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1 Einleitung – Die Wandlungen des Immerwährenden

Am 26. Oktober 1955 beschloss der Nationalrat das Bundesverfassungsgesetz über die österreichische Neutralität. Mit diesem Gesetzesbeschluss löste Österreich das Versprechen einer Deklaration der immerwährenden Neutralität nach dem Muster der Schweiz ein, das in den Verhandlungen mit der Sowjetunion im April 1955 den Weg zum Abschluss des Staatsvertrages frei gemacht hatte. Die Neutralität war also nicht weniger als die Voraussetzung für die Wiederherstellung der souveränen Staatlichkeit Österreichs. Für die Außenpolitik der Zweiten Republik wurde sie zu einem zentralen Bestimmungsfaktor und für die Nachkriegs-Identität des Landes zu einem wesentlichen Element. Dabei war die Neutralität Österreichs jedoch keineswegs statisch, sondern hat sich im Laufe ihres Bestehens mehrfach gewandelt.

Der vorliegende Beitrag ist eine Bestandsaufnahme der österreichischen Neutralität und ihres Wandels. Er setzt sich mit diesem Gegenstand in drei Schritten auseinander. Um die österreichische Neutralität einordnen und diskutieren zu können, beschäftigt sich der Beitrag in einem ersten Schritt mit der konzeptionellen Frage, was Neutralität ist. Er definiert dabei zunächst den Begriff der Neutralität und skizziert Neutralitätsrecht, -form und -politik als drei Dimensionen der Neutralität. Zudem grenzt er Neutralität von den verwandten Konzepten der „nicht kriegführenden Partei“, der „Allianz- oder Bündnisfreiheit“ sowie der „Blockfreiheit“ und des „Neutralismus“ ab. In einem zweiten Schritt geht der Beitrag der Frage nach, wie die Neutralität Österreichs entstanden ist. Nach einem kurzen Abriss ihrer Vorgeschichte in der Ersten Republik, skizziert der Beitrag die Positionen und Prozesse, die zu Österreichs Neutralität geführt haben, und beschreibt deren rechtliche Verankerung.

In einem dritten Schritt untersucht der Beitrag, wie sich die Neutralität Österreichs im Laufe ihres Bestehens gewandelt hat. Dabei unterscheidet er vier Phasen des Wandels (Konsolidierung, Expansion, Reorientierung und Stagnation) und zeigt, dass sich die ursprünglich umfassende Neutralität nach dem Ende des Ost-West-Konfliktes zu einer differenziellen und zusehends de-politisierten Neutralität entwickelt hat. In einem vierten und letzten Schritt analysiert der Beitrag schließlich, welche äußeren und inneren Faktoren die Entwicklung der österreichischen Neutralität geprägt haben. Dabei identifiziert er das Sicherheitsumfeld, die Institutionalisierung der Weltpolitik, internationalen Status und internationales Recht als externe Faktoren sowie nationale Identität, nationales Recht und die politische Gelegenheitsstruktur als wesentliche interne Faktoren.

2 Was ist Neutralität?

Im Kontext der internationalen Beziehungen bezeichnet Neutralität die Unparteilichkeit eines Staates in einer Situation der gewaltsamen Auseinandersetzung zwischen anderen Staaten. Neutral sein bedeutet also, keine Partei in einem gewaltsamen Konflikt zu unterstützen, sei es direkt durch Teilnahme an Kampfhandlungen oder indirekt durch Hilfeleistungen wie Truppenstationierungen oder Waffenlieferungen, und auch nicht selbst einen gewaltsamen Konflikt auszulösen.

Das Konzept und die Praxis der Neutralität sind zwar so alt wie das Phänomen Krieg selbst, der Begriff der neutralitas wurde jedoch erst im mittelalterlichen Latein geprägt und fand im Laufe des 15. Jahrhunderts Eingang in den Sprachgebrauch der Rechtslehre und der politischen Praxis in Europa (Oeter 1988, 455; Wani 2018, 18–19)Footnote 1. In dieser Zeit begann auch die Entwicklung des Rechtsinstituts der modernen Neutralität vor dem Hintergrund der Entstehung des Systems souveräner Staaten in Europa sowie von Konflikten, die durch die wirtschaftliche und koloniale Expansion europäischer Staaten entstanden. Einen zentralen Moment in der Jahrhunderte langen Entwicklung dieses Rechtsinstituts (siehe hierzu Müller 2019; Oeter 1988; Wani 2018) stellte der Abschluss der Hager Abkommen im Jahr 1907 dar, in denen die Rechte und Pflichten neutraler Staaten im Landkrieg (Abkommen V) und Seekrieg (Abkommen XIII) kodifiziert wurden. Diese Abkommen stellen bis heute den wesentlichen völkerrechtlichen Rahmen der Neutralität darFootnote 2.

Grundsätzlich räumen die Haager Abkommen neutralen Staaten das Recht auf Unverletzlichkeit ihres Territoriums ein. Kriegführende Staaten dürfen also nicht in das Territorium neutraler Staaten eindringen oder dieses für militärische Zwecke nützen (etwa durch die Errichtung von Militärbasen) und dürfen durch Kampfhandlungen keinen Kollateralschäden auf neutralem Territorium anrichten.

Neutrale Staaten haben ihrerseits eine Verhinderungspflicht. Sie müssen also Verletzungen ihrer Neutralität mit allen ihnen zur Verfügung stehenden Mitteln entgegentreten. Dies kann auch unter Rückgriff auf militärische Mittel erfolgen, deren Einsatz laut Art. 5 des Abkommen V „nicht als eine feindliche Handlung angesehen werden“ kann. Ein neutraler Staat kann demnach Streitkräfte besitzen und diese zur Wahrung seiner Neutralität einsetzen, es ergibt sich aus den Haager Abkommen jedoch keine Pflicht zur bewaffneten Neutralität (Seger 2014, 255; Bothe 2008, 583–584). Ob und in welchem Ausmaß ein neutraler Staat über Streitkräfte verfügt, ist also keine völkerrechtliche, sondern eine politische Frage und beeinflusst die Glaubwürdigkeit der Neutralität des jeweiligen Staates (Seger 2014, 254–255).

