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1 Einleitung

Dieses Kapitel wurde mit hervorragender Forschungsunterstützung von Jonas Heitzer an der Universität Innsbruck erstellt.

Als kleines neutrales Land, das keine Kolonialmacht in Lateinamerika war, pflegte Österreich während der Zweiten Republik stets gute Beziehungen zu den Ländern Lateinamerikas, hatte dort aber nie staatstragende Interessen. In diesen Zusammenhang sind die Außenbeziehungen Österreichs zu Lateinamerika von zwei Merkmalen gekennzeichnet: Zum einen ist die österreichische Außenpolitik durch eine durchgehend kooperative und dialogische Haltung auf der Ebene der diplomatischen Beziehungen geprägt. Besonders sichtbar wird dies in den Bereichen der Außenpolitik, die von besonderem nationalem Interesse sind (Wirtschaft, Entwicklungszusammenarbeit, zivilgesellschaftliches Engagement, multilaterale Kooperation innerhalb der UNO). Zum anderen sind die politischen Beziehungen zwischen Österreich und Lateinamerika, vor allem die Intensität und die Akzentuierung betreffend, eher wechselhaft und von den Prioritäten der jeweiligen Regierungen abhängig.

Dieser Beitrag untersucht, wie sich die Beziehungen Österreichs im Laufe der Zweiten Republik entwickelt haben und welche Faktoren diese Entwicklung beeinflusst haben. Es zeigt sich, dass die österreichische Außenpolitik gegenüber Lateinamerika von drei Säulen getragen wird: Handelsbeziehungen, Entwicklungszusammenarbeit und multilateralen Beziehungen im Kontext der Vereinten Nationen. Neben diesen langfristigen Interessen lassen sich vier Phasen identifizieren, in denen der Einfluss des politischen Kontexts, der institutionellen Rahmenbedingungen und der handelnden Akteure zu einer bestimmten Akzentuierung in der Außenpolitik Österreichs gegenüber Lateinamerika geführt haben. Diese Phasen sind: Die Ära Kreisky, die von verstärkten außenpolitischen Beziehungen geprägt ist; Das Primat der Entwicklungshilfe, die von einem Fokus auf Nicaragua gekennzeichnet wird; und die Eingliederung in die EU-Außenpolitik, wo der Fokus auf der Ausverhandlung von strategischen Handels- und Partnerschaftsabkommen liegt. Aus diesem Gesamtüberblick lässt sich ein Leitthema ableiten, nämlich die Verschiebung von bilateralen zu interregionalen Beziehungen im Kontext der Eingliederung Österreichs in den institutionellen Rahmen der Europäischen Union (EU). Anstatt Österreichs Rolle zu verringern, zeigt die Analyse jedoch, dass Österreich seine Teilnahme an der Europäischen Union nutzen konnte, um seinen außenpolitischen Einfluss in bestimmten Bereichen zu stärken.

Der Beitrag ist wie folgt strukturiert: Zuerst werden diejenigen Bereiche identifiziert, welche den Kern des österreichischen Interesses und Engagements in der Region darstellen und das Element der Kontinuität in den Beziehungen verkörpern (2). Als nächstes widme ich mich der Analyse von politischen Beziehungen und perioden-spezifischen Akzentuierungen (3). Darauffolgend gehe ich auf ein aktuelles, konfliktbehaftetes Thema ein, das als Wendepunkt von besonderer Bedeutung für die österreichische Außenpolitik gegenüber Lateinamerika gesehen werden kann: die österreichische Ablehnung des Abkommens EU-Mercosur (gemeinsamer Markt Südamerikas) (4). Der nächste Abschnitt identifiziert die wichtigsten Einflussfaktoren und Rahmenbedingungen, die verschiedene Aspekte der österreichischen Politik gegenüber Lateinamerika prägen (5). Der Beitrag schließt mit einer kurzen Zusammenfassung (6).

Als Quellen für die Analyse wurden neben Fachliteratur und Medienberichte auch Primärquellen herangezogen. Zu nennen sind unter anderem die jährlich vom Außenministerium publizierten Außenpolitischen Berichte, Positionspapiere von Nichtregierungsorganisationen (NGOs), parlamentarische Dokumente, sowie zwei Experteninterviews.Footnote 1

2 Elemente der Kontinuität: Die wichtigsten Säulen der österreichischen Außenpolitik gegenüber Lateinamerika

Langfristig gesehen wird die österreichische Außenpolitik gegenüber Lateinamerika von drei Säulen getragen (Rendl 2021). Die erste Säule stellen die Handelsbeziehungen dar. Lateinamerika ist nicht unter den wichtigsten Handelspartnern Österreichs. Im Jahr 2020 wurde 1,2 % des österreichischen Handelsvolumens mit Lateinamerika abgewickelt, was insgesamt 3,6 Mrd. Euro ausmacht. Mexiko, Brasilien, Chile und Peru waren die wichtigsten Handelspartner (Bundesministerium für Digitalisierung und Wirtschaftsstandort 2021). Damit ist der gesamte Außenhandel mit lateinamerikanischen und karibischen (LAK) Staaten vergleichbar mit Rumänien (Handelsvolumen 3,89 Mrd.) (Wirtschaftskammer Österreich 2021, 3). Dennoch hat Österreich als Exportnation in bestimmten Bereichen wichtige Interessen in der Region. Beispiele dafür sind Infrastruktur, Medizin, Telekommunikation und Maschinenbau. Die Bereitschaft der Politik, sich für die wirtschaftliche Interessen Österreichs in der Region einzusetzen, blieb im Laufe der Jahre stets bestehen. Wichtige Beispiele eines solchen politischen Engagements liefern Staatsbesuche und Reisen österreichischer Politiker*innen in die Region – etwa Bundespräsident Heinz Fischer (SPÖ), Innenminister Günther Platter (ÖVP), WKO-Präsident Christoph Leitl 2005 in Brasilien (Bundesministerium für europäische und internationale Angelegenheiten 2006), Staatssekretärin Christa Kranzl (SPÖ) 2007 mit einer Wirtschaftsdelegation in Venezuela (Bundesministerium für europäische und internationale Angelegenheiten 2008), Bundeskanzler Alfred Gusenbauer (SPÖ) in mehreren Ländern der Region 2008 (Stackl 2008)). Als Importeur hat Österreich in den Bereichen Rohstoffe und Landwirtschaft ebenso nennenswerte Interessen in der Region.

