weiteren noch einmal Bezug genommen wird. Ergänzend hierzu kann auf die konstruktivistischen Vorüberlegungen von Charmaz zurückgegriffen, die das Verhalten zwischen Forschenden und Forschungsteilnehmenden reflexiv betrachtet (vgl. Charmaz 2011: 184).Footnote 8 Juliet Corbin arbeitete eng zusammen mit Strauss, die gemeinsam die Grounded Theory weiterentwickelten. Einer ihrer bekanntesten Werke hierzu ist Grounded Theory: Grundlagen Qualitativer Sozialforschung aus dem Jahre 1996, die eine Explikation in der methodologischen Vorgehensweise bietet: „Eine ‚GroundedTheory ist eine gegenstandsverankerte Theorie, die induktiv aus der Untersuchung des Phänomens abgeleitet wird, welches sie abbildet“ (Strauss/Corbin 1996: 7; Hervorhebung im Original). Lamnek spricht daher auch von einer „datenbasierten Theorie“ (Lamnek 2016: 104). Am Ende einer Arbeit unter der Anwendung der GT soll eine gegenstandsverankerte Theorie stehen, die das festgelegte und untersuchte Phänomen umfassend beschreibt. Die entwickelte Theorie muss dabei vier zentrale Kriterien umfassen: „Übereinstimmung, Verständlichkeit, Allgemeingültigkeit und Kontrolle“ (Strauss/Corbin 1996: 8; Hervorhebung im Original).

Strauss selbst war Schüler von Herbert Blumer, der die Theorie des symbolischen Interaktionismus von George Herbert Mead weiterentwickelte. Dadurch ist Strauss von der interaktionistischen Theorietradition geprägt (vgl. Strübing 2018a: 31; Strauss/Corbin 1996: 9). Der wesentliche Kern der Theorie besteht darin, „dass die Realität keine beobachterunabhängige, universelle Gegebenheit ist, sondern in interaktiver Auseinandersetzung mit der physischen und sozialen Widerständigkeit ‚der Welt da draußen‘ aktiv hervorgebracht wird“ (Strübing 2018b: 97). Diese Ansicht stellt einen hervorragenden Anknüpfungspunkt für den Forschungsgegenstand dieser Arbeit dar, der sich mit Handlung und Interaktionen auseinandersetzen möchte. An dieser Stelle wird erneut deutlich, dass die Auswahl der methodologischen Ausrichtung sich als angemessen erwies.

Im Gegensatz zu herkömmlicher Forschungspraxis stellt die Vorgehensweise der Grounded Theory eine Besonderheit dar: Sie beinhaltet keinen im Voraus konzeptualisierten Forschungsplan, der das Sampling und die Anzahl der zu Befragenden festlegt. Hier kommt ein wechselseitiger Dreischritt, der auch als ein Einstellungsmerkmal der Methodologie gilt, ins Spiel: Forschende variieren die Vorgänge der Datensammlung, Analyse und Theoriebildung im Wechsel. Um es anschaulicher zu beschreiben, kann gesagt werden, dass zunächst ein Teil der Daten erhoben, aufbereitet und analysiert wird. Danach werden mithilfe von analytischen Fragen, die aus der bisherigen Auswertung hervorgegangen sind, überlegt, welche Daten im weiteren Verlauf noch erhoben werden sollen und wer hierzu die entsprechenden Informationen liefern kann. Diese forschungsprozessorientierte Auswahl der Befragten und der iterative Wechsel zwischen den Vorgehensweisen wird in der GT als Theoretical Sampling bezeichnet (vgl. Schnell 2019: 6; Strübing 2014: 29; Strauss/Corbin 1996: 8, 148 ff.). Das „Sampling in der Grounded Theory wird durch die Logik und Zielsetzung der drei Grundtypen von Kodierverfahren angeleitet“ (Strauss/Corbin 1996: 152; Hervorhebung im Original), die im nachstehenden Unterkapiteln entsprechend erläutert werden. Der iterativ-zirkuläre Prozess ist für eine rekonstruktive Forschung maßgebend. So werden Erkenntnisse nach und nach generiert (vgl. Kruse 2015). Um sich den beschriebenen Dreischritt bildlich vorstellen zu können, ist in der Abbildung 5.1 das Prinzip des Theoretical Sampling in einer vereinfacht-reduzierten Form visuell dargestellt.

