Theoretische Vorüberlegungen dienen dazu, Probleme und Phänomene besser einordnen zu können. Insbesondere helfen Erklärungsansätze, komplexe Sachverhalte komprimiert greifbar zu machen. Hinzu kommt, dass erste Konzepte und theoretische Ansätze es ermöglichen, Lösungswege weiterzudenken. Im Folgenden werden daher grundsätzliche Begrifflichkeiten wie Diskriminierung und Rassismus, die für die vorliegende Arbeit von hoher Relevanz sind, in ihren Merkmalen und Eigenschaften bestimmt. In Anlehnung daran wird das Konzept des antimuslimischen Rassismus kurz umschrieben. Das Konzept des antimuslimischen Rassismus wird deshalb als wichtig erachtet, da u. a. diese Form der Ausgrenzungserfahrung primär von den Befragten der hier vorliegenden Untersuchung beschrieben wird. Im Anschluss daran wird das Konzept der Intersektionalität aufgegriffen. Intersektionalität wird in dieser Arbeit nicht nur deshalb Beachtung geschenkt, weil ich als Forscherin auf dieses Konzept aus forschungsmethodischen Gründen zurückgreife. Vielmehr gewann das Konzept während der Feldphase zunehmend an Bedeutung, da das Phänomen der Intersektionalität von den Befragten selbst in den Gesprächen umschrieben wurde. Nachdem der Entstehungskontext von Intersektionalität beschrieben und die Vorzüge einer intersektionalen Perspektive aufgezeigt wurden, folgt eine kurze Einführung über die Bedeutung der sozialen Kategorie Geschlecht in rassistischen Verhältnissen. Danach wird das Hauptaugenmerk auf Diskriminierungs- und Rassismuserfahrung gelegt. Die Erfahrungsbegriffe sind zentral für die gesamte vorliegende Arbeit, weshalb diese definitorisch erläutert werden. Zum Schluss werden die bisher angeführten theoretischen Vorüberlegungen mit dem sozialarbeiterischen Auftrag verknüpft.

3.1 Begriffsklärung

Diskriminierung und Rassismus sind gängige Begrifflichkeiten, die meist auch synonym verwendet werden. Ist es nicht das gleiche? Beide Begrifflichkeiten weisen Gemeinsamkeiten auf, müssen jedoch differenziert betrachtet werden, um jeweils ihren eigenen inhaltlichen Bedeutungsgehalten gerecht zu werden. Es ist nicht von der Hand zu weisen, dass Diskriminierung eher der Begriff ist, der von der Mehrheit der Gesellschaft alltäglich verwendet wird. Rassismus dagegen hat ein starkes Imageproblem oder – meines Erachtens – vielmehr ein Deutungsproblem. Denn mit Rassismus wird meist etwas Rechtsextremistisches, Gewaltvolles, Absichtliches, Böses und eindeutig Identifizierbares assoziiert. Niemand möchte als rassistisch oder gar Rassist*in bezeichnet werden, geschweige denn offenlegen, dass die eigene Person eine Rassismuserfahrung gemacht hat. Letzteres geht mit Verletzlichkeit bzw. Verwundbarkeit einher. Um eine Auseinandersetzung mit Rassismus zu umgehen, wird sich grundsätzlich von der Thematik distanziert. Im wissenschaftlichen Bereich existiert eine Vielzahl an Definitionen von Rassismus. Dies ist ein Indiz dafür, dass Rassismus an sich ein komplexes Gefüge und nicht aus dem Stehgreif bestimmbar ist. Um eine erste Unterscheidung zwischen Diskriminierung und Rassismus vorzunehmen, kann gesagt werden, dass mit Diskriminierung zunächst jede Form der Ausgrenzung, die soziale Ungleichheit hervorbringt, beschrieben wird. Rassismus stellt dahingegen eine spezifische Form der Ausgrenzung dar. Zudem handelt es sich beim Rassismus um Dominanz- und Herrschaftsverhältnisse, wobei weitere Diskriminierungsmechanismen bzw. -bereiche, wie etwa Geschlecht bei Sexismus, nicht vollständig von Rassismus differenziert betrachtet werden können (vgl. Çetin 2017: 80). Im Folgenden wird auf die einzelnen Begrifflichkeiten gesondert eingegangen.

3.1.1 Diskriminierung

Das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz (AGG), das im Jahre 2006 in Kraft getreten ist, spricht im Gegensatz zu der europäischen Rechtsquelle von BenachteiligungFootnote 1 und nicht explizit von Diskriminierung.Footnote 2 Nach dem AGG liegt dann eine Diskriminierung vor, wenn eine Benachteiligung in Verknüpfung mit einem Diskriminierungsmerkmal entstanden ist und keine Rechtfertigungsgrundlage dafür vorliegt (vgl. ADSB 2017: 32). Als Diskriminierungsmerkmale werden hier „wesentliche und meist unveränderbare Identitätsmerkmale von Menschen“Footnote 3 (ADSB 2017: 33) definiert. Hierzu zählen Geschlecht, Behinderung, Religion bzw. Weltanschauung, Alter, sexuelle Identität und ‚Rasse‘ (vgl. ebd.: 33). Eine mögliche Kategorisierung der sozialen Merkmale wäre, in leicht erkennbareFootnote 4 und unter Voraussetzungen erkennbareFootnote 5 Merkmale zu unterscheiden (vgl. Steffens/Wagner 2009: 241).Footnote 6 Zu diesem Gesichtspunkt ist es wichtig zu erwähnen, dass häufig angenommen wird, Menschen mit leicht erkennbarem Merkmal wären einem erhöhtem Stresslevel ausgesetzt im Vergleich zu Menschen mit solchen Merkmalen, die erst unter bestimmten Voraussetzungen zu erkennen sind. Auch wenn letztere die Möglichkeit hätten, Merkmale verbergen zu können, um dadurch Diskriminierung zu umgehen, befinden sie sich ebenfalls in einer stressigen Lebenssituation, die psychische Herausforderungen mit sich bringen kann (vgl. Pachankis 2007: 328).Footnote 7

Der Diskriminierungsbegriff ist grundsätzlich „theoretisch ungeklärt“ (Maier 2010: 159). Neben einem juristischen Zugang zum Begriff wird auf sozialwissenschaftlicher Ebene folgende Definitionsmöglichkeit von Hormel und Scherr angeboten: „Als Diskriminierungen gelten gewöhnlich Äußerungen und Handlungen, die sich in herabsetzender oder benachteiligender Absicht gegen Angehörige bestimmter sozialer Gruppen richten“ (Hormel/Scherr 2010: 7). In der Begriffsbestimmung von Diskriminierung ist es äußerst wichtig, von Handlungen zu sprechen, die zu einer Benachteiligung führen. Diese explizite Benennung ist relevant für die Abgrenzung zum Konzept des Vorurteils.Footnote 8 Beide Konzepte stehen für sich, können jedoch in einer wechselwirkenden Beziehung zueinander auftreten (vgl. Gomolla 2016: 75). Die oben angeführte Definition kann durch die Ergänzung von Scharathow/Leiprecht spezifiziert werden: Sie fügen hinzu, dass bei sozialer Diskriminierung neben Handlungen auch „Diskurse, Institutionen und Strukturen“ (Scharathow/Leiprecht 2011: 113) im Fokus stehen. Mithilfe von Diskriminierung werden Vorteile und Privilegien fokussiert. Die Zugänge zu bestimmten Ressourcen werden durch diskriminierende Äußerungen und Handlungen ermöglicht oder bereits erhaltene dadurch verteidigt (vgl. Gomolla 2016: 73).

Diskriminierung wird unterschiedlich wahrgenommen und empfunden. Es umfasst eine Form des Erlebens.Footnote 9 Die unterschiedliche Wahrnehmung von Diskriminierung und ihrer Bewertung ist folglich auch der Grund dafür, dass Diskriminierung als Konzept normativ aufgeladen ist und kontrovers diskutiert wird. Gomolla macht darauf aufmerksam, dass die ständige soziale Auseinandersetzung mit dem Konzept der Diskriminierung dazu führt, dass die Bedeutungsinhalte sich nicht festlegen lassen und deshalb einer kontinuierlichen Verschiebung dieser ausgesetzt sind (vgl. ebd.: 73).

Wie bereits oben erwähnt, stehen im Zentrum der Diskriminierung ausgewählte soziale Merkmale, die dem Prozess der Differenzkonstruktion dienen. Diskriminierungen können mithilfe von einzelnen Konzepten genauer beschrieben und analysiert werden. Bei dem Konzept der Diskriminierung können durchaus mehrere Merkmale gleichzeitig zum Ausgangspunkt einer diskriminierenden Benachteiligung werden. An dieser Stelle ist dann auch die Rede von einer Mehrfachdiskriminierung (vgl. Philipp u. a. 2014: 23).Footnote 10 Auf diesen Aspekt komme ich noch zu sprechen, wenn ich das Konzept der Intersektionalität in Abschnitt 3.2 diskutiere.

Darüber hinaus können bei Diskriminierung verschiedene Ebenen unterschieden werden. Hervorzuheben ist, dass diskriminierende Benachteiligungen nicht in Reinform auftreten, sondern vielmehr als ineinander verwobene Phänomene sichtbar werden. Aus analytischer Perspektive können folgende Unterscheidungsformen zur Untersuchung von Ursachen der Diskriminierung vorgenommen werden (vgl. Gomolla 2016: 74 f.):

  • individuell,

  • interaktional,

  • institutionell,

  • strukturell.

Individuell: Hierunter werden Diskriminierungen aufgefasst, die von einem Individuum ausgehen und in zwischenmenschlichen Interaktionen vermittelt werden (vgl. Gomolla 2016: 75).

Interaktional: Unter dieser Form der Diskriminierung werden die Unterscheidungspraktiken verstanden, die auf Selbst- und Fremdzuschreibungskonstrukte basieren. Es handelt sich hier um soziale Prozesse, die derart abstrakt sind, dass die Interaktionen sich nicht auf einzelne Individuen beziehen lassen. In diesem Prozess werden soziale Gruppen konstruiert (vgl. Hormel 2007: 248 f.; Gomolla 2016: 76).

Institutionell: Bei dieser Form der Benachteiligung wird sich u. a. auf Normen und Routinen berufen. Hier steht nicht das Individuum im Mittelpunkt, das diskriminierende Absichten hat, sondern vielmehr Organisationen und einzelne Professionen. Die Benachteiligungen sozialer Gruppen stützen sich auf kollektive Begründungen (vgl. Hasse/Schmidt 2012: 883; Gomolla 2017: 134).

Strukturell: Hierunter wird „die historische und sozialstrukturelle Verdichtung von Diskriminierungen bezeichnet, die nicht mehr klar auf bestimmte Institutionen zurückgeführt werden kann“ (Gomolla 2016: 79).

Neben den Diskriminierungsebenen können weitere Unterscheidungsaspekte hinzugezogen werden, um eine differenzierte Perspektive auf Diskriminierung zu erhalten.Footnote 11 Bezugnehmend auf die sozialpsychologische Diskriminierungsforschung schlägt Andreas Zick eine dimensionale Übersicht vor (vgl. Zick 2017: 74), die sich meiner Meinung nach grundsätzlich für eine Untersuchung mit dem Schwerpunkt Diskriminierung als sinnvoll erweist. Dabei ist die wesentliche Unterteilung in direkte und indirekte, manifeste und latente, bewusste und unbewusste, explizite und implizite Diskriminierung noch einmal gesondert aufzugreifen. Offensichtliche Diskriminierung, die sich in einer eindeutigen Diskreditierung bzw. Benachteiligung äußert, wird (mehrheitlich) von der Gesellschaft abgelehnt und widerspricht einem sozialen Konsens. Subtile Diskriminierung dagegen äußert sich in alltäglichen Situationen und ist oftmals von Betroffenen schwer zu artikulieren (vgl. El-Mafaalani et al. 2017: 180). Zudem besteht eine Unsicherheit bei Betroffenen, ob eine (positive) Änderung durch das Ansprechen von (subtiler) Diskriminierung tatsächlich erfolgt (vgl. Kaiser/Miller 2001). Heinemann/Mecheril stützen sich auf Flam und treffen die Aussage, dass vor allem in definitorischen Kontexten durch eine Fixierung der Absichtlichkeit Diskriminierender die subtile Diskriminierung relativiert und somit keine Beachtung findet (vgl. Heinemann/Mecheril 2017: 119). Aus den bisher genannten Gründen ist es bedeutender, subtilen Diskriminierungsformen mehr Beachtung zu schenken und auch in Untersuchungen mehr zu fokussieren. Meiner Meinung nach sollte dieser Aspekt im Rahmen einer Begriffsbestimmung verstärkt werden, weshalb ich in meiner Arbeit, in Anlehnung an die bisher angeführten definitorischen Ansätze Diskriminierung wie folgt auffasse: Unter Diskriminierung verstehe ich eine direkte oder indirekte, offene oder subtile bzw. verdeckte Handlungspraxis, die zur Benachteiligung, Ausgrenzung oder Abwertung einer Person führt. Dabei werden sowohl sichtbare als auch nicht-sichtbare Merkmale, die einer sozialen Gruppe zugeschrieben werden, zum Gegenstand der Handlung. Die Intention der diskriminierenden Person ist dabei irrelevant. Die Handlungspraxis kann individuell, institutionell oder diskursiv hergestellt werden.

3.1.2 Rassismus

Im Jahr 2018 wurde ein Mitarbeiter eines Handwerksbetriebs im niedersächsischen Vechta für seine äußeren Merkmale diskriminiert. Der Auszubildende aus Mali fuhr mit seinem Kollegen zu einer Kundin, die ihre Dusche barrierefrei umgebaut haben wollte. Als die zwei Monteure am Haus der Kundin klingelten, erfolgte zunächst keine Reaktion. Erst beim wiederholten Klingeln öffnete die Kundin verzögert die Haustür und äußerte, dass sie keinen ‚Afrikaner‘ in ihrem Haus haben wolle. Es folgten weitere rassistische Bemerkungen. Der Vorfall erlangte durch medialen Präsenz in der Region an Bekanntheit. Nicht nur die Betroffenen selbst, sondern auch die Medien sprachen eindeutig von einem rassistischen Vorfall.Footnote 12

Ein anderes Beispiel zeigt die Diskussion um eine Straßennamensänderung in der Hauptstadt der Bundesrepublik Deutschland. Eine Initiative forderte die Namensänderung der ‚Mohrenstraße‘ in Berlin. Als Begründung wird der aus dem Griechischen stammende Begriff ‚Mohr‘Footnote 13 angeführt, der ursprünglich in Kolonialzeiten eine abwertende Bezeichnung für Schwarze von Weißen war. Eine Gegeninitiative, die sich als ‚Pro Mohrenstraße‘ bezeichnete, wollte eine Namensänderung verhindern. Es entstand eine kontroverse Debatte.Footnote 14 Eine zentrale Frage ist, ob es sich bei der Straßenbenennung um eine rassistische Erscheinungsform handle oder nicht.

Rassismus ist ein Begriff, der mit vielen Assoziationen und Behauptungen einhergeht. Während beim ersten Beispiel die Situation eindeutig als rassistisch gerahmt wurde, gehen die Meinungen im zweiten Beispiel weit auseinander. In den vergangenen Jahren bemerkte ich im Austausch mit anderen Menschen – sei es nun außerhalb oder innerhalb des Wissenschaftsbereichs –, dass das Verständnis von Rassismus von Menschen zu Menschen so stark abwich, dass Gespräche und Diskussionen nicht sachlich vorgenommen werden konnten. Hinzu kommt, dass Rassismus als Thema emotional geladen ist. Um Gesprächssituationen sachlich gestalten zu können, halte ich es für wesentlich, Begrifflichkeiten zu klären, aber auch einen Teil historischen Entstehungskontext als eine Einordnungshilfe mitzugeben. Auch wenn unzählige Publikationen vor der vorliegenden Arbeit immer wieder auf den Begriff des Rassismus eingegangen sind, halte ich es für äußerst wichtig, diese Grundlagen kurz aufzugreifen, um zum einen Entwicklungen und aktuelle Standpunkte zum Begriff offenzulegen und zum anderen auch Quereinsteigenden wie etwa Praktiker*innen die Möglichkeit zu geben, Anknüpfung an die Thematik zu finden.

3.1.2.1 ‚Rasse‘

Bevor ich einen definitorischen Zugang zu Rassismus vornehme, wende ich mich dem Begriff der ‚Rasse‘ zu. Ende des 16. und Anfang des 17. Jahrhunderts wurde die Kategorie ‚Rasse‘ aus der Pflanzen- und Tierwelt auf den Menschen transferiert (vgl. Arndt 2017a: 16; Arndt 2017b: 30). In der Landwirtschaft diente die Kategorisierung von Rassen als eine Möglichkeit, um Nutzleistungen von Tieren durch entsprechende Zuchtverfahren zu optimieren (vgl. Memmi 1992: 13). Bei den sogenannten ‚reinen Rassen‘ handelt es sich um Entwürfe, die der Mensch künstlich festgelegt hatte (vgl. ebd.: 14). Hier sei insbesondere die Bedeutung von Reinheit hervorgehoben. Memmi beschreibt sie als „eine Metapher, ein Wunschgebilde oder ein[en] Gegenstand der Phantasie“ (ebd.: 15). Dieser Grundgedanke wurde mit der Kategorie ‚Rasse‘ auf den Menschen übertragen. Die damit einhergehenden erfundenen „biologischen Realitäten“ (Miles 1999: 96) beschrieb der Soziologe Robert Miles als gesellschaftliche Fiktionen (vgl. ebd).