Die zweite Säule der österreichischen Außenpolitik bilden die Entwicklungszusammenarbeit (EZA) und das staatlich unterstützte zivilgesellschaftliche Engagement in der Region. In diesem Bereich durchlief die österreichische Außenpolitik in der Zweiten Republik einen durchaus großen Wandel. Während in der Zeit zwischen 1970 und 2010 immer lateinamerikanische Staaten, vor allem Nicaragua, unter den EZA-Schwerpunktländern Österreichs waren, so hat sich dieser Fokus ab den 2010er Jahren, was die staatliche EZA anbelangt, aufgelöst. Nichtsdestotrotz bleibt das österreichische Engagement bestehen, getragen durch zahlreiche Initiativen von privaten Vereinen und Nichtregierungsorganisationen, die immer noch sehr aktiv in Nicaragua sind und zum großen Teil auch von staatlicher Seite für Ihre Entwicklungsprojekte finanziell unterstützt werden. In diesem Sinne kann die EZA als ein Element der Kontinuität wahrgenommen werden, wenngleich sich Ziele und handelnde Akteure in diesem Bereich geändert haben.

Die dritte Säule bilden die multilateralen Beziehungen im Kontext der Vereinten Nationen (UNO). Diese äußern sich in zweierlei Art und Weise. Zum einen bildeten die in der „Group of Latin America and the Carribean“ (GRULAC) vertretenen lateinamerikanischen Staaten in der Vergangenheit in den Bereichen Menschenrechte, Rechtsstaat, Klimawandel und nukleare Abrüstung verlässliche und progressive Partner bei multilateralen Verhandlungen. Zum anderen sind und waren lateinamerikanische Länder oft auch wichtige Verbündete zur Unterstützung der österreichischen Position als UNO-Amtssitz und dabei, wichtige Verhandlungen nach Wien zu ziehen (Rendl 2021).

3 Elemente des Wandels: Verschiedene Phasen der österreichischen Außenpolitik gegenüber Lateinamerika

3.1 Die Ära Kreisky (1959 bis 1983): Verstärkte außenpolitische Beziehungen

Diese von politischer Couleur und von den jeweils handelnden Akteuren unabhängig verfolgten Interessenbereiche stehen vier Phasen gegenüber, in denen der Einfluss des politischen Kontexts, der institutionellen Rahmenbedingungen und der handelnden Akteure erkennbar werden. Die erste bedeutende Phase der österreichischen Außenpolitik gegenüber Lateinamerika, die sich aus der einschlägigen Literatur identifizieren lässt, fällt in die Ära Bruno Kreiskys (SPÖ), zuerst in seiner Funktion als Außenminister (1959–1966) und vor allem später in seiner Amtszeit als Bundeskanzler (1970–1983). Nach innen unterstützte Bruno Kreisky die Verankerung der EZA als Politikfeld. Unter Kreisky als Außenminister wurde 1964 das „Wiener Institut für Entwicklungsfragen“, 1967 die „Österreichische Forschungsstiftung für Internationale Entwicklung“ (ÖFSE), sowie 1965 das „Lateinamerika-Institut“ gegründet (Cede und Prosl 2015, 151). Nach außen verfolgte Kreisky in seiner Amtszeit eine aktive, engagierte Außenpolitik, welche das Ziel hatte, Österreich zu einem wichtigen und anerkannten Player in der Weltpolitik zu machen.

Im Zuge dieses außenpolitischen Aktivismus engagierte sich Kreisky im Nord-Süd-Dialog, einer Initiative der 1970er- und 1980er-Jahre, die versuchte „das Verhältnis zwischen Industrie- und Entwicklungsländern neu zu ordnen“ (Cede und Prosl 2015, 150). Er setzte sich in mehreren wichtigen internationalen Foren für eine aktive Entwicklungspolitik ein und verteidigte seit den 1960er-Jahren die Idee eines „Marshall-Plans für Entwicklungsländer“ zur Förderung der wirtschaftlichen Eigenständigkeit der Staaten der sogenannten „Dritten Welt“. Diese Idee verfolgte Kreisky bis in die 1980er-Jahre in verschiedenen internationalen Foren. Einen außenpolitischen Höhepunkt der Ära Kreisky stellte die 1981 gemeinsam mit seinem mexikanischen Amtskollegen initiierte „Konferenz von Cancún“ unter Teilnahme des US-Präsidenten Ronald Reagan dar, wenngleich Kreisky mit seiner auch dort vorgestellten Marshall-Plan-Idee scheiterte.

Mit dieser entwicklungsfreundlichen Haltung konnte Österreich jedoch auch innerhalb der UNO wichtige Verbündete unter den Entwicklungsländern Lateinamerikas finden, was für die Verankerung Wiens als dritte UNO-Stadt von großer Bedeutung war. Somit wurde in dieser Phase durch den Einsatz Kreiskys für die Förderung der EZA und des Nord-Süd-Dialogs die Stellung Österreichs in der internationalen Gemeinschaft gestärkt und der UNO-Sitz nach Österreich geholt (Höll 1997, 776).

Zudem unterstützte Österreich Demokratiebewegungen in den von militärischen Diktaturen geprägten Ländern Lateinamerikas und vertrat eine eindeutige Haltung gegenüber den politischen und militärischen Konflikten der Region. In den 1970er-Jahren wurde beispielsweise eine für Österreich ansehnliche Zahl von Flüchtlingen aus Chile aufgenommen. Wie der damalige Priester und Entwicklungshelfer Herbert Berger erzählt, wäre die Aufnahme von 500 Flüchtlingen aus Chile ohne das persönliche Engagement Kreiskys und seines damaligen Justizministers Christian Broda nie zustande gekommen. Dieses persönliche Engagement zeigte sich im Jahr 1980 erneut, als Pinochet 200 Panzer aus Österreich kaufen und damit die internationale Isolierung Chiles durchbrechen wollte. Kreisky lehnte das Geschäft aus politischen und ideologischen Gründen ab und blieb damit seiner Haltung treu (Berger 2019; Berger und Berger 2002).

