1 Einleitung

„Politics stops at the water’s edge.“ So rechtfertigte Arthur Vandenberg, Ende der 1940er republikanischer Vorsitzender des außenpolitischen Ausschusses im US-Senat, seine Kooperation mit der demokratischen Truman-Regierung, die den Weg für die Gründung der North Atlantic Treaty Organization (NATO) ebnete (Hill 1975). Vandenbergs Ausspruch formuliert die Erwartung, dass Parteipolitik an der Staatsgrenze zu enden habe. Sobald es um die Beziehungen zu anderen Staaten geht, müssen innenpolitische Differenzen hintangestellt werden.

Die Außenpolitik sei demnach keine Arena für das Austragen parteipolitischer Konflikte. Schließlich hat Außenpolitik die Beziehungen von Staaten untereinander oder zwischen Staaten und internationalen Organisationen zum Gegenstand. Sie spielt sich daher typischerweise zwischen staatlichen Akteuren (oft Regierungen) unterschiedlicher Länder ab (Waltz 2008), deren Aufgabe es ist, die Interessen eines Staates gegenüber anderen Staaten und internationalen Organisationen vertreten.

Dieser Erwartung liegt die Prämisse zugrunde, die außenpolitischen Präferenzen eines Staates wären homogen und langfristig stabil. Regierungen könnten international dementsprechend als kohärente Akteure auftreten, und welche Parteienkonstellation an der Regierung ist, sollte wenig Auswirkungen auf außenpolitischen Kurs eines Landes haben.

Dieser Perspektive kann man entgegenhalten, dass in pluralistischen politischen Systemen naturgemäß umstritten ist, was die Interessen eines Staates sind. Zwischen innerstaatlichen politischen Akteuren kann es legitimerweise große Auffassungsunterschiede darüber geben, welche außenpolitischen Prioritäten eine Regierung setzen soll und welche Positionen sie dabei zu vertreten hat (Trubowitz 1998). Wenn politische Parteien diese Auffassungsunterschiede in ihren Programmen ausformulieren und damit in eine demokratische Auseinandersetzung treten, wird Außenpolitik zum Gegenstand des innenpolitischen Wettbewerbs – genauer gesagt: des Parteienwettbewerbs (Budge und Farlie 1983; Green-Pedersen 2007). Folglich können Regierungswechsel auch zu Änderungen des außenpolitischen Kurses eines Staates führen (DeLaet und Scott 2006; Thérien und Noel 2000).

Der Zweck dieses Kapitels ist es, die Rolle der Außenpolitik im österreichischen Parteienwettbewerb zu beleuchten. Dabei stehen folgende Fragen im Mittelpunkt: Welchen Stellenwert nimmt Außenpolitik in der Programmatik der Parteien ein? Welche Konfliktlinien strukturieren ihre außenpolitischen Positionierungen? Welche Veränderungen erfährt die außenpolitische Programmatik der Parteien im Zeitverlauf? Und wie sehr schlägt sich Parteipolitik in der Personalpolitik der Parteien bei der Rekrutierung der Außenminister*innen der Zweiten Republik nieder?

Eine Inhaltsanalyse von Wahlprogrammen seit 1945 zeigt, dass sich der außenpolitische Diskurs stark verändert hat: Sicherheit- und verteidigungspolitische Themen (z. B. Neutralität, Ost-West-Konflikt, Landesverteidigung) haben im Zeitverlauf etwas an Bedeutung eingebüßt, während Fragen der Europäischen Integration (Beitritt zur Europäischen Union, Euro-Einführung, EU-Erweiterungen) ab den 1990er-Jahren deutlich mehr an Aufmerksamkeit bekommen. Vergleicht man über die einzelnen Parteien, dann zeigt sich, dass etwa die Kommunistische Partei Österreichs (KPÖ) in ihren Wahlprogrammen überdurchschnittlich stark über verteidigungspolitische Themen spricht, während die Freiheitliche Partei Österreichs (FPÖ), Grüne und liberale Parteien mehr Fokus auf die Europapolitik legen als andere Parteien.

Im parlamentarischen Abstimmungsverhalten zeigen sich höhere Konsensraten bei Abstimmungen zu Staatsverträgen als bei Gesetzesvorschlägen. Vor allem die Sozialdemokratische Partei Österreichs (SPÖ) trägt auch als Oppositionspartei die großen außenpolitischen Linien der Regierung mit. Bei FPÖ und Grünen gibt es in Oppositionsphasen hingegen eine etwas ausgeprägtere Kontra-Haltung. Bei den großen Marksteinen der österreichischen Außenpolitik gibt es typischerweise einen breiten Konsens der Mitte, hauptsächlich getragen von SPÖ und Österreichischer Volkspartei (ÖVP). Ablehnung kommt, wenn, dann von den meist kleineren Parteien in Opposition (KPÖ, FPÖ und Grüne).