Neutrale Staaten haben weiters eine Enthaltungspflicht, dürfen also weder direkt an Kampfhandlungen teilnehmen noch kriegführende Parteien durch Kriegsmaterial oder Truppen unterstützen. Sie dürfen aber wirtschaftliche und diplomatische Beziehungen zu kriegführenden Staaten aufrechterhalten, so wie dies etwa die Schweiz während des Zweiten Weltkriegs getan hat. In ihrer Interaktion mit kriegführenden Staaten unterliegen neutrale Staaten jedoch einer Unparteilichkeitspflicht. Jedes Verhalten, das dazu führt, dass einer kriegführenden Partei ein militärischer (!) Vor- oder Nachteil entsteht, muss unterlassen werden. Schließlich geht die Neutralität auch mit Duldungspflichten einher. So ist es Kriegsparteien gestattet, Schiffe unter neutraler Flagge anzuhalten und zu durchsuchen.

Dieses internationale Neutralitätsrecht mit den genannten Rechten und Pflichten gilt ausschließlich im Fall eines Kriegszustandes zwischen Staaten, also im Fall eines sogenannten internationalen bewaffneten Konfliktes. Sobald ein solcher vorliegt, kann sich ein Staat neutral erklären und gegebenenfalls auch seine Neutralität im Laufe des Konflikts beenden. Die Anwendbarkeit des Neutralitätsrechts endet schließlich mit dem Ende des bewaffneten Konflikts (Bothe 2008, 576–577; Seger 2014, 253–254)Footnote 3.

Diese zeitweilige, temporäre oder ad hoc Neutralität ist jedoch nur eine Form der Neutralität. Eine zweite ist jene der andauernden oder permanenten Neutralität. Ein Staat kann diese auf grundsätzlich drei Wegen annehmen (Neuhold 1979): i) durch einen völkerrechtlichen Vertrag mit anderen Staaten, wie im Fall Belgiens, dessen permanente Neutralität im Vertrag von London (1839) zwischen den europäischen Großmächten und Belgien festgelegt wurde; ii) durch einseitige Deklaration und deren Anerkennung durch andere Staaten, wie im Fall Österreichs, das die Neutralität in Form eines Bundesverfassungsgesetzes angenommen und andere Staaten davon in Kenntnis gesetzt hat; und schließlich iii) durch eine politische Willensbekundung und Praxis, die sich an den Rechten und Pflichten der Neutralität orientiert, ohne dieser eine Rechtsform zu geben, wie im Fall der Neutralität Schwedens.

Ein permanent neutraler Staat verpflichtet sich (rechtlich oder politisch) dazu, in allen zukünftigen Kriegen Neutralität zu wahren. Hieraus erwachsen einem solchen Staat bereits in Friedenszeiten Pflichten, die auch als „Vorwirkungen der Neutralität“ bezeichnet werdenFootnote 4. Er darf keinen Krieg beginnen und muss Handlungen unterlassen, die dazu führen können, dass er in Kriegszeiten den Pflichten eines neutralen Staates teilweise oder gar nicht nachkommen kann, so etwa der Beitritt zu einem Militärbündnis oder die Stationierung fremder Truppen (Riklin 1991, 8). Zudem muss ein permanent neutraler Staat schon in Friedenszeiten eine Neutralitätspolitik verfolgen, also Maßnahmen setzen, die die Glaubwürdigkeit und damit den Bestand der Neutralität in Kriegszeiten sicherstellen (Karsh 1988, 27, 36; Bothe 2008, 576–577; Neuhold 1979, 286–287; Benedek 2015, 178).

Wie Abb. 1 darstellt, lassen sich neben Neutralitätsrecht, -form und -politik als den drei Dimensionen der Neutralität auch drei Teilbereiche der Neutralitätspolitik unterscheiden: Ausdeutung, Attraktivität und Abschreckung. Ausdeutung meint, dass es einen innerstaatlichen Prozess der Reflexion und Diskussion darüber gibt, wie die Neutralitätspolitik eines Landes gestaltet werden soll und kann. Dieser Teilbereich der Neutralitätspolitik ist vor allem dann relevant, wenn sich die inneren und äußeren Rahmenbedingungen der Neutralität wandeln. Attraktivität und Abschreckung sind hingegen Maßnahmen der NeutralitätspolitikFootnote 5. Durch Maßnahmen der Attraktivität, wie etwa durch Mediation in Konflikten oder Beherbergung internationaler Organisationen, versucht ein permanent neutraler Staat anderen Staaten zu vermitteln, dass sein neutraler Status einen Mehrwert für diese Staaten hat, und damit den Erhalt der Neutralität abzusichern. Maßnahmen der Abschreckung sollen Verletzungen der Neutralität verhindern, indem sie für den Fall der Verletzung hohe Kosten in Aussicht stellen. Es handelt sich also um Maßnahmen der Verteidigung, die den „Eintrittspreis“ (Neuhold 1979, 288) für potenzielle Aggressoren in einem Maße anheben, dass er in keinem Verhältnis zum erwarteten Nutzen der Neutralitätsverletzung steht (Karsh 1988, part II; Neuhold 1979, 288). Welchen Stellenwert ein Staat diesen drei Teilbereichen in seiner Neutralitätspolitik einräumt, liegt in dessen Ermessen und wird von innerstaatlichen und außerstaatlichen Faktoren beeinflusst.

Abb. 1
figure 1

(Eigene Darstellung)

Konzeptionelle Dimensionen der Neutralität.