In diesem Kontext entstand auch die besondere Beziehung zwischen Österreich und Nicaragua. Bereits 1978, der Endphase des sandinistischen Aufstandes gegen die Somoza-Diktatur, wurde das „Österreichische Solidaritätskomitee für Nicaragua“ gegründet, dessen Präsidium Bundeskanzler Bruno Kreisky gemeinsam mit Vertretern der Zivilgesellschaft angehörte (Linzatti 2008, 99). Parallel zur wachsenden Solidaritätsbewegung in Österreich entwickelten sich auch die außenpolitischen Beziehungen zu Nicaragua, die zu diesem Zeitpunkt noch stark in den spezifischen politischen und ideologischen Kontext des Kalten Krieges eingebettet waren und eine deutliche Positionierung Österreichs widerspiegelten. Als im Jahr 1982 der von der Reagan-Regierung unterstützte bewaffnete Widerstand der Contras begann, gewann die Solidaritätsbewegung mit Nicaragua in Österreich weiter an Bedeutung. Im Außenpolitischen Bericht von 1983 steht dazu wörtlich:

Seit dem Sieg der volksweit unterstützten Sandinistischen Revolution über die Familiendiktatur der Somozas im Jahre 1979 hat Österreich Nikaragua politische, wirtschaftliche und Entwicklungshilfe gewährt. [...] Wie andere westeuropäische Länder, die ebenfalls wirtschaftliche und soziale Hilfe leisten, erwartet man österreichischerseits, dass solidarisches Handeln letztlich einen Beitrag zu einem angemessenen und stetigen Fortschritt auf menschenrechtlichem, sozioökonomischem Gebiet, und zu politischem Pluralismus leistet. (Bundesministerium für auswärtige Angelegenheiten 1984, 47)

Später entwickelte sich die Beziehung zu Nicaragua weg von diesen politischen Konnotationen, und beschränkte sich im Wesentlichen auf die EZA, welche stetig ausgeweitet wurde.

3.2 Das Primat der Entwicklungshilfe (1983 bis 1995): Fokus auf Nicaragua

Mitte der 1980er-Jahre endete diese globalistische Phase der österreichischen Außenpolitik. Laut Höll (1997, 777) vollzog sich mit dem Ende der sozialdemokratische Alleinregierung ein Paradigmenwechsel innerhalb der Sozialdemokratie hin zu Realpolitik. Europa rückte zurück in den Fokus der Außenpolitik und Österreich wandte sich von der Region Lateinamerikas ab (Kramer 2006, 816–20). Dazu trug neben der veränderten innenpolitischen Konstellation (Minderheitsregierung der SPÖ mit Unterstützung der FPÖ) auch die Wirtschaftskrise in der Region bei, welche dadurch zunehmend an geopolitischer Bedeutung verlor. Anfang der 1990er-Jahre beanspruchten die österreichischen Vorbereitungen zum EU-Beitritt weitere außenpolitische Ressourcen und trugen so zu einer Vernachlässigung der Lateinamerika-Politik bei.

Während dieser Zeit beschränkte sich das Engagement Österreichs in Lateinamerika vor allem auf die EZA. Die Beziehungen zu Nicaragua blieben auf diesem Gebiet bestehen und wurden weiter ausgebaut. Ab 1992 wurde Nicaragua als einziges lateinamerikanisches Land zum Schwerpunktland der österreichischen EZA. Das seit 1986 bestehende Regionalbüro für bilaterale Zusammenarbeit erhielt 1993 den Status eines Regionalbüros für EZA. Im Jahr 1998 erließ Österreich Nicaragua seine gesamten bilateralen Staatsschulden im Umfang von 500 Mio. Schilling, was heute inflationsbereinigt knapp 55 Mio. Euro entspricht (Bundesministerium für auswärtige Angelegenheiten 1999, 325).

Neben der staatlichen EZA und der Arbeit zahlreicher Nichtregierungsorganisationen entwickelten sich in dieser Zeit auch Städtepartnerschaften zwischen österreichischen und nicaraguanischen Städten. Dazu kam ein starkes zivilgesellschaftliches Engagement. Ab den 1980er-Jahren wurden wegen des Misstrauens gegenüber der Regierung in Nicaragua die österreichischen Entwicklungsgelder zur Gänze durch österreichische und internationale NGOs abgewickelt. Unter den wichtigsten NGOs zu dieser Zeit zählten der Österreichische Entwicklungsdienst (ÖED) und das Institut für Internationale Zusammenarbeit (IIZ) – beide seit 2001 HORIZONT 3000 – sowie das Österreichische Nord-Süd-Institut (Linzatti 2008, 100).

Bis zum Jahr 2006 blieb Nicaragua auf der Liste der Schwerpunktländer der österreichischen EZA. Dem folgte ein phasing-out aller bilateralen Programme und der regionalen Programme in Zentralamerika. Seit Jahresende 2013 besteht kein offizieller EZA-Schwerpunkt auf Lateinamerika mehr, private Initiativen von NGOs werden aber weiterhin mit öffentlichen Geldern unterstützt (Bundesministerium für Europa, Integration und Äußeres 2015, 263).

3.3 Eingliederung in die EU-Außenpolitik (1995-): Die Politik der Gipfel und der strategische Handels- und Partnerschaftsabkommen

Mit dem österreichischen Beitritt zur Europäischen Union begann eine neue Phase der Außenpolitik gegenüber Lateinamerika. Die Eingliederung in die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) eröffnete für das kleine Land neue Möglichkeiten, vor allem durch die von der EU verfolgten Partnerschaften mit einzelnen Ländern und regionalen Gruppen in Lateinamerika. Auch im Rahmen der gemeinsamen Handelspolitik profitierte Österreich von durch die EU verhandelten bilateralen und interregionalen Handelsabkommen. Die ersten Assoziierungsabkommen mit lateinamerikanischen Staaten wurden bereits Anfang der 2000er-Jahre mit Mexiko (2000) und Chile (2002) unterzeichnet, weitere strategische Partnerschaften und Abkommen folgten.