Im nun folgenden Hauptteil des Beitrags wird zunächst die Analyse der Wahlprogramme durchgeführt. Auf eine Beschreibung der wichtigsten außenpolitischen Konfliktlinien in der Zweiten Republik folgt dann eine Untersuchung des parlamentarischen Abstimmungsverhaltens. Zum Schluss wird noch die Rekrutierung von Außenminister*innen durch die österreichischen Parteien seit 1945 beleuchtet.

2 Außenpolitik in den Wahlprogrammen der Parteien

Wahlprogramme sind eine der meistgenutzten Quellen für die Analyse des Parteienwettbewerbs (Klingemann et al. 2006; Volkens et al. 2013). Einer ihrer großen Vorzüge ist, dass sie ex post Längsschnittsanalysen erlauben und oft umfassend über programmatische Standpunkte von Parteien Auskunft geben (Dolezal et al. 2012). Im Folgenden wird auf die Wahlprogramm-Daten der Austrian National Election Study (AUTNES) zurückgegriffen, die mit einem feingliedrigen Kodierschema die thematischen Aussagen in Wahlprorammen der Parlamentsparteien zu allen Nationalratswahlen seit 1945 erfasst (Dolezal et al. 2014, 2016). Für die Darstellung werden allgemeine außenpolitische von europapolitischen und verteidigungspolitischen Themen unterschieden. Unter erstere fallen beispielsweise Aussagen zu internationaler Kooperation, internationalen Organisationen, Staatsvertrag, Beziehungen zu einzelnen Staaten, Globalisierung, Welthandel oder Entwicklungszusammenarbeit. Unter „Europäische Integration“ werden hingegen etwa Aussagen zum Beitritt, zu Vertiefungs- und Erweiterungsschritten der Europäischen Union (EU), Binnenmarkt, Währungsunion, EU-Institutionen, Forderungen nach stärkerer Vergemeinschaftung einzelner Politikbereiche oder der Rückführung von Kompetenzen auf die nationale Ebene subsumiert. Die Kategorie der Verteidigungspolitik enthält unter anderem Aussagen zu Krieg und Frieden, Neutralität, Militärbündnissen, Bundesheer, Wehrpflicht und Rüstung.

Abb. 1 zeigt den Anteil der Aussagen in den Wahlprogrammen zu diesen drei Kategorien. In der Regel bewegen sich diese Themenbereiche im einstelligen Prozentbereich, nur in Ausnahmefällen (etwa SPÖ 1945, FPÖ 1970 und 2019) werden die Werte zweistellig.Footnote 1 Dabei muss aber bedacht werden, dass Wahlprogramme – besonders in jüngeren Jahrzehnten – oft umfangreiche Dokumente sind, die auf dutzenden oder gar hunderten Seiten eine große programmatische Breite abdecken (Dolezal et al. 2012). Während in Summe innenpolitische Themen naturgemäß dominieren (vor allem Wirtschaft, Soziales und Bildung), sind außen-, europa- und verteidigungspolitische Inhalte dem zwar untergeordnet, aber keineswegs marginal.

Abb. 1
figure 1

(Quelle: Eigene Darstellung auf Grundlage der Wahlprogramme der Parteien)

Außenpolitik, Europäische Integration und Verteidigungspolitik in den Wahlprogrammen der Parteien, 1945 bis 2019. Anmerkung: S = SPÖ, V = ÖVP, F = VdU/FPÖ, G = Grüne, L = Liberales Forum, B = BZÖ, T = Team Stronach, N = Neos, J = Liste Pilz/Jetzt. Trend = lokal-polynome Regressionen mit 95-%-Konfidenzintervallen, gewichtet nach dem Stimmenanteil der Parteien.

Die geglätteten Trendlinien in Abb. 1 erfassen die Entwicklung über die Zeit abseits einzelner Ausreißer. Für die allgemeine Außenpolitik ist keine klare Tendenz zu erkennen. Über den gesamten Zeitraum der Zweiten Republik nimmt das Thema meist zwei bis drei Prozent des Platzes in Wahlprogrammen ein. Anders die Verteidigungspolitik, wo ein Abwärtstrend sichtbar wird; das ist insofern verständlich, als unmittelbar nach 1945 Themen wie die Neutralität, später dann der Ost-West-Konflikt von existenzieller Bedeutung für die junge Republik waren. Mit der Wiedererlangung der vollen Souveränität 1955 beziehungsweise dem Fall des Eisernen Vorhangs nahm die Bedeutung dieser Themen ab und demnach sank auch ihr Anteil an den Wahlprogrammen der Parteien.