Nachdem nun dargelegt wurde, was unter Neutralitätsrecht, -form und -politik zu verstehen ist, gilt es am Ende dieses konzeptionellen Teils noch Neutralität von verwandten Begriffen abzugrenzen. Der erste Begriff einer „nicht-kriegführenden Partei“ bezeichnet einen Staat, der sich nicht direkt an einem Krieg beteiligt, jedoch nicht den Status der Neutralität beansprucht und damit nicht den Rechten und Pflichten des Neutralen unterliegt. Dementsprechend kann ein nicht-kriegführender Staat auch einen kriegführenden Staat zu dessen militärischem Vorteil unterstützen. Diesen Status der nicht-kriegführenden Partei hatten beispielsweise die USA bis zu ihrem Eintritt in den Zweiten Weltkrieg. Sie nahmen zunächst nicht direkt an Kampfhandlungen teil, unterstützen aber Großbritannien im Kampf gegen das Deutsche Reich (Bothe 2008, 572).

„Allianz“ oder „Bündnisfreiheit“ meint schließlich, dass ein Staat sich keinem militärischen Bündnis anschließt. So hat sich etwa Schweden kurz nach der Jahrtausendwende als allianzfreier Staat in Zeiten des Friedens deklariert und sich gleichzeitig die Möglichkeit offen gehalten, in Zeiten des Krieges neutral zu bleiben  (Schüngel 2005, 12–13). Wie im Fall der nicht-kriegsführenden Partei unterliegt ein allianzfreier Staat in Kriegszeiten nicht den Rechten und Pflichten neutraler Staaten und auch nicht den Vorwirkungen der Neutralität in Friedenszeiten. „Blockfreiheit“ oder „Neutralismus“ bezeichnen schließlich eine Form der Allianzfreiheit, die sich im Kontext des Ost-West Konfliktes entwickelt hat. Ausgehend von der Konferenz von Bandung (1955) hat sich eine Gruppe von Staaten in der Bewegung Blockfreier Staaten und mit dem Ziel organisiert, sich politisch und ideologisch unabhängig von existierenden Großmachtblöcken zu positionieren. Mitglieder dieser Staatengruppe haben jedoch sehr wohl Kriege gegen einander geführt (Fischer et al. 2016, 8–9) – wie etwa Iran und Irak zwischen 1980 und 1988. Nachdem der Beitrag nun grundsätzlich skizziert hat, was unter Neutralität zu verstehen ist, legt der nächste Abschnitt den Fokus auf die historische Entwicklung und rechtliche Form der österreichischen Neutralität.

3 Die Entstehung und Rechtsform der Österreichischen Neutralität

Die Vorgeschichte der österreichischen Neutralität beginnt in den letzten Jahren der Habsburger Monarchie und in der Ersten Republik, als Politiker und Gelehrte begannen, sich mit einer möglichen Neutralität Österreichs auseinanderzusetzen. Als ersten Vertreter der Idee einer neutralen Republik Österreich identifiziert die wissenschaftliche Literatur, den letzten k.k. Ministerpräsident, Heinrich Lammasch, der diese Idee 1919 in einem Memorandum gegenüber alliierten Diplomaten sowie in Zeitungsbeiträgen vertrat. Auch der Sozialdemokrat Otto Bauer und der Christlichsoziale Ignaz Seipel erwogen Formen der Neutralität für die junge Republik, während man in Tirol sogar die Idee eines eigenständigen und neutralen Alpenstaates diskutierte (Stourzh und Mueller 2020, 266–267; Forcher 2014, 415). Außerhalb Österreichs setzten sich Frankreich und Tschechien für eine völkerrechtlich verankerte Neutralität Österreichs ein – eine Option, die von den Regierungen der Ersten Republik jedoch stets zurückgewiesen wurde. Bundeskanzler Seipel und vor allem sein Nachfolger Johann Schober (ebenfalls Christlichsozialer) betonten vielmehr, dass Österreich ohnehin bereits eine Politik der Neutralität verfolge. Zwar konnte sich die österreichische Sozialdemokratie später angesichts der Machtergreifung Hitlers für die Option einer völkerrechtlich verankerten Neutralität erwärmen, jedoch rückte eine österreichische Neutralität durch die Annäherung Österreichs an Italien und Ungarn unter Bundeskanzler Dollfuss in weite Ferne (Stourzh und Mueller 2020, 268–274).

Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs befand sich das in vier Besetzungszonen geteilte Österreich in einer exponierten Lage zwischen den Einflusssphären der beiden Großmächte USA und UdSSR, deren Beziehungen sich zusehends verschlechterten. Vor diesem Hintergrund war es das oberste Ziel der österreichischen Nachkriegsregierungen, eine dauerhafte Teilung Österreichs zu verhindern (Stourzh und Mueller 2020, 296–297) und die volle Souveränität des Landes durch das Ende der Vier-Mächte-Besatzung wiederherzustellen. Um dieses Ziel zu erreichen, begannen österreichische Politiker schon früh unter den Schlagworten „[w]eder West- noch Ostorientierung“ eine neutrale Positionierung zwischen den sich abzeichnenden Machtblöcken ins Auge zu fassen und sich auch für das Vorbild der Schweizer Neutralität zu erwärmen. Dennoch herrschte innerhalb Österreichs keineswegs Einvernehmen über die zu wählende Begrifflichkeit und die rechtliche und politische Ausgestaltung einer solchen Positionierung jenseits der Großmachtblöcke (Stourzh und Mueller 2020, 276, 288–291).

Seitens der vier Besatzungsmächte gab es zunächst ebenfalls unterschiedliche und wechselnde Vorstellungen hinsichtlich einer Neutralität Österreichs. Die Sowjetunion erwog anfänglich eine von den Großmächten angeleitete Neutralisierung europäischer Staaten, die eine Pufferzone zwischen den jeweiligen Einflusssphären hätten bilden sollen. Sie nahm jedoch wieder Abstand von der Idee der Neutralität als sich die Beziehungen zwischen Ost und West verschlechterten und sich die Zwei-Lager Theorie durchsetzte. Diese ging von einer Konfrontation zwischen einem „imperialistischen und antidemokratischen“ Lager im Westen und ein einem „antiimperialistischen und demokratischen“ Lager im Osten aus und konnte demgemäß keinen neutralen Status anerkennenFootnote 6.