Um ‚Rassen‘ zu konstruieren wurden zunächst phänotypische Merkmale als Unterscheidungskriterien hinzugezogen. Beispielsweise wurde zu Beginn die Unterscheidung von Hautfarben vorgenommen (vgl. Mecheril/Scherchel 2011: 42), um religiöse und kulturelle Differenzen markieren zu können (vgl. Arndt 2017a: 16). Biologische Unterscheidungsprozesse führten dazu, dass soziale Unterschiede naturalisiert wurden (vgl. Rommelspacher 2011: 26; Kalpaka/Räthzel 2017: 42). Während dieses Vorgangs war es ebenfalls möglich, das Selbstbild und somit auch die Zugehörigkeit der eigenen Gruppe zu definieren. Den multifunktionalen Konstruktionsprozess beschreibt Miles als „Rassenkonstruktion“ (vgl. Miles 1999: 101; Kalpaka/Räthzel 2017: 42). Hund verweist darauf, „dass es sich dabei um einen gesellschaftlichen Prozess handelt, der nicht nur strukturelle und ideologische Dimensionen hat, sondern durch soziales Handeln immer wieder neu hergestellt werden muss“ (Hund 2007:10). Die Tatsache, dass bestimmte Merkmale in einer Bevölkerungsgruppe im Verhältnis zu anderen Gruppen häufiger auftreten können, ist nicht von der Hand zu weisen. Jedoch sind diese relativ zu bewerten. Im Einzelnen sind die Menschen wiederum so unterschiedlich, dass eine pauschale Zuschreibung realitätsfern wäre. Somit können bestimmte Merkmalskonstellationen nicht als Marker der Andersartigkeit von einer Gruppe in Anspruch genommen (vgl. Memmi 1992: 16) oder ausschließlich einer weiteren Gruppe zugeschrieben werden. Welche Beweggründe stecken hinter einer derart vereinfachten Generalisierung? Memmi fasst dies zusammen und bringt meines Erachtens den Grundgedanken der Handlungsabsicht auf den Punkt:

„Es sind unsere überwollende oder ängstliche Bequemlichkeit und unsere intellektuelle Kurzsichtigkeit, häufig bedingt durch Distanz, die uns dazu bringen, […] zu stereotypisieren, während sie in Wirklichkeit ein mannigfaltiges und buntes Bild bieten. Es genügt uns, sie als Menschen zu charakterisieren, die ‚nicht wie wir‘, die ‚keine von uns‘ sind, d. h., sie im Vergleich zu uns und nicht im Rahmen ihres eigenen Daseins zu sehen“ (Memmi 1992: 17).

Einen großen Nutzen sahen die Menschen bei der Kategorie ‚Rasse‘ darin, Ungleichbehandlungen rechtfertigen zu können (vgl. Rommelspacher 2011: 26). Wenn die Gesellschaft von einem Gleichheitsprinzip ausgeht, das für alle Menschen gelten soll, kommt sie in Erklärungsnot bei Nicht-Gleichbehandlung ausgewählter Personengruppen. Bei der Konstruktion von ‚Rassen‘ ging es im Kern darum, zwischen zwei wesentlichen Gruppen unterscheiden zu können: Auf der einen Seite gab es die überlegenen Weißen, die als privilegierte Menschen gewertet wurden. Auf der anderen Seite gab es die unterlegenen Nicht-Weißen, die als ein Bindeglied zwischen Tier und Mensch erachtet wurden. Da sie nicht als Menschen angesehen wurden, galt das Prinzip der Gleichheit nicht für sie. Auf diese Weise konnten gewaltvolle Genozide und Ausbeutungen legitimiert werden (vgl. Arndt 2017b: 32; Amesberger/Halbmayr 2008: 13).

In Deutschland wurde der Begriff ‚Rasse‘ insbesondere durch den Nationalsozialismus geprägt. Damit wurde primär die Selektion verbunden, die eine Einteilung der Menschen in höher- und minderwertige ‚Rassen‘ ermöglichte (vgl. Mecheril/Scherchel 2011: 40). Die historische Komponente, die mit negativen Assoziationen einhergeht, trug dazu bei, dass die Kategorie ‚Rasse‘ zunehmend abgelehnt bzw. tabuisiert wurde (vgl. Leiprecht 2001a: 29; 2001b). Ohne ‚Rasse‘ kein Rassismus? Es bleibt ein Trugschluss, dass es ohne das Rassekonzept keinen Rassismus gäbe (vgl. Kalpaka/Räthzel 2017: 45). In Untersuchungen außerhalb von Europa konnte nachgewiesen werden, dass rassistische Ungleichheiten ihre Anwendung noch lange vor der eigentlichen Bezugnahme auf den Rassenbegriff fanden (vgl. Hund 2007:12). Hinzu kommt, dass ‚Rasse‘ ein soziales Konstrukt darstellt. Nur weil es tatsächlich keine ‚Rassen‘ gibt, würde dies nicht die Existenz von Rassismus in Frage stellen. Denn ‚Rassen‘ sind das Produkt des Rassismus und nicht umgekehrt (siehe hierzu auch Kalpaka/Räthzel 2017: 41). Balibar prägte die Bezeichnung „Rassismus ohne Rassen“ (vgl. Balibar 1992: 28). Die Präposition „ohne“ verleitet zu einem Fehlschluss, dass dadurch die Kategorie ‚Rasse‘ vollständig an Bezug verliere. Jedoch führt Balibar in seiner Erklärung an, dass die Kategorie ‚Rasse‘ nur nicht mehr vorherrschend (vgl. ebd.: 28), aber dennoch zweckmäßig sei. Die Bezeichnung des Phänomens passt meiner Meinung nach nicht zu ihrer beabsichtigten Erklärung und ist vielmehr irreführend. Nach Balibars Ausführung fokussiert der Ansatz von Rassismus ohne ‚Rassen‘ überwiegend das Thema der kulturellen Differenz. Dabei steht die Vorstellung der Unvereinbarkeit kultureller Differenzen im Vordergrund (vgl. ebd.). Die soziale Kategorie ‚Rasse‘ ist nicht beständig und kann durch Kultur oder Religion abgelöst werden, wobei nicht von einer endgültigen kategorialen Ablösung die Rede sein kann, sondern vielmehr von einer Verschiebung (siehe hierzu Kaufmann 2002: 49–55). Ein Beispiel hierzu wäre die dichotomisierende Kontrastierung von Konstrukten wie „westlich-christlicher-abendländischer“ und „islamischer“ Kultur (vgl. Shooman 2014: 61). Arndt vertritt den Standpunkt, dass Rassismus zu verschiedenen Zeiten eine andere Form annehmen kann: „[Dabei] kooperieren körperliche und kulturelle Konstruktionen von Differenz, die unterschiedlich gewichtet sein können“ (Arndt 2017a: 29).

3.1.2.2 (Antimuslimischer) Rassismus

Rassismus als analytischer BegriffFootnote 15 hat eine junge Tradition, da bis in die frühen 1990er Jahre andere Begriffe, wie bspw. ‚Ausländer*innenfeindlichkeit‘, vorzugsweise verwendet wurden. Es gab vereinzelt Taten gegenüber Schwarzen, die damals als ‚rassistisch‘ benannt wurden, ansonsten aber blieben eine Theoretisierung und somit eine analytische Anpassung aus (vgl. Attia 2013: 14). In der Wissenschaft ist inzwischen eine Vielzahl an Definitionen von Rassismus vorzufinden (siehe hierzu u. a. Hall 1989, 1994; Memmi 1992; Miles 1999; Hund 2007; Rommelspacher 2002, 2011; Kalpaka/Räthzel 2017), die unterschiedlichen Ansätze verfolgen, aber auch grundsätzlich vereinzelte Gemeinsamkeiten aufzeigen.Footnote 16 Weiß schlägt vor, neben den Kriterien Klassifikation und Hierarchisierung das Kriterium der Konstruktionsmacht in die Definition von Rassismus miteinzubeziehen. Der Vorteil, der sich dadurch ergibt, ist, dass sich der Rassismusbegriff so nicht nur auf Diskurse beschränkt, sondern die Breite der Analyse auf die gesamtgesellschaftliche Struktur erweitert (vgl. Weiß 2013: 30). Ich halte diesen Vorschlag für sinnig und verzichte an dieser Stelle auf eine Gegenüberstellung verschiedener Definitionen von Rassismus. Die folgende Begriffsbestimmung von Rommelspacher finde ich unter Berücksichtigung der oben genannten Punkte analytisch sinnvoll:

„Rassismus ist ein System kollektiver Bilder, Erzählungen und gesellschaftlicher Institutionen, die historisch entwickelte und aktuelle Machtverhältnisse legitimieren und reproduzieren. […] Allerdings wurde die biologistische Argumentation im Laufe der Zeit zunehmend ergänzt durch eine kulturalistische Variante, die Kulturunterschiede als quasibiologische Unterscheidungsmerkmale zwischen Gruppen unterstellt. Dazu werden die jeweiligen Gruppen homogenisiert, indem ihnen eine einheitliche und unveränderliche Wesenheit zugeschrieben wird; sie werden polarisiert, indem im Sinne der Differenzverstärkung vor allem Unterschiede und Unvereinbarkeiten herausgestellt werden, und sie werden hierarchisiert, d. h. in eine Rangordnung gebracht“ (Rommelspacher 2002: 132).

Die Legitimation und Reproduktion von Machverhältnissen sind folglich nur dann möglich, wenn Konstruierende über die Macht verfügen, hierarchisierte Konstruktionen durchzusetzen. Konstruktionsleistungen münden in die oben genannten Aspekte wie „kollektive Bilder, Erzählungen und gesellschaftliche Institutionen“ (ebd.). So wird Konstruktionsmacht nicht explizit erwähnt, aber in der Umschreibung mit impliziert, sodass alle drei wichtigen Kriterien, die eine Rassismusdefinition nach Weiß enthalten sollte, angesprochen sind. Schlussfolgernd würde dies auch bedeuten, dass unverbindliche Hierarchisierung von Gruppen verletzend und beleidigend wäre, jedoch nicht rassistisch (vgl. Kalpaka/Räthzel 2017: 43). Die Machtkomponente ist der Dreh- und Angelpunkt im Kontext von Rassismus.

Nun kann zwischen verschiedenen Rassismen unterschieden werden. Auch wenn zwischen bspw. antischwarzen Rassismus und antimuslimischen Rassismus differenziert werden kann, handelt es sich um „jeweils historisch spezifische Rassismen“ (Attia/Keskinkılıç 2017: 121). Jedoch stehen alle Rassismen in einem wechselwirkenden Zusammenhang und schaffen ein komplexes Gefüge. Wenn die Funktionalität und Wirkmächtigkeit der einzelnen Rassismen erschlossen werden sollen, müssen sie jeweils für sich betrachtet werden. Was sie alle gemeinsam haben, ist der Rassifizierungsprozess (vgl. ebd.). Dem antimuslimischen Rassismus geht eine jahrhundertealte Historie des Orientalismus voraus, indem diskursive Praktiken vorgenommen wurden, um zwischen dem Orient und dem Okzident differenzieren zu können (vgl. Lingen-Ali 2012: 24 ff.). Edward W. Said (1978) untersuchte verschiedene Schriften, darunter Briefe, Romane, Reiseführer, und erarbeitete die postkoloniale Theorie des Orientalismus (vgl. Said 1978, 2017). Beim Orientalismus handelt es sich um eine Herrschaftsform des Westens: „Saids zentrale These besagt, dass ›der Westen‹ ›den Orient‹ als ein kulturelles Gegenbild, sein ›Anderes‹ geschaffen habe“ (Attia 2009: 11). Mithilfe des Orientalismus‘ konnten bestimmte Bilder über den Orient und den Okzident hervorgebracht werden, die ausgewählte Funktionen, wie bspw. „Legitimation gesellschaftlicher Hierarchien“ (Lingen-Ali 2012: 24), beinhalteten. Die Andersartigkeit von Muslim*innen wurde naturalisiert (vgl. ebd.). So viel erst einmal zu Orientalismus und somit der Vorgeschichte von antimuslimischem Rassismus.

In der Wissenschaft gibt es zum Phänomen des antimuslimischen Rassismus gleich mehrere Konzepte, die einen ähnlichen Gegenstand beschreiben möchten, darunter: Islamfeindlichkeit, Muslim*innenfeindlichkeit, Islamophobie.Footnote 17 Zick merkt zu Islam- und Muslim*innenfeindlichkeit im Rahmen eines Tagungsbands Folgendes an:

„Empirisch betrachtet, sind beide [Islam- und Muslim*innenfeindlichkeit] in der Regel signifikant korrelierende Facetten, aber sie können auch nicht einfach als eine zusammenhängende Dimension einer allgemeinen Abwertung beurteilt werden, wie sie etwa mit dem ungenauen Terminus der Islamophobie bezeichnet wird“ (Zick 2012: 35).

Eine Begriffsspezifizierung ist äußerst wichtig, um mithilfe dessen den Gegenstand zu erfassen, ohne dabei wesentliche Aspekte zu relativieren oder gar auszublenden. Die Hauptkritik lässt sich darin vermerken, dass es kaum konzeptionelle Trennschärfe und Einheitlichkeit gibt. So umschreibt Feindlichkeit eine abwertende, ablehnende und insbesondere verachtende Haltung. Sobald von Muslim*innenfeindlichkeit gesprochen wird, wird dabei die soziale Gruppe von Muslim*innen, und bei Islamfeindlichkeit die Religion als Gegenstand der ablehnenden Haltung verstanden. Ob dabei die angeführte Differenzierung zwischen der sozialen Gruppe und Religion auch tatsächlich erfolgt, sei dahingestellt. Eine weitere Problematik besteht darin, dass subtile und unbewusste Haltungen gegenüber Muslim*innen und dem Islam als Religion in den Konzepten des Isam- und Muslim*innenfeindlichkeit nicht viel Beachtung finden. Islamophobie als Begriffsklärung schafft genauso wenig Klarheit. Im Vordergrund stehen hier Bedrohungsgefühle, die u. a. durch die Präsenz von Muslim*innenFootnote 18 ausgelöst werden (vgl. Logvinov 2017: 9). An dieser Stelle möchte ich weniger die Begründung dafür anführen, welche Konzepte für mich nicht in Frage kommen. Vielmehr möchte ich erläutern, warum ich den Begriff antimuslimischen Rassismus (vgl. Attia 2007, 2009, 2013; Attia/Keskinkılıç 2016) in meiner Arbeit einbeziehe. Antimuslimischer Rassismus beleuchtet Herrschafts- und Dominanzverhältnisse. Im Gegensatz zu den zuvor genannten Begriffen nimmt der antimuslimische Rassismus als Konzept auch die Funktionen und Wirkungsweisen mit in den analytischen Blick (vgl. Biskamp 2016: 61). Beim antimuslimischen Rassismus wird nicht länger auf einen biologistischen ‚Rasse‘-Ansatz zurückgegriffen, „sondern nimmt die Zugehörigkeit zu einer konstruierten fremden Kultur als Markierungs- und Determinierungskriterium für die intellektuellen und persönlichen Eigenschaften der Betroffenen auf“ (Barskanmaz 2009: 366; Hervorhebung im Original). Biskamp bezieht sich auf eine Reihe anderer Autor*innen und fasst den Kernaspekt des antimuslimischen Rassismus‘ darin zusammen, dass es um die Darlegung gehe, „wie der Islam als Anderer konstruiert wird, wie diese Konstruktionen mit Machtrelationen wechselwirken, wie sie durchgesetzt werden, welche Bedürfnisse dabei zum Ausdruck kommen und welche Funktionen sie erfüllen“ (Biskamp 2016: 61). Dabei fungieren hauptsächlich ‚Wir‘ vs. ‚Ihr‘ Konstrukte als Mittel, um rassistisch-tradiertes Wissen zu (re-)produzieren. In antimuslimisch rassistischen Situationen gelten diese Konstruktionsprozesse, die auch als Othering-Prozesse bezeichnet werden, als ein Merkmal dessen (vgl. Shooman 2014; Attia 2009). Hier finden auch subtile und nicht-intendierte Handlungen Beachtung und können mithilfe des antimuslimischen Rassismus erläutert werden. Die hier erwähnten Konstruktionsprozesse stellen oft einen Teil von Diskriminierungserfahrungen dar, weshalb diese Prozesse in Untersuchungen von Diskriminierungserfahrungen zu dekonstruieren gilt, um ihre Bedeutungsweisen herausarbeiten zu können.

