Im Folgenden möchte ich anschließend an die im dritten Kapitel ausgeführten theoretischen Grundlagen auf einige der Theorien eingehen, die etwas zur Wahrnehmung und Bewältigung von Diskriminierung(serfahrung) beitragen. Diese Theorien sollen dazu verhelfen, das Handeln von Menschen in seiner Systematik zu erkennen und zu umschreiben. Vorher möchte ich noch darauf zu sprechen kommen, dass das menschliche Handeln grundsätzlich einer kurzen Erläuterung bedarf, wofür ich den symbolischen Interaktionismus nach Herbert Blumer (2004) für geeignet halte. Es handelt sich hierbei um eine soziologische Theorie, die das menschliche Handeln durch Bedeutungszuschreibungen zu begründen versucht. Laut Blumer handelt der Mensch aufbauend auf Bedeutungszuschreibungen, die er den DingenFootnote 1 zuschreibt: „Für den symbolischen Interaktionismus sind Bedeutungen [.] soziale Produkte, sie sind Schöpfungen, die in den und durch die definierenden Aktivitäten [von] miteinander interagierenden Personen hervorgebracht werden“ (Blumer 2004: 325). Symbolische Interaktionen finden dann statt, wenn Handlungen des Gegenübers stets einer Interpretation unterliegen; im Umkehrschluss findet ohne eine Interpretation nicht-symbolische Interaktion statt (vgl. ebd.: 329). Menschliche Interaktion und somit das Handeln finden also auf der Grundlage von Bedeutungszuschreibung statt, welche Menschen an Dingen vornehmen. Dieser Vorgang ist nicht als ein Automatismus zu begreifen. Vielmehr dient die Interpretation von Dingen als Prozess dafür, Handlungen zu steuern und aufzubauen. Soziale Interaktionen formen daher immer auch das menschliche Verhalten (vgl. ebd.: 326, 328). Hinzu kommt, dass das menschliche Handeln nicht losgelöst von allem entsteht, sondern sich geschichtlichen Fortschreibungen fügt. Hierzu drückt sich Blumer wie folgt aus:

„Menschen [können] dazu gebracht werden, neue Formen gemeinsamen Handelns zu entwickeln, die sich deutlich von jenen unterscheiden, die sie früher eingegangen sind, aber selbst in solchen Fällen gibt es immer irgend eine [sic!] Verbindung und Kontinuität mit dem, was sich früher ereignete“ (ebd.: 342).

Kurz gefasst ist der symbolische Interaktionismus eine Theorie, die sich mit der menschlichen Interaktion und ihren Bedeutungszuschreibungen befasst. Wichtig dabei ist, dass die Handlungen und Situationen symbolisch aufgeladen sind und erst durch die Bedeutungszuschreibung eine Relevanz erhalten. Die Interaktionsprozesse beinhalten Anzeiger für die Beteiligten im Umfeld, was sie tun bzw. nicht tun sollen. Diese Prozesse sind wandelbar und können von den Menschen geformt werden. Das Bedeutungsset, dem die Handlungen unterliegen, unterscheidet sich von Person zu Person (vgl. ebd.: 342 f.). Aus diesem Grund ist es wichtig zu erfahren, welches Bedeutungsset einem Handeln zugrunde liegt, um Handlungsabläufe entsprechend nachvollziehen zu können. Die hier beschriebenen Grundsätze des symbolischen Interaktionismusʼ sollen sowohl für die im folgenden aufgeführten Theorien als auch für die eigene Grounded Theorie der Schützenden Bewältigung, die in Kapitel 7 vorgestellt wird, als Ausgangspunkt dienen. Das Ziel der vorliegenden empirischen Arbeit ist, die entwickelte gegenstandsverankerte Theorie zu umschreiben, weshalb im Folgenden nur kurz auf bereits bestehende Theorien eingegangen wird. Die verkürzte Darstellung soll keine Wertung der Theorien ausdrücken.Footnote 2 Es soll nur abgebildet werden, welche Theorien zu dem Thema bereits existieren und warum es einer gesonderten Ausarbeitung der eigenen Theorie zum Thema Diskriminierungserfahrung bedarf.