Mit dem Inkrafttreten des Lissaboner Vertrages wurde ein neuer Schritt in Richtung stärkere Kooperation innerhalb der EU in außenpolitischen Belangen erreicht. Damit wurden die Ständigen Vertretungen der Europäischen Kommission zu Delegationen der EU verwandelt und das Amt des Hohen Vertreters/der Hohen Vertreterin aufgewertet. Darüber hinaus wurde am 1. Januar 2011 der Europäische Auswärtige Dienst (EAD) offiziell ins Leben gerufen. Dieser ist verantwortlich für den politischen Dialog und hat als eine seiner Hauptaufgaben „die Kohärenz der verschiedenen Dimensionen des Außenhandels der Europäischen Union – etwa in den Bereichen Außen- und Sicherheitspolitik, Handel, Agrar- und Fischereipolitik, Umweltschutz, Entwicklungszusammenarbeit sowie eine einheitliche Linie der Europäischen Union gegenüber Dritten sicherzustellen“ (Tannous 2012, 286).

Mit diesen Veränderungen verstärkte sich die Position der gemeinschaftlichen europäischen Institutionen in der Verhandlung von strategischen Partnerschaften mit Nicht-EU-Ländern. Darüber hinaus hat der Vertrag von Lissabon auch das System der Handelssteuerung verändert, indem die Rolle des Europäischen Parlaments in Handelsfragen gestärkt und der EU die Befugnis übertragen wurde, in weiteren Handelsbereichen autonome Rechtsakte zu erlassen, und die Beschlussfassung mit qualifizierter Mehrheit (Qualified Majority Voting, QMV) im Rat für alle Aspekte der Handelspolitik zum Standardverfahren wurde (Dominguez 2015, 32). Der Spielraum für die nationale Einflussnahme auf Handelsverträgen wurde damit weiter reduziert. Ein wichtiger Mechanismus für die Bewahrung nationaler Interessen bleibt aber vor allem die Notwendigkeit, dass im Rat mittels QMV beschlossene Verträge noch durch die Mitgliedsstaaten und deren nationale Parlamente ratifiziert werden müssen.

In der Folge werden die zwei wichtigsten Formen der interregionalen Kooperation zwischen der EU und Lateinamerika besprochen und deren Bedeutung für die österreichische Außenpolitik beleuchtet. Diese zwei Formen sind: die Politik der Gipfel und Strategische Handels- und Partnerschaftsabkommen.

3.3.1 Die Politik der Gipfel

Besonders wichtig in diese Phase der österreichischen Eingliederung in die EU-Außenpolitik gegenüber Lateinamerika ist die Einführung eines neuen Forums für Dialog und Zusammenarbeit zwischen den zwei Regionen in Form regelmäßiger interregionaler Treffen. Am 28. und 29. Juni 1999 fand der erste solche Gipfel der Staaten der EU, Lateinamerikas und der Karibik statt. Dies war der Start des sogenannten EU-LAK-Prozesses mit biennalen Gipfeltreffen der Staats- und Regierungschefs, die eine strategische Partnerschaft beider Regionen vertiefen sollen. Bis heute fanden bereits neun Gipfel statt (Tab. 1).Footnote 2 Von der ursprünglichen Idee, die Gipfel alle zwei Jahre abwechselnd in einer lateinamerikanischen und einer europäischen Stadt abzuhalten, wurde in den letzten Jahren abgewichen, sowohl aufgrund politischer Spannungen innerhalb und zwischen den beiden Regionen als auch wegen der Coronavirus-Pandemie, die ein Treffen im Jahr 2020 verunmöglichte. Vor allem in der ersten Dekade des neuen Jahrtausends waren die Gipfel für die bilateralen Beziehungen zwischen EU und Lateinamerika von großer Bedeutung.

Tab. 1 Bilaterale Gipfeltreffen EU-Lateinamerika

Österreich hat diese Initiative stets tatkräftig unterstützt und in seiner Rolle als Gastgeber auch geschickt für die eigene außenpolitische Profilierung benutzt. Im Jahr 2006 fand während der österreichischen EU-Präsidentschaft der EU-Lateinamerika Gipfel in Wien und unter der Teilnahme von nicht weniger als 61 Staats- bzw. Regierungschefs (25 aus EU-Staaten, 34 aus Lateinamerika/Karibik und die Beitrittskandidaten Rumänien und Bulgarien) statt. Auf Initiative der Bundesregierung wurde zeitgleich auch ein „EU-LAC Business Summit“ mit über 500 Teilnehmer*innen einberufen (Bundesministerium für europäische und internationale Angelegenheiten 2007, 61–62).

Parallel zum Gipfeltreffen der Staats- und Regierungschefs von EU und LAK-Staaten im Rahmen der EU-Ratspräsidentschaft Österreichs fand 2006 der sogenannte Alternativengipfel statt. Dieser wurde von sozialen Bewegungen, kirchlichen Gruppen, NGOs, Gewerkschaften und anderen Akteuren aus Lateinamerika, der Karibik und Europa veranstaltet. Inhaltlich war der Gipfel von den Themen Globalisierungs- und Transatlantizismuskritik, Umweltschutz, Agrarpolitik und Indigenenrechte geprägt (Alternativas 2006). Man könnte ihn als Versuch sehen, angesichts der Weiterentwicklung der Zusammenarbeit zwischen EU und LAK auf höchster politischer Ebene die beiden Kontinente auch auf aktivistischer Ebene zusammenzuführen.

Gleichzeitig hatte der Alternativengipfel auch eine explizit politische Konnotation. Der EU-Lateinamerika Gipfel in Wien fand zum Höherpunkt der linken Wende in Lateinamerika statt. In diesen Kontext bot der Alternativengipfel eine wichtige Bühne für die damals als Hoffnungsträger einer neuen sozialistischen Ära wahrgenommenen lateinamerikanischen Staatschefs Hugo Chavez und Evo Morales. Am 12. Mai 2006 versammelten sich Tausende Menschen in der Wiener Arena, um die umstrittenen Führungspersönlichkeiten zu hören – die bis dahin größte Solidaritätsbekundung mit der venezolanischen Revolution außerhalb Südamerikas.