3.1.3 Diskriminierungs- und Rassismuserfahrung

Bezeichnungen wie Auslandserfahrung, Lebenserfahrung, Berufserfahrung sind nur einige Begriffe, die sich im alltäglichen Sprachgebrauch wiederfinden. In der Regel wird die Bezeichnung einer Person als erfahren positiv bewertet, da Erfahrungen immer auch Wissen und in gewisser Weise eine Klugheit implizieren. Erfahrungen bleiben zunächst verborgen, bis sie kommunikativ greifbar und interaktional beobachtbar gemacht werden. Einerseits können Menschen nach ihren Erfahrungen gezielt befragt werden, die sie kommunikativ zugänglich machen können. Andererseits können Menschen auch in ihrem Verhalten über einen längeren Zeitraum beobachtet werden. Zentral dabei ist, dass in beiden Fällen das Wissen, das aus den Erfahrungen abgeleitet werden, kognitiv abgespeichert wird und wieder abrufbar ist. Das Gedächtnis dient der Reflexionsfähigkeit, in dem soziale Situationen sowie das eigene und das Verhalten anderer (neu)bewertet werden. Erst auf diese Weise können Verhaltensänderungen vorgenommen werden. Der Reflexionsrahmen knüpft an das vorhandene Wissen an. Die gewonnen Erkenntnisse können als Wissenserweiterung erachtet werden. Der Mensch lernt also aus den Erfahrungen dazu. Alfred Schütz beschreibt das Wissenssystem mit den Eigenschaften „inkohärent, inkonsistent und nur teilweise klar“ (Schütz 2011: 63). Zudem vertritt er den Standpunkt, dass Personen in ein Wissenssystem hineingeboren werden, das von Vorfahren vorstrukturiert wurde. Das System, das vorzufinden ist, bleibt solange unhinterfragt, bis es an seine Grenzen stößt (vgl. ebd.: 63 f.). Um den Bezug zum rassistischen System herzustellen, kann auf die Aussage von Broden/Mecheril – „Rassismus bildet“ – zurückgegriffen werden: „‚Rassismus bildet‘ weist [.] daraufhin, dass Rassismus mittels Wissens und Erfahrung auf Prozesse der Konstitution und Transformation von Selbst- und Weltverhältnissen positiv oder negativ Einfluss nimmt“ (Broden/Mecheril 2010: 7). Bei Diskriminierungs- und Rassismuserfahrung wird von negativen Erfahrungen ausgegangen, und diese bedürfen einer näheren Erläuterung, um vor Augen zu führen, was sie genau meinen, bevor eine analytische Diskussion darüber angestrebt wird. Während einige Arbeiten sich auf den Begriff Rassismuserfahrung (bspw. Scharathow 2014; Mecheril 2003) und wiederum andere auf den Begriff Diskriminierungserfahrung (bspw. Scherr/Breit 2020) beziehen, berufe ich mich hier auf beide Erfahrungsbegriffe, um die kleinen, aber dennoch wichtigen Unterschiede hervorzuheben. Auch wenn der Unterschied an dieser Stelle für einige nicht von großer Bedeutung erscheinen mag, sehe ich die Notwendigkeit gegeben, diese Differenzierung aufzuzeigen, um auch an unterschiedliche Wissensstände anknüpfen zu können. Gleichzeitig wird mein Gedankengang offengelegt, um die darauffolgenden Aussagen angemessen einordnen zu können. In den vorherigen Kapiteln wurde bereits die Unterscheidung zwischen den Begriffen Diskriminierung und Rassismus vorgenommen. Diesen Ansatz gilt es weiterhin im Blick zu behalten, wenn zwischen Diskriminierungs- und Rassismuserfahrung differenziert werden soll. Alle Aspekte, die im Folgenden für den Begriff Diskriminierungserfahrung angeführt werden, gelten auch für den Begriff Rassismuserfahrung. Aber nicht alle Aspekte der Rassismuserfahrung sind grundsätzlich auf Diskriminierungserfahrung zu übertragen. Dies bedeutet, dass Diskriminierungserfahrung hier als eine Art Sammelbegriff oder eher noch als ein Oberbegriff verstanden wird, wobei RassismuserfahrungFootnote 19 eine spezifische Erfahrungsform von Diskriminierungserfahrung darstellt, die aus einem Herrschaftsverhältnis hervorgeht.

Für eine Begriffsbestimmung von Diskriminierungserfahrung greife ich auf die Definition von Scherr/Breit zurück, da ihrem Verständnis ein sozialwissenschaftlicher Ansatz zugrunde liegt. Die Autor*innen beschreiben Diskriminierungserfahrung als eine „unzulässige Zuordnung, Eigenschaftszuschreibung oder merkmalsbezogene Benachteiligung“Footnote 20 (Scherr/Breit 2020: 37) von Betroffenen. Sie betonen, dass die Einordnung aus einer Außenperspektive, ob es sich hierbei um eine faktische und juristische Diskriminierung handle, irrelevant sei (vgl. ebd.). Mit der Aussage von Scharathow kann der hier angeführte Aspekt untermauert werden: „Es geht hier nicht darum – und es kann in Anbetracht der Subjektivität von Erfahrung auch gar nicht darum gehen –, aus einer Außenperspektive heraus darüber zu spekulieren, ob diese Erfahrung gerechtfertigt ist oder nicht“ (Scharathow 2014: 440). Demzufolge entsteht die Diskriminierung(serfahrung) erst in der Wahrnehmung des Betroffenen, weshalb es sich hierbei um einen subjektiv „interpretativen Prozess“ (El-Mafaalani et al. 2017: 180) handelt. Daher ist es ausschlaggebend, was die Betroffenen unter Diskriminierung auffassen und wie sie diese letztendlich deuten. Der Deutungsrahmen der Betroffenen ist geprägt von ihren Vorerfahrungen und Sozialisierungsprozessen, weshalb diese als sozial voraussetzungsvolle Aspekte mit in die Diskriminierungserfahrungen einfließen. Erst die Berücksichtigung dieses spezifischen Erfahrungsraums mit den sozial-strukturellen Kontexten macht die Interpretationsprozesse von Diskriminierungserfahrungen greifbar (vgl. Scherr/Breit 2020: 47 f.; El-Mafaalani et al. 2017: 180). Mit Blick auf die bisher angeführten Gesichtspunkte sind drei weitere wichtige Aspekte anzuführen: Erstens sind nicht alle faktischen DiskriminierungenFootnote 21 für die Betroffenen erfahrbar. So sind institutionelle Diskriminierungen, die sich bspw. in der herkunftsbezogenen Auswahl von Wohnungsinteressierten manifestiert, nicht offensichtlich erfahrbar, da grundsätzlich die Entscheidungsprozesse nicht offengelegt und die Auswahlkriterien nicht direkt kommuniziert werden (vgl. Scherr/Breit 2020: 38). Zweitens konnte nicht zuletzt in der Untersuchung von El-Mafaalani et al. festgestellt werden, dass zwischen der wahrgenommenen Diskriminierung und der tatsächlichen Diskriminierung eine Diskrepanz besteht. Diese widersprüchlichen Zusammenhänge wurden bislang nur empirisch geschlussfolgert und nicht näher untersucht, weshalb dieses Phänomen eigener näherer Untersuchungen bedarf (vgl. El-Mafaalani 2017: 175). Drittens sind aufgrund der zwei bisher angeführten Aspekte keine Rückschlüsse von einer Diskriminierungserfahrung auf die faktische bzw. tatsächliche Diskriminierung und umgekehrt möglich.

Der wesentliche Unterschied zwischen Diskriminierungs- und Rassismuserfahrung liegt darin, dass Rassismuserfahrung an rassistisch tradierten Unterscheidungen ansetzt und nur in solchen Zusammenhängen erfolgen kann (vgl. Mecheril 2009: 469). Wenn Rassismus, wie zuvor dargelegt, als ein Machtsystem verstanden wird, strukturiert er nicht nur die sozialen Beziehungen zwischen den Menschen(gruppen), sondern beeinflusst auch die Wahrnehmung, das Handeln und grundsätzlich das gesamte Miteinander. Das rassistische System bringt erst die Diskriminierung hervor (vgl. Scharathow 2014: 46). Durch die strukturierende Komponente subjektiviert Rassismus Individuen, sodass letztendlich Subjekte hervorgebracht werden.Footnote 22 D. h., Rassismus formt die Menschen. Sowohl die Handlungsfähigkeit als auch das Selbstverständnis sind an die Strukturen des Rassismus gebunden (vgl. Mecheril 2004: 198). Was bedeutet das im Einzelnen? Rassismus besteht – so hatte Rommelspacher es in ihrer Definition formuliert – aus kollektiven Erzählungen, Institutionen, Bildern, etc. (vgl. Rommelspacher 2002: 132). Diese beeinflussen das Zusammenleben von Menschen in einer Gesellschaft. Somit werden die Menschen durch diese zu Subjekten geformt: „Dominante Strukturierungen einer Gesellschaft […] wirken als Rahmen, in dem Gewohnheiten des Denkens und Handelns ermöglicht und nahe gelegt werden“ (Mecheril 2004: 198). Das bedeutet, dass die Menschen sich Handlungen aneignen, die rassistisch gedeutet werden. Ein plakatives Beispiel hierfür ist die Bezeichnung von Buntstiften: In Kindergärten und Schulen existiert die Bezeichnung des ‚Hautfarbenstifts‘. Die Kinder eigenen sich diese Bezeichnung für den Farbstift an und reproduzieren diese Handlung kontinuierlich, ohne diese zu hinterfragen. Die Bezeichnung prägt ihre Wahrnehmung und Bewusstsein für Hautfarbe. Dass die Bezeichnung des Stifts mit Normalitätsvorstellungen und -konstrukten von Hautfarbe einhergeht, ist aus rassistischen Kontexten entstanden und schreibt sie durch diese Praxis fortwährend weiter. An diesem Beispiel kann dargelegt werden, wie Rassismus Subjekte hervorbringt, „deren Handlungsfähigkeit und Selbstverständnis mittels der Erfahrungen, die sie in dem rassistischen Raum machen, an die Struktur des Kontextes gebunden bleiben, diese aufnehmen, bestätigen, aber auch transformieren und modifizieren“ (ebd.). In Gesellschaften, in denen es Rassismus gibt, sind dann Erfahrungen möglich, die sich auf die Wahrnehmung und das Handeln auswirken. Rassismuserfahrung kann daher auch als ein Produkt angesehen werden, das nicht abschließend formiert ist, sondern viel mehr produktiv (vgl. Scharathow 2014: 50) Wissen, Handlungsweisen, Bewältigungsformen und Wahrnehmungsstrukturen herstellt. Folgende bewusste verkürzte Aussage soll verdeutlichen, dass Rassismus und Diskriminierung nicht dasselbe meinen: Ohne ein rassistisches System gäbe es auch keinen Rassismus bzw. Rassismuserfahrung. Weiterhin gäbe es dennoch Diskriminierung, die bspw. aufgrund des Geschlechts erfolgt.

Mecheril nimmt eine dimensionale Unterscheidung von Rassismuserfahrungen vor und unterteilt sie in:

„Ausprägungsart: massiv, subtil

Vermittlungskontext: institutionell, individuell

Vermittlungsweise: kommunikativ, imaginativ, medial

Erfahrungsmodus: persönlichFootnote 23, identifikativ, vikariell, kategorial“Footnote 24 (Mecheril 2003: 70).

Die dimensionale Unterteilung von Mecheril soll als ein Unterscheidungsansatz aufgefasst werden (vgl. Mecheril 2009: 469). Dieser Ansatz ermöglicht, Rassismuserfahrung aus unterschiedlichen Perspektiven zu betrachten und Rassismus in seiner komplexen Wirkmächtigkeit bewusst zu machen. Mecheril spricht dann von Rassismuserfahrung, wenn anhand phänotypischer und sozialer Merkmale Differenzkonstruktionen vorgenommen werden und dadurch zu „Degradierung, Beschämung und Angriffen“ (Mecheril 2004: 199) von Personen führen. Melter setzt an diesen Vorüberlegungen von Mecheril an und fordert gleichzeitig ein erweitertes Verständnis von Rassismuserfahrung. In Anlehnung an seine eigene Definition vom Alltagsrassismus spricht Melter auch dann von Rassismuserfahrung, wenn es sich hierbei um „das Erleben von alltäglichem institutionellem und alltäglichem strukturellem Rassismus und demjenigen in veröffentlichten Diskursen“ (vgl. Melter 2006: 35) handelt. Die Erweiterung von Melter halte ich für sinnvoll, da die alltägliche Manifestierung rassistischer Wirkmächtigkeit im Alltag der Menschen deutlich hervorgehoben wird, ohne sie auf einzelne Aspekte zu reduzieren. Ein erweitertes Verständnis bietet die Möglichkeit, mehrere rassistische Kontexte gleichzeitig mit dem Begriff der Rassismuserfahrung zu erfassen. Während Mecheril implizit die Aussage trifft, dass es in Deutschland einige Menschen gibt, die Rassismuserfahrungen erleben (vgl. ebd.:468) und Melter die Erfahrung den Personen zuschreibt, die von der Mehrheitsgesellschaft als „nicht deutsch“ adressiert werden (vgl. Melter 2006: 35), vertritt Scharathow den Standpunkt, dass im Rahmen eines rassistischen Systems alle Menschen Erfahrungen mit Rassismus machen, nur jede*r auf ihre seine*ihre eigene Weise. Sie differenziert daher zwischen privilegierten und deprivilegierten Positionen, aus denen heraus die Erfahrung gemacht wird (vgl. Scharathow 2014: 50). Scharathow bezieht sich dabei auf Mecheril/Hoffarth (2009) und Engelmann (1999) und definiert Rassismuserfahrungen wie folgt:

„Rassismuserfahrungen können als das subjektive Erleben einer so strukturierten sozialen Wirklichkeit sowie der damit einhergehenden Aufforderungen beschrieben werden, sich mit den Diskursen und Praktiken, in denen sie sich manifestiert, interpretierend und handelnd auseinanderzusetzen. Damit variieren einerseits die Bedeutungen des Erfahrenen und generieren Erfahrungen andererseits immer auch Formen des Wissens, der Selbst- und Weltverständnisse, Einschätzungen und Handlungsweisen“ (Scharathow 2017: 108).

Sowohl Melters als auch Scharathows Ansatz berücksichtigen bei der Begriffsbestimmung von Rassismuserfahrung die zeitliche Komponente. Sie reduzieren Rassismuserfahrung nicht ausschließlich auf den Zeitpunkt, wo Menschen eine interaktionale rassistische Ausgrenzung bzw. Zuschreibung erfahren. Rassismuserfahrungen gehen über die sozialen Situationen hinaus, weshalb Scharathow von einer Aufforderung spricht, in denen die Menschen dazu angehalten sind, sich immer wieder mit diesen Erfahrungen und/oder auch aus den daraus hervorgehenden Auswirkungen auseinanderzusetzen. Die angeführte Definition beschreibt den Gegenstand angemessen, weshalb diese auch in der hier vorliegenden Arbeit ihre Anwendung findet. Allerdings wird die Begriffsbestimmung nicht mit dem Verständnis von Scharathow, dass alle Menschen in einer rassistischen Gesellschaft Rassismuserfahrung machen, übernommen. Diesen Standpunkt möchte ich etwas näher ausführen: Die soeben dargestellte Definition kann aus beiden gesellschaftlichen Positionen, sowohl privilegierte als auch deprivilegierte, gelesen werden. In einer Fußnote fügt Scharathow an, dass nach dem hier vorgeschlagenen Ansatz von Rassismuserfahrungen so gesehen jede Person einer rassistischen Gesellschaft Rassismuserfahrung erlebt. Die Erfahrungen sind jedoch abhängig von der sozialen Position, die die Gesellschaftsmitglieder einnehmen (vgl. Scharathow 2017: 108). An dieser Stelle möchte ich diesen Grundgedanken aufgreifen und eine neue Perspektive aufzeigen: Ich plädiere dafür, Rassismuserfahrung nicht grundsätzlich bei allen Menschen einer rassistischen Gesellschaft vorauszusetzen und erst in einem zweiten Schritt anhand der gesellschaftlichen Position zwischen den Erfahrenen zu unterscheiden. Tatsächlich postuliere ich dafür, Rassismuserfahrung als Begriff ausschließlich der sozialen Gruppe zu zugestehen, die durch die rassistische Gesellschaft eine benachteiligende soziale Position einnimmt und Ungleichheitserfahrung machen (kann). Folgende Gründe sind dafür zu benennen:

  1. (1)

    Mithilfe einer begrifflichen Differenzierung würde bereits die Position des Erfahrenen, ob privilegiert oder deprivilegiert, sprachlich zum Ausdruck kommen und den einzelnen von Beginn an eine gesonderte Gewichtung zukommen lassen.

  2. (2)

    Die Erfahrungen, die Betroffene immer wieder machen müssen, sind schmerz- und leidvoll, weshalb eine pauschalisierende Bezeichnung der Erfahrenen, dass alle Menschen Rassismuserfahrungen machen, relativierende Wirkung hätte.

  3. (3)

    Es liegt eine analytische Trennschärfe zwischen den Erfahrungsräumen. Rassismuserfahrung fungiert als eine Analysekategorie der Deprivilegierten.