Die verteidigungspolitische Integration Westeuropas (NATO, Europäische Verteidigungsgemeinschaft/EVG, Westeuropäische Union/WEU) führte jedoch dazu, dass die UdSSR der Neutralität ab 1950 wieder positiver gegenüberstand. Diese wurde als Möglichkeit gesehen, Staaten von der Westintegration abzubringen. Die zwei Lager sollten um ein drittes Lager der neutralen Staaten erweitert werden, das letztlich die Position der UdSSR und ihrer Verbündeten gegenüber dem westlichen Block stärken sollte (Stourzh und Mueller 2020, 304–10). Im Fall Österreichs favorisierte die Sowjetunion zunächst eine von den Besetzungsmächten auferlegte Neutralisierung in Form eines Zusatzes zum Staatsvertrag. In diesem hätte sich Österreich dazu verpflichten sollen, keinen Bündnissen beizutreten und keine fremden Truppen auf seinem Territorium zu stationieren (Stourzh und Mueller 2020, 332).

Die westlichen Alliierten konnten einer Neutralität Österreichs zunächst nur wenig abgewinnen und waren vor allem entschieden gegen eine Neutralisierung auf Basis einer Klausel im Staatsvertrag. Eine solche hätte aus ihrer Sicht ein erhebliches Risiko für die angestrebte West-Integration Westdeutschlands dargestellt, da Österreich damit zu einem „Modellfall“ für das geteilte Deutschland hätte werden können. Innerhalb und außerhalb Deutschlands hätte eine Neutralisierung Österreichs den Druck erhöht, zugunsten eines ungeteilten Staates ebenfalls den Weg der Block- oder Bündnisfreiheit zu gehen (Stourzh und Mueller 2020, 327–29; siehe auch im Detail Gehler 2015). Während also die westlichen Alliierten, wie auch Österreich selbst, eine Neutralisierung ablehnten, zeigten sich Außenminister Dulles und Präsident Eisenhower ab Herbst 1953 bereit, eine Neutralität nach dem Muster der Schweiz zu akzeptieren (Stourzh und Mueller 2020, 322–34). Österreichs Neutralität sollte demnach permanent, durch Streitkräfte abgesichert und durch Österreich erklärt werden.

Im Rahmen der Moskauer Verhandlungen, die von 12. bis 14. April 1955 zwischen Vertretern Österreichs und der Sowjetunion stattfanden, griff Nikita Chruschtschow schließlich die Idee einer Erklärung der Neutralität nach Schweizer Muster wieder auf. Diese Idee stellte „den gemeinsamen Nenner [dar], der es allen Beteiligten – Österreich, den Westmächten und der Sowjetunion – ermöglichen würde, die politischen Voraussetzungen für den Abschluss des Staatsvertrages und den Abzug der der fremden Mächte aus Österreichs zu schaffen“ (Stourzh und Mueller 2020, 437). Das Moskauer Memorandum, in dem die Ergebnisse der Verhandlungen zusammengefasst wurden und das den Grundstein für Österreichs Neutralität legte, hielt schließlich fest:

Im Sinne der von Österreich bereits auf der Konferenz von Berlin im Jahre 1954 abgegebenen Erklärung, keinen militärischen Bündnissen beizutreten und militärische Stützpunkte auf seinem Gebiet nicht zuzulassen, wird die österreichische Bundesregierung eine Deklaration in einer Form abgeben, die Österreich international dazu verpflichtet, immerwährend eine Neutralität der Art zu üben, wie sie von der Schweiz gehandhabt wird.

Nachdem am 15. Mai 1955 der Staatsvertrag unterzeichnet und der Abzug der Besatzungssoldaten mit 25. Oktober 1955 formal abgeschlossen war, gab Österreich diese Deklaration der Neutralität am 26. Oktober 1955 in Form eines Bundesverfassungsgesetzes (B-VG). Da dieses Gesetz nicht als eine Änderung der Grundprinzipien der österreichischen Verfassung erachtet wurde, erfolgte dessen Beschluss ohne eine Volksabstimmung mittels einer Zwei-Drittel Mehrheit im Nationalrat (siehe hierzu Poier 2015, 168–70).

Das knappe Gesetz, dessen zwei Artikel insgesamt lediglich 71 Wörter umfassen, führt in Artikel 1 Absatz 1 zunächst an, dass „Österreich aus freien Stücken seine immerwährende Neutralität [erklärt]“. Diese Freiwilligkeit wurde von politischen Entscheidungsträgern ebenfalls häufig betont. Im rechtlichen Sinne ist es zwar korrekt, dass Österreich die permanente Neutralität durch eine einseitige Willensbekundung angenommen hat und diese eben nicht durch den Staatsvertrag von den Großmächten auferlegt wurde. Politisch war die Annahme der Neutralität jedoch, wie bereits dargelegt, sehr wohl eine Bedingung der Großmächte, vor allem der UdSSR, für die Wiederherstellung der staatlichen Souveränität Österreichs. Die Begrifflichkeit einer „immerwährenden Neutralität“ ist eine „Übersetzung der 1815 für die Schweiz formulierten ‚neutralité perpétuelle‘, was die dauerhafte – für alle künftigen Kriege erklärte – Neutralität von der Ad-hoc-Neutralität unterscheiden soll, die nur für einen bestimmten Krieg erklärt wird“ (Jandl 2020, 148). Immerwährend ist demnach nicht im Sinn einer Unabänderlichkeit für alle Zeit zu verstehenFootnote 7.