Komplett gegenläufig dazu ist die Entwicklung im Bereich Europäische Integration. In den ersten Nachkriegsjahrzehnten ist dieses Thema kaum in den Wahlprogrammen der Parteien präsent. Eine Ausnahme von dieser Regel bildet die FPÖ, die in den Sechzigern und Siebzigern deutlich mehr Augenmerk auf Europapolitik legt als die anderen Parteien – und dabei durchwegs integrationsfreundliche Positionen vertritt. Um 1960 verzeichnen auch andere Parteien (vor allem ÖVP und SPÖ) eine kurzfristig erhöhte Bedeutung des Themas. In diese Zeit fallen die ersten konkreten Bestrebungen Österreichs nach einem Beitritt zur Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG), die im weiteren Verlauf am Veto Italiens (begründet im nicht beigelegten Südtirol-Konflikt) und an einer kritischen Haltung Frankreichs scheitern.

Hochkonjunktur bekommen europapolitische Fragen dann erst wieder ab Ende der Achtzigerjahre im Zuge der beginnenden Beitrittsdiskussion, die dann Mitte der Neunziger ihren positiven Abschluss findet. Seither haben Fragen der Europäischen Integration einen festen Platz in der Programmatik der Parteien – nicht zuletzt auch deshalb, weil sich die Positionen zwischen EU-freundlichen und EU-skeptischen Parteien stärker ausdifferenziert haben (Kriesi et al. 2006).

Verdrängt der verstärkte Fokus auf die europäische Dimension ab den 1990ern die Verteidigungspolitik von der Tagesordnung? Die Korrelation zwischen den beiden Anteilen an den Wahlprogrammen ist schwach negativ (r = -0.11), allerdings spricht Abb. 1 bei genauerer Betrachtung dagegen. Hier sieht man, dass Anstieg der europapolitischen Thematik sehr abrupt passiert, der Rückgang verteidigungspolitischer Inhalte hingegen eher sukzessive. Ein guter Teil der Abnahme im Prozentanteil verteidigungspolitischer Thematiken geschieht auch schon in den ersten Nachkriegsjahrzehnten, bevor europapolitische Fragen stark an Bedeutung gewinnen. Für die Summe der drei Politikbereiche ergibt sich daher auch eine klare Zunahme: von rund fünf bis sechs Prozent nach 1945 auf knapp zehn Prozent in der Zeit seit dem EU-Beitritt.

Kollabiert man die Zeitdimension und lenkt das Augenmerk auf die Parteidifferenzen in der Betonung außen-, verteidigungs- und europapolitischer Themen (siehe Abb. 2), dann treten auch hier relevante Unterschiede zutage. Für die allgemeine Außenpolitik lassen sich noch kaum Unterschiede zwischen den Parteien feststellen. Bei dieser Themenkategorie gibt es also weder klare Zeittrends noch starke Parteidifferenzen. In der Verteidigungspolitik hingegen treten deutliche Parteimuster zutage. Die höchsten Anteile finden wir in den Programmen der KPÖ, gefolgt von SPÖ und ÖVP. Deutlich niedriger sind die Werte von liberalen, grünen und rechten Parteien. Diese Parteidifferenzen spiegeln stark den Zeittrend wider: Jüngere Parteien haben tendenziell niedrigere Werte, während länger existierende Parteien höhere Werte aufweisen.

Abb. 2
figure 2

(Quelle: Eigene Darstellung auf Grundlage der Wahlprogramme der Parteien)

Außen-, Verteidigungspolitik und Europäische Integration in den Wahlprogrammen der Parteien, Vergleich über Parteien(-familien). Anmerkung: Die Boxplots geben die Verteilung der Anteilswerte des jeweiligen Themenbereichs pro Partei oder Parteienfamilie wieder. Die waagrechten schwarzen Linien sind die Mediane dieser Verteilung und die grauen Boxen stellen den Bereich zwischen erstem (25 %) und drittem (75 %) Quartil dar.

Bei Fragen der Europäischen Integration hingegen zeigt sich ein anderes Bild. Hier weisen die Parteien mit den exponiertestes Pro- beziehungsweise Anti-Integrationspositionen die höchsten Anteilswerte auf, nämlich FPÖ, Grüne und Liberales Forum/Neos. Die niedrigsten Anteile finden sich neben der KPÖ bei SPÖ und ÖVP. Auch hier sind die Ergebnisse zum Teil auf die starke Zeitkonjunktur in der Bedeutung europapolitischer Fragen zurückzuführen. Schließlich fallen die Wahlprogramme jüngerer Parteien zur Gänze in einen Zeitraum, in dem die Europathematik insgesamt stark an Bedeutung gewonnen hat.