  4. (4)

    Während Privilegierte über die Freiheit darüber verfügen, selbst bestimmen zu können, wann und inwieweit sie sich mit Rassismus befassen wollen, sehen sich die Betroffenen dazu gezwungen, sich immer wieder mit Rassismus auseinandersetzen zu müssen. Eine sprachliche Unterscheidung würde diesen Aspekt ebenfalls hervorheben.

Nun möchte ich auf einzelne Punkte gesondert eingehen, um Missverständnisse zu vermeiden. Die hier angeführten Aspekte gelten ausschließlich dem Erfahrungsmodus. Eine derartige Unterscheidung zwischen den Erfahrungsräumen der Erfahrenen soll niemanden aus der Verantwortung für Rassismus entlassen. Es geht mir vielmehr darum, den Erfahrungsunterschied insbesondere hervorzuheben aus den bisher angeführten Gründen. Um das Gesagte an einem Beispiel zu explizieren, greife ich auf einen drastischen Vergleich zurück: Wenn eine Gruppe von Menschen nach ihren Gewalterfahrungen gefragt wird, würden sich nur die Menschen zu Wort melden, die zum Opfer von Gewalt wurden. Gewalterfahrung wird somit nicht den Menschen zugeschrieben, die diese auch ausüben. Ein anderes Beispiel: Wenn eine Person zum Opfer einer sexuellen Gewalttat wird, dann wird dem Opfer diese Erfahrung zugestanden. Der Täter würde hier nicht von sich behaupten, dass er sexuelle Gewalterfahrung gemacht hat. Von außen betrachtet würde nur dem Opfer diese Erfahrungsform zugeschrieben werden. Dieser Vorgang ist deshalb auch notwendig, um zunächst zwischen diesen beiden Rollen und ihre Erfahrungen in dieser Situation zu differenzieren, aber auch um dem Opfer und ihrem*seinem Erlebnis mit Respekt zu begegnen. Der Vergleich mit den Gewalterfahrungen von Menschen soll keineswegs den Aspekt einer absichtlichen Handlung erneut fixieren. Beim Rassismus sind weiterhin auch die nicht-intendierten Handlungen zu berücksichtigen.

Mir ist bewusst, dass ich durch meine Forderung, Rassismuserfahrungen nur den Erfahrenen zu zugestehen, die durch das rassistische System eine Benachteiligung erfahren – hierzu zählt auch die Erfahrung mit positivem Rassismus –, einen dichotomen Ansatz verfolge. Ist denn überhaupt eine eindeutige Unterscheidung zwischen den Erfahrungsräumen möglich? Einerseits gibt es Deprivilegierte, die in Gesellschaften, in denen Rassismus gibt, machtvolle Positionen einnehmen können und rassistische Strukturen stützen bzw. reproduzieren. Andererseits gibt es wiederum Privilegierte, die sich ihrer gesellschaftlichen Position bewusst sind und rassistische (Macht)Strukturen zu bekämpfen versuchen. Nichtsdestotrotz unterscheiden sich auch die hier genannten Personengruppen voneinander. Ihre Erfahrungsräume bleiben zum einen dennoch ähnlich und somit voneinander differenzierbar. Und zum anderen ist die Wahrscheinlichkeit, welche Erfahrungen sie in einer rassistischen Gesellschaft machen werden, vorhersehbar. Denn das rassistische System würde auch ohne die beiden zuletzt genannten Personengruppen fortbestehen. Hinzu kommt, dass die Überlegungen hierzu noch lange nicht abgeschlossen sind, im Gegenteil. Die oben genannten Aspekte zur Verwendung des Begriffs Rassismuserfahrung bilden eine Diskussionsgrundlage, die nun von Wissenschaftler*innen und Praktiker*innen aufgegriffen werden soll. Schlussendlich wird in der hier vorliegenden Arbeit der Begriff Rassismuserfahrung nur den Personen zugesprochen, die durch das rassistische System eine marginalisierte Position einnehmen.Footnote 25

3.2 Intersektionalität

„Nur eine weitgehende Bewußtmachung aller Herrschafts- und Diskriminierungsformen ermöglicht es, unser Umfeld differenziert wahrzunehmen und Unterschiede für Veränderungen zu nutzen“ (Konuk 1996: 235).

Die Wurzeln der IntersektionalitätFootnote 26 liegen in der US-amerikanischen Black Feminism-Bewegung, die es sich zum Ziel nahm, gegen die Ungleichbehandlung Schwarzer Frauen in den 1970er und 1980er Jahren vorzugehen.Footnote 27 In diesem Zuge wurde das „hegemoniale Frauenbild, das von der Vorstellung einer weißen, heterosexuellen Mittelschichtsfrau dominiert wurde“ (Wirz 2021: 23), kritisiert. Die Konzeption von Intersektionalität ist auf die Schwarze Juristin Kimberlé Crenshaw aus den USA zurückzuführen.Footnote 28 In ihrer Arbeit (1989) untersuchte sie hierzu ausgewählte Gerichtsurteile: Fünf Schwarze Frauen klagten gegen ihren ehemaligen Arbeitgeber, das Unternehmen General Motors. Sie warfen dem Arbeitgeber Diskriminierung vor, da die Klägerinnen ihren Arbeitsplatz wegen eines Rückgangs der Konjunktur verloren und die Entlassungen sich nach der Dauer der Beschäftigungsverhältnisse richteten (vgl. Crenshaw 2013: 37 f.). Das heißt, wer als letztes eingestellt wurde, war von der Entlassung betroffen. Jedoch wurden vor 1964 keine Schwarzen Frauen im Betrieb eingestellt und die Entlassung betraf alle Einstellungen nach 1970 (vgl. ebd.), somit also in hohem Maße Schwarze Frauen. Crenshaw stellte fest, dass das Antidiskriminierungsrecht, das in den 1960er Jahren in den USA eingeführt worden war, „lediglich [S]chwarze Männer als Repräsentanten der Kategorie Schwarz und weiße Frauen als Repräsentantinnen der Kategorie Frau vor Arbeitsplatzverlust“ (Lutz 2017: 22; Hervorhebung im Original) schützte. Obwohl die Klägerinnen kritisch anmerkten, dass es ihnen bei der Klage um eine Diskriminierung als Schwarze Frau ging, wo ‚Rasse‘ und Geschlecht gleichzeitig eine Rolle spielen, war das Gericht anderer Auffassung und bezog sich auf die juristische Rechtsgrundlage, die nun einmal die Kategorien ‚Rasse‘ und Geschlecht separat voneinander betrachtet. Dadurch waren Schwarze Frauen nur bis zu einem gewissen Punkt vom Antidiskriminierungsrecht geschützt (vgl. Crenshaw 2013: 39). Crenshaw bemängelt den Ansatz des „single-axis-approach“ (vgl. ebd. 1989) und schlägt einen intersektionalen Ansatz vor. Diesen erläutert sie am Beispiel einer Straßenkreuzung („intersection“), an der sich zwei Merkmale (in diesem Fall ‚Rasse‘ und Geschlecht) kreuzen könnten (vgl. ebd. 1989, 2013). Der Kerngedanke von Crenshaw ist dabei, die Kategorien ‚Rasse‘ und Geschlecht nicht gesondert und isoliert von allem zu betrachten (vgl. Bronner/Paulus 2017: 80). Es sei darauf hingewiesen, dass es neben Crenshaw bereits wissenschaftliche Überlegungen zu Verflechtung von sozialen Kategorien gab. Diese setzten sich jedoch nicht durch oder erlangten keine Popularität (vgl. Lutz et al. 2013: 13). Intersektionalität stellt somit eine Möglichkeit dar, bisherige Traditionen, in denen Kategorien und Differenzlinien starr und statisch aufgefasst wurden, aufzulösen. Mit Blick auf die Erfahrung der Diskriminierten ist zu sagen, dass ein eindimensionaler Bezugsrahmen – auch als single-issue-framework bekannt – soziale Kategorien als sich gegenseitig ausschließende Kategorien begreift. Dies hat zur Folge, dass ausschließlich privilegierte Personen aus der Gesellschaft von Anti-Diskriminierungsgesetzen profitieren (vgl. Marten/Walgenbach 2017: 159) und nur ihre Erfahrungsrealitäten Raum und Beachtung finden. Das Konzept der Intersektionalität zeigt neue Wege auf, um nicht länger „gesellschaftliche Positionen auf subjektive Identitäten zu reduzieren, [und] gesellschaftliche Strukturen ohne die sie aktiv re-produzierenden oder ihnen widerstehenden Individuen zu denken“ (Räthzel 2010: 288). Der Intersektionalitätsansatz möchte zudem die Mehrfachdiskriminierung in Form einer Addition der sozialen Merkmale hinter sich lassen. Kategorien können nicht subsummiert oder untereinander gleichgesetzt werden (vgl. Lenz 2010: 160; Riegel 2016: 41). Sie sind im Einzelnen individuell zu betrachten. Außerdem rückt durch eine intersektionale Perspektive die Verschränkung mehrerer Kategorien in den Vordergrund. Ein weiteres Merkmal für intersektionale Ansätze ist, dass „Macht- und Herrschaftsverhältnis[se] bzw. Diskriminierungs- und Unterdrückungsformen“ (Riegel 2016: 41) mehr in das Blickfeld genommen werden. Mit Blick auf Diskriminierungserfahrung sei darauf hingewiesen, dass nicht in jeder Erfahrung alle Kategorien gleichermaßen eine Relevanz erhalten. Die empirische Intersektionalitätsforschung vertritt dazu den Standpunkt, „dass die Berücksichtigung von drei Kategorien als Mindeststandard zu betrachten ist“ (Lutz 2017: 28), wie die Trias ‚Rasse‘, Klasse und Geschlecht. Sie bedingen sich gegenseitig, sodass die einzelnen Kategorien in verschiedenen Situationen unterschiedliche Gewichtung erhalten können.

Leslie McCall schlägt drei verschiedene kategoriale Zugänge für eine intersektionale Analyse vor: inter-, intra- und antikategorial (vgl. McCall 2001; 2005). Kurz zusammengefasst können die drei Zugänge wie folgt wiedergegeben werden: Der interkategoriale Zugang fokussiert die Wechselwirkungen zwischen verschiedenen Kategorien und analysiert somit auch die Zusammenhänge und Verschränkungen (vgl. Bronner/Paulus 2017: 93), während der intrakategoriale Zugang die vielschichtige Heterogenität innerhalb einer Kategorie zu berücksichtigen versucht. Hier stehen die Unterschiede und Ungleichheiten, die innerhalb einer Kategorie auftreten, im Mittelpunkt (vgl. ebd.: 94). Der antikategoriale Zugang kritisiert dabei die Konstruktion von Kategorien, stellt diese grundsätzlich in Frage und fordert schlussendlich eine Dekonstruktion der Kategorien (vgl. ebd.: 95).

Durch die Betrachtung mehrerer Kategorien können somit ineinander verflochtene Ungleichheitsverhältnisse mit ihren Ausgrenzungspraxen herausgearbeitet werden, was durch die Fokussierung einzelner Kategorien nicht möglich wäre. Eine intersektionale Perspektive innerhalb einer Analyse entspricht der tatsächlichen Komplexität der sozialen Wirklichkeit und ermöglicht eine erweiterte Sicht auf soziale Ungleichheiten und ihre strukturellen Mechanismen. Ein weiterer Vorteil wird darin gesehen, dass durch intersektionale Betrachtungsweisen Homogenisierungsprozesse sozialer Gruppen durchbrochen werden können. Die Vielschichtigkeit innerhalb sozialer Gruppen erlangt aus dieser Perspektive größere Bedeutung. Insbesondere werden das Zusammenspielen verschiedener Kategorien und die dadurch entstehenden Verschränkungen genauer unter die Lupe genommen. Unsicherheit besteht dahingegen in der konkreten Anwendung intersektionaler Analysen. Wie kann eine intersektionale Analyse aussehen? Vorwegzunehmen ist, dass das Konzept der Intersektionalität in die verschiedensten Disziplinen Eingang gefunden hat. Inzwischen gibt es ähnlich der oben beschriebenen kategorialen Zugänge von McCall weitere Analysehilfen, die im Rahmen intersektionaler Untersuchungen hinzugezogen werden können. Zum einen gibt es Analysemodelle, die soziale Kategorien komplementär zueinander setzen und somit auch hierarchische Verhältnisse analytisch mitberücksichtigen (vgl. Lutz 2017: 27; Leiprecht/Lutz 2011: 188). Zum anderen kann auf eine Mehrebenenanalyse von Winker und Degele (2009) zurückgegriffen werden. Die Autorinnen formulieren in ihrer intersektionalen Mehrebenenanalyse acht analytische Schritte, die dazu dienen, das zu untersuchende Datenmaterial aufzubrechen und empfehlen hierbei eine iterative Vorgehensweise (vgl. Winker/Degele 2009: 79 ff.). Anders als die genannten Autor*innen bietet Riegel sogenannte Fragedimensionen an, die an das Material gerichtet werden können, um die intersektionale Analyseperspektive zu schärfen:

„1. Welche sozialen Kategorien und Dominanzverhältnisse werden (wie) relevant? Wie wirken diese zusammen?

2. Wie werden diese sozialen Differenzen und Ungleichheitsverhältnisse (situativ, habituell, diskursiv und praxeologisch) hergestellt und reproduziert?

3. Welche Funktionen und welche Folgen hat dies für die beteiligten Subjekte und für die soziale Ordnung des Systems?

4. Welche Möglichkeiten gibt es, diesen Reproduktionsprozess von ungleichheitsstrukturierender Differenzbildung zu durchbrechen?“ (Riegel 2010: 77)Footnote 29

Die angeführten AnalysehilfenFootnote 30 sind beispielhaft für intersektionale Forschungsansätze zu verstehen, die alle ein Ziel haben: Das Zusammenlaufen und Zusammenwirken von sozialen Kategorien zu untersuchen. Lutz et al. sprechen vom Potenzial der Re-Positionierung, die sie in intersektionalen Ansätzen sehen, das heißt, „dass in Bezug auf jede untersuchte Ungleichheitsdimension sowohl die benachteiligenden wie auch die privilegierenden Effekte in den Blick zu nehmen sind“ (Lutz et al. 2013: 23). Erst auf diese Weise sind kritische Auseinandersetzung im Kontext von Macht- und Herrschaftsverhältnissen machbar. Letztendlich untersuchte Crenshaw ein Problem von Schwarzen Frauen, die damit zu kämpfen hatten, ihre Erfahrung, dass sie als Schwarze Frauen diskriminiert wurden, juristisch anzuerkennen. Crenshaw gelang es, einem Phänomen einen Namen zu geben, indem sie es empirisch umschrieb und konzeptualisierte. Ihre Metapher der Straßenkreuzung fand zudem Eingang in viele andere Bereiche (vgl. ebd.: 13). Letztendlich ermöglicht ein Verständnis von Intersektionalität, Diskriminierungserfahrungen nicht alle gleichzusetzen. Vielmehr wird nun anerkannt, dass durch das Zusammenspiel von Rassismus und Sexismus soziale Gruppen je anders betroffen sind und sich dadurch in ihrer Diskriminierungs- und Rassismuserfahrung unterscheiden. Das bedeutet nicht, dass eine Person, die sich mehreren Kategorien zuordnen lässt, die doppelte Menge an Unterdrückung erlebt, sondern vielmehr eine Form der Ausgrenzung erfährt, die nur sie und ihre soziale Gruppe erfahren können. Da ich mich in meiner Untersuchung ausschließlich mit muslimischen Frauen beschäftigt habe, spielt das Wechselspiel von Rassismus und Sexismus eine zentrale Rolle in meiner Untersuchung, weshalb ich nachstehend kurz darauf eingehen möchte.

3.3 Geschlechterverhältnisse innerhalb des Rassismusʼ

Während beim Rassismus aufgrund phänotypischer Merkmale eine Einteilung in soziale Gruppen vorgenommen wird, verläuft es beim Sexismus nach einem ähnlichen Prinzip. Sobald Personen als weiblich bzw. als ‚Frau‘ gelesen werden, erfolgt eine Einteilung innerhalb des vorherrschenden Geschlechtersystems. Die Gemeinsamkeit von Rassismus und Sexismus ist, dass bei beiden „Formen systematisch[e] Ungleichbehandlung unter Rückgriff auf eine vermeintlich natürlich gegebene Differenzierung gruppentypisch[e] Wirkungsbereiche legitimiert“ (Kerner 2009: 329) wird. Beide Formen haben zwar Unterdrückung sozialer Gruppen zur Folge, sind aber nicht in ihrer Funktionsfähigkeit gleichzusetzen (vgl. Lutz 1992). Sowohl Rassismus als auch Sexismus können nicht völlig voneinander abgeschirmt betrachtet oder in ihrer Ausgrenzungserfahrung subsumiert werden.