Im gleichen Absatz hält das Neutralitätsgesetz fest, dass Österreich seine Neutralität „mit allen ihm zu Gebote stehenden Mitteln aufrechterhalten und verteidigen [wird]“ (Art. I Abs. 1). Diese Formulierung bildet die Brücke zu den früher erwähnten Pflichten des neutralen Staates und vor allem zur Verhinderungspflicht. Sie ist die Basis für die militärische Landesverteidigung, bzw. der umfassenden Landesverteidigung, die in Artikel 9a des Bundes-Verfassungsgesetzes festgelegt istFootnote 8. Diese Formulierung einer Verteidigung der Neutralität „mit allen gebotenen Mitteln“ ist dahingehend zu verstehen, dass das Ausmaß der Verteidigungsanstrengungen im Ermessen Österreichs liegt und, wie es Alfred Verdross auf den Punkt bringt, „von der eigenen Leistungskraft und den äußeren Umständen ab[hängt]“ (Verdross 1977, 48)Footnote 9. Absatz 2 legt danach die permanente Bündnis- und Stützpunktfreiheit Österreichs fest: „Österreich wird zur Sicherung dieser Zwecke in aller Zukunft keinen militärischen Bündnissen beitreten und die Errichtung militärischer Stützpunkte fremder Staaten auf seinem Gebiete nicht zulassen“. Artikel II betraut schließlich die Bundesregierung mit der Vollziehung des Gesetzes.

Nach dem Beschluss des Neutralitätsgesetzes, setzte die österreichische Bundesregierung bis zum Jahr 1957 alle Staaten von diesem Beschluss in Kenntnis, zu denen zum damaligen Zeitpunkt diplomatische Beziehungen bestanden. 62 Staaten, darunter die vier ehemaligen Besatzungsmächte, reagierten auf diese Notifikation mit expliziter Anerkennung, vier weitere nahmen diese lediglich zur Kenntnis. Zudem hat der österreichische Gesetzgeber die nationale Rechtsordnung über die Jahre um Gesetzes(steile) ergänzt, die der „Durchführung der Neutralitätsverpflichtungen“ (Hafner 2005, 20) dienen – sowie etwa um das Kriegsmaterialgesetz (KriegsmaterialG) oder § 320 des Strafgesetzbuches (StGB) zur „Neutralitätsgefährdung“.

4 Vier Phasen des Wandels der Neutralität

Österreichs Neutralität hat sich in den fast sieben Jahrzehnten ihres Bestehens mehrfach gewandelt. In diesem Wandlungsprozess lassen sich vier Phasen unterscheiden: von 1955 bis 1970 eine Phase der Konsolidierung, in der das neutrale Österreich eine engagierte Neutralitätspolitik herausbildete, die durch Integration in internationale Organisationen und ein aktives Profil in der Weltpolitik charakterisiert war; von 1970 bis Mitte der 1980er Jahre eine Phase der Expansion, in der die Neutralität nahezu allumfassend interpretiert wurde und die Neutralitätspolitik durch ein sehr hohes Maß an (globaler) Aktivität gekennzeichnet war; von Mitte der 1980er Jahre bis Mitte der Nullerjahre eine Phase der Reorientierung, in der Solidaritätspflichten im Rahmen des Systems kollektiver Sicherheit vor die Neutralitätspflichten gestellt und die Neutralität für die Mitgliedschaft in der Europäischen Gemeinschaft/Union (EG/EU) angepasst wurde, wodurch die vormals umfassende Neutralität zu einer differenziellen Neutralität wurde; schließlich ab Mitte der Nullerjahre eine Phase der Stagnation, in der zwar formal an der Neutralität festgehalten wird, aber die Neutralitätspolitik zusehends vernachlässigt wird. In dieser letzten Phase wird die differenzielle Neutralität demnach auch zu einer zusehends de-politisierten Neutralität.

In der Phase der Konsolidierung, die sich über den Zeitraum von 1955 bis 1970 erstreckte, begann Österreich eine eigenständige, engagierte Form der permanenten Neutralität zu praktizieren. Im Gegensatz zur Schweiz, die nach dem Zweiten Weltkrieg auf Distanz zu internationalen Institutionen und Organisationen ging, wurde Österreich frühzeitig Mitglied einer ganzen Reihe internationaler Organisationen (siehe hierzu Michal-Misak und Quendler 2006), allen voran der Vereinten Nationen im Dezember 1955. Dieser Beitritt zu den Vereinten Nationen, der von der Bundesregierung bereits seit 1947 angestrebt worden war, machte es notwendig, die Neutralität mit dem System kollektiver Sicherheit in Einklang zu bringen, das durch die Charta der Vereinten Nationen (UN-Charta) begründet wurdeFootnote 10.

In diesem System verpflichten sich die Staaten zur friedlichen Austragung von Konflikten und dem Verzicht auf den Einsatz von Gewalt (Art. 3 und 4 der UN-Charta). Sie übertragen die Verantwortung für die Aufrechterhaltung von Frieden und Sicherheit dem Sicherheitsrat der Vereinten Nationen (Art. 24), der hierzu auch verbindliche Zwangsmaßnahmen anordnen kann. Im Fall eines bewaffneten Angriffs und bis der Sicherheitsrat Maßnahmen ergreift, wird den Staaten schließlich das Recht auf individuelle und kollektive Selbstverteidigung eingeräumt (Art. 51).

Diese Prinzipien des Systems kollektiver Sicherheit stehen in zweifacher Hinsicht in einem Spannungsverhältnis zur Neutralität: einerseits wird sie durch ein (effektives) Gewaltverbot überflüssig, andererseits kollidiert sie mit der Pflicht zur Teilnahme an (durch den Sicherheitsrat mandatierten) Zwangsmaßnahmen gegen Staaten, die gegen das Gewaltverbot verstoßen. Aus diesem Grund wurden bei der Gründung der Vereinten Nationen, wie auch schon bei der Gründung des Völkerbunds, Vorbehalte gegen den Status der Neutralität eingebracht.Footnote 11 So hatte etwa Frankreich bei den Verhandlungen über die Charta der Vereinten Nationen einen Passus zur Mitgliedschaft vorgeschlagen, der besagte, dass „[d]ie Teilnahme an der Organisation […] Verpflichtungen mit sich [bringt], die mit dem Status der Neutralität nicht kompatibel sind [Übersetzung MS]“ (Department of State 1946, 111, 486).