4.1 Die selbsterfüllende Prophezeiung

Die selbsterfüllende Prophezeiung, auch bekannt aus dem Englischen als the self-fulfilling prophecy, ist eine Theorie, die sich u. a. auf den bekannten Soziologen Robert K. Merton (1910–2003) zurückführen lässt. Im Zusammenhang einer Weltwirtschaftskrise und dem Verhalten von Kund*innen zu der Last National Bank beschrieb Merton die Theorie zusammenfassend wie folgt: „The self-fulfilling prophecy is, in the beginning, a false definition of the situation evoking a new behavior which makes the original false conception come true“ (Merton 1948: 195). So reagierten Kund*innen auf ein Gerücht, dass The Last National Bank sich in einer wirtschaftlich schwierigen Situation befand. Diese Aussage traf jedoch nicht zu. Nichtsdestotrotz verhielten sich die Kund*innen dem Gerücht entsprechend, indem sie ihr Geld von den Konten der Bank entnahmen, wodurch die Bank dann tatsächlich einen finanziellen Abstieg verzeichnete (vgl. Greitemeyer 2020: 83). Die Kernaussage der Theorie besteht darin, dass Menschen durch ihre subjektive Einschätzung eine Vorhersage treffen und ihr Verhalten dementsprechend anpassen. Letztendlich bewirkt dann die Verhaltensanpassung erst den Zustand, der vorhergesagt wurde (vgl. Karlsen 2003: 107). Ausschlaggebend hierbei ist, wie die Situation definiert wird. So wird die soziale Realität vom Menschen basierend auf dessen Einschätzungen konstruiert (vgl. ebd.: 109).

Werden die hier angeführten theoretischen Überlegungen auf die Wahrnehmung von Diskriminierung übertragen, können Reaktionsmuster von Betroffenen, aber gleichzeitig auch die Entstehung von diskriminierendem Verhalten erklärt werden, wobei das letztere nicht Gegenstand meiner Arbeit ist und ich daher primär auf den ersten Punkt Bezug nehmen werde. Verhaltensanpassungen können also von Betroffenen in Situationen vorgenommen werden und auf subjektiver Einschätzung dieser sozialen Situation beruhen. So können subtile Diskriminierungen wie folgt mit der Theorie der sich selbst erfüllenden Prophezeiung umschrieben werden: Wenn Person A (sichtbare Muslimin) in einer zufälligen Begegnung mit Person B vorhersagt, dass sich Person B vermutlich ihr gegenüber bedacht verhält, weil sie eine Muslimin ist, dann verhält sich Person A selbst entsprechend zurückhaltend. Die zurückhaltende Verhaltensweise wird nur durch ihre subjektive Einschätzung veranlasst, dass Person B sich ihr gegenüber vorsichtig verhalten wird. Gleichzeitig nimmt Person B Person A als introvertiert wahr, passt ebenfalls ihr Verhalten an und verhält sich bewusst distanzierend. Dies hat zur Folge, dass Person A sich in ihrer Vorannahme bestätigt fühlt und das Verhalten von Person B ihr gegenüber als subtil diskriminierend deutet.