Differenzordnungen gehören zu Sozialisierungsprozessen von Menschen, die mit ihnen ihr alltägliches Handeln und ihre Wahrnehmung strukturieren (vgl. Mertol 2020: 252). Zur Betrachtung der Entstehung von Rassismus als ein System von Herrschafts- und Dominanzverhältnissen können verschiedene soziale Kategorien zur Analyse hinzugezogen werden. Grundsätzlich können Diskriminierungsmechanismen, die etwa mit der sozialen Kategorie ‚Geschlecht‘ einhergehen, nicht isoliert von Rassismus analysiert werden (vgl. Çetin 2017: 80). Wenn ‚Rassen‘-Konstruktionen genauer betrachtet werden, dann ist nicht zu erkennen, dass jeweils ein männliches und ein weibliches ‚Rasse‘-Konstrukt existieren: „[D]as Konstruktionsmerkmal Geschlecht [geht] quer durch alle ‚Rasse‘-Konstruktionen [hindurch]“ (Leiprecht 2001a: 58). Geschlecht spielt in rassistischen Wissensstrukturen also eine zentrale Rolle: „Aus historischer Sicht hat die Entwicklung von Wissensbeständen immer mit Macht zu tun, so dass Geschlechterverhältnisse immer wieder dazu genutzt worden sind, um Fremdheit mit Blick auf die Geschlechter der ‚Anderen‘ zu konstruieren“ (Mertol 2017: 253). Auch in kolonialen Handlungspraktiken dienten Geschlechterordnungen dazu, Ausbeutungen sozialer Gruppen zu legitimieren und Machtverhältnisse auf diese Weise durchzusetzen (vgl. Winkel 2017: 29). Bei der Durchsetzung von Machtstrukturen zeigte sich insbesondere die Kontrolle der Frau durch Kolonisator*innen als wesentlich (vgl. McClintock 1995; Winkel 2017: 29). Ähnliche Handlungspraktiken sind in ausgewählten Debatten von Religion, Migration (vgl. Winkel 2017: 29), aber auch Integration und Geschlechtergerechtigkeit wiederzuerkennen. Im Rahmen dieser Debatten werden Gegensätze aufgezeigt, um ein kontrastierendes Verhältnis zwischen sozialen Gruppen herzustellen. So können beispielsweise Merkmale wie ‚emanzipiert vs. patriarchalisch‘ oder ‚modern vs. traditionell‘ gegenübergestellt werden (vgl. Tuider 2017: 63). Derartige Zuschreibungen sind in komplexe Konstruktions- oder Othering-Prozesse eingebettet. Çetin sieht in den Haltungen, dass der Islam zum einen Frauen unterdrücke und zum anderen homofeindlichFootnote 31 sei, einen antimuslimischen Argumentationsstrang. Derartige generalisierende Zuschreibungen dienen weiterhin nur dazu, soziale Gruppen jeweils in sich erst zu homogenisieren und dann polarisierend gegenüberzustellen. Die defizitären Eigenschaften werden dabei kulturalisiert (vgl. Çetin 2017: 79). Die Unüberwindbarkeit der Zuschreibungen basiere auf einer naturgegebenen Tatsache und soll vor allem zur Legitimierung von ungleichen Machtverhältnissen dienen. Die hier beschriebenen Vorgänge fördern (und festigen) folglich ‚Wir‘ vs. ‚Andere‘-Konstrukte (vgl. ebd.). In der Diskussion von Geschlecht und Rassismus halte ich es für wichtig, die Sexualität als soziale Kategorie mitzuberücksichtigen. Sexualität und Geschlecht sind als Kategoriengeflechte miteinander verwoben.

In der bisherigen Ausführung zu Geschlechterverhältnissen in rassistischen Denk- und Wissensstrukturen sind die definitorischen Merkmale von Rassismus (Homogenisierung, Polarisierung, Naturalisierung und Hierarchisierung) wiederzufinden. Das Zuteilungsprinzip setzt voraus, dass zu jedem Zeitpunkt eine eindeutige rassische und eine geschlechtliche Einteilung von Menschen möglich sei. Die sozial-konstruierten Kategorien werden als statisch und undurchlässig aufgefasst (vgl. Kaufmann 2002: 110). Mittlerweile gibt es einen mehrheitlichen Konsens darüber, dass solche Kategorien (1) veränderbar sind, (2) die Grenzen dadurch ineinander übergehen können und (3) es sich um soziale Kategorien handelt, die nicht durch die Natur, sondern vom Menschen interaktional (re-)produziert werden. So unterschiedlich die Menschen auch innerhalb einer Kategorie sein mögen, verbindet sie eine Sache dennoch: Die gemeinsame Erfahrung als konstruierte Gruppe. Essed beschreibt in ihrem Beitrag Wahrnehmung und Erfahrungen von Geschlecht und Rassismus in Europa (1994), dass Schwarze Frauen und Women of Colour gemeinsame Erfahrung durch rassistische Kontexte machen. Die Erfahrungen sind nicht ohne Weiteres alle gleichzusetzen. Es sind jedoch Gemeinsamkeiten und Ähnlichkeiten in den Erfahrungen zu erkennen,Footnote 32 die über nationale Grenzen hinausgehen (vgl. Essed 1994: 21, 23). Als ein Beispiel für die gemeinsame Erfahrung führt die Autorin die Mutterschaft von Schwarzen Frauen an und kommt zu dem Schluss, dass diese nicht mit einer Mutterschaft von weißen Frauen gleichzusetzen ist. Zur Begründung führt sie migrationsbezogene gesetzliche Regelungen an, die auf die „Schwächung oder Zerstörung der Familieneinheit“ (ebd.: 25) abzielen und sich nicht gegen weiße Frauen richten. Zu einer rassistischen Gesellschaft gehört eine rassistische Politik. Folglich orientieren sich gesetzliche Erlasse ebenfalls an Geschlechterordnungen. Gesetze schaffen Handlungsgrundlagen, um die Geschlechterverhältnisse auch auf einer juristischen Ebene durchzusetzen. Es handelt sich hierbei um direkte Diskriminierungsmechanismen, in denen unterschiedliche Differenzordnungen zur Geltung kommen. Diese wiederum bringen unterschiedliche Erfahrungen hervor, die sich intrakategorial abzeichnen. Weibliche Lebensentwürfe sind aufgrund der (rassistischen) Erfahrungen vielfältig. Konuk betont auch, dass es keine statischen Trennungslinien zwischen weißen Frauen und Women of Colour gibt. Solch eine Annahme wäre fern von der Realität (vgl. Konuk 1996: 234). Nichtsdestotrotz werden die Unterschiede von Women of Colour untereinander nicht so sichtbar wie die Unterschiede zwischen Women of Colour und weißen Frauen (vgl. ebd.: 235). Die stetige Gegenüberstellung von Women of Colour und weißen Frauen mit ihren vermeintlich kontrastierenden Merkmalen dient allerdings immer wieder dazu, die wesentliche Unterteilung der Hauptkategorien weiße Frauen und nicht-weiße Frauen zu akzentuieren und zu festigen. Die Soziologin Avtar Brah verweist auf historische Handlungspraktiken, wie etwa die Zuschreibung typisch männlicher Eigenschaften von Schwarzen Sklavinnen, um auf diese Weise weiße Frauen und ihre „weiße Weiblichkeit“ (Brah 1996: 28) als soziale Gruppe mit distinkten Merkmalen von Schwarzen Sklavinnen abzugrenzen (vgl. ebd.).

Frauen mit Migrationsgeschichte werden als Mütter – um wieder auf den Erfahrungsunterschied zu sprechen zu kommen und ein Beispiel aufzuzeigen – anders wahrgenommenFootnote 33 als weiße Mütter. An der Migrations- und auch der konservativen Abtreibungspolitik ist eine rassistische Grundhaltung zu erkennen, die sich mithilfe des Szenarios der Überbevölkerung und der damit verbundenen vermeintlichen Gefahr für die Eigengruppe zu legitimieren versucht (vgl. Essed 1994: 25; siehe hierzu auch Kaufmann 2002: 232). Hinzu kommen rassistische Auffassungen, wie die „unveränderliche[n] hierarchische[n] Einheiten“ (Brah 1996: 35), die es zu schützen gilt, indem ‚Durchmischungen‘ von rassischen Gruppen verhindert werden. Dies hat zur Folge, dass eine verstärkte KontrolleFootnote 34 über die weibliche Sexualität erfolgt. Derartige Ansätze sind insbesondere in nationalistischen Ideologien wiederzuerkennen.Footnote 35 Frauen wird daher eine besondere Bedeutung zugeschrieben, die zwangsläufig eine Schlüsselrolle in derartigen Ideologien einnehmen (müssen). Brah bringt dies wie folgt auf den Punkt:

„Es ist [.] kein Zufall, daß Frauen in den Prozessen der Signifikation, die in den Rassismus und den Nationalismus eingebettet sind, einen zentralen Stellenwert einnehmen. […] Frauen dienen als Symbolgestalten einer Nation. Sie werden als Verkörperung männlicher Ehre betrachtet, und als solche werden sie zur Stätte, wo um diese Ehre gekämpft wird“ (Brah 1996: 34).

Dass Brah innerhalb dieses Konzeptes „Frauen als Hüterinnen der ‚Rasse‘“ (ebd.) begreift und bezeichnet, wird in diesem Kontext als angemessen empfunden. Es beschreibt sowohl die funktionale Rolle der Frau, die sie in der geschlechtsbezogenen sozialen Ordnung einnimmt, als auch die Beziehung zum gegengeschlechtlichen Pol, dem Mann. Gleichzeitig wird in derartigen Ordnungssystemen das vorherrschende Geschlechtersystem ersichtlich: Die Zweigeschlechtlichkeit. Bei muslimischen Frauen gilt ihre Fortpflanzungsfähigkeit als eine Bedrohung für die eigene ‚Rasse‘, weshalb diese Argumentationsweise einer klassisch biologistisch-rassistischen Haltung entspricht (vgl. Shooman 2014: 97).

Geschlechterverhältnisse nehmen bereits im Konzept des Orientalismus nach Said eine besondere Dimension ein (vgl. Said 1978, 2017).Footnote 36 So schreiben Attia/Keskinkılıç, dass die „orientalisierende Verschränkung von Geschlecht, Sexualität, Kultur und Religion […] im antimuslimischen Rassismus seine Fortsetzung [findet]“ (Attia/Keskinkılıç 2016: 173). Antimuslimische Ressentiments sind sowohl in gesellschaftlichen Diskursen als auch in kulturellem Wissen eingeschrieben. Diese wurden über mehrere Jahrhunderte hinweg weitergereicht (vgl. Attia 2007: 10). So werden insbesondere muslimische Frauen im Zuge orientalisierender Prozesse in Verbindung mit Verschleierungspraktiken exotisiert, romantisiert und erotisiert (vgl. Said 2017). In der Bedeutungszuschreibung ungleicher Geschlechterverhältnisse bei ‚den Anderen‘ sahen im kolonialen Zusammenhang weiße Männer den Auftrag, die ‚Anderen‘ Frauen zu beschützen und zu befreien, so Castro Varela/Dhawan bezugnehmend auf Spivak (vgl. Castro Varela/Dhawan 2007b: 33). Unter dem Deckmantel der Gleichheit und Freiheit für muslimische Frauen zu agieren, wurde letztendlich nur die eigene „koloniale Dominanz abgesichert“ (Rommelspacher 2009: 399), indem die Herrschaft fortlaufend errichtet und erweitert wurde (vgl. Castro Varela/Dhawan 2007: 36 f.). Denkansätze derartiger Handlungspraktiken und Legitimationsstrategien sind heute bspw. in Kopftuchdebatten wiederzufinden (vgl. Attia/Keskinkılıç 2016: 173), die letztendlich nur zur Herrschaftsstabilisierung dienen. Wie immer wieder betont wurde, gelten rassistische Geschlechterverhältnisse nicht interkategorial, sondern sind auch innerhalb einer Kategorie, also intrakategorial, wirkmächtig. So wird zur Abgrenzung die Männlichkeit der Eigengruppe nicht nur der Weiblichkeit der Eigengruppe gegenübergestellt. Darüber hinaus verlaufen weitere Trennlinien zwischen den Männlichkeits- und Weiblichkeitskonstrukten der Fremdgruppe. Eine Dichotomisierung wird hier auf mehreren Ebenen gleichzeitig vorgenommen (vgl. Leiprecht/Lutz 2011: 185). Dadurch entsteht eine vielschichtige Geschlechterdynamik, die intersektionaler Perspektiven bedarf, um diese komplexen Gefüge zu dekonstruieren. Vergeschlechtlichte Prozesse können sich selbstverständlich den gesellschaftlichen Entwicklungen anpassen und neue Formen der Ungleichheit annehmen. So waren es früher grundsätzlich alle Frauen, die mit der Eigenschaftszuschreibung der Irrationalität abgewertet wurden. Auf diese Weise wurde der Ausschluss von Frauen an Universitäten gerechtfertigt. Inzwischen werden derartige Eigenschaftszuschreibungen vorwiegend muslimischen Migrant*innen zugeschrieben (vgl. Messerschmidt 2018a: 380).

Letztendlich ist festzuhalten, dass die Wahrnehmung von muslimischen Frauen rassistisch strukturiert ist. Angehörige der Dominanzkultur haben die Macht, marginalisierte Gruppen unsichtbar zu machen und ihre Stimmen verstummen zu lassen, indem sie für „unmündig“ und „unauthentisch“ (Shooman 2014: 90) erklärt werden. Dies geschieht bspw. dann, wenn muslimische Frauen versuchen, sich zu ausgewählten Themen zu positionieren, um nicht länger von der Mehrheitsgesellschaft eine Positionierung zugewiesen zu bekommen. Vor allem ist dies zu beobachten, wenn es um die Emanzipation der (muslimischen) Frauen geht. Rommelspacher problematisiert die Verwendung des Emanzipationsbegriffs in diesem Kontext. Sie erläutert ihre Ansicht anhand der Positionsveränderungen innerhalb der Gesellschaft: Weiße Frauen erheben den Erfolgsanspruch, einen gesellschaftlichen Aufstieg erreicht zu haben. Die dadurch frei gewordenen Plätze wurden von Migrantinnen eingenommen. Gleichzeitig wird eine Vergleichsfolie aufgemacht zwischen weißen Frauen und Migrantinnen, um mithilfe des Emanzipationsbegriffs eine Hierarchisierung unter Frauen zu verstärken. Unbeachtet bleiben hierbei weitere Machtverhältnisse, sodass ungleiche Geschlechterverhältnisse fortschreitend bestehen bleiben (vgl. Rommelspacher 2009: 398). Dadurch, dass muslimische Frauen als unemanzipiert vergeschlechtlicht dargestellt werden, werden weiße Frauen als moderne und fortschrittliche Gruppe gesehen (vgl. Messerschmidt 2018b: 24), ohne dabei eine Umverteilung von Ressourcen zwischen den Geschlechtern vorgenommen zu haben und so die eigentliche Geschlechterungleichheit zu verkürzen. Daher sind die Bemühungen für Gleichstellung und Gleichberechtigung rassistisch formiert, wenn muslimische Frauen im Kontrast zu weißen Frauen stehen (sollen): „Sie soll gleich werden und doch verschieden bleiben. Sie soll gleich werden, um den Emanzipationsauftrag zu erfüllen, gleichzeitig soll sie jedoch verschieden sein, um eine Kontrastfolie für das eigene Fortstreiten zu bieten“ (Rommelspacher 2009: 400; Hervorhebung im Original). Es kann vielmehr – so meine überspitzte Annahme – von einem rassistischen Emanzipationsverständnis ausgegangen werden. Der Kernauftrag der Emanzipation – sich und andere durch Gleichheit und Gleichberechtigung aus abhängigen Verhältnissen zu befreien – scheint nicht für alle gleichermaßen zu gelten. Rommelspacher ergänzt zum oben aufgeführten Zitat, dass Emanzipation in diesem Sinne eine persönliche Note zugeschrieben wird. Emanzipation ist jedoch keine frei wählbare Lebensform, sondern wird durch Lebensumstände und gesellschaftliche Verhältnisse beeinflusst. Nicht alle Frauen haben somit die gleichen Voraussetzungen, ein unabhängiges Leben zu führen. So sind (muslimische) Frauen mit Migrationsgeschichte häufig prekären Lebensumständen ausgesetzt. Hinzu kommen die Auseinandersetzungen mit rassistischen Strukturen und den damit einhergehenden Einschränkungen. Diese Umstände stellen eine erhöhte Belastung dar, wodurch die Entscheidungsspielräume von Women of Colour beschränkt sind (vgl. ebd.: 401). Messerschmidt schreibt dieser Personengruppe daher eine höhere Verletzlichkeit zu, die vor allem durch das abwertende Sprechen über sie als soziale Gruppe verstärkt wird (vgl. Messerschmidt 2018b: 25). Aus einer intersektional-feministischen Sicht ist eine pauschale Verbundenheit aller Frauen nicht möglich, da die Bedürfnisse der Frauen vielfältig sind und keine allgemeinen Aussagen über die Lebenslagen der Frauen möglich sind (siehe hierzu auch Castro Varela/Dhawan 2020: 161–228).