Österreich behalf sich angesichts dieser Spannung zwischen seinem Status der permanenten Neutralität und seiner Mitgliedschaft im System kollektiver Sicherheit mit einer Ausdeutung, die unter dem Namen ihres Vordenkers, des bereits erwähnten Völkerrechtsprofessors Alfred Verdross, als „Verdross-Doktrin“ bekannt wurde. Verdross, argumentierte, dass Österreich andere Staaten, darunter auch die permanenten Mitglieder des Sicherheitsrats, bereits vor dem Beitritt zu den Vereinten Nationen über den Abschluss des Neutralitätsgesetztes in Kenntnis gesetzt hätte und diese den neutralen Status Österreichs zur Kenntnis genommen hätten. Außerdem hätten die permanenten Mitglieder des Sicherheitsrates den Status der Neutralität zur Bedingung für die Wiedererlangung der Souveränität gemacht und dem österreichischen Staatsvertrag zugestimmt, der in der Präambel auf die „Bewerbung Österreichs um Zulassung zur Organisation der Vereinten Nationen“ Bezug nimmt. Daraus folgerte Verdross, dass der Sicherheitsrat Österreich nicht zu Maßnahmen zwingen könne, die seinen Neutralitätspflichten zuwiderlaufen würden. Zudem könne der Sicherheitsrat Mitgliedstaaten von der Umsetzung von Zwangsmaßnahmen ausnehmen. Flankierend führte Verdross ins Treffen, dass die Neutralität und das System kollektiver Sicherheit das gleiche Ziel der Wahrung von Frieden und Sicherheit verfolgen würden und demnach koexistieren könnten (Schreiner 2018, 32–34; Cede 2021, 20)Footnote 12.

Der Kern der Verdross-Doktrin war also, dass den Neutralitätspflichten Vorrang vor den Solidaritätspflichten im Rahmen des Systems kollektiver Sicherheit eingeräumt wurde. Diese Ausdeutung des Verhältnisses zwischen Neutralität und kollektiver Sicherheit wurde zur bestimmenden Sichtweise in der Völkerrechtslehre und außenpolitischen Praxis Österreichs. Dass Österreich diese über geraume Zeit aufrechterhalten konnte, beziehungsweise dass der Konflikt dieser Ausdeutung mit Artikel 103 der ChartaFootnote 13, der Verpflichtungen im Rahmen der Charta Vorrang einräumt, nicht virulent wurde, war der Lähmung des Sicherheitsrats durch den Ost-West-Konflikt geschuldet. Militärische Zwangsmaßnahmen blieben in der Zeit zwischen Österreichs Beitritt und 1990 aus. Wirtschaftliche Zwangsmaßnahmen gegen Rhodesien (1966) und Südafrika (1977), von denen der Sicherheitsrat neutrale Staaten nicht entband, wurden von Österreich mitgetragen, wenn auch dem Hinweis, dass in jedem Fall die Vereinbarkeit der Maßnahmen mit der Neutralität zu prüfen sei (Skuhra 2006, 847)Footnote 14.

Neben der Integration in internationale Institutionen und Organisationen war die Konsolidierungsphase der österreichischen Neutralität ebenfalls durch den Ungarnaufstand von 1956 und den Prager Frühling von 1968 als erste Bewährungsproben für die Neutralität und das neu gegründeten Bundesheer geprägtFootnote 15. Mit dem Amtsantritt von Kurt Waldheim (parteilos) als österreichischer Außenminister im Jahr 1968 begann sich schließlich bereits eine neue Phase der Neutralitätspolitik abzuzeichnen, die in ihrer Ausrichtung globaler und umfassender wurde (Skuhra 2006, 841).

Diese Phase der Expansion hielt bis Mitte der 1980er Jahre an, umfasste also die Kanzlerschaften von Bruno Kreisky (SPÖ), der Österreichs Ausdeutung und Ausgestaltung der Neutralität maßgeblich prägte. Die Neutralitätspolitik war in dieser Phase darauf fokussiert, durch intensives Engagement in der Weltpolitik, vor allem als Brückenbauer und Ort der internationalen Diplomatie, die Attraktivität der österreichischen Neutralität zu stärken, um damit die souveräne Existenz des Staates abzusichern. Unter Kanzler Kreisky engagierte sich Österreich im Rahmen des KSZE-Prozesses (Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa)Footnote 16, bewarb sich erfolgreich um einen nicht-ständigen Sitz im Sicherheitsrat, wurde zum Sitz von internationalen OrganisationenFootnote 17, allen voran der Vereinten Nationen und war der Austragungsort von diplomatischen Konferenzen. Kreisky war zudem bestrebt, Österreich auch jenseits des Ost-West-Konfliktes als Vermittler im Nord-Süd-Konflikt und dem Nahost-Konflikt zu etablieren (Gehler 2001, 25). Österreichs Neutralitätspolitik hat sich in der Phase und hinsichtlich ihrer Ausdeutungs- und Attraktivitätsdimension also globalisiert und inhaltlich stark ausgedehnt (Kramer 2006, 815).

Dem neutralitätspolitischen Teilbereich der Abschreckung, also der militärischen Verteidigung der Neutralität, wurde hingegen ein zusehends geringerer Stellenwert eingeräumt. Die SPÖ verkürzte den Wehrdienst von neun auf acht Monate (sechs Monate Grundwehrdienst plus zwei Monate Übungen) und räumte der Miliz des Bundesheeres ein größeres Gewicht ein (Skuhra 2006, 843)Footnote 18. Zwar war Bruno Kreisky von der Notwendigkeit einer Fähigkeit zum bewaffneten Kampf gegen Aggression überzeugtFootnote 19, aber „[d]ie SPÖ argumentierte, dass eine aktive Außenpolitik und eine Integration in internationale Organisationen und deren Aktivitäten der Sicherheit Österreichs mehr nütze als etwa eine Erhöhung der Militärausgaben“ (Skuhra 2006, 843).