Abbildung 5.1
figure 1

Prinzip des Theoretical Samplings

Die immer wieder neu erhobenen Daten werden dann mit dem bereits aufbereiteten Material verglichen. Der wechselseitige Prozess wird solange durchgeführt, bis eine gewisse theoretische Sättigung erreicht ist. Bei der theoretischen Sättigung handelt es sich um ein weiteres Kriterium der GT, das erfüllt ist, wenn durch das Hinzuziehen von homogenen Fällen keine erheblich neuen Erkenntnisse mehr erzielt werden. Die gleichartige Verfahrensweise wird damit eingestellt (vgl. Strübing 2019: 533).

Zuvor kam ich bereits auf den naiven Induktivismus zu sprechen, der in der Theorietradition von Glaser wiederzufinden ist. Dieser Punkt ist ein wesentlicher Streitpunkt und somit auch ein grundsätzlicher Unterscheidungsaspekt zwischen den Ansätzen von Glaser und Strauss. Das Vorwissen einer forschenden Person und das bereits etablierte theoretische Vorwissen aus der Wissenschaft spielen eine bedeutende Rolle in der Methodologie der GT. Das Wissen ist nicht wegzudenken und soll vielmehr mitgedacht werden. Während in der gemeinsamen Monographie Glaser und Strauss für einen besonderen Umgang mit theoretischem Vorwissen appellieren, schreibt Strauss erst Jahre später dem Vorwissen der Forschenden eine höhere Wichtigkeit zu. Dabei bezieht er sich nicht ausschließlich auf wissenschaftlich fundiertes Wissen, sondern zieht Alltagswissen ebenfalls mit ein. Mit dem Konzept der theoretischen Sensibilität integrieren Strauss/​Corbin das Vorwissen in ihrer Methodologie und verstehen darunter „die Fähigkeit, Einsichten zu haben, den Daten Bedeutung zu verleihen, die Fähigkeit zu verstehen und das Wichtige vom Unwichtigen zu trennen“ (Strauss/Corbin 1996: 25). Dabei soll ein Gleichgewicht zwischen Kreativität und Wissenschaft hergestellt werden, indem während der Analyse immer wieder Abstand zu den Daten genommen wird, skeptisch hinterfragt und die vorgeschlagenen Forschungsverfahren angewandt werden (vgl. ebd.: 28 f.).

Sowie andere Methodologien auch verfügt die GT Gütekriterien, um die Wissenschaftlichkeit sicherzustellen. So sind Kriterien der quantitativen Forschung nicht ohne Weiteres auf die qualitative Forschung zu übertragen. Allein der Gegenstand der verschiedenen Wissenschaftsgebieten lässt diesen Vorgang nicht zu. Strauss und Corbin empfehlen, Kriterien umzudefinieren und machen das am Beispiel der Reproduzierbarkeit deutlich: Eine physikalische experimentelle Untersuchung bedarf einer nahvollziehbaren Durchführung, sodass bei einer Zweiterhebung unter exakt gleichen Bedingungen die gleichen Ergebnisse erzielt werden müssen. In der Geisteswissenschaft herrschen jedoch andere Gegebenheiten, sodass soziale Phänomene bei einer Nacherhebung sich schwierig reproduzieren lassen. So können dennoch theoretische Ausgangspunkte und allgemeine Regeln der Datenerhebung und -analyse als ein Richtwert der Reproduzierbarkeit angesehen werden. Auf diese Weise kann sichergestellt werden, dass bei einer erneuten Erhebung ähnliche Konstellationen von Bedingungen erfasst werden, die zu der gleichen theoretischen Annahme der zu untersuchten Phänomen führen. Bei Diskrepanzen und Unstimmigkeiten wird darauf verwiesen, die Daten der Ersterhebung erneut zu untersuchen, um Unterschiede und Abweichungen begründen zu können (vgl. Strauss/Corbin 1996: 215).