Summiert man aber die drei Politikbereiche, dann ergibt sich ein erstaunlich ausgeglichenes Bild: Im Aggregat nehmen Außen-, Verteidigungs- und Europapolitik über die Parteien hinweg im Schnitt sieben bis acht Prozent des Raumes in den Wahlprogrammen ein. Keine Partei sticht also besonders stark hervor, wie das im Sinne einer Themenführerschaft (issue ownership) etwa in der Umweltpolitik (Grüne), Zuwanderungspolitik (FPÖ), Sozialpolitik (SPÖ) oder Wirtschaftspolitik (ÖVP) oft der Fall ist (Wagner und Meyer 2015). Der Parteienwettbewerb schlägt sich bei außen-, verteidigungs- und europapolitischen Themen also weniger stark darin nieder, dass die Parteien diesen Inhalten unterschiedlich große Bedeutung beimessen, sondern in den konkreten inhaltlichen Positionen, die sie einnehmen. Im nächsten Abschnitt wird versucht, die wichtigsten Konfliktlinien, die sich dadurch zwischen den Parteien ergeben, nachzuzeichnen.

3 Außenpolitik als innenpolitische Konfliktlinie in der Zweiten Republik

Die Außenpolitik der Zweiten Republik ist die eines zuerst besetzen, danach neutralen Kleinstaates, dessen Gestaltungsspielraum maßgeblich von weltpolitischen Konstellationen (Ost-West-Konflikt, Fall des Eisernen Vorhangs, Europäischer Integrationsprozess) und Beziehungen zu einzelnen (Nachbar-)Staaten (Ungarnkrise, Südtirol-Konflikt, Zerfall Jugoslawiens) abhängig ist (Gehler 2005, 21–139). Wiewohl besonders zwischen den traditionellen Groß- und Regierungsparteien SPÖ und ÖVP besonders unmittelbar nach 1945 in vielen Bereichen Konsens über die Eckpunkte der österreichischen Außenpolitik herrschte (Kramer 2006, 809), wurden außenpolitische Fragen dennoch immer wieder zum Gegenstand innenpolitischer Konflikte.

Große Einigkeit bestand in den ersten Nachkriegsjahren darüber, die vollständige Souveränität Österreichs wiederherzustellen (Stourzh und Müller 2020, 19–82). Der Staatsvertrag von 1955 wurde demnach auch einstimmig im Nationalrat verabschiedet – wie zuvor schon der Beitritt zu den Vereinten Nationen und die Genfer Flüchtlingskonvention (siehe auch Tab. 2 unten). Doch soll das beträchtliche Ausmaß an Konsens zwischen den beiden Großparteien nicht darüber hinwegtäuschen, dass es in den ersten Nachkriegsjahrzehnten in Fragen der Neutralität, der Positionierung im Ost-West-Konflikt und der Annäherung an die Europäischen Gemeinschaften teils deutliche Auffassungsunterschiede im parlamentarischen Spektrum gab. Vor allem die kleineren Parteien an den ideologischen Rändern nahmen hier exponiertere Positionen ein. Die FPÖ beziehungsweise der Verband der Unabhängigen (VdU) als Vorläuferorganisation sahen die österreichische Neutralität äußerst skeptisch und traten für eine verstärkte Westintegration (inklusive Beitritt zur EWG) ein. Eine Wurzel dieser Position war der freiheitliche Deutschnationalismus, der eine stärkere Bindung an Deutschland wünschenswert erscheinen ließ (Reiter 2019, 258). Im scharfen Gegensatz dazu vertrat die KPÖ (bis 1959 im Nationalrat vertreten) betont moskaufreundliche Positionen (Mugrauer 2020, 489–500) und lehnte aus dieser Motivlage heraus etwa Österreichs Beitritt zum General Agreement on Tariffs and Trade (GATT) und zum Europarat ab (und äußerte sich auch betont skeptisch gegenüber dem Marshallplan).

Die global ausgerichtete und aktivistische Außenpolitik der SPÖ-Alleinregierungen unter Bruno Kreisky ab 1970 wurde wiederholt von der ÖVP kritisiert (Stifter 2003). Beispielhaft dafür war die Mobilisierung gegen das Konferenzzentrum auf dem Areal des Vienna International Center („Uno-City“), die im bisher erfolgreichsten Volksbegehren der Zweiten Republik (26 % Beteiligung) mündete. Die Volkspartei forderte eine stärker auf österreichische Kerninteressen und damit den europäischen Raum fokussierte Politik (Kramer 2006, 819–820).