Die Phase der Reorientierung begann Mitte der 1980er-Jahre einzusetzen, erstreckte sich bis Mitte der Nullerjahre und war durch Prozesse des (teilweise fundamentalen) Wandels außerhalb und innerhalb Österreichs gekennzeichnet, die in weiterer Folge zu einer Neubewertung und Anpassung der Neutralität führten. Wesentlich waren hierbei im Äußeren das Ende des Ost-West-Konfliktes, das Fortschreiten der europäischen und transatlantischen Integration (i.e. EG/EU und NATO) und das Aufbrechen neuer Konflikte. Im Inneren ging die Ära Kreisky zu Ende, also die Zeit der SPÖ-Alleinregierungen unter Bruno Kreisky, und damit auch das außenpolitische Denken und Handeln, in dem die Neutralität ein Mandat und Mittel eines starken, globalen Engagements der Zweiten Republik darstellte. Zudem gewährte die Öffnung von Archiven in Staaten des ehemaligen Ostblocks Einblicke in militärische Planungen der UdSSR, die im Kriegsfall keine Rücksicht auf Österreichs Neutralität genommen hätte, was Skepsis bezüglich ihrer Effektivität und Relevanz nährte (Gehler 2001, 73–76). Unter dem zunehmenden Einfluss der ÖVP, die ab dem Jahr 1987 die Außenminister*innen stellte, verlagerte sich der Fokus österreichischer Außenpolitik auf das europäische Umfeld (Kramer 2006, 821) und die Neutralität wurde – nach der Phase der Expansion – zusehends wieder auf ihren militärischen Kern reduziert (Öhlinger 2018, 624), also auf das Angriffs-, Bündnis- und StationierungsverbotFootnote 20.

Einen ersten Schritt in diesem Prozess der Reorientierung markierte Österreichs Umgang mit dem Golfkrieg 1990/91. Als sich Österreich, das zu diesem Zeitpunkt das zweite Mal einen nicht-ständigen Sitz im Sicherheitsrat innehatte, mit der Möglichkeit militärischer Zwangsmaßnahmen gegen den Irak konfrontiert sah, nahm die Bundesregierung die Position ein, dass die österreichische Neutralität den Beschlüssen der Vereinten Nationen unterzuordnen sei, wenn auch mit Einschränkungen (Skuhra 2006, 847). Das Spannungsverhältnis zwischen militärischen Zwangsmaßnahmen und dem Status der Neutralität wurde auch dahingehend gelöst, dass diese nicht als Krieg im Sinn eines internationalen bewaffneten Konflikts, sondern als „Polizeiaktion“ im Rahmen des Systems kollektiver Sicherheit erachtet wurden. Zudem wurden zwei Durchführungsgesetze der Neutralität, das Kriegsmaterialgesetz und der § 320 des StGB („Neutralitätsgefährdung“) novelliert, um der Militärallianz gegen Saddam Hussein Überflugs- und Transitrechte zu gewähren, und Österreich beteiligte sich an den Wirtschaftssanktionen gegen den Irak (Skuhra 2006, 847; Rotter 1991, 33–34). Indem es den Solidaritätspflichten im Rahmen des Systems kollektiver Sicherheit Vorrang vor den Neutralitätspflichten einräumte, verabschiedete sich Österreich also von der Verdross-Doktrin. Es bewegte sich von der umfassenden oder „integralen Neutralität“ zur „differenziellen Neutralität“ (Rotter 1991).

Einen zweiten und noch wesentlich weitgehenderen Schritt in der Neuausrichtung der Neutralität stellte der Beitritt zur Europäischen Union im Jahr 1995 dar. In Österreichs Aufnahmegesuch vom Juli 1989 hatte die Bundesregierung noch auf die Wahrung der Neutralität verwiesen, nicht zuletzt als Signal gegenüber der SowjetunionFootnote 21. Nach dem Zerfall der UdSSR und angesichts negativer Reaktionen aus Brüssel machte die Regierung im Rahmen des Beitritts jedoch keine Vorbehalte mehr in diese Richtung geltend. Vielmehr verpflichtete sich Österreich zur aktiven Teilnahme an der Gemeinsamem Außen und Sicherheitspolitik (GASP) (Jandl 2018, 173; Kramer 2006, 825; Skuhra 2006, 849).

Um der Teilnahme an der GASP eine rechtliche Basis zu geben, ergänzte der Nationalrat das Bundes-Verfassungsgesetz um den Artikel 23f, in dem die Mitwirkung an der GASP sowie an wirtschaftlichen Zwangsmaßnahmen verankert wurde. Der Weiterentwicklung der GASP durch den Vertrag von Amsterdam (1997) trug der Gesetzgeber dahingehend Rechnung, dass der Art. 23f im Mai 1999 novelliert wurde, um die Teilnahme Österreichs im Rahmen der sogenannten „Petersberg-Aufgaben“Footnote 22 zu ermöglichen, die auch militärische Maßnahmen beinhalten. Österreich hatte damit den Anwendungsbereich der Neutralität wiederum weiter zusammengezogen und weitere Schritte in Richtung der differenziellen Neutralität zurückgelegt.