Ein weiteres wissenschaftliches Kriterium ist die Generalisierbarkeit. Auch dieses Kriterium bedarf einer Umdefinierung in Bezug auf die hier beschriebene (qualitative) Methodologie. Generalisierbarkeit als Kriterium bezieht sich auf die Zielsetzung der GT wie Strauss und Corbin im Folgenden formulieren:

„Die Zielsetzung der Grounded Theory ist das Spezifizieren von Bedingungen und Konsequenzen, die bestimmte Handlungen/Interaktionen in Beziehungen zu einem Phänomen hervorrufen. […] Je systematischer und umfassender das theoretische Sampling ist, je mehr Bedingungen und Variationen entdeckt und in die Theorie eingebaut werden, desto größer wird ihre Generalisierbarkeit (ebenso die Präzision und Vorhersagekraft)“ (Strauss/Corbin 1996: 215; Hervorhebung im Original).

An diesen beiden Punkten sollte beispielhaft dargelegt werden, weshalb qualitative Forschung und vor allem die GT einer Umdeutung der Gütekriterien der Wissenschaftlichkeit bedarf. Die Gütekriterien nach Strauss und CorbinFootnote 9 wurden ebenfalls bei der Durchführung der Erhebung hier berücksichtigt.Footnote 10 Darüber hinaus weist Clarke auf einen wesentlichen Aspekt hin und führt folgende Aussage an: „Eines der wichtigsten Kriterien einer guten Grounded Theory ist ihre Modifizierbarkeit – ihre Zugänglichkeit für neue Daten“ (Clarke 2011: 212). Damit distanziert sich die GT von standardisierten Verfahren von Datenerhebung. So werden die Methoden immer wieder nach dem zu untersuchenden Gegenstand ausgerichtet und angepasst.

Strauss und Corbin schlagen für die Arbeit mit der Grounded Theory das offene, axiale und selektive KodierverfahrenFootnote 11 vor. Auch wenn sie im Folgenden einzeln beschrieben werden, stellen sie keineswegs statisch voneinander abgrenzbare Kodierverfahren dar, die schrittweise abgearbeitet werden. Sie greifen ineinander ein, sodass die Grenzen zwischen den einzelnen Verfahren verschwimmen. So kann auch in einem fortgeschrittenen Stadium der Forschung das offene Kodieren erneut von Bedeutung sein.

5.1.1 Offenes Kodieren

Zu Beginn der Analyse liegen aufbereitete Daten vor, die über die offensichtliche Sinnhaftigkeit hinaus erschlossen werden müssen. Das offene Kodieren ist dazu da, die Daten aufzubrechen (siehe hierzu auch Strübing 2014: 16; Breuer et al. 2019: 270) und neue Phänomene zu entdecken. Hierfür empfehlen Strauss/Corbin zwei Verfahren: Zum einen sollen Fragen an das Material gerichtet werden, um auf diese Weise sogenannte Konzepte auszuweisen. Böhm et al. führen hierzu W-Fragen an, die als ein Orientierungsrahmen genutzt werden können:

  • Was? Worum geht es hier? Welches Phänomen wird angesprochen?

  • Wer? Welche Personen, Akteure sind beteiligt? Welche Rollen spielen sie dabei?

    Wie interagieren sie?

  • Wie? Welche Aspekte des Phänomens werden angesprochen (oder nicht angesprochen)?

  • Wann? Wie lange? Wo? Zeit, Verlauf Ort

  • Wie viel? Wie stark? Intensitätsaspekte

  • Warum? Welche Begründungen werden gegeben oder lassen sich erschließen?

  • Wozu? In welcher Absicht, zu welchem Zweck?

  • Womit? Mittel, Taktiken und Strategien zum Erreichen des Ziels“ (Böhm et al. 1992: 36; Hervorhebung im Original).

Auf diese Weise werden Phänomene in den Daten identifiziert und abgeleitet. Nicht alle Fragen sind in gleichermaßen relevant. Daher muss die Nützlichkeit immer wieder erprobt werden. Die entdeckten Phänomene werden dann mit vorläufigen konzeptuellen Bezeichnungen versehen. Zum anderen werden in einem späteren Schritt die Konzepte durch das ständige Vergleichen miteinander geordnet und sortiert. Diese Vorgehensweise dient der Kategorienbildung. Erfahrungsgemäß werden Konzepte und Kategorien in der Literatur nicht einheitlich verwendet, weswegen eine eindeutige Differenzierung dieser von Nöten ist. Für die vorliegende Arbeit wird unter einer Kategorie die „Klassifikation von Konzepten“ (Strauss/Corbin 1996: 43) verstanden.