Im rassistischen Geschlechterdiskurs wird die Emanzipation der muslimischen Frau als Ausgangspunkt verschiedener Themen genutzt. Einerseits gelingt es der Mehrheitsgesellschaft, durch Stereotypisierung eine klare Vorstellung über die Muslimin zu erzeugen. Andererseits sind auch in sich widersprüchliche Stereotypisierungen von muslimischen Frauen möglich, die zeitgleich existieren. Diese kann sich „zwischen paternalistischer Viktimisierung und Dämonisierung“ (Shooman 2014: 98) hin und herbewegen. Ein klassisches Beispiel für eine rassistische Argumentation, in der zwei Stereotypen der muslimischen Frau zusammenlaufen, lässt sich bei der Fortpflanzungsfähigkeit wiederfinden: „Weil sie so unemanzipiert ist, bekommt sie so viele Kinder, weil sie so viel Nachwuchs produziert, vermehren sich Muslime als unerwünschter Bevölkerungsteil so überproportional und werden dadurch zur Bedrohung“ (ebd.: 97).

Das Kopftuchtragen wird als Symbol der Unterdrückung gedeutet. Muslimische Männer fungieren dabei implizit als Patriarchaten (vgl. Messerschmidt 2018a: 380). Dabei werden die patriarchalischen Tendenzen in den Wurzeln der Religion verortet. Das gleiche gilt für Sexismus, wenn dieser in muslimisch markierten Kontexten zum Vorschein kommt (vgl. Attia 2013: 8). Das komplexe Zusammenwirken von mehreren Kategorien und gesellschaftlichen Verhältnissen, die beim Sexismus zusammenlaufen, wird ausgeblendet. Sobald Geschlechterverhältnisse dahingehend interpretiert werden, dass sie aus dem Islam hervorgehen, werden Interventionen seitens der Mehrheitsgesellschaft in diesen sozialen Verhältnissen legitimiert (vgl. ebd.). Die Forderung, die sich explizit an die muslimischen Frauen mit Kopftuch richtet, ist, sich zu „befreien“, indem sie das Kopftuch ablegen und zu ihrer Community Abstand nehmen (vgl. ebd.). Erst dann werden sie zu ‚Emanzipierten‘ erklärt. In Kopftuchdebatten wird das Ablegen als eine Emanzipationspraktik interpretiert. Ein wesentlicher Anhaltspunkt bleibt jedoch unberücksichtigt: Die Forderungen – sei es nun das Verhüllen (bspw. der Kopftuchzwang im Iran) oder das Enthüllen (bspw. das Kopftuchverbot in Teilbereichen in Deutschland) – sind „beides ein Ausdruck von Herrschaft über Frauen“ (Messerschmidt 2018a: 381), denn in beiden Fällen wird über die Selbstbestimmung der Frau bevormundend fremdbestimmt.

Wie gezeigt werden konnte, sind Geschlechterverhältnisse rassistisch strukturiert und dienen dazu, Herrschaftsverhältnisse aufrechtzuerhalten und zu legitimieren. Gleichzeitig werden geschlechterpolitische Themen systematisch ausgelagert, sodass die Eigenbezogenheit ausgeblendet wird. (Sexuelle) Gewalt gegenüber Frauen*, Gleichstellung der Geschlechter und gleichberechtigter Zugang zu Ressourcen sind weiterhin Themen, die gesamtgesellschaftlich verhandelt werden müssen (vgl. Messerschmidt 2018b: 26), um sie gegenstandsgerecht zu bearbeiten. Solange ausgewählte Themen kulturalisierend einer sozialen Gruppe zugeschrieben werden, ist ein gesellschaftlicher Fortschritt unmöglich. Gleichzeitig werden rassistische Kontinuitäten fortwährend festgeschrieben und soziale Ungleichheiten verstärkt. Auch hier ist ein intersektionaler Ansatz unausweichlich.

3.4 Die Notwendigkeit sozialarbeiterischer Reflexion

Nachdem nun wesentliche Begriffe, Konzepte und insbesondere die soziale Kategorie ‚Geschlecht‘ in Zusammenhang mit Rassismus vorgestellt und diskutiert wurden, möchte ich in diesem Kapitel den sozialarbeiterischen Bezug zur Thematik herstellen. Rassismus als Bedeutungssystem umfasst alle Lebensbereiche einer Gesellschaft. Dies schließt nicht einmal diejenigen Handlungsfelder der Sozialen Arbeit aus, die sich in ihrer Profession zum Ziel gesetzt haben, Unrechtserfahrungen zu bekämpfen. Eine Gefahr ist hierbei darin zu sehen, dass Sozialarbeitenden per se eine moralisch nicht-verwerfliche Position zugeschrieben wird, da sie aus der Sicht der Gesellschaft soziale Ungleichheit bekämpfen wollen. Ärzt*innen wollen ihre Patient*innen schließlich auch medizinisch heilen oder ihnen Linderung verschaffen, was jedoch nicht bedeutet, dass nicht auch Ärzt*innen durch veraltete Verfahrensweisen oder Unwissen den Patient*innen gesundheitlich schaden können. Ein weiteres Beispiel: Anwält*innen wollen ihrer Klientel zum Freispruch oder wenigstens zur milderen Verurteilung verhelfen. Auch sie können allerdings durch unzureichende Kenntnisse ihren Mandant*innen schaden. Das Gleiche gilt für die Fachkräfte der Sozialen Arbeit: Sie wollen Ungleichheitsstrukturen entzerren und entgegenwirken, können jedoch durch ihr eigenes Handeln selbst auch Ungleichheiten erzeugen. Eigene Verstrickungen durch Haltungen und Handlungsweisen sind daher aufzudecken und zu reflektieren. Doch wie ist dies möglich? Bevor ich auf die Einbezogenheit sozialarbeiterischer Fachkräfte in rassistischen Verhältnissen zu sprechen komme, möchte ich einen historischen Exkurs zur Entstehungsgeschichte der Sozialen Arbeit unternehmen. Der Entstehungshintergrund gibt gute Möglichkeiten, die darauffolgenden Aspekte besser einordnen zu können. Anschließend daran soll anhand ausgewählter Beispiele aus der Sozialen Arbeit aufgezeigt werden, dass sozialarbeiterisches Handeln durchaus Rassismus (re-)produzieren kann. Zum Schluss soll der Ansatz der rassismuskritischen Sozialen Arbeit als ein möglicher Lösungsansatz für das dargelegte Probleme vorgestellt werden.

3.4.1 Geschichtlicher Exkurs

Die Geschichte der Wohlfahrtspflege in Deutschland und damit der Sozialen Arbeit ist eng mit einem christlich-religiösen Kontext verbunden und ging aus der Armenfürsorge hervor (siehe hierzu auch Ceylan/Kiefer 2016: 92–96). Dies ist auch der Grund, warum viele Sozial-, aber auch Pflegeeinrichtungen in konfessioneller Trägerschaft sind. Alle Aufgaben der Sozialen Arbeit, mit der sie sich heutzutage auseinandersetzt, wurden zu Beginn in den jeweiligen sozialen Gruppen (Familien und weitere) verortet oder als Wohltätigkeit der Kirche oder Gesellschaft gesehen. Armut wurde als ein Schicksal erachtet, das von Gott eingesetzt wurde und den Stand der Betroffenen in der Gesellschaft beschrieb (vgl. Seither 2012: 28). Bereits zu Zeiten des Mittelalters gab es Privatpersonen – meist Adelige – mit gutem Wohlstand, die es sich leisten konnten, in soziale Tätigkeiten in Form von Almosengabe zu investieren. Es ist bewusst von einer Investition zu sprechen, da die Adeligen als Gegenleistung von den Kirchen erwarteten, in Not und Krisen Beistand von ihnen zu erhalten (vgl. Ceylan/Kiefer 2016: 94) oder die Almosengabe als religiös begründete Seelenheilung der Spendenden zu betrachten (vgl. Hillebrandt 2012: 237). Die unterstützenden Tätigkeiten beruhten bereits im Mittelalter auf Freiwilligkeit. Die Spendenfinanzierung und Freiwilligkeit durch das Ehrenamt sind bis heute noch wesentliche Strukturmerkmale der Sozialen Arbeit (vgl. Seither 2012: 28).

Ab der Mitte des 19. Jahrhunderts verbreiteten sich durch die Industrialisierung neue Produktionsformen. Dies führte zu einer gesellschaftlichen Entwicklung, die neue Lebensformen und damit zusammenhängend neue soziale Ungleichheiten mit sich brachten (vgl. von Spiegel 2018: 18). Die gesellschaftlichen Verhältnisse, die allgemeine und individuelle wirtschaftliche Lage und die daraus hervorgehenden Dynamiken führten zu einer „Institutionalisierung der Praxis Sozialer Arbeit“ (Thole 2012: 22 f.). Die Einführung der Sozialversicherungen war eine wesentliche Reaktion auf die prekären Umstände der Arbeiter*innen in den Fabriken. Auch wenn der damalige Reichskanzler Bismarck mithilfe des Sozialversicherungsgesetzes strategisch die Unterdrückung einer Revolution aus sozialdemokratischen Kreisen beabsichtigte (vgl. Schmid 2010: 129), konnten von nun an die Interessen der Arbeiter*innen politisch vertreten werden. Allerdings fanden Arbeitslose keinen Platz in der Gesetzgebung, wodurch sie automatisch eine Zielgruppe der Fürsorge wurden (vgl. Seither 2012: 30). Bismarcks Sozialpolitik beeinflusste nicht nur die Ansätze der Arbeiterbewegung, sondern auch den Stellenwert der Armenfürsorge:

„Bismarck bekämpfte die dezentralen Selbstorganisationsansätze sowohl der Arbeiterbewegung (‚Sozialistengesetze‘) als auch der Katholischen Kirche (‚Kulturkampf‘). Seine Sozialpolitik diente zugleich der Schwächung des traditionellen Stellenwerts der städtischen Armenfürsorge. Flankiert von Maßnahmen der Bildungs-, Gesundheits-, Familien- und Jugendpolitik leistete Otto v. Bismarcks nationalstaatliche Sozialversicherungspolitik einen Beitrag zur Konstitution und Verfestigung des gesellschaftlichen Typus des männlichen, verheirateten, bis zum Eintritt in den Ruhestand dauerbeschäftigten und wehrtauglichen deutschen ‚Normalarbeiters‘“ (Bauer et al. 2012: 815).

Noch vor der Reichsgründung gab es vereinzelt erste freie TrägerFootnote 37, die sich bereits organisiert hatten. Nach der Einführung des Bismarckschen Sozialversicherungsgesetzes folgten weitere Gründungen von Verbänden wie dem Charitas Comité durch den Geistlichen Lorenz Werthmann (vgl. ebd.: 815), um nur ein Beispiel zu nennen. Ausgehend von der Initiative von Einzelpersonen aus kirchlichen Kreisen wurden Bildungs- und Ausbildungsstätten errichtet, in denen Ausbildungsmöglichkeiten geboten wurden (vgl. Hammerschmidt/Tennstedt 2012: 76).

Um die Jahrhundertwende vom 19. ins 20. Jahrhundert integrierten sich die ersten vollberuflichen männlichen Sozialarbeiter. Der Zugang in die männerdominierten sozialen Berufe musste von den Frauen erst noch erkämpft werden (siehe hierzu insbesondere Hering 2018). Nach dem Ersten Weltkrieg stellten sich Frauen vorwiegend als „Armen-, Kranken- und Kinderpflegerinnen zur Verfügung“ (Seither 2012: 30). Der pflegerische Beruf wurde für die Frauen durch Geistliche und Ärzte aufbereitet. Vor allem stellte die pflegerische Versorgung durch Frauen kriegsbedingt auch eine Notwendigkeit dar (vgl. Hering 2018: 143). Alice Salomon (1872–1948), die als eine Pionierin und Wegbereiterin für die Soziale Arbeit im wissenschaftlichen Bereich gilt, gründete 1908 die erste Soziale Frauenschule in Berlin (vgl. Seither 2012: 30). Der Grundsatz, dem u. a. Salomon folgte, war, dass Frauen Hilfen qualifiziert verrichten, jedoch weiterhin aus einer unabhängigen ehrenamtlichen Rolle heraus diese anbieten sollten, „um ‚Geist und Form‘ der Arbeit nur fachlichen Gesichtspunkten zu unterwerfen und nicht zu ‚ausführenden Organen‘ einer wie auch immer gearteten Verwaltung oder Leitung zu werden“ (Hering 2018: 144). Bis 1914 wurden 14 Frauenschulen in Deutschland errichtet (vgl. Hammerschmidt/Tennstedt 2012: 80). Der Erste Weltkrieg brachte erhebliche Umwälzungen mit sich, sodass Maßnahmen im Rahmen der Kriegsfürsorge ergriffen wurden, die letztendlich die klassische Armenfürsorge an den Rand drängten (vgl. ebd.). Nichtsdestotrotz bot sie auch Möglichkeiten für eine Professionalisierung der Sozialen Arbeit an, denn während des Krieges wurden viele Ausbildungsstätten und Organisationen gegründet. Die Arbeit in der Praxis wurde zunehmend als eine Erwerbsarbeit anerkannt (vgl. ebd.: 81).

In der Weimarer Republik stieg im Jahr 1929 die Zahl der Arbeitslosen rasant an. Dabei stieß die zuvor eingeführte Arbeitslosenversicherung bereits im Jahr 1926 an ihre Grenzen. Weitere Faktoren, insbesondere die schlechte wirtschaftliche Lage, führten zur Verarmung der Bevölkerung in Deutschland. Erste ideologische Züge waren auch in der Arbeit der Fürsorge im Umgang mit den Arbeitslosen zu erkennen: So sollte eine Unterscheidung zwischen „würdige und unwürdige Arme“ (Kuhlmann 2012: 91) erfolgen, indem vorab geprüft wurde, wer „erblich gute Voraussetzungen“ für die „Volksgemeinschaft“ mit sich brachte und somit als förderungswürdig galt (vgl. Steinacker 2017: 132; Kuhlmann 2012: 91). Der Status der sozialen Berufe wandelte sich, und sie spielten auch in der Nationalsozialistischen Zeit eine Schlüsselrolle. Es wäre zu kurz gedacht zu behaupten, „dass ‚soziale Berufe‘ keinen nennenswerten Einfluss auf die gesellschaftlichen Entwicklungen und Verbrechen hatten“ (Amthor 2018: 172). So wurden Strukturen der Fürsorge bzw. Wohlfahrt während der Zeit des Nationalsozialismus verstärkt unter einer rassistischen Ideologie ausgebaut und weitergeführt. Beispielsweise wurden Leistungen ‚für alle‘ eingeschränkt und der partizipative Ansatz des Mitbestimmungsrechts determiniert (vgl. Steinacker 2017: 122). Es ist nicht von der Hand zu weisen, dass unter dem Deckmantel der Wohlfahrt eine ‚Volkspflege‘ etabliert wurde, deren Leistungsumfang und -empfangende durch Ideolog*innen willkürlich bestimmt wurden (vgl. ebd.: 132).Footnote 38 Die Etablierung und Instrumentalisierung der Wohlfahrt wurde systematisch herbeigeführt. Dafür wurden bereits vorhandene Wohlfahrtsverbände und Organisationen flächendeckend verboten, Mitarbeitende aus den Wohlfahrts- und Jugendämtern auf kommunaler Ebene aufgrund ihrer politischen Einstellung entlassen und die Zentralwohlfahrtsstelle der Juden aus den freien Wohlfahrtsverbänden ausgeschlossen (vgl. Amthor 2018: 174). Hinzu kommt die „Verfolgung oppositioneller Berufsangehöriger bis hin zu deren Emigration, Deportation und Ermordung“ (ebd.). Der Widerstand gegen die NS-Ideologie blieb aus den Reihen der Akteur*innen in den sozialen Berufen jedoch nicht gänzlich aus (siehe hierzu insbesondere Amthor 2018).

Mit der Errichtung des Wohlfahrtsstaates und durch die Einführung sozialer Grundrechte kam es zu einer Wende für die Profession der Sozialen Arbeit. Weiterhin wurden die Aufgaben und Funktionen der Profession durch die Folgen des Krieges bestimmt (vgl. von Spiegel 2018: 20). Es war eine Gesellschaft vorzufinden, die geprägt war durch „Arbeitslosigkeit, Inflation und Flüchtlingsnot […] – die Inflation hatte nicht zuletzt die bürgerlichen Schichten getroffen, die bis dahin Träger des Gedankens der Sozialreform waren und damit die Entwicklung Sozialer Arbeit vorangetrieben hatten“ (Hammerschmidt/Tennstedt 2012: 81).

Die Soziale Arbeit entwickelte sich mit ihrem jeweiligen gesellschaftlichen Rahmen weiter und befand sich immer wieder in politisch-finanziellen Aushandlungsprozessen. Es handelt sich um eine Profession, die sich fortlaufend mit der sozialen Wirklichkeit weiterentwickelt und sich „immer wieder neu positionieren muss“ (von Spiegel 2018: 22). Außerdem veränderte sich das Selbstverständnis der Sozialen Arbeit, u. a. auch sprachlich, da nicht länger von ‚Fürsorge‘, sondern von ‚Sozialhilfe‘ die Rede war. Gleichzeitig entstand auch der Sammelbegriff ‚Soziale Arbeit‘ (vgl. Hering/Münchmeier 2012: 114), unter den sich nun alle sozialen Bereiche subsumieren ließen.