Nichtsdestotrotz zeigte sich die österreichische Regierung gegenüber dem Alternativengipfel dialogfreudig – die staatliche Agentur für Entwicklungshilfe ADA war auf dem Gipfel vertreten und einige Aktivist*innen wurden zu ihrer eigenen Überraschung von der damaligen Außenministerin Plassnik (ÖVP) empfangen (Hörtner 2006). Das Hauptaugenmerk der Regierung aus ÖVP und FPÖ unter Bundeskanzler Wolfgang Schüssel (ÖVP) lag auf der Verstärkung der Handelsbeziehungen zwischen den beiden Regionen. Die Verhandlungen um ein EU-Mercosur-Handelsabkommen waren im Jahr 2004 gescheitert, und der Gipfel in Wien, dessen Zeitpunkt strategisch kurz nach dem Welthandelsorganisation (WTO)-Gipfel von Hong Kong gesetzt wurde, hatte das Ziel, die Verhandlungen wieder aufzunehmen und eine weitere Liberalisierung des internationalen Handels zu unterstützen. Eine Absichtserklärung in diesem Sinne wurde auch in der als Ergebnis des Gipfels verabschiedeten „Wiener Erklärung“ festgehalten (Bundesministerium für auswärtige Angelegenheiten 2006b, a).

Begleitend zu dieser Politik der Gipfel wurde auch ein Institutionalisierungsprozess des Dialogs in Gang gesetzt. 2011 wurde die EU-LAK-Stiftung gegründet, um die institutionelle Zusammenarbeit zwischen LAK und EU weiter zu fördern. 2019 wurde die Stiftung in eine internationale Organisation mit Sitz in Hamburg umgewandelt, der österreichische Ratifikationsprozess wurde im Juni 2020 abgeschlossen. Das Engagement Österreichs in diesem Prozess hatte die Wahl der ehemaligen Außenministerin und EU-Kommissarin Benito Ferrero-Waldner (ÖVP) zur ersten Präsidentin der Stiftung in der Zeit zwischen 2011–2015 zum Ergebnis.

In Summe zeigt der EU-LAK Gipfel 2006, wie der EU-Beitritt Österreichs – trotz des formellen Autonomieverlust durch die Vergemeinschaftung der EU-Außenpolitik – neue Möglichkeiten für die österreichische Außenpolitik eröffnete und zu einer aktiveren Außenpolitik gegenüber Lateinamerika durch die österreichische Rolle im Rahmen der interregionalen EU-LAK-Beziehungen beitrug.

3.3.2 Strategische Partnerschaften und Handelsabkommen

Als Teil ihrer Positionierung in einer zunehmend multipolaren Welt strebt die EU auf politischem und ökonomischem Gebiet stabile Beziehungen zu individuellen Staaten, Staatengruppen und internationalen Organisationen an. Um dieses Ziel zu erreichen, verfügt die EU über eine Vielzahl von Instrumenten. Neben dem bereits diskutierten Gipfelmechanismus identifiziert Dominguez (2015, 2–3) drei weitere institutionelle Kooperationsformen, die in den Beziehungen zwischen EU und lateinamerikanischen Staaten oder Staatengruppen zur Anwendung kommen. Jeder dieser Kooperationsformen entspricht einen unterschiedlichen Grad der interregionalen Interaktion bzw. Interdependenz.

Zu diesen Kooperationsformen gehören zunächst die Assoziierungsvereinbarungen. Diese beinhalten institutionelle Verpflichtungen zum offenen Handel, zum politischen Dialog und zur Zusammenarbeit sowie zur Einrichtung regelmäßiger Foren für den Dialog und die Zusammenarbeit zwischen Parlamenten und der Zivilgesellschaft. Als zweite Kooperationsform sind die klassischen bilateralen Freihandelsabkommen zu nennen. Freihandelsabkommen sind aufgrund des hohen Grades der Formalisierung und Verbindlichkeit ein wichtiges Instrument. Allerdings sind sie auf den Bereich des Handels beschränkt und werden daher in der Regel entweder als erster Schritt in Richtung eines Assoziierungsabkommens oder als zweitbeste Option angenommen, wenn politische Divergenzen breitere Formen der Zusammenarbeit verhindern. Als dritte Kooperationsform sind strategische Partnerschaften zu erwähnen. Diese sind ein sehr flexibles Instrument, welches an jeden Partner angepasst werden kann. Bei manchen Partnern beschränken sich strategische Partnerschaften auf einen regelmäßigen Meinungsaustausch über einzelne außenpolitische Felder, während sie bei anderen ein breites Spektrum an Themen umfassen und bindende Elemente beinhalten.

Die Beziehungen zwischen der EU und Lateinamerika haben sich nach dem Modell des „hybriden Interregionalismus“ (Dominguez 2015, 4) entwickelt, wobei wir sowohl regionale Kooperationsformen (zwischen der Europäischen Union und subregionalen Blöcken innerhalb Lateinamerikas) finden, als auch bilaterale Abkommen zwischen der EU und einzelnen Ländern. Diese Hybridität ist im Wesentlichen darauf zurückzuführen, dass die regionale Integration innerhalb Lateinamerikas im Gegensatz zur Europäischen Union diffus und nichtlinear verläuft, sodass mehrere regionale Länderblöcke existieren (z. B. UNASUR – Union Südamerikanischer Nationen, MERCOSUR, CELAC – Gemeinschaft der Lateinamerikanischen und Karibischen Staaten, SICA – Zentralamerikanisches Integrationssystem, CAN – Andengemeinschaft). Die Fähigkeit dieser Blöcke, die Interessen ihrer Mitgliedstaaten zu bündeln und auf internationaler Ebene mit einer Stimme zu sprechen, ist oft begrenzt.