Für die Bewältigung der gemachten Diskriminierungserfahrung außerhalb der diskriminierenden Situation ist die Theorie der selbst erfüllenden Prophezeiung aus mehreren Gründen allerdings nicht kompatibel: Erstens steht die Einschätzung von Diskriminierungserfahrung durch die Betroffenen an erster Stelle. Hier zählt ausschließlich der Erfahrungswert der Betroffenen, wobei die Außenperspektive, ob es sich hier tatsächlich um eine Diskriminierung handle oder nicht, irrelevant ist. Um es deutlicher zu formulieren, greife ich erneut das Beispiel vom The National Bank auf. Um die Theorie der selbsterfüllenden Prophezeiung anwenden zu können, muss auf Ist-Zustände zurückgegriffen werden. Erst der Vergleich zwischen der Behauptung der Menschen und der tatsächlichen wirtschaftlichen Lage macht die Theorie anwendbar. Zweitens kommt hinzu, dass die Theorie nur die soziale Situation, in der eine Diskriminierung stattfindet, aufgreift. Um dem Erfahrungswert an sich gerecht werden zu können, bedarf es weiterführender Überlegungen, die über die soziale Situation hinausgehen. Wie wird mit der gemachten Diskriminierungserfahrung im späteren Verlauf umgegangen? Ist ein Lerneffekt und somit eine Verhaltensänderung resultierend aus den Diskriminierungserfahrungen zu beobachten? Dieser Aspekt kann allein mit der Theorie der selbsterfüllenden Prophezeiung nicht abgedeckt werden. Drittens – und das ist mein Hauptkritikpunkt – die Theorie reduziert die soziale Situation auf wesentliche Aspekte wie Gedankenmuster und Verhaltensweisen. Dies entspricht nicht der Komplexität sozialer Wirklichkeiten. Weitere Einflussfaktoren, die die soziale Situation erheblich beeinflussen könnten, werden außen vor gelassen. Daher gelange ich zu der Schlussfolgerung, dass die Theorie der selbsterfüllenden Prophezeiung zwar für andere Bereiche wie Verhaltenspsychologie und Marktforschung von Nutzen sein kann, jedoch für die Erklärung, wie Betroffene diskriminierende Situationen bewältigen und mit der gemachten Diskriminierungserfahrung im Nachhinein umgehen, nicht geeignet ist.

4.2 Lebensbewältigung

Die Theorie der Lebensbewältigung ist auf den Sozialpädagogen Lothar Böhnisch (*1944) zurückzuführen. Es handelt sich hierbei um eine Grundlagentheorie der Sozialen Arbeit. Böhnisch versteht unter Lebensbewältigung „das Streben nach psychosozialer Handlungsfähigkeit in kritischen Lebenskonstellationen“ (Böhnisch 2019: 20). Bezugnehmend auf Filipp beschreibt Böhnisch kritische Lebenssituationen bzw. -konstellationen als ausgewählte Situationen im Leben des Menschen, in denen dessen bisherige Ressourcen, Herausforderungen zu bewältigen, nicht mehr ausreichen und dadurch die psychosoziale Handlungsfähigkeit einschränkend beeinflusst wird (vgl. ebd.). Letztendlich bedeutet dies, dass der Mensch nicht mehr in der Lage ist, aus eigener Kraft und mit den eigenen Ressourcen die kritische Lebenssituation eigenständig zu bewältigen. Der Mensch ist also handlungsunfähig (vgl. Böhnisch 2016: 22). Folglich bedarf er der Unterstützung, um die psychosoziale Handlungsfähigkeit wiederzuerlangen. Das Modell der Lebensbewältigung besteht aus den drei Ebenen psychodynamische Dimension, soziodynamische/interaktive Dimension und gesellschaftliche Dimension. Böhnisch verweist darauf, dass in allen Dimensionen „die Grundkomponente gelingender Bewältigung – die Chance der Thematisierung, des Aussprechen- und Mitteilenkönnens innerer Hilflosigkeit und Ohnmacht“ (Böhnisch 2019: 11) wiederzufinden ist. Alle drei Dimensionen beziehen sich auf die Lebenslage bzw. -situation des Menschen. Die psychodynamische Dimension beschreibt den Verlust an Selbstwert und sozialer Anerkennung. Das Handeln des Menschen zielt also darauf ab, diesen Verlust zu verhindern. Dabei steht das Streben nach Handlungsfähigkeit im Vordergrund. Es besteht zudem die Unfähigkeit, die dadurch entstandene innere Hilflosigkeit zu benennen (vgl. ebd. 21 f.). In der soziodynamischen/interaktiven Dimension spielt der Begriff der Bewältigungskulturen eine zentrale Rolle. Böhnisch bezieht sich dabei auf das Konzept des Milieus und macht deutlich, dass der Umgang mit kritischen Lebenssituationen durch Milieubeziehungen geprägt ist. Diese beeinflussen letztendlich das Bewältigungsverhalten der Individuen, weshalb der Autor von Bewältigungskulturen spricht. Den Einfluss macht Böhnisch im folgenden Zitat deutlich:

„Vor allem aber wird in solchen Bewältigungskulturen seit der frühen Kindheit (Familie) nachhaltig beeinflusst, welche Chancen bestehen, innere Spannungen zu vorgegebenen Erwartungen und Zwängen zur Geltung zu bringen, Anerkennung zu finden, autonom oder abhängig in sozialen und beruflichen Beziehungen zu sein, über Möglichkeiten des sozial erweiterbaren Handelns zu verfügen und mit der Diskrepanz zwischen sozial realer und virtueller Welt zurechtzukommen (Medien)“ (Böhnisch 2016: 26).