Die hier angeführten Aspekte sollen nur einen groben historischen Rahmen abstecken. Der wesentliche Punkt hierbei ist, dass es sich um eine langwierige Professionalisierungsgeschichte handelt, die eine Tradition von mehr als 150 Jahren aufweist. Es ist ebenso wichtig zu betonen, dass die Professionalisierungsgeschichte durch Ereignisse aus der NS-Zeit beeinflusst worden ist und diese nicht in Vergessenheit geraten werden darf.

3.4.2 Wenn Fachkräfte der Sozialen Arbeit zugleich Reproduzierende sind

Soziale Arbeit als Profession wurde simplifiziert als die ‚Hilfe für Bedürftige‘ verstanden. So befasst sie sich mit marginalisierten Gruppen der Gesellschaft, die abgehängt wurden. Nun liegt die Kernaufgabe darin, diesen sozialen Gruppen mit der Unterstützung durch ausgebildete Fachkräfte zu einer gleichgestellten und gleichberechtigten Position in der Gesellschaft zu verhelfen, um auf diese Weise sozialer Ungleichheit entgegenzuwirken. Soziale Arbeit besteht aus einer differenzorientierten Organisationslogik, die „per se noch zu keiner Diskriminierung führen muss“ (Riegler 202: 38).Footnote 39 Sozialarbeitende nehmen hierbei ein moralisiertes Scheinbild an, da sie mit Eigenschaften wie ‚helfend, unterstützend, rettend, befreiend‘ assoziiert werden. Die Einteilung in ausgebildete Fachkräfte als Unterstützende auf der einen Seite und die Zielgruppe der Sozialen Arbeit als Hilfsbedürftige auf der anderen Seite kann Unterscheidungsverhältnisse und Machtgefälle schaffen. In Herrschaftsverhältnissen wie beim Rassismus, wo machtvolle Unterscheidungen möglich und wirkmächtig sind, sind alle Lebensbereiche des Menschen eingeschlossen. Eine Art macht- bzw. herrschaftsfreie Zone in einem wirkmächtigen System gibt es hier nicht. So können sich auch Sozialarbeitende nicht von reproduzierenden Akten freisprechen (vgl. Textor/Anlaş 2018: 322), auch dann nicht, wenn ihre sozialarbeiterische Haltung etwas anderes beabsichtigt. Dies ist gleichzeitig ein Indiz dafür, „dass Soziale Arbeit nicht außerhalb gesellschaftlicher Verhältnis[se] stattfindet“ (Linnemann/Ronacher 2018: 91). Das Nicht-Thematisieren von Diskriminierung und Rassismus innerhalb der Profession begünstigt nur eine Prekarisierung der Verhältnisse. Kalpaka sieht hierbei eine strategische Absicht, wenn Begrifflichkeiten wie ‚Diskriminierung‘ und ‚Rassismus‘ boykottiert werden, da sie als „absichtvolle[s] Handel[n] bzw. lediglich als Kritik eines Fehlverhaltens oder persönlicher ‚Einstellungen‘ Einzelner aufgefasst werden“ (Kalpaka 2015: 257). Dabei ist Rassismus als eine Analyseperspektive zu verstehen (vgl. ebd.), die die eigene Einbezogenheit identifiziert und aufdeckt. Im Rahmen eines Lehrforschungsprojekts im Jahr 2015/2016 an der FH Linz wurden u. a. mit sechs Sozialarbeitenden narrativ-biographische Interviews durchgeführt. Das Erkenntnisinteresse bestand darin, herauszufinden, „ob ihnen [den Sozialarbeitenden] ihre Machtposition, die aufgrund ihres Weißseins* entsteht, bewusst ist und sie diese reflektieren“ (Breiter 2021: 96). Ein Ergebnis war, dass die Befragten sich selbst gegen Diskriminierung einsetzen und anscheinend auch über ein antirassistisches Selbstverständnis verfügten. Dieses antirassistische Selbstverständnis wurde von den Forschenden als ein Hindernis gedeutet, durch welches die Einsicht einer Eigenbeteiligung in rassistisch reproduzierenden Prozessen schwerfiel (vgl. ebd.: 97). Es ist eine ernüchternde Feststellung, wenn plötzlich realisiert wird, dass durch das eigene Handeln genau das erzielt wird, was bislang eigentlich (bei anderen) beanstandet und kritisiert wurde. Metaphorisch gesprochen ist das rassistische Herrschafts- und Machtsystem wie ein Spinnennetz gestrickt: Die Strukturen sind präzise, aber zunächst für das bloße Auge nicht unmittelbar erkennbar. Die Beteiligten spinnen das Netz weiter, während Betroffene sich in diesem Netz (zunehmend) verfangen, womit Handlungseinschränkungen einhergehen. Dann gibt es Akteur*innen wie die aus der Sozialen Arbeit, die beim Weiterspinnen mitwirken, obwohl sie annehmen, die Verfangenen zu befreien. Teilweise profitieren Sozialarbeitende selbst vom Netz, ohne sich dessen bewusst zu werden, indem sie durch sein Vorhandensein ihre eigene privilegierte Position in der Gesellschaft absichern.

Bevor ich auf die Differenzpraxen innerhalb der Sozialen Arbeit zu sprechen komme, möchte ich mich zunächst der Frage widmen, wie sich Abwehrhaltungen zu Themen wie Diskriminierung und Rassismus begründen lassen. Als einen ersten Erklärungsversuch können theoretische Überlegungen von Astrid Messerschmidt hinzugezogen werden, die sich vier Distanzierungspraktiken im Umgang mit Rassismus erarbeitet hat, welche sich hervorragend auf die Soziale Arbeit übertragen lassen.Footnote 40 Als ein erstes Distanzierungsmuster führt Messerschmidt die Skandalisierung von Rassismusdiagnosen an: „Dadurch tritt nicht die Erscheinung des Rassismus selbst als Skandal in den Blick, sondern der Hinweis auf diese Erscheinung als rassistische wird als skandalös diffamiert“ (Messerschmidt 2010: 42). Mit der Unterstellung einer verzerrten Wahrnehmung wird die Glaubwürdigkeit des Angesprochenen in Frage gestellt (vgl. ebd.). Zu ähnlichen Ergebnissen kommt Melter in seiner Studie mit Pädagog*innen und Jugendlichen in der Jugendhilfe. So war bei den befragten Pädagog*innen eine Abwehrhaltung festzustellen, die das Thema Rassismus von sich wiesen und bei konkreten Beispielen die Verantwortung bei den Jugendlichen selbst suchten (vgl. Melter 2009: 120 f.; Melter 2006). Eine zweite Distanzierungspraktik ist es, Rassismus im Kontext des (Rechts-)Extremismus zu verorten. Öffentliche Diskurse zum Thema Rassismus werden mit Rechtsextremismus zusammen diskutiert. Dadurch entsteht der Eindruck, dass Rassismus als ein Problem einer eindeutig bestimmbaren Personengruppe zugeschrieben werden kann (vgl. Messerschmidt 2010: 45 f.). Auf diese Weise wird Rassismus als gesamtgesellschaftliches Problem nach außen, zu anderen, verlagert. Dies ermöglicht ein Absprechen der eigenen Einbezogenheit bzw. Verantwortlichkeit in Bezug auf Rassismus. Eine dritte Umgangsform mit Rassismus ist die Kulturalisierung. Mit ihr werden rassistische Praktiken unter dem Deckmantel einer Kultur fortgeschrieben. Es wird bewusst Abstand zum Begriff ‚Rasse‘ genommen, der als eine wesentliche Kategorie für Rassismus steht. Nichtsdestotrotz erfolgen die Unterscheidungsprozesse nach den gleichen Prinzipien (vgl. ebd.: 49). Diesen Vorgang, in den rassistischen Praktiken anhand eines kulturellen Erklärungsansatzes (re-)produziert und legitimiert werden, bezeichnet der Sozialpädagoge Leiprecht als „Sprachversteck für ‚Rasse‘“ (Leiprecht 2001b: 172; Hervorhebung im Original; Wagner 2014: 195). Schramkowski/Ihring kritisieren einen kulturalisierenden Umgang in sozialpädagogischen Kontexten, da „die Rahmenbedingungen des Handelns von Subjekten wie auch die Komplexität sozialer Lebenslagen unbeleuchtet [bleiben]“ (Schramkowski/Ihring 2018: 283). Zum Schluss ist die vierte Distanzierungspraktik von Messerschmidt anzuführen: Die Verschiebung des Rassismus in die Vergangenheit. Das heißt, dass Rassismus mit dem Nationalsozialismus assoziiert und als ein eindeutig definierbares Produkt der Vergangenheit angesehen wird. Die damit verbundenen ‚Rassentheorien‘ sind jedoch keine Phänomene, die ihren Anfang und ihr Ende mit dem Nationalsozialismus fanden (vgl. Arndt 2017a: 15). Rassismus bringt eine lange Geschichte mit sich und ist vor allem ein allgegenwärtiges Thema. Insbesondere ist Rassismus ein transnationales Phänomen (vgl. Balibar 1992: 23), das sich nicht nur auf Deutschland begrenzen lässt. Folglich ist es nicht falsch, wenn Menschen Rassismus auch mit dem Nationalsozialismus in Verbindung setzen; das Verständnis von Rassismus ist jedoch nicht darauf zu begrenzen. Die Gefahr besteht darin, dass Rassismus dadurch als ein abgeschlossenes Phänomen betrachtet wird (vgl. Messerschmidt 2010: 52). Rassistischen Strukturen, die geschichtlich gewachsen sind und bis heute (Aus-)Wirkungen haben, kann dadurch resistent – verleugnend – begegnet werden. Die vier Distanzierungspraktiken von Messerschmidt zeigen auf, dass es in der heutigen Zeit eine große Herausforderung ist, Rassismus mit einer gewissen Ernsthaftigkeit zu thematisieren, ohne sogleich Distanzierungsmechanismen auszulösen.

Wenn der direkte Bezug zur Sozialen Arbeit wieder hergestellt werden soll, kann auf die Unvermeidbarkeit von „Adressierungen und Unterscheidungspraxen“ (Khakpour/Mecheril 2018: 26) eingegangen werden. In ihrem professionellen Handeln ist nicht nur die Reaktion darauf, sondern auch die aktive Reproduktion von Differenzen zu erkennen (vgl. Mecheril/Melter 2010a: 119). Allein die Unterscheidung, wen es zu unterstützen gilt und wen nicht, stellt eine wesentliche Differenzierungspraxis dar, mit der auch Stigmatisierungen verbunden sind (vgl. Merl et al. 9; Mecheril/Melter 2010a: 126). Hinzu kommt, dass die Soziale Arbeit darauf angewiesen ist, derartige Unterscheidungen vorzunehmen, um zum einen ihre eigene Daseinsberechtigung und Intervention und zum anderen die Sicherstellung von Förderungen zu legitimieren (vgl. Khakpour/Mecheril 2018; Mecheril/Melter 2010a). Es kann an dieser Stelle von einem Zwang gesprochen werden, dem die Soziale Arbeit unterliegt. Ohne eine Differenzierung sind keine direkte Adressierung der spezifischen Zielgruppe und eindeutige Bestimmbarkeit der Leistungen möglich (Mecheril/Melter 2010a: 126). Daher muss sie sich der Differenzverhältnisse bedienen, „neigt […] [jedoch] zur Reproduktion binärer Differenzordnungen“ (Khakpour/Mecheril 2018: 27), die einem Dualismus unterliegen. Denn eine Unterscheidung erfolgt entlang einer hegemonialen Homogenitätsvorstellung. In diesem Zusammenhang wird definiert, wer als gesund, normal, unproblematisch oder sozial, insgesamt also als gesellschaftstauglich gilt. Das Gegenstück bilden die Gruppen von Menschen, die diesen Normen nicht entsprechen; diese stellen somit die Adressat*innengruppe der Sozialen Arbeit dar. Diese sozialen Gruppen werden anhand ausgewählter Merkmale und Problemstellungen voneinander differenziert: „[D]er Umgang mit ihnen richtet sich primär auf ihre Anpassung an bestehende Strukturen und Normen“ (Merl et al. 2018: 7). Um sowohl der Reproduktion von Differenzen als auch dem Aufrechterhalten der binären Differenzordnung entgegenzuwirken, bedarf es „einer kritischen und reflexiven Auseinandersetzung mit den Entstehungsbedingungen, Wirkungsweisen und (unintendierten) Folgen machtvoller Differenzverhältnisse im eigenen Arbeitsfeld“ (ebd.: 9). Dabei gilt es, bestehende Differenzordnungen zu hinterfragen und eine Erweiterung der Normalitätsvorstellungen anzustreben. Dieser Ansatz würde einer dichotom-strukturierten Wahrnehmung in rassistischen Herrschaftsverhältnissen entgegenwirken. Hinzu kommt, dass die Förderungslogik der Sozialen Arbeit wieder ins Bewusstsein gerufen werden muss: Das Prinzip, Defizite zu fixieren und Problemlagen zu dramatisieren, um dadurch Finanzierungen zu sichern und ein sozialarbeiterisches Eingreifen zu legitimieren (vgl. Diehm/Radtke 1999: 90 f.; Mecheril/Melter 2010a; Khakpour/Mecheril 2018), fördert nicht nur Unterscheidungspraxen im Allgemeinen, sondern auch die defizitäre Adressierung sozialer Gruppen, die ohnehin schon marginalisierenden und insbesondere stigmatisierenden Effekten ausgesetzt sind. Es ist kein neuer Gedanke, wenn gesagt wird, dass primär ein ressourcenorientierter Ansatz in der Sozialen Arbeit verfolgt werden sollte. Eine Möglichkeit wäre, Ähnlichkeiten und Gemeinsamkeiten zwischen sozialen Gruppen zu unterstreichen und hervorzuheben. So führen Bhatti/Kimmich an, dass ein ähnlichkeitsorientiertes Denken destabilisierende Auswirkungen auf dichotome Strukturen hat (vgl. Bhatti/Kimmich 2015: 17), die wiederum einen wesentlichen Bestandteil von Rassismus darstellen. Um es mit den Worten der Autor*innen wiederzugeben: „Der Ähnlichkeitsgedanke und die Sicht auf Überlappungen sind geeignet, starre Dichotomien und kulturelle Hierarchisierungen aufzulösen“ (ebd.: 18). Es sei an dieser Stelle darauf hingewiesen, dass nicht die Differenzierungspraxis der Sozialen Arbeit an sich problematisch ist, sondern die unreflektierte Art und Weise, Differenzierungsmuster unhinterfragt zu übernehmen und diese fortzuschreiben. Differenzkonstruktionen haben eine lange Tradition und halten somit auch historische Kontinuitäten aufrecht (vgl. Mecheril/Melter 2010a: 127). Nicht nur die Soziale Arbeit, sondern auch die Differenzpraxis ist Transformationsprozessen ausgesetzt und bedarf daher besonderer Reflexionseinheiten (vgl. ebd.). Erst dann können benachteiligende Auswirkungen von Differenzpraxen, die sich mit der Zeit an gesellschaftliche Verhältnisse anpassen oder durch diese verändert werden, aufgedeckt werden. Fachkräfte der Sozialen Arbeit dürfen nicht in Begründungsmuster wie ‚Das-haben-wir-schon-immer-so-gemacht‘ verfallen. Sie sollten wachsam und sensibel sein, um nicht in die Stolperfallen zu tappen, die sie selbst auf der professionellen Ebene zu kritisieren versuchen. Ein Anfang wäre, das Verständnis von Machtverhältnissen weitläufig aufzufassen. Großmaß sagt hierzu, dass zwar die „begrenzende Seite der Macht, nicht aber deren gestaltende, produktive Seite, in die auch die Soziale Arbeit einbezogen ist“ (Großmaß 2015: 220), in den Blick genommen wird.

Ein weiterer Gesichtspunkt im Kontext der Differenzierungspraxis in der Sozialen Arbeit – auf den ich insbesondere aufmerksam machen möchte – ist das Verständnis von homogenen Gruppen von Sozialarbeitenden als mögliche Diskriminierende und die Adressat*innengruppe als mögliche Diskriminierte. Eine derartig eindeutige Einteilung ist meines Erachtens mittlerweile unzulässig. Nicht nur die gesellschaftliche, sondern auch die Zusammensetzung der Fachkräfte der Sozialen Arbeit hat sich mit der Zeit verändert. Es kann nicht mehr länger von Sozialarbeitenden die Rede sein, die ausschließlich der Dominanzkultur angehören. Es gibt immer mehr Sozialarbeitende of Colour, die die Teamkonstellation heterogener gestalten. Was bedeutet das in diesem Zusammenhang für die Soziale Arbeit? Füchslbauer/Hofer formulieren eine damit einhergehende Herausforderung, mit der sich auch die hier vorliegende Arbeit befasst: „Tatsächlich (re-)produziert Soziale Arbeit [.] Ausschließungen nicht nur auf der Ebene ihrer Adressat*innen, sondern auch in Bezug auf (potentielle) Fachkräfte in der Sozialen Arbeit“ (Füchslbauer/Hofer 2021: 67). In diesem Kontext möchte ich Punkte aufführen, die meines Erachtens zu einer Normalitätsverschiebung in der Sozialen Arbeit geführt haben:

  1. (1)

    Die Begriffsbestimmung von Rassismus hat einen Wandel durchlaufen, sodass sie weiter gefasst wird und somit konkrete Bezüge für die Soziale Arbeit darstellt. Das Verständnis, Rassismus als ein System von Herrschafts- und Machtverhältnissen (vgl. Rommelspacher 2011) zu begreifen, die alle Gesellschaftsmitglieder miteinbeziehen, macht es möglich, die Rolle der Sozialarbeitenden als Akteur*innen in diesem System genauer zu bestimmen. Es entsteht das Bewusstsein der eigenen Einbezogenheit.