In folgenden Fällen konnten die Europäische Union und einzelne Länder oder Subregionen Lateinamerikas die Agenda der Zusammenarbeit durch Assoziierungsabkommen, strategische Partnerschaften oder Handelsabkommen weitertreiben: Die EU hat Assoziierungsabkommen mit Mexiko im Jahr 2000, mit Chile im Jahr 2002 und mit den zentralamerikanischen Ländern des SICA-Blocks (El Salvador, Guatemala, Honduras, Nicaragua, Dominikanische Republik, Costa Rica) 2012 unterzeichnet. Im Jahr 2018 haben die Europäische Union und Mexiko eine grundsätzliche politische Einigung über die wichtigsten Handelsteile eines neuen Assoziierungsabkommens erzielt, welches das vorherige Abkommen aus dem Jahr 2000 ersetzen soll. Darüber hinaus hat die EU im Jahr 2007 eine Strategische Partnerschaft mit Brasilien initiiert. Diese institutionalisiert regelmäßige Treffen auf höchster Ebene und etablierte bilaterale Dialoge in verschiedenen Kooperationsbereichen. Im Oktober 2008 unterzeichneten die Karibischen Länder (Antigua und Barbuda, die Bahamas, Barbados, Belize, Dominica, Grenada, Guyana, Jamaika, St. Lucia, St. Vincent und die Grenadinen, St. Kitts und Nevis, Suriname, Trinidad und Tobago sowie die Dominikanische Republik) das CARIFORUM (Karibisches Forum)- EU-Wirtschaftspartnerschaftsabkommen mit der EU. Weiters hat die EU ein Freihandelsabkommen mit Kolumbien und Peru unterzeichnet, das seit 2013 vorläufig angewendet wird, bis es von allen EU-Mitgliedstaaten ratifiziert wird. Ecuador trat diesem Abkommen im Jahr 2014 bei.

Darüber hinaus konnte die EU 2019 nach fast 20-jährigen Verhandlungen ein Freihandelsabkommen mit den vier Gründungsmitgliedern des Mercosur (Argentinien, Brasilien, Paraguay und Uruguay) im Rahmen eines biregionalen Assoziierungsabkommens abschließen. Die derzeitigen Handelsbeziehungen zwischen der EU und dem Mercosur basieren auf einem früheren interregionalen Kooperationsabkommen, das 1995 unterzeichnet wurde und 1999 in Kraft trat. Die Verhandlungen über ein Freihandelsabkommen begannen im Jahr 2000 und durchliefen im Laufe der Jahre verschiedene Phasen. Nach großem Enthusiasmus in der Anfangsphase führten zunehmende Interessenskonflikte in der Handelsagenda zu einem Stillstand der Verhandlungen im Jahr 2004. Nach mehreren Versuchen, die Verhandlungen wieder aufzunehmen, nahm der Prozess 2016 wieder Fahrt auf. Am 28. Juni 2019 erzielten die Europäische Union und der Mercosur schließlich eine politische Einigung über ein umfassendes Handelsabkommen, das ein breites Spektrum von Bereichen abdeckt. Um in Kraft zu treten, müssen die bereits akkordierten Inhalte in Gesetzesform umgesetzt werden und dieser Gesetzestext muss von allen Mitgliedstaaten und dem Europäischen Parlament ratifiziert werden.

Wie wir im nächsten Abschnitt sehen werden, gestaltete sich dieser Teil des Prozesses erneut schwierig, und Österreich übernahm eine unerwartet wichtige Rolle. Historisch gesehen haben die strategischen Partnerschaften und Abkommen es der EU ermöglicht, ihre kommerziellen Interessen in Lateinamerika zu fördern und gleichzeitig umfassendere politische Ziele zu verfolgen, darunter die Unterstützung demokratischer Transformationen. Obwohl nicht alle Kooperationsformen gleichermaßen erfolgreich waren, ist die Tatsache, dass die EU all diese unterschiedlichen Mechanismen und institutionelle Innovationen in ihren Beziehungen zu Lateinamerika einsetzt, ein Sinnbild für den Pragmatismus und die Fähigkeit der EU-Außenpolitik, sowohl auf sich ändernde äußere Umstände als auch auf interne Divergenzen der EU zu reagieren (Dominguez 2015, 3).

Österreich hat sich im Rahmen diese interregionalen Beziehungen als kleines exportorientiertes Land bei der Verabschiedung von Handelsabkommen und strategischen Partnerschaften stets unterstützend verhalten, allerdings ohne eine führende Rolle innerhalb der EU zu übernehmen. Dies sollte sich im Fall des EU-Mercosur-Abkommens aber grundsätzlich ändern, bei dem Österreich zum ersten EU-Land wurde, das ein Veto einlegte. Im kommenden Abschnitt wird daher speziell auf die Entstehungsgeschichte dieser österreichischen Position eingegangen.

4 Ein Sonderfall: Die Rolle Österreichs im EU-Mercosur Abkommen

Am 28. Juni 2019, als sich die EU und die südamerikanischen Staaten Argentinien, Brasilien, Paraguay und Uruguay nach jahrzehntelangen Verhandlungen eine politische Einigung über den EU-Mercosur Freihandlungsabkommen erzielten, sagte Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker dazu: „Ich habe meine Worte wohl abgewägt, wenn ich sage, dass dies ein historischer Augenblick ist. In einer Zeit internationaler Handelsspannungen tun wir heute mit unseren Partnern aus dem Mercosur deutlich kund, dass wir für einen auf Regeln beruhenden Handel stehen“ (Europäische Kommission 2019).

Innenpolitisch kam die Meldung über diese Einigung an einen noch weitaus historischen Augenblick in der Geschichte der Zweiten Republik. Österreich war zu diesem Zeitpunkt mitten in ihrer größten innenpolitischen Krise und wurde von einer technokratischen Übergangsregierung unter der Leitung der parteiunabhängigen ehemaligen Verfassungsrichterin Brigitte Bierlein regiert. Ihre Vereidigung erfolgte nur einige Wochen zuvor, nachdem am 18. Mai 2019 als Folge der sogenannte Ibiza-Affäre die Koalition aus ÖVP und FPÖ platzte und Bundeskanzler Sebastian Kurz (ÖVP) am 27. Mai in einer überraschenden politischen Wende ein Misstrauensvotum im Parlament verlor. In einer absoluten Ausnahmekonstellation für das österreichische politische System, das in der Regel von einer „weitgehende[n] faktische[n] Identität zwischen Regierung und Parlamentsmehrheit“ (Pelinka 2003, 521) gekennzeichnet ist, arbeitete der österreichische Nationalrat zu dieser Zeit ohne feste Mehrheiten. Unterschiedliche Vorhaben wurden im sogenannten „freien Spiel der Kräfte“ mit wechselnden Mehrheiten beschlossen.