Um die theoretische Sensibilität zu erhöhen und das offene Kodieren zu systematisieren, wurden „eine Reihe von Heuristiken“ (Strübing 2014: 17) entworfen. Diese dienen sowohl der Fein- als auch der Grobanalyse. Es wird davon abgesehen, alle Techniken näher auszuführen. In Kapitel 6 wird lediglich nur auf relevante Verfahren, die auch in diesem Forschungsprojekt tatsächlich Anwendung fanden, eingegangen.

Zuletzt ist das Dimensionalisieren im Rahmen des offenen Kodierens, das jedoch auch über dem offenen Kodierprozess hinaus noch an Bedeutung gewinnt, kurz zu benennen (siehe hierzu auch ebd.: 19–24). Es wird gezielt nach „Attributen und Merkmalsausprägungen des (hypothetischen)Footnote 12 Konzepts gesucht, die für eine Theoriebildung interessant sein können, und diese werden in eine systematische Form gebracht“ (Breuer et al. 2019: 270; Hervorhebung im Original).Footnote 13

Zuletzt soll das Dokumentieren von Ergebnissen eine besondere Erwähnung finden. Während des gesamten Analyseprozesses werden alle Zwischenergebnisse in Form von Memos festgehalten. Das gilt auch für die Konzepte, Kategorien und die damit verbundenen Ideen und Eigenschaften. Das Anlegen von Memos ist ein wesentliches Kriterium der Grounded Theory. Memos können mit Protokollen vergleichen werden, die das analytische Verfahren dokumentieren (vgl. Strauss/Corbin 1996: 169 ff.). Sie dienen der Erinnerung und Nachvollziehbarkeit der Verfahrensschritte. Es wird zwischen verschiedenen Arten von Memos unterschieden, die alle Teilergebnisse für die Erarbeitung der gegenstandsverankerten Theorie schriftlich festhalten.

5.1.2 Axiales Kodieren

Beim axialen Kodieren wird das aufgebrochene Datenmaterial aus der offenen Kodierphase „auf neue Art wieder zusammen[gesetzt]“ (Strauss/Corbin 1996: 76; Anm. d. Verf.). Hierzu wird eine Kategorie auf ihre Bedingungen hin geprüft bzw. spezifiziert. Strauss/Corbin formulieren eine Reihe von Beziehungen, die die folgenden sechs Aspekte beinhalten: (1) Ursächliche Bedingungen, (2) Phänomen, (3) Kontext, (4) Intervenierende Bedingungen, (5) Handlungs- und interaktionale Strategien und (6) Konsequenzen.Footnote 14 Mithilfe dieser sechs Aspekte formieren Strauss/​Corbin das bekannte Kodierparadigma. Nicht alle Aspekte sind zwangsläufig für jede Kategorie relevant. Das Kodierparadigma ist daher nicht als ein statisches Modell zu verstehen. Breuer et al. bezeichnen das Kodierparadigma als einen Orientierungsrahmen (vgl. Breuer et al. 2019: 289). Es soll als ein Tool verstanden werden, das die Analyse und den Erkenntnisprozess handlungsorientiert voranbringen soll. Gleichzeitig wird der Theoriebildung auf diese Weise mehr Präzision und Dichte verliehen. In der Abbildung 5.2 ist das Kodierparadigma wiederzufinden, das gleichzeitig die einzelnen genannten Aspekte definiert.

Abbildung 5.2
figure 2

(Quelle: Strübing 2014: 25)

Kodierparadigma nach Strauss.