Spätestens mit der Neuauflage der großen Koalition ab 1987 vollzog sich dieser Politikwechsel auch. Folglich rückte – auch befördert durch den Zusammenbruch der Sowjetunion und der anderen kommunistischen Regime Osteuropas – eine Mitgliedschaft in den Europäischen Gemeinschaften stärker ins Zentrum außenpolitischer Aktivität (Kramer 2016). Der Beitrittsprozess und die darauffolgenden Integrationsschritte ordnete die Positionierungen der österreichischen Parteien zum Europäischen Integrationsprozess neu. Zunächst überwanden SPÖ und ÖVP verbleibende neutralitätspolitische Zweifel gegenüber dem EU-Beitritt. In weiterer Folge wandelte sich die jahrzehntelang pro-europäische FPÖ zu einer EU-skeptischen Partei, während die Grünen nach 1995 von entschiedenen Beitrittsgegnern zu klaren EU-Befürwortern wurden (Dolezal 2005, 2016).

4 Außenpolitische Abstimmungskoalitionen im Nationalrat

Außenpolitik nimmt im parlamentarischen Geschehen für gewöhnlich eine Nebenrolle ein. Das liegt auch daran, dass die wichtigsten politischen Konflikte, die parlamentarisch ausgetragen werden und dementsprechend öffentliche Aufmerksamkeit erlangen, in den Bereich der Gesetzgebung fallen, die sich naturgemäß auf innenpolitisch relevante Themen beschränkt (siehe etwa Tálos und Kittel 2001). Jedoch kommt dem Parlament laut Artikel 50 des Bundes-Verfassungsgesetzes (B-VG) eine wichtige außenpolitische Rolle zu, nämlich die Zustimmung zu Staatsverträgen, die „gesetzändernden oder gesetzesergänzenden Inhalt“ haben oder die „vertraglichen Grundlagen der Europäischen Union“ ändern (zusätzlich sieht das B-VG in Artikel 16 für die Länder die Möglichkeit vor, Staatsverträge mit Nachbarstaaten abzuschließen).

Seit Jänner 1996 (Beginn der XX. Gesetzgebungsperiode und Beginn des digital dokumentierten Abstimmungsverhaltens) wurden im Parlament etwas über 900 Staatsverträge beschlossen (Stand Ende Mai 2021), was im Schnitt etwa drei Dutzend Staatsverträgen pro Jahr entspricht. Von diesen gut 900 Staatsverträgen wurden 71 % im Nationalrat einstimmig beschlossen. Wiewohl diese Einstimmigkeitsquote deutlich über jener für Gesetzesbeschlüsse liegt (ca. 30 bis 40 % im Schnitt der letzten 20 Jahre) (Müller und Jenny 2004), zeigt diese Zahl doch, dass – frei nach Arthur Vandenberg – parteipolitische Differenzen nicht immer an der Staatsgrenze enden. Außenpolitik ist demnach beileibe kein Feld, wo unter den parlamentarischen Fraktionen stets Konsens herrscht. Zwar sind außenpolitische Fragen nach diesem Maßstab weniger konfliktbeladen als innenpolitische, aber keineswegs nur konsensual.

Im Zeitverlauf variiert das Ausmaß an Konsens auch beträchtlich (siehe Abb. 3). Im Laufe der letzten 25 Jahre schwankte die jährliche Einstimmigkeitsquote bei Abstimmungen über Staatsverträge zwischen 42 (2016) und 96 (2004) Prozent. Besonders zur Regierungszeit großer Koalitionen aus SPÖ und ÖVP (vor 2000 und von 2007 bis 2017) herrscht ein größeres Ausmaß an Dissens.

Abb. 3
figure 3

(Quelle: Eigene Darstellung auf Grundlage der Abstimmungen im österr. Nationalrat)

Anteil einstimmig beschlossener Gesetze und Staatsverträge im Nationalrat. Anmerkung: Jährliches N zwischen 11 und 68 für Staatsverträge (Median = 37).