In der gesellschaftlichen Dimension wird auf das Konzept der Lebenslage Bezug genommen. Die Lebenslage umfasst alle vorhandenen Ressourcen des Menschen, die sowohl materiell als auch sozial und kulturell sind. Diese Ressourcen dienen der Lebensbewältigung (vgl. Böhnisch/Schröer 2018: 322). Die Lebenslage stellt somit die Bewältigungsressourcen für den Menschen zur Verfügung, die wiederum das Bewältigungsverhalten des Menschen beeinflussen. So zählen Böhnisch/Schröer (1) soziale Abhängigkeit, (2) soziale Ausdrucksmöglichkeiten, (3) Aneignungsformen und (4) soziale Anerkennung als weitere dimensionale Perspektiven auf und führen das folgende Beispiel als Erklärung an: „Wer z. B. in massiver Abhängigkeit leben muss, hat in der Regel wenige Chancen, um diese zu thematisieren (Ausdruck), und leidet meist unter verwehrten Aneignungsmöglichkeiten und mangelnder Anerkennung“ (ebd.: 322).

Nun möchte ich die hier beschriebene Theorie auf das Phänomen der Diskriminierungserfahrung übertragen und wesentliche Stärken und Schwächen für die Analyse von Diskriminierungserfahrungen ableiten. Vorwegzunehmen ist, dass die Theorie der Lebensbewältigung grundsätzlich Anknüpfungspunkte bietet, um die Bewältigung und den Umgang mit Diskriminierungserfahrungen zu erklären. Die psychodynamische Dimension, in der es um den Verlust des Selbstwerts und soziale Anerkennung geht, könnte die Folgen von Diskriminierung umschreiben. Durch diskriminierende Handlungen fühlen sich Betroffene minderwertig und erfahren wenig soziale Anerkennung. In diesen Situationen gilt es, „[s]elbstwertstabilisierende Handlungsfähigkeit“ (Böhnisch 2012: 224) zu erlangen, auch wenn diese sich gegen bestehende Normen richtet. In ausgewählten Situationen ist jedoch eine Handlungsunfähigkeit zu beobachten, wobei sich mir die Frage stellt, wodurch diese Handlungsfähigkeit beeinflusst wird. Handelt es sich hier wirklich um eine Unfähigkeit oder wird dies nur von außen so gedeutet?Footnote 3 Soziale Situationen sind komplex und nicht simplifizierend allein auf das Handeln der Subjekte zurückzuführen. Soziale Situationen werden von außen durch mehrere Faktoren bestimmt, welche bei der Analyse von Diskriminierungserfahrungen mitberücksichtigt werden müssen. Einen Vorteil in der Theorie der Lebensbewältigung erkenne ich in der umfassenden Wahrnehmung des Individuums: So werden Lebenslagen und gesellschaftliche Bedingungen mit in den Fokus genommen, sodass der bewältigungstheoretische Ansatz sowohl das Individuum und seine Umwelt als auch deren wechselwirkende Beziehungen zueinander miteinschließt (vgl. Schröer 2015: 197 f.; Klus 2018: 731). Ein Kritikpunkt an der Theorie und Anlass zu der Einschätzung, dass sie allein nicht für die Untersuchung von Diskriminierungserfahrung ausreicht, wäre, dass nicht jede Diskriminierungssituation als eine kritische Lebenskonstellation verstanden werden muss. Vor allem die Alltagsdiskriminierung stellt einen festen Bestandteil der Lebensrealität von Betroffenen dar. Demzufolge befinden sich die Betroffenen nicht immer automatisch in einer kritischen Lebenskonstellation. Es bedarf also einer Theorie, die auch den alltäglichen Aspekt der Diskriminierung mitbedenkt. Die Theorie der Lebensbewältigung lässt sich daher nur bedingt mit den Erkenntnisinteressen meiner Arbeit vereinen. Durch meine Frage nach der Rolle der Diskriminierungserfahrungen im Alltag der Befragten zeichnete sich in der Analyse zügig ein fortlaufender Prozess der Bewältigung ab. Diese Prozesshaftigkeit, der ich eine gewisse Wichtigkeit zuschreibe, sehe ich nicht in der Theorie der Lebensbewältigung gegeben. Die Theorie von Böhnisch hingegen fokussiert von Beginn an kritische Lebenssituationen, in denen die bisherigen Ressourcen der Menschen nicht mehr ausreichen, um diese Situationen bewältigen zu können. Ob aber bisherige Ressourcen in diskriminierenden Situationen ausreichend vorhanden waren oder nicht, ist für meine Untersuchung von Diskriminierungserfahrung zunächst einmal unbedeutend. Mich interessieren grundsätzlich alle verschiedenen Situationen, um vorerst allgemeine theoretischen Überlegungen zu Diskriminierungserfahrungen zusammenfassen zu können. Hinzu kommt, dass mich insbesondere der Umgang mit den gemachten Diskriminierungserfahrungen interessiert, was mit der Theorie der Lebensbewältigung nicht umfassend berücksichtigt werden kann.