Unter Anwendung dieses Modells sollen die Beziehungen von Subkategorien zu einer Kategorie herausgearbeitet werden (vgl. ebd.: 78). Das Verfahren des axialen Kodierens ähnelt einem gedankenexperimentellen Vorgang, der die Subkategorien in Beziehung zu setzen versucht, das zunächst hypothetisch bleibt. Erst in einem zweiten Schritt wird dann versucht, die Hypothesen anhand der Daten zu überprüfen. Außerdem gilt es, Eigenschaften aufzufinden und den Prozess der Dimensionalisierung, der beim offenen Kodieren begonnen hatte, weiter auszuführen. Hier werden verschiedene Variationen von Phänomenen getestet (vgl. Breuer et al. 2019: 280).

Strauss/​Corbin schlagen eine weitere Möglichkeit für das axiale Kodierverfahren vor: Das Erstellen einer Bedingungsmatrix. Dieses Model ist ringförmig aufgebaut und erinnert an den inneren Aufbau eines Baumstammes. Die einzelnen Kreise stellen jeweils eine Ebene da. In der Mitte des Modells steht eine Handlung, die sich auf ein Phänomen bezieht. Von dort aus werden die Ebenen immer abstrakter, die dennoch auf die Handlung und das Phänomen einwirken können (vgl. Strauss/​Corbin 1996: 135 f.). Das Ziel dabei ist es, die unterschiedlichen Kontexte mitzubedenken, die auf das zu untersuchende Phänomen wirken (vgl. Clarke 2011: 210). Clarke ist der Auffassung, weitere Aspekte miteinzubeziehen, weswegen sie den Bedingungsmatrix für „unzureichend“ (ebd.) hält. Sie schlägt die Situationsanalyse als eine analytische Erweiterung der Bedingungsmatrix vor. Bei der Situationsanalyse handelt es sich um sogenannte Maps. Diese schließen im Gegensatz zum Bedingungsmatrix Materialitäten bzw. Nicht-Menschliche und Diskurse mit ein (vgl. ebd.; Clarke 2012).

5.1.3 Selektives Kodieren

Bei der selektiven Kodierung geht es um die theoretische Schließung. Dafür sollen die bisher erarbeiteten theoretischen Konzepte in Beziehung zu einer Kernkategorie gesetzt und ihre Beziehungen zueinander ausgearbeitet werden (vgl. Strübing 2014: 16 f.). Eine Kernkategorie ist eine Art Schlüsselkategorie, um die herum die weiteren Kategorien verankert werden. Strauss/Corbin bezeichnen den Prozess als einen komplizierten, jedoch zu bewältigenden und wichtigen Prozess, um die Theoriebildung abschließen zu können (vgl. Strauss/Corbin 1996: 95). Während Strauss/Corbin explizit für die Auswahl einer Kernkategorie plädieren, sprechen Breuer et al. im Rahmen der Reflexiven Grounded Theory für eine Öffnung dieser Klausel aus unter Berücksichtigung ausgewählter Umstände (vgl. Breuer et al. 2019: 286). Für die hier vorliegende Forschungsarbeit wurde für eine einzige Schlüsselkategorie entschieden, da der Haltung von Strauss/Corbin, dass eine Fixierung auf eine Kategorie vorgenommen werden muss, „um eine straffe Integration und dichte Entwicklung der Kategorien zu erzielen“ (Strauss/Corbin 1996: 99), zugestimmt wird. Beim selektiven Kodieren konzentriert sich die Analysearbeit – sowie die Bezeichnung es schon verrät – auf einen selektiv ausgewählten Bereich. Es ist nicht länger alles interessant, sowie beim offenen Kodieren, sondern nur noch das, was nun für die Theorie letztendlich relevant erscheint (vgl. Bischof/Wohlrab-Sahr 2018: 92 f.). Nachdem die Schlüsselkategorie mit den Beziehungen zu den übrigen Kategorien ausgearbeitet wurde, besteht die Herausforderung nun darin, die erarbeitete Theorieannahme in ein Übersicht-Diagramm darzustellen. Passend hierzu wird eine Story Line erarbeitet, die als einen roten Faden zur Beschreibung der Theorie dienen soll (vgl. Breuer et al. 2019: 285 f.). Dies sind alles Schritte, die erst eingeleitet werden, sobald die theoretische Sättigung erreicht wurde. Wenn die Theorieannahmen in den Daten überprüft, bestätigt und nichts erheblich Neues aufkommt, kann von einer theoretischen Sättigung ausgegangen werden. Dies ist ein Gütekriterium für eine gute Grounded Theory. Ohne die theoretische Sättigung ist keine konzeptuelle Angemessenheit gegeben (vgl. Strauss/Corbin 1996: 159).