Wie Tab. 1 zeigt, ist dieses Muster leicht durch Unterschiede im Verhalten mancher Parteien in Regierung und Opposition erklärbar. Regierungsparteien stimmen praktisch immer geschlossen für Staatsverträge (schließlich werden diese durchwegs als Regierungsvorlagen eingebracht und benötigen somit einhellige Unterstützung im Ministerrat). Interessant ist daher vor allem, wie die Opposition sich verhält – und hier treten relevante Unterschiede zwischen den Parteien zutage: Während etwa die SPÖ auch in Oppositionsphasen hohe Zustimmungsraten zu Staatsverträgen zeigt, stimmen FPÖ, Grüne und andere „traditionelle Oppositionsparteien“ (mit Ausnahme von Neos) seltener zu – außer sie nehmen die Regierungsrolle ein. Die Regierungsbeteiligungen von FPÖ/BZÖ und Grünen (2000–07; ab 2017) dämpfen somit den parlamentarisch ausgedrückten Dissens und erzeugen in Folge höhere Einstimmigkeitsquoten.

Tab. 1 Zustimmungsraten bei Abstimmungen über Staatsverträge im Nationalrat. (Quelle: Eigene Zusammenstellung auf Basis von Abstimmungsergebnissen auf www.parlament.gv.at; inklusive vier namentliche Abstimmungen (d. h. ohne Angaben über Abstimmungsverhalten der Klubs). Als Zustimmung wird nur gewertet, wenn der gesamte Parlamentsklub zustimmt (besonders bei Grünen und FPÖ gibt es einige Abstimmungen, wo Teile des Klubs dafür und Teile dagegen stimmen. Regierungsparteien grau hinterlegt)
Tab. 2 Ausgewählte Abstimmungen zu außenpolitischen Fragen im Nationalrat. Anmerkung: Mehrere für Österreich bedeutsame Abkommen wurden nicht im Nationalrat abgestimmt, zum Beispiel das Gruber-De-Gasperi-Abkommen (1946), Österreichs Teilnahme am Marshall-Plan (1948), der Beitritt zur OEEC (1948, später OECD) oder die KSZE-Schlussakte von Helsinki (1975)

Vereinzelt kommt es sogar dazu, dass die Opposition geschlossen gegen einen Staatsvertrag stimmt. Dabei handelt es sich durchwegs um Abstimmungen, die – im Gegensatz zu vielen anderen – auch von einer breiteren öffentlichen Debatte begleitet werden. Als Beispiele seien hier Staatsverträge über Pipeline-Projekte (Nabucco), sicherheitspolitische Fragen (Europol, FACTA), Steuerübereinkommen mit der Schweiz und Liechtenstein, Abkommen zu Tier- und Pflanzenschutz sowie Fragen der nuklearen Sicherheit (Atomkraftwerk Temelín) genannt.

Tab. 2 präsentiert eine Auswahl außenpolitisch relevanter Abstimmungen der Zweiten Republik und die jeweiligen Abstimmungskoalitionen. Bei erster Betrachtung fällt auf, dass es bei allen ausgewählten Abstimmungen Konsens zwischen SPÖ und ÖVP gab – selbst, wenn sich eine der beiden Parteien in Opposition befand. Dissens gab es in den ersten Nachkriegsjahrzehnten vonseiten der FPÖ beziehungsweise des VdU, die das Neutralitätsgesetz und den Beitritt zur Europäischen Freihandelsassoziation (EFTA) aufgrund ihrer Präferenz für eine stärkere Westanbindung ablehnten, und vonseiten der KPÖ, deren moskaufreundliche Positionierung sich in der Ablehnung von GATT- und Europarats-Beitritt niederschlug.

In den Neunzigerjahren waren vor allem europa- und sicherheitspolitische Fragen bedeutend (u. a. Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik, Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa, Partnerschaft für den Frieden). Diese Beschlüsse wurden in der Regel von einer Mehrheit aus SPÖ, ÖVP und Liberalem Forum getragen, Ablehnung kam zumeist von FPÖ und Grünen. Die Regierungsbeteiligung der FPÖ und die etwa gleichzeitig stattfindende Pro-EU-Wende der Grünen führten dazu, dass viele wichtige Beschlüsse ab 2000 einstimmig fielen (EU-Erweiterung, Vertrag von Nizza, EU-Verfassungsvertrag).

Die Abstimmungsmuster über die Jahrzehnte zeigen uns, dass es durch die gesamte Zweite Republik bei allen Differenzen einen relativ breiten außen- und europapolitischen Konsens gibt, der im Parlament vor allem von ÖVP und SPÖ getragen wird. Andere Parteien scheren aus diesem Konsens immer wieder aus beziehungsweise verändern ihr Abstimmungsverhalten teils nach wahlstrategischen Gesichtspunkten (wie die Grünen ab Ende der Neunziger) oder im Zuge einer Regierungsbeteiligung (hier besonders die FPÖ).