In diese Phase der Reorientierung fielen schließlich auch Bestrebungen, Österreich näher an die NATO heranzuführen. Vor allem die Volkspartei legte sich im Laufe der 1990er-Jahre immer stärker auf die Position fest, dass die Neutralität angesichts geänderter Rahmenbedingungen nicht mehr zeitgemäß sei. So argumentierte etwa Andreas Khol (ÖVP) im Jahr 1993: „Die Neutralität als Schlüssel der Sicherheitspolitik passt nicht mehr in das geänderte Schloss der sicherheitspolitischen Fakten in Europa. Da sich das Schloss geändert hat, muss sich wohl auch der Schlüssel ändern“ (zitiert in Prutsch 2006, 432). Im Jahr 1995 trat Österreich schließlich dem Partnership for Peace (PfP) Programm der NATO bei. Die ÖVP forcierte jedoch weiterhin einen Vollbeitritt, den sie im Wahlprogramm des Jahres 1999 als „den besten Weg […], um die Sicherheit Österreichs und seiner Bürger dauerhaft zu gewährleisten“ (zitiert in Prutsch 2006, 433) bezeichnete. Demgegenüber trat die SPÖ mehrheitlich für eine Beibehaltung der Neutralität ein. Der Beitritt zur vertieften Partnerschaft für den Frieden (PfP-plus) im Jahr 1998 stellte schließlich den „kleinste[n] gemeinsame[n] Nenner“ (Skuhra 2006, 853) der SPÖ-ÖVP Regierung dar. Die ihr im Jahr 2000 nachfolgende Regierung von ÖVP und FPÖ setzte den kritisch, ablehnenden Kurs fort. Die FPÖ hatte sich ihrerseits im Lauf der 1990er-Jahre ebenfalls zunehmenden kritisch gegenüber der Neutralität positioniert.

Ab Mitte der Nullerjahre setzte schließlich die vierte, nach wie vor andauernde Phase der Stagnation ein. Diese Phase ist zunächst dadurch gekennzeichnet, dass sich zwar wiederum alle Parlamentsparteien, mit Ausnahme der 2012 gegründeten NEOS, zur Neutralität bekennen und diese weiter an die fortschreiende sicherheits- und verteidigungspolitischen Integration Europas angepasst wurde, sich also die Entwicklung zur differenziellen Neutralität weiter konsolidiert. Trotz aller (mehr oder weniger intensiven) Bekenntnisse zur Neutralität zeigt sich jedoch, dass die Neutralitätspolitik Österreichs zusehends stagniert. Zum Wandel in Richtung einer differenziellen Neutralität kam und kommt in dieser Phase also auch ein Wandel in Richtung einer zunehmenden de-politisierten Neutralität hinzu.

Zunächst begannen in dieser Phase die kritisch, ablehnenden Töne gegenüber der Neutralität, die vor allem aus den Reihen der Volkspartei und der Freiheitlichen Partei gekommen waren, zusehends zu verstummen. Angesichts der NATO-Intervention im Kosovo und der Anschläge des 11. September 2001 stieg die Zustimmung der Bevölkerung zur Aufrechterhaltung der Neutralität einmal mehr an, nachdem sie Mitte der 1990er-Jahre abgeebbt war (Meyer 2005, 25–26)Footnote 23. Angesichts dieser Popularität der Neutralität, die Heinz Fischer (SPÖ) auch im Zuge des Wahlkampfs um die Präsidentschaft zu nutzen wusste, begannen sich sowohl FPÖ als auch ÖVP wieder zur Neutralität zu bekennen (Skuhra 2006, 858) – Paul Luif spricht in diesem Zusammenhang gar von einer „Wiedergeburt der Neutralität“ (2016, 86).

Während im Programm der Regierung Schüssel II (ÖVP-FPÖ 2003) noch nicht auf die Neutralität Bezug genommen wurde, wird diese wieder in allen nachfolgenden Regierungsprogrammen, mit Ausnahme jener der Regierung Kern (SPÖ-ÖVP 2017) erwähnt. Auch die neue Sicherheitsstrategie aus dem Jahr 2013 bezeichnet Österreich wieder als „neutralen Staat“ (Bundeskanzleramt 2013, 20). Bekenntnisse zur Neutralität finden sich auch in den Grundsatzprogrammen der SPÖ (1998, 2018), der Grünen (2001) sowie der FPÖ (2005, 2011), während das Grundsatzprogramm der ÖVP aus dem Jahr 2015 keine Bezüge zur Neutralität herstellt und die „Weiterentwicklung hin zu einer [europäischen] Verteidigungsunion“ als „zentrale Zukunftsfrage“ (Österreichische Volkspartei 2015, 43) im Bereich der Wahrung von Frieden und Sicherheit identifiziert. In ähnlicher Weise spricht sich das Programm der NEOS für eine proaktive Rolle im Rahmen der Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik aus.

Das Fortschreiten der europäischen Integration im Bereich der Außen- und Sicherheitspolitik führte in dieser Phase dazu, dass Österreich die Entwicklung in Richtung einer differenziellen Neutralität weiter konsolidierte. Der Vertrag von Lissabon (2009) etablierte die Gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungspolitik (GSVP) als Teil der GASP, erweiterte das Spektrum der Petersbergaufgaben und beinhaltete in Art. 42 Abs. 7 eine Beistandsverpflichtung im Fall eines bewaffneten Angriffs (Öhlinger 2018, 627–628). Diese Beistandsverpflichtung enthält jedoch auch den unter der Bezeichnung „Irische Klausel“ geläufigen Passus, dass sie „den besonderen Charakter der Sicherheits- und Verteidigungspolitik bestimmter Mitgliedstaaten unberührt [lässt]“ (Art. 42 Abs. 7 EUV), und ein Beschluss des Europäischen Rates legt zudem fest, dass die Art der Hilfeleistung im Fall eines Angriffs im Ermessen der Mitgliedstaaten ist (Schilchegger 2011, 19; Öhlinger 2018, 628). Österreich ist demnach rechtlich zwar zum Beistand verpflichtet, jedoch in der Wahl der Mittel frei und dabei in der Lage, sich auf den Status als neutraler Staat zu berufen.

Der österreichische Gesetzgeber hat mit Artikel 23j des B-VG, der den zuvor erwähnten Artikel 23f ersetzt, auf die Entwicklung der GSVP reagiert. Dieser legt fest, dass Österreich an der GASP und an den Petersberg-Aufgaben gemäß des Vertrags von Lissabon mitwirkt. Eine interessante Neuerung ist laut Theo