Insgesamt bieten die offene, axiale und selektive Kodierungsverfahren eine gute Orientierung, um eine gegenstandsverankerte Theorie generieren zu können. Die Grounded Theory verfügt über einen hilfreichen Werkzeugkasten mit vielen Techniken. Es sollte insgesamt ein Überblick über das grundsätzliche methodologische Verfahren gegeben werden. Die einzige Frage, die sich hier ergibt ist, was als Daten gelten und wie sie erhoben werden können. Einer der wichtigsten Programmatiken der GT Erfinder ist das Prinzip des „All is Data“ (vgl. Glaser/Strauss 1967). Dies meint, dass alles als Daten gewertet werden kann, solange es als Informationsquelle für das zu untersuchende Phänomen dient. Es kann sich hierbei um Dokumente, Literaturen, Gespräche oder gar Bild- und Videomaterial sein. Da sich das Forschungsprojekt mit Diskriminierungserfahrungen von Musliminnen befasst, wurden Musliminnen als primäre Informantinnen zu ihren Ausgrenzungserfahrungen befragt. Warum sich das Interview als ein angemessenes Erhebungsinstrument ereignete, wird im nachstehenden Kapitel näher erläutert.

5.2 Das problemzentrierte Interview

Im Rahmen der qualitativen Sozialforschung zählt das Interviewverfahren als einer der favorisierten Erhebungsmethoden. Qualitative Interviews haben u. a. das Ziel, in den Erzählungen der Befragten Hinweise über ihre Erfahrungen und Handlungsweisen, aber auch Denkstrukturen zu erhalten (vgl. Lueger/Froschauer 2018: 129). Da sich die vorliegende Forschungsarbeit mit den Erfahrungen und Handlungsweisen der Befragten auseinandersetzt, bot sich daher ein qualitatives Forschungsdesign an. Es kann grundsätzlich zwischen standardisierten, teil-standardisierten und narrativen Interviews unterschieden werden.

Das problemzentrierte Interview fand als Forschungsmethode hier ihre Anwendung, da sie den Vorteil verfügt, sich methodisch auf biographische Ereignisse zu konzentrieren ohne dabei den Fokus zu verlieren. Die Methode des problemzentrierten Interviews ist auf Andreas Witzel zurückzuführen, welches er wie folgt beschreibt:

„Das problemzentrierte Interview (PZI) ist ein theoriegenerierendes Verfahren, das den vermeintlichen Gegensatz zwischen Theoriegeleitetheit und Offenheit dadurch aufzuheben versucht, dass der Anwenderseinen Erkenntnisgewinn als induktiv-deduktives Wechselspiel organisiert“ (Witzel 2000).

Der Aspekt der Theoriegenerierung, aber auch das induktiv-deduktive Merkmal sind hervorragende Anknüpfungspunkte, an denen sich mit der methodologischen Vorgehensweise der GT ansetzen lässt. Die halbstrukturierte Interviewform ist offen gestaltet, sodass Befragte dazu eingeladen werden, zu einem bestimmten Problem – das vom Forschenden vorab definiert wird – sich zu äußern. Es wird immer wieder auf das Problem Bezug genommen (vgl. Mayring 2016: 67). Die Methode umfasst drei Grundprinzipien (vgl. Witzel 2000; Mayring 2016: 68; Kurz et al. 2009: 466):

  1. a)

    Problemzentrierung

  2. b)

    Gegenstandsorientierung

  3. c)

    Prozessorientierung.