5 Außenpolitik als Personalpolitik: Die Außenminister*innen der Zweiten Republik

Zur Aufgabe von Parteien in einer Demokratie gehören nicht nur der programmatische Wettbewerb und die Vermittlung zwischen gesellschaftlichen Interessen und staatlichen Institutionen, sondern auch die Rekrutierung von Personen für hohe politische Ämter (Andeweg 2000). Im internationalen Vergleich zeigt sich, dass auch in diesem Bereich die Norm der Überparteilichkeit stärker wiegt als in anderen Ressorts: Außenminister*innen sind deutlich seltener Partei- oder Politik-Insider als andere Regierungsmitglieder (De Winter 1991, 64).

Für Österreich lässt sich diese These ebenso bestätigen. Die politischen Biografien der 20 Außenminister*innen (darunter drei Frauen) der Zweiten Republik veranschaulicht das Spannungsfeld zwischen dem Anspruch der Überparteilichkeit und dem legitimen Interesse nach Durchsetzung parteilicher Vorstellungen (Mair 2008). Auf der einen Seite waren nicht weniger als sechs der Außenminister*innen seit 1945 parteilos (was über dem Durchschnitt liegt, siehe Kaltenegger und Ennser-Jedenastik 2020): Kurt Waldheim, Rudolf Kirchschläger, Erich Bielka, Willibald Pahr, Karin Kneissl und Alexander Schallenberg (der allerdings nach Amtsantritt der ÖVP beitrat). Auf der anderen Seite gelangte eine gleich große Zahl in ihrer Karriere als Vorsitzende sogar an die Spitze ihrer Parteien: Leopold Figl, Alois Mock, Wolfgang Schüssel, Michael Spindelegger und Sebastian Kurz (alle ÖVP) sowie Bruno Kreisky (SPÖ). Alexander Schallenberg stieg im Oktober 2021 zum Bundeskanzler auf.

Zudem war für einige Amtsinhaber*innen das Außenministerium Sprungbrett in höhere Ämter, für die die Erwartung der Überparteilichkeit ebenso zutrifft: neben den genannten Waldheim (UN-Generalsekretär, Bundespräsident) und Kirchschläger (Bundespräsident) trifft das auf Lujo Tončić-Sorinj (ÖVP, Generalsekretär des Europarates) und Benita Ferrero-Waldner (ÖVP, Mitglied der Europäischen Kommission) zu. Schließlich wird bei der Betrachtung der 20 Lebensläufe auch die Bedeutung des auswärtigen Dienstes als Karriereschiene klar – sowohl, um sich für das Ministeramt zu empfehlen (z. B. Alexander Schallenberg, Karin Kneissl, Michael Linhart), als auch um nach Amtsende ein adäquates Betätigungsfeld vorzufinden (z. B. Karl Gruber, ÖVP; Leopold Gratz, SPÖ). Für manche trifft sogar beides zu (z. B. Peter Jankowitsch, SPÖ; Ursula Plassnik, ÖVP).

Zum Teil sind Besetzungen mit parteilosen oder schwach in Parteien verankerten Personen dadurch erklärbar, dass zum jeweiligen Zeitpunkt die Außenpolitik zur „Chefsache“ erklärt und maßgeblich vom Bundeskanzler bestimmt wurde. Das trifft etwa auf die Ära Kreisky zu. Andererseits können parteilose Besetzungen auch dazu dienen, ideologische Positionierungen von Parteien, die eventuell als problematisch gesehen werden, abzufedern. Das wäre eine Erklärung dafür, warum etwa die bekannt EU-skeptische FPÖ bei der Regierungsbildung 2017 nicht – wie in anderen Ressorts – ein Partei-Schwergewicht ins Außenministerium entsandte, sondern die nicht parteigebundene Karin Kneissl. Zu dieser Interpretation passt auch die Tatsache, dass die EU-Agenden nach der Regierungsbildung 2017 vom Außenministerium ins Bundeskanzleramt – und damit unter ÖVP-Führung – übertragen wurden.