4.3 Stigmabewältigung

Erving Goffman (1922–1982) war ein amerikanischer Soziologe; er prägte den Begriff des Stigmas. Dabei bezieht er sich auf den Ursprungsgedanken der Griech*innen, die unter ‚Stigma‘ ein Zeichen verstanden, „das in den Körper geschnitten oder gebrannt wurde, um etwas Ungewöhnliches oder Schlechtes im Charakter des Zeichenträgers öffentlich kundzugeben“ (Abels 2008: 521). Anlehnend daran bezeichnet Goffman mit ‚Stigma‘ bei einem Menschen einen Makel, der Ausgangspunkt einer Diskriminierung sein kann. Dadurch wird das „Stigma als eine spezifische Ausprägung menschlicher Identität ausgewiesen und verständlich gemacht“ (von Engelhardt 2010: 125). So werden einem Stigma bestimmte Eigenschaften und Verhaltensweisen zugeschrieben, sodass erst die Einbettung dieser in einen normativen Kontext zu einer diskriminierenden Wirkung führt (vgl. ebd.: 130). Letztendlich gibt es an sich keinen ‚Makel‘; erst durch die Bedeutungszuschreibung, die diskreditierende Wirkung haben kann, wird ein Merkmal zu einem ‚Makel‘ gemacht (vgl. Abels 2008: 522; Goffman 2020: 11). Goffman teilt Stigmata in drei TypenFootnote 4 ein: (1) körperliche Beeinträchtigungen, (2) problematisches psychosoziales Verhalten und (3) gruppenbezogene Diskriminierung (bspw. ‚Rasse‘ oder Kultur) (vgl. Stöhr et al. 2019: 100).