In diesen Zusammenhang, und unter dem Gewicht der bevorstehenden Nationalratswahlen am 29. September 2019, wurden in einer der letzten Sitzungen der Legislaturperiode am 18. September 2019 bei einer Abstimmung im EU-Unterausschuss des österreichischen Parlaments zwei Anträge beschlossen, welche sowohl die interimistische als auch die zukünftige Bundesregierung dazu verpflichteten, auf europäischer Ebene alle Maßnahmen zu ergreifen, um einen Abschluss des EU-Mercosur-Abkommens zu verhindern. In den Anträgen heißt es dazu wörtlich:

Die zuständigen Mitglieder der Bundesregierung werden aufgefordert, auf Europäischer Ebene alle Maßnahmen zu ergreifen, um einen Abschluss des Mercosur-Abkommens zu verhindern. (Österreichischer Nationalrat 2018a)

Die Bundesregierung, insbesondere die zuständige Bundesministerin für Digitalisierung und Wirtschaftsstandort, wird aufgefordert sicher zu stellen, dass Österreich in den EU-Gremien gegen den Abschluss des Handelsabkommens mit den Mercosur-Staaten auftritt. Dies ist bei allen Abstimmungen dementsprechend mit einer Ablehnung des Abkommens zum Ausdruck zu bringen. Der/die allfällige österreichische Vertreter/in im zuständigen EU-Gremium ist entsprechend anzuweisen. (Österreichischer Nationalrat 2018b)

Ein Antrag wurde von der SPÖ und der Fraktion JETZT (später Liste Pilz) eingebracht, der andere von der FPÖ. Die Argumente gegen das Abkommen waren einerseits protektionistischer Natur – Schutz der eigenen Landwirtschaft gegen billige Importe aus Übersee, vor allem Rindfleisch – andererseits wiesen sie auf die Problematik des Umwelt- und Klimaschutzes hin. Beide Anträge wurden mit den Stimmen aller Parlamentsparteien mit Ausnahme der NEOS beschlossen, aber die Zustimmung der ÖVP erfolgte in letzter Minute und stellte einen abrupten Positionswechsel dar, der von vielen als Wahlkampfopportunismus gesehen wurde. Ein Kommentator schrieb:

Die Zustimmung der ÖVP war in diesem Zusammenhang aber mehr als überraschend, hatte diese doch während der gesamten Ausschusssitzung noch gegen den SPÖ-Antrag argumentiert. Offensichtlich erfolgte dieser „Schwenk“ unter Berücksichtigung des zukünftigen Wahlverhaltens der österreichischen Öffentlichkeit bei den bevorstehenden Nationalratswahlen am 29. September dieses Jahres. (Hummer 2019)

So kam es zu einer für Österreich äußerst seltene Bindung der Bundesregierung bzw. einzelner Minister an eine initiative Stellungnahme des Nationalrates gem. Art. 23e Abs. 3 B-VG. Dadurch hat sich Österreich, ein Land, das bis dahin weder zu den stärksten Befürwortern noch unter den stärksten Kritikern des Abkommens gezählt hatte, als erster EU-Mitgliedstaat dazu entschlossen, gegen das Abkommen EU-Mercosur zu stimmen und es nicht zu ratifizieren. Nachdem die Ratifizierung durch alle EU-Mitgliedstaaten erfolgen muss, stellte die österreichische Ablehnung ein tatsächliches Veto dar.

Zwar hätte die nächste Bundesregierung mithilfe der Regierungsmehrheit im Parlament einen gegenteiligen Beschluss fassen können, aber zu diesem Zeitpunkt hatte die Wahlsiegerin ÖVP schon die Rhetorik des Landwirtschaftsschutzes voll übernommen und die Interessen der österreichischen Bauern vor jene der Exportwirtschaft gestellt. Dazu kommt durch den neuen Koalitionspartner eine noch stärkere Bedeutung der Umweltfrage. Durch die Bildung der Koalition mit den Grünen wurde die österreichische Position insofern weiter gefestigt, als dass diese die Ablehnung des EU-Mercosur Handelsabkommens in den Koalitionsvertrag hineinreklamierten. Als sich Anfang 2021 die portugiesische EU-Ratspräsidentschaft und die EU-Kommission um eine Kompromisslösung bemühten, schrieb der grüne Vizekanzler Werner Kogler in einem zweiseitigen Schreiben an den portugiesischen Premier António Costa, dass seine Regierung das Abkommen weiter ablehne (Kogler 2021). Laut Kogler würden an dieser Ablehnung auch ein mögliches Protokoll oder eine Gemeinsame Erklärung mit den Mercosur-Staaten nichts ändern (Finke 2021).

Neben den bereits erwähnten innenpolitischen Faktoren spielte bei dieser außergewöhnlichen außenpolitischen Wende auch die internationale Konjunktur eine Rolle. So wurden genau in der Zeit, in der das Abkommen im österreichischen Parlament behandelt wurde, die schlimmsten Waldbrände jemals im brasilianischen Amazonas verzeichnet, unter anderem aufgrund der  umweltfeindliche Politik des rechtspopulistischen brasilianischen Präsidenten Jair Bolsonaro, der die Zerstörung des Urwaldes im Namen wirtschaftlichen Interessen bewusst in Kauft nimmt und sogar befürwortet (Süddeutsche Zeitung 2019; Luther 2020). Während seiner Amtszeit stieg die Umweltzerstörung in Brasilien dramatisch an. Verteidiger*innen des Abkommens argumentieren zwar, dass dieses bereits sehr weitreichende Umweltschutz-Klauseln beinhaltet, den Kritiker*innen gehen diese aber noch nicht weit genug (Becker 2020; Greenpeace o. D.; Arbeiterkammer Österreich o. D.). Verkompliziert wird die Situation durch Veränderungen in der politischen Konstellation Lateinamerikas, denn seit der politischen Einigung mit der EU hat ein Regierungswechsel in Argentinien stattgefunden, was zu Spannungen und Meinungsverschiedenheiten innerhalb des Mercosur-Blocks geführt hat (Lina 2019). Ob die beiden großen südamerikanischen Ländern Brasilien und Argentinien im Fall von Verhandlungen um neue Auflagen bzw. über eine Zusatzerklärung wieder eine gemeinsame Linie finden können, ist aus heutiger Sicht mehr als unklar.