6 Resümee

Die bewegte Geschichte der Zweiten Republik schlägt sich auch im Parteienwettbewerb zu außen-, verteidigungs- und europapolitischen Themen nieder. Bei allen programmatischen Unterschieden zwischen den Parteien wirken über weite Strecken doch Kräfte, die das Ausmaß des Parteienkonfliktes zumindest in gewissen Grenzen halten. In den ersten Nachkriegsjahrzehnten eint das Streben nach dem Ende der Besatzung die Parteien in vielen Fragen. Der Preis für die Wiedererlangung der Souveränität – die verfassungsrechtlich verankerte Neutralität – beschränkt in den Jahrzehnten des Ost-West-Konflikts den politischen Wettbewerbsraum (explizit für eine starke Westintegration setzt sich nur die FPÖ ein), schafft aber auch die Grundlage für die aktive Neutralitätspolitik der Ära Kreisky. Erst mit dem Fall der kommunistischen Regime Mittel- und Osteuropas erweitern sich die außenpolitischen Möglichkeiten Österreichs – und dadurch steigt auch das politische Konfliktpotenzial: Die Beitritte zu EU und Welthandelsorganisation (WTO) sind durchwegs umstritten, ebenso die Annäherung an die NATO.

Mit Fortschreiten des Europäischen Integrationsprozesses verfestigen sich europapolitische Fragen als wichtiger Bestandteil der Themenlandschaft in der österreichischen Politik, während der Fokus auf verteidigungspolitische Themen (weiter) nachlässt. Man kann im weiteren Sinn durchaus von einer Europäisierung der außenpolitischen Debatte in Österreich sprechen.

Fragen der Europapolitik nehmen aber nicht nur einen größeren Anteil an der Programmatik der Parteien ein als etwa Verteidigungspolitik oder „sonstige“ Außenpolitik, sie zeichnen sich auch durch stärkere Polarisierung der Parteipositionen aus: Einer EU-skeptischen FPÖ stehen heute Grüne und Neos mit starken Pro-EU-Positionen gegenüber. Bei SPÖ und ÖVP gibt es eine Pro-EU-Grundhaltung, die aber immer wieder mit EU-skeptischen Elementen versetzt wird (Melchior 2019). Somit greift die Norm der Überparteilichkeit („Politics stops at the water’s edge“) in EU-Fragen weit weniger als in anderen Bereichen der Außenpolitik. Tatsächlich findet die Konfliktlinie zwischen Befürwortung und Skepsis gegenüber der Europäischen Integration sowohl im Parteienwettbewerb (Dolezal et al. 2014) als auch im Wahlverhalten (Aichholzer et al. 2014) ihren Niederschlag. Insofern ist die Europapolitik der österreichischen Parteien zumindest ein Stück weit zur Innenpolitik geworden.

Weiterführende Quellen

Dolezal, Martin. 2005. Globalisierung und die Transformation des Parteienwettbewerbs in Österreich: eine Analyse der Angebotsseite. Österreichische Zeitschrift für Politikwissenschaft 34(2): 163-176.

Dieser Beitrag stellt den Wandel des österreichischen Parteienwettbewerbs seit den 1970er-Jahren empirisch dar. Dabei wird unter anderem deutlich, welche Rolle der Konflikt um die Europäische Integration bei der Ausdifferenzierung des modernen österreichischen Parteiensystems spielt.

Kramer, Helmut. 2006. „Strukturentwicklung der Außenpolitik (1945–2005)“. In Politik in Österreich. Das Handbuch, Hrsg. von Herbert Dachs, Peter Gerlich, Herbert Gottweis, Helmut Kramer, Volkmar Lauber, Wolfang C. Müller und Emmerich Tálos, 807–837, Wien: Manz.

Dieser Beitrag bietet einen historischen Abriss der Außenpolitik Österreichs nach 1945 und ordnet diese auch in den innenpolitischen Kontext von Parteikonflikten ein. So werden Konsens- wie auch Konfliktpunkte in der Neutralitäts-, Nachbarschafts- und Europapolitik deutlich herausgearbeitet.

Kramer, Helmut. 2016. Austrian foreign policy 1995-2015. Österreichische Zeitschrift für Politikwissenschaft 45(2): 49-57.

Dieser Beitrag vollzieht die Analyse der österreichischen Außenpolitik von Kramer (2006) bis in die jüngere Gegenwart. Unter anderem wird die Rolle der Innenpolitik für den Bedeutungsverlust der Außenpolitik in Österreich diskutiert.

Stifter, Gerald. 2003. „Kontroversen um Österreichs Außenpolitik. Die außenpolitischen Konzeptionen der ÖVP in der Ära Kreisky 1975 bis 1983“. In Demokratie und Geschichte, hrsg. von Helmut Wohnout, 119-152, Wien: Böhlau.

Dieser Beitrag zeigt inhaltliche Divergenzen zwischen den beiden (damaligen) Großparteien SPÖ und ÖVP während einer der prägendsten Phasen der österreichischen Außenpolitik auf. Darin wird deutlich, welches Ausmaß an Parteidifferenzen in der Außenpolitik während der Ära Kreisky bestand.