Die Problemzentrierung zeichnet sich darin aus, dass zu Beginn eine „gesellschaftlich relevant[e] Problemstellung“ (Witzel 2000) formuliert wird. In einer Vorphase erarbeitet der*die Interviewende die wesentlichen Aspekte, um das Gesagte der Befragten nachzuvollziehen und entsprechend mit Nachfragen zu reagieren (vgl. Mayring 2016: 68; Witzel 2000). Die Gegenstandsorientierung bezieht sich auf die individuelle Gestaltung des Anwendungsverfahrens. Es wird von der Verwendung von bereits fertigen Instrumenten Abstand genommen (vgl. Mayring 2016: 68). Das Prinzip zielt auf eine spezifische Orientierung am Gegenstand entlang ab. Auf diese Weise kann den vielfältigen Anforderungen eines Gegenstandes entsprochen werden. Die Flexibilität kommt auch in den Gesprächstechniken während eines Interviews zum Tragen:

„Den Erfordernissen des Aufbaus einer befragtenzentrierten Kommunikationssituation folgend kann der Interviewer je nach der unterschiedlich ausgeprägten Reflexivität und Eloquenz der Befragten stärker auf Narrationen oder unterstützend auf Nachfragen im Dialogverfahren setzen“ (Witzel 2000).

Das dritte Prinzip, der Prozessorientierung, bezieht sich sowohl auf den gesamten Forschungsverlauf als auch auf die Herangehensweise an einzelne Interviews (vgl. Kurz et al. 2009: 466). So wird die Analyse des wissenschaftlichen Problemfeldes nach und nach vorgenommen (vgl. Mayring 2016: 68). Mithilfe von Sensibilität und Akzeptanz kann vor allem in Interviewgesprächen ein Vertrauensverhältnis erzeugt werden, das die Befragten zur Selbstreflexion animiert. Dies geschieht nicht plötzlich, sondern entsteht aus dem Prozess heraus (vgl. Witzel 2000). Mayring ergänzt für die Interviewführung ein viertes Prinzip: Offenheit. Die Interviewführung soll offen gestaltet sein, sodass die Befragten nicht zu einem Antwortverhalten gedrängt werden (vgl. Mayring 2016: 68). Insgesamt sind die Gegenstandsorientierung und Prozessorientierung ähnliche Kriterien, die von der GT Methodologie bereits aufgegriffen werden, wodurch die Auswahl der Erhebungsmethodik als ergiebig erweisen lässt.

Des Weiteren kann im Gegensatz zu narrativen Interviews der*die Interviewer*in in den Erzählfluss eingreifen, um Verständnisfragen zu stellen und darüber hinaus immer wieder zurück zur Problemstellung zu leiten. Die Zurückhaltung, die bei einem narrativen Interview den Kern bildet, entfällt durch die Halbstrukturierung (vgl. Kurz et al. 2009: 465). Der Nachteil, der sich hieraus ergibt, ist, dass zu früh oder verzögert in Gesprächen interveniert werden könnte. Ein entsprechendes Interviewverhalten kann jedoch erprobt werden (vgl. Witzel 1985: 237; Scholl 2018: 75). Das Interview wird mit einem Leitfaden begleitet, der als eine Art Hintergrundfolie fungiert (vgl. Witzel 2000). Diese umfasst ausgewählte Kommunikationsstrategien wie „Gesprächseinstieg, allgemeine Sondierungen, spezifische Sondierungen und Ad-hoc-Fragen“ (Witzel 1985: 245). Der Leitfaden ist zum einen als eine Gedächtnisstütze zu verstehen und zum anderen bildet sie auch einen Orientierungsrahmen für das Interview (vgl. Witzel 2000). Neben dem Leitfaden wird auch ein Kurzfragebogen konzipiert, der zusätzlich sozialdemographische Daten der Befragten zu Beginn eines Interviews erfasst, worauf im weiteren Verlauf des Interviews grundsätzlich nicht mehr Bezug genommen wird. Abschließend dazu wird nach jedem Interview in Form eines Postskriptums alle non-verbalen Auffälligkeiten oder auch sonstige Besonderheiten, die während des Interviews auftraten, schriftlich festgehalten (vgl. ebd.).

Nachdem die methodologische Ausrichtung der vorliegenden Forschungsarbeit deskriptiv dargestellt und die Auswahl der Grounded Theory mit der methodischen Ergänzung des problemzentrierten Interviews begründet wurde, werden im nachfolgenden Kapitel die forschungspraktischen Schritte dargelegt.