5 Wendepunkte verstehen

Was sind die wichtigste Einflussfaktoren und Rahmenbedingungen, die die österreichische Beziehung zu Lateinamerika prägen? Am Anfang dieses Beitrages wurde zwischen den diplomatischen Beziehungen und den politischen Beziehungen unterschieden. Aus den oberen Ausführungen lässt sich feststellen, dass die diplomatischen Beziehungen vor allem durch langfristige Interessen geprägt sind. Besonders wichtig in diesem Zusammenhang sind wirtschaftliche Interessen, aber auch das Interesse Österreichs, ein bedeutender Standort für internationale Organisationen zu sein und als wichtiger Mediator auf der internationalen Bühne aufzutreten.

Für die politischen Beziehungen hingegen spielen konjunkturelle Faktoren eine besondere Rolle. So lassen sich aus dem zuvor diskutierten Fallbeispiel zum Mercosur einige Thesen über die Bedeutung verschiedener konjunkturelle Einflussfaktoren auf die österreichische Außenpolitik formulieren. Zum einen ist aus dieser Fallstudie eindeutig die Rolle innenpolitischer Dynamiken festzustellen, vor allem die politischen Interessen und ideologischen Überzeugungen der jeweiligen Regierungsparteien. Wie schon bei der Ära Kreisky spielt parteipolitische Ideologie in diesem Beispiel auch eine wichtige Rolle bei der Schaffung bestimmter Akzentuierungen, etwa was die Betonung des Umweltschutzes und die Rolle des Schutzes der eigenen Landwirtschaft betrifft. Im Speziellen gingen beim EU-Mercosur Freihandelsabkommen ideologische Faktoren, machtstrategische Interessen und politischer Opportunismus Hand in Hand.

Neben der innenpolitischen Dynamik sind hier auch die Opportunitätsstrukturen zu erwähnen, die eine einflussreiche außenpolitische Positionierung Österreichs ermöglichen und die Rahmenbedingungen für eine bestimmte politische Akzentuierung setzen. In diesem Fall war die wichtigste Opportunitätsstruktur die außergewöhnliche innenpolitische Konstellation des „freien Spiels der Kräfte“ während der interimistischen Regierung Bierlein. Letztlich spielt auch die globale politische Konjunktur eine Rolle, sowohl was die zunehmende Bedeutung des Umweltthemas generell, als auch das besondere Konfliktpotenzial dieses Thema in Bezug auf dem Mercosur anbelangt.

Unabhängig von konjunkturellen Faktoren spielen sowohl für die politischen als auch für die diplomatischen Beziehungen auch institutionelle Rahmenbedingungen eine gewichtige Rolle. Hier muss der institutionelle Kontext der Europäischen Union seit Österreichs Beitritt 1995 insbesondere erwähnt werden. Die Ausführungen in diesem Beitrag haben gezeigt, dass die Mitgliedschaft in die Europäische Union trotz Autonomieverlust viele Möglichkeiten für Österreich eröffnet und verschiedene Haltungen zulässt. So ist es für Österreich möglich, sowohl eine „Mitläufer“ Haltung einzunehmen – wie in den allermeisten Verhandlungen um internationale Handlungsabkommen – und ohne viel Input dennoch vom politischen und ökonomischen Gewicht der Europäischen Union als internationaler Handelspartner zu profitieren. Es ist aber für Österreich auch möglich, den institutionellen Kontext der EU zu benutzen, um sich auf dem internationalen Parkett zu profilieren und besondere nationale Interessen zu verfolgen. Diese Profilierung kann entweder in einer gestalterischen Art und Weise verfolgt werden, wie etwa bei der Politik der Gipfel, oder eine bremsende Form annehmen, wie beim EU-Mercosur Abkommen.

6 Resümee

Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass Lateinamerika zwar keine Schwerpunktregion der österreichischen Außenpolitik ist, aber die Beziehungen zwischen Österreich und Lateinamerika in der Zweiten Republik generell von Dialog und Kooperation geprägt waren. Zu bestimmten Zeitpunkten haben spezifische Konstellationen von Machtakteuren und deren ideologische Bindungen, institutionelle Gelegenheitsstrukturen und konjunkturelle politische Faktoren dazu geführt, dass die österreichisch-lateinamerikanischen Beziehungen besondere Akzente und Intensitäten erhalten. Der Beitrag hat sowohl die langfristig aufrechterhaltenden Muster der österreichisch-lateinamerikanischen Beziehungen als auch drei Konjunktur-spezifische Phasen identifiziert, beschrieben und erklärt. Aus diesem Gesamtüberblick der österreichischen Außenpolitik gegenüber Lateinamerika lässt sich ein Leitthema ableiten, nämlich die Verschiebung von bilateralen zu interregionalen Beziehungen im Kontext der Eingliederung Österreichs in den institutionellen Rahmen der Europäischen Union. Die Analyse hat gezeigt, dass die Mitgliedschaft in der Europäischen Union die Rolle Österreichs in Lateinamerika keineswegs verringert hat. Vielmehr konnte es die EU-Mitgliedschaft nutzen, um seinen außenpolitischen Einfluss in bestimmten Bereichen zu stärken. Dazu lieferte die in diesem Kapitel analysierte Fallstudie des EU-Mercosur Freihandelsabkommens aufschlussreiche Erkenntnisse.

Weiterführende Quellen

Kramer, Helmut. 2006. „Strukturentwicklung der Außenpolitik (1945–2005).“ In Politik in Österreich: Das Handbuch, hrsg. von hrsg. von Herbert Dachs, Peter Gerlich, Herbert Gottweis, Helmut Kramer, Volkmar Lauber, Wolfgang C. Müller und Emmerich Tálos, 808–37. Wien: Manz.

Gibt Aufschluss über die österreichische Außenpolitik in der zweiten Republik im Allgemeinen und dient somit der Kontextualisierung der österreichischen-Lateinamerika Beziehungen.

Berger, Sigrun, and Herbert Berger. 2002. Zerstörte Hoffnung, gerettetes Leben: Chilenische Flüchtlinge und Österreich. Wien: Mandelbaum Verlag.

Berührendes Zeitgeschichtliches Dokument über die Flüchtlinge, die aus Chile mit Unterstützung der Zivilgesellschaft und der Kreisky Regierung nach Österreich flohen.

Dominguez, Roberto. 2015. EU Foreign Policy Towards Latin America. The European Union in International Affairs. London: Palgrave Macmillan.

Ausführliche Beschreibung und Analyse der europäischen Außenpolitik gegenüber Lateinamerika.