In seiner Arbeit Stigma. Notes on the Management of Spoiled Identity aus dem Jahr 1975 verfolgte Goffman folgendes Ziel: „Er ging auf die Suche nach Techniken, die Menschen mit unterschiedlichen Stigmata einsetzen, um trotz ihrer Beeinträchtigung ihren Selbstwert zu wahren und als vollwertige Menschen in unserer Gesellschaft akzeptiert zu werden“ (De Col et al. 2004: 862). Die Auseinandersetzung der Individuen, um mit einem Stigma soziale Situationen zu bewältigen, beschreibt Goffman als Stigmamanagement (vgl. Abels 2008: 522). Hierbei unterscheidet Goffman zwischen zwei Gruppen: Personen, deren Stigma von außen beobachtbar ist und die daher annehmen müssen, dass ihr Stigma sichtbar ist (Diskreditierte) und Personen, die die Möglichkeit haben, ihr Stigma zu verheimlichen und somit davon ausgehen, dass es von außen nicht wahrgenommen wird (Diskreditierbare) (vgl. Goffman 2020: 12; von Engelhardt 2010: 136; Abels 2008: 522 f.). Da sich die Ausgangslage bei den genannten Gruppen unterscheidet, spricht Goffman im Zusammenhang mit dem Stigmamanagement bei den Diskreditierten von einem Spannungsmanagement und bei den Diskreditierbaren von Informationsmanagement. Ebenso unterscheiden sich ihre Techniken in der Bewältigung von Stigmatisierung (vgl. De Col et al. 2004: 864, 867). Um es kurz zu erläutern – und ohne Anspruch auf Vollständigkeit zu erheben – geht es bei der interpersonellen Spannungskontrolle darum, das Stigma entweder vollständig oder indirekt zu korrigieren, mögliche soziale Situationen, in denen das Stigma thematisiert werden könnte, zu vermeiden (soziale Isolation) oder durch provokatives Verhalten die Erfahrung zu kompensieren. Eine weitere Möglichkeit wäre auch, sich mit anderen Personen, die ähnliche Stigmatisierungserfahrungen machen, zusammenzuschließen (Gruppenbildung) (vgl. ebd.: 869 ff.). Bei den Techniken der Informationskontrolle geht es vielmehr darum, die Information über das vorhandene Stigma entweder vollständig preis zu geben oder vollständig zu verheimlichen. Zwischen diesen beiden Polen gibt es noch eine weitere Technik: das Täuschen: Hier kann das Bekanntgeben der Information über das eigene Stigma auch teilweise erfolgen. So erfahren etwa nur nahestehende Personen etwas über das Stigma, welches nicht offensichtlich von außen wahrnehmbar ist, wie z. B. eine psychische Erkrankung (vgl. ebd.: 867). Auch wenn Goffman bei der Beschreibung der Stigmabewältigung grundsätzlich zwischen Normale und Stigmatisierte unterscheidet, verweist er zum Schluss darauf hin, dass die Individuen nicht eindeutig einer Kategorie zugeschrieben werden können. Es handelt sich hierbei um einen „Zwei-Rollen-Prozeß, in dem jedes Individuum an beiden Rollen partizipiert“ (Goffman 2020: 170).

Goffmans Theorie der Stigmabewältigung weist wichtige Ansätze dazu auf, wie Betroffene mit ihren Ausgrenzungserfahrungen umgehen. Sie bietet sowohl Anknüpfungspunkte als auch weiterführende Fragen und kommt in der Gesamtbetrachtung aller Theorien bisher am ehesten meinem Erkenntnisinteresse nahe. Zum einem beabsichtigte ich ebenfalls, Bewältigungsformen in direkten diskriminierenden Situationen auszuarbeiten. Umgangsformen, die erst nach dem Verlassen der diskriminierenden Situation einsetzen und eher den Erfahrungsaspekt ins Visier nehmen, interessierten mich besonders. Goffmans Beschreibungen reichen hierfür nur teilweise aus. Die Techniken fließen vielmehr ineinander und bleiben daher allgemein. Für meinen empirischen Ansatz ist es umso wichtiger, die genannten Aspekte nach Möglichkeit noch differenzierter zu betrachten. Hinzu kommt, dass ich die Bewältigungsformen zwischen zwei Lebensbereichen untersuchen möchte: Wie wird innerhalb und außerhalb des Arbeitskontextes reagiert? Welche Bedingungen beeinflussen die Bewältigungsauswahl? Goffman geht auf Macht- und Definitionsverhältnisse (vgl. Stöhr et al. 2019: 100) ein, wohingegen ich diese mithilfe des Intersektionalitätskonzepts aufgreife. Gleichzeitig interessieren mich situative Ereignisse und ihre einwirkenden Faktoren, die letztendlich eine soziale Situation beeinflussen. Wie sich noch zeigen wird, weist die hier entwickelte Grounded Theory der Schützenden Bewältigung Ähnlichkeiten zu der Theorie von Goffman auf. Jedoch unterscheidet sie sich von ihrem Ansatz und der Schwerpunktsetzung. Insbesondere regt sie zu einem Perspektivenwechsel an, der längst überfällig wäre in der Arbeit mit Diskriminierung.