  2. (2)

    Es gibt inzwischen Fachkräfte, zu deren Erfahrungshintergrund auch Rassismuserfahrung zählt. Die Rassismuserfahrungen sind sowohl innerhalb als auch außerhalb der Profession möglich, sodass diese sowohl Einfluss auf das professionelle Handeln als auch die Haltung haben können.

  3. (3)

    Rassistische Handlungspraxen erfolgen nicht nur in dem Gefälle von Fachkräften zur Zielgruppe. Sie können sich ebenfalls innerhalb des TeamsFootnote 41 äußern, aber auch zwischen Adressat*innen und Fachkräften. Fachkräfte of Colour können sich „in einer machtvollen gesellschaftlichen Position befinden und gleichzeitig durch rassistische Differenzierungen und Otheringpraxen verletzbar [sein]“ (Mai 2020: 91). Ausschlaggebend hierbei ist die soziale Position in einer rassistisch strukturierten Gesellschaft. So könne bspw. die Adressierung von Angeboten zum Thema Integration dazu führen, dass „Menschen ‚mit Migrationshintergründen‘ wieder den Status des ‚Fremdseins‘ [zugewiesen]“ (Schramkowski/Ihring 2018: 283) bekommen. Dabei ist nicht ausgeschlossen, dass sich die Auswirkung professioneller Handlungen nicht auch gegen die eigene soziale Gruppe richten kann, der die Sozialarbeitenden of Colour selbst angehören oder (vermeintlich) zugeschrieben werden.Footnote 42 Dies ist nur ein mögliches Beispiel von vielen.

Des Weiteren möchte ich wiederholt auf eine intersektionale Perspektive aufmerksam machen: Nicht alle Sozialarbeitenden wirken zu jedem Zeitpunkt in ihrer Tätigkeitsrolle gleichermaßen. Ihre machtvolle Position ist zum einen situativ bedingt und zum anderen durch weitere Differenzverhältnisse beeinflusst. Das heißt, soziale Kategorien wie etwa Geschlecht und ‚Rasse‘ treten wieder in einer komplexen Wechselwirkung ein, sodass keine pauschalen Aussagen darüber getroffen werden können, ob und inwieweit Sozialarbeitende in einer Situation rassistische Differenzkategorien reproduzieren. Hierzu ist festzuhalten, dass das Ausweichen, Relativieren oder Ignorieren von Rassismus nicht das Problem in der Sozialen Arbeit löst. So wie Linnemann/Ronacher es zusammenfassen, kann die Auseinandersetzung als eine Handlung der Selbstermächtigung begriffen werden:

„[I]n der Sozialen Arbeit [gibt es] Handlungsspielräume und das Potenzial, Rassismus zu schwächen und rassismuserfahrende Adressat*innen zu stärken. Eine Reflexion der eigenen Involviertheit und der Arbeitsstrukturen hat das Ziel, die Handlungsspielräume stärker so zu nutzen, dass die Mandate Sozialer Arbeit angemessener umgesetzt werden können“ (Linnemann/Ronacher 2018: 91).

Mit diesen Worten kann im Rahmen der Sozialen Arbeit für selbstwirksame Erfahrung gesorgt werden. Wie sollen Fachkräfte der Sozialen Arbeit lebensweltorientiert handeln und Handlungsspielräume schaffen, wenn sie sich nicht einmal mit den Lebenswelten, die sie selbst umgeben, kritisch auseinandersetzen oder bestimmte Teile der Lebenswelten anderer nicht (an)erkennen (wollen)? Um nicht länger Reproduzent*in zu sein, müssen Sozialarbeitende sich Wissen darüber aneignen, wie rassistische Handlungspraxen funktionieren und in sozialarbeiterischem Handeln bemerkbar machen. Darüber hinaus bedarf es weiterer konzeptioneller Überlegungen, Rassismus(erfahrung) in der Sozialen Arbeit zu thematisieren. Eine Möglichkeit hierbei wäre eine rassismuskritische Soziale Arbeit.

3.4.3 Rassismuskritische Soziale Arbeit – Unfähigkeit mit Fähigkeit begegnen

„Was dem Bewusstsein zugänglich ist, kann verändert werden“ (Tißberger 2020: 102).

In Verbindung mit dem angeführten Zitat von Tißberger ist zu sagen, dass die Kritikpunkte als Chancen für die Fachkräfte der Sozialen Arbeit interpretiert werden können. Kritik irritiert die eigene Wahrnehmung und regt zur Reflexion an. Gleichzeitig bietet sie Möglichkeiten, Handlungsoptimierungen vorzunehmen und den kritisierten Zustand zu verbessern. Nun sind Lösungsperspektiven gefragt. Eine erste Möglichkeit wäre, sich nicht länger in der ohnmächtigen Position zu verorten, die die Sozialarbeitenden im Zusammenhang mit Macht und professionellem Handeln thematisieren. So ist häufig die Kritik zu vernehmen, dass Fachkräfte sich in ihrem Handeln eingeschränkt sähen aufgrund der prekären Arbeitssituationen in den Handlungsfeldern der Sozialen Arbeit (vgl. Großmaß 2015: 216). Auch müssen Machtpositionen als solche wahrgenommen und genutzt werden: Welche Handlungsmöglichkeiten sind mir als Sozialarbeiter*in gegeben? Welche (weiteren) Handlungsräume kann ich mir selbst schaffen, um sozialarbeiterische Ziele zu erreichen? Dabei ist es wichtig, sich als aktiv handelnde Akteur*innen zu begreifen, die nicht einem System unterworfen sind, sondern einen Teil des Systems darstellen und innerhalb dessen Veränderungen auslösen können.

Im deutschsprachigen Raum wurden antirassistische Ansätze u. a. durch Entwicklungen in europäischen Ländern und Diskussionen darüber beeinflusst: „Seit Ende der 1970er-Jahre stellen in der britischen Diskussion antirassistische Ansätze eine wichtige und einflussreiche Stimme dar“ (Mecheril/Melter 2010: 170). Inzwischen ist neben dem Konzept des Antirassismus auch Rassismuskritik als ein Konzept vorzufinden, das ich hier als einen Optimierungsversuch des Antirassismus-Konzepts verstehe. (Weiter-)Überlegungen und Ansatzverschiebungen sind meines Erachtens als eine Bereicherung zu verstehen, da sie bisherige blinde Flecke offenlegen, aber auch zum Überdenken eingenommener Perspektiven anregen. Um Rassismuskritik gänzlich zu begreifen, darf Antirassismus nicht ignoriert werden. Vielmehr müssen die Ursprungsgedanken als Ausgangspunkt betrachtet werden. Broden setzt bereits bei der sprachlichen Bezeichnung von Antirassismus an und bemängelt, dass die Semantik des Begriffs bereits vorgibt, „was es zu verändern, abzulehnen, zu bekämpfen gilt“ (Broden 2017: 827). Die Folge ist, dass dadurch die eigene Verwobenheit zu erkennen und zu kritisieren erschwert wird (vgl. ebd.) – oder gar nicht erst möglich ist. Die Autoren Mecheril/Melter beziehen sich auf Philip Cohen (1994) und zählen drei weitere Kritikpunkte am Konzept des Anti-Rassismusʼ auf, die nicht voneinander differenziert betrachtet werden können und hier kurz wiedergegeben werden: (1) Mit Moralismus wird der erste Kritikpunkt angeführt. Damit wird dem antirassistischen Ansatz die klare Zweiteilung in machtvolle Weiße, die ohne Ausnahmen in rassistische Strukturen verwickelt sind, und machtlose Schwarze, die Opfer von Rassismus werden, kritisiert. Antirassist*innen hingegen nehmen eine neutrale Position außerhalb dieser binären Logik ein, die den Rassismus zu bekämpfen versuchen. Diese Auffassung suggeriert Orte außerhalb rassistischer Verhältnisse, die nicht von Macht- und Dominanzverhältnissen beeinflusst wären (vgl. Mecheril/Melter 2010b: 171), sogenannte rassismusfreie Zonen, die es jedoch nicht gibt. (2) Als zweites wird der Kritikpunkt Essentialismus genannt. Hier wird kritisiert, dass die binäre Einteilung in Diskriminierende und Diskriminierte homogenisierende und auch viktimisierende Effekte erzeugt. Antirassistische Ansätze sind zu Beginn davon ausgegangen, dass „es das einheitliche ‚schwarze Subjekt‘ [gäbe] (und komplementär: das ‚weiße Subjekt‘)“ (ebd.). Die Differenzkategorien wurden dabei in ein dualistisches Verhältnis zueinander gesetzt. Dadurch wurden Differenzen innerhalb einer Kategorie nicht wahrgenommen oder ihnen wird eine sekundäre Rolle zugeschrieben (vgl. ebd.: 172). (3) Der letzte Kritikpunkt lautet Reduktionismus. In antirassistischen Ansätzen existiert ein unzureichendes Verständnis von Rassismus, sodass er nicht in seiner Komplexität erkannt wird. Durch die reduktionistische Betrachtungsweise von Rassismus besteht weiterhin die Gefahr, sich rassistischer Handlungsmuster zu bedienen. Dadurch werden rassistische Verhältnisse fortgeschrieben. Mit verkürzten Verständnissen von Phänomenen gehen jedoch kurzgedachte Lösungsansätze einher (vgl. ebd.): „Oftmals kann nicht auf alles sofort eine Antwort gefunden werden. Manchmal sind die richtigen Fragen wichtiger als vorschnelle Antworten“ (Broden 2017: 833).

Um das bisher Gesagte auf die Soziale Arbeit zu übertragen und die Quintessenz so prägnant wie möglich wiederzugeben, kann an dieser Stelle Lena Dominelli zitiert werden: „Anti-racist social work, therefore, is a bridge between social work in a racist society and social work in a non-racist one“ (Dominelli 1997: 167). Und dies ist der wesentliche Knackpunkt des Ansatzes: Akteur*innen der Sozialen Arbeit müssen ihre eigenen Verstrickungen, d. h., die eigene Einbezogenheit, erkennen, und hierzu bedarf es solcher Ansätze, die diesen Aspekt mitberücksichtigen. Ein Ansatz, der neutrale Positionen im Kontext von Rassismus für möglich hält, verschleiert Rassismus. Die soeben angeführten Kritikpunkte zum Konzept des Antirassismusʼ führten zur Weiterentwicklung konzeptioneller Überlegungen, bspw. das Konzept Rassismuskritik. Aufbauend auf der Vorüberlegung von Foucault – Kritik als eine Fähigkeit zu betrachten, sich nicht regieren zu lassen (vgl. Scharathow et al. 2011: 10) – definieren Scharathow et al. Rassismuskritik wie folgt:

„Rassismuskritik verstehen wir als kunstvolle, kreative, notwendig reflexive, beständig zu entwickelnde und unabschließbare, gleichwohl entschiedene Praxis, die von der Überzeugung getragen wird, dass es sinnvoll ist, sich nicht ‚dermaßen‘ von rassistischen Handlungs-, Erfahrungs- und Denkformen regieren zu lassen“ (ebd.: 10).

Es handelt sich hierbei also um eine nicht endende Praxis, die von Fachkräften der Sozialen Arbeit zum Großteil als (selbst-)reflexiver Akt des professionellen Handelns erachtet werden soll. Den zentralen Kern der Rassismuskritik bildet die Haltung, sich nicht ohne Weiteres rassistischen Verhältnissen zu ergeben. Das Ziel rassismuskritischer Ansätze hierbei ist, so Mecheril/Melter, „einen Beitrag zu alternativen, ‚gerechteren‘ Verhältnissen zu leisten“ (Mecheril/Melter 2010b: 172). Somit ist dem Appell eindeutig zu entnehmen, dass Fachkräfte der Sozialen Arbeit sich kritisch mit gesellschaftlichen Macht- und Herrschaftsverhältnissen befassen müssen (vgl. Groß 2019: 155). Sowohl die Position als Sozialarbeitende oder auch grundsätzlich die Auswahl des Berufs liefern keine Garantie, von Beginn an rassismuskritisch (oder auch rassismusfrei) zu agieren (vgl. ebd.: 165). Das Plädoyer für eine menschenrechtsorientierte Soziale Arbeit bzw. Soziale Arbeit als Menschenrechtsprofession nach Staub-Bernasconi kann in die Debatte über eine rassismuskritische Soziale Arbeit einbezogen werden. So argumentiert Staub-Bernasconi, dass es im Rahmen des professionellen Handelns neben dem Wissen und Können auch einer Haltung bedarf, die sie als ethische Basis beschreibt, um die Möglichkeit zu haben, sich während des professionellen Handelns unausgesetzt auf grundlegende Werte beziehen zu können (vgl. Staub-Bernasconi 2008: 22). Letztendlich kommt es nicht darauf an, (irgend)eine Haltung zu haben, sondern vielmehr darauf, welche Haltung eingenommen wird. So werden die Antirassist*innen sich auch einer Haltung bedient haben, die jedoch das eigene professionelle Handeln nicht mit in den kritischen Blick nimmt. Die Kritik an den Vorüberlegungen von Antirassismus ist gleichermaßen genauso kritisch zu beleuchten wie rassismuskritische Haltungen selbst. Denn auch eine Kritik bedarf einer Kritik. Dazu weisen Mecheril/Thomas-Olalde meines Erachtens zu Recht auf einen wesentlichen Grundgedanken hin: „Eine selbstreflexive Kritik ist mithin angehalten, in den Blick zu nehmen, was sie ausmacht, was sie ausdrückt und was sie – im doppelten Sinne – auslöst. Es geht ihr auch um eine reflexive Auseinandersetzung mit den Effekten kritischer Praxis“ (Mecheril/Thomas-Olalde 2016: 495). (Selbst)Reflexive Prozesse bieten den Vorteil, Wissen über eigene „Subjektivierungsbedingungen und -praxen“ (Groß 2019: 156) zu generieren. Erst die eigene Auseinandersetzung damit macht es möglich, den Adressat*innen der Sozialen Arbeit ebenfalls (selbst-)reflexive Prozesse zu realisieren (vgl. ebd.: 163).

Für eine rassismuskritische Sozialpraxis schlägt Mecheril folgende Grundansätze vor, auf die mehrfach an verschiedenen Stellen dieser Arbeit – teilweise in anderen Kontexten – aufmerksam gemacht wurden. Aus diesem Grund wird auf eine längere Ausführung verzichtet: (1) Mehr (Verteilungs-)Gerechtigkeit, (2) Wissensvermittlung über Rassismus, (3) Thematisierung von Zugehörigkeitserfahrung (hierzu zählt insbesondere die Thematisierung von Rassismuserfahrungen), (4) Dekonstruktion binärer Schemata, (5) Reflexion rassistischer Zuschreibungsmuster und (6) antirassistische Performanz (vgl. Mecheril 2004: 206). Den letzten Punkt halte ich für erklärungsbedürftig, weshalb ich ihn hier gesondert aufgreifen möchte. Mecheril postuliert eine antirassistische Performanz durch die Fachkräfte, auch wenn dies zunächst banal klingen mag. Am Beispiel der Sprache verdeutlicht der Autor, dass Rassismus durch diskriminierungssensible Sprache zwar nicht (vollständig) abgebaut wird, diese jedoch dazu beiträgt, diskriminierungsarme Räume als Schutzräume für Betroffene zu schaffen (vgl. ebd.: 207). Es ist sogar als eine sozialarbeiterische Pflicht zu sehen, diskriminierungsfreieFootnote 43 Räume für die Adressat*innen zur Verfügung zu stellen (vgl. Groß 2019: 164). Dadurch wird die Wahrscheinlichkeit, dass die Zielgruppen der Sozialen Arbeit durch rassistische Zuschreibungen wie etwa in Form von Othering-Prozessen degradiert werden, weitestmöglich reduziert.Footnote 44

Es ist allerdings vor Augen zu führen, dass auch eine rassismuskritische Soziale Arbeit nur begrenzt möglich ist. Dies ist jedoch kein Grund, Fachkräfte der Sozialen Arbeit aus ihrer Verantwortung zu entlassen – im Gegenteil. Sozialarbeitende sollten kreativ werden, um ihre begrenzten Möglichkeiten weiter auszubauen. Ein rassismuskritischer Ansatz in der sozialarbeiterischen Praxis ist der erste Weg zu einer handlungsermöglichenden und -erweiternden Profession, die sich nicht den Machtverhältnissen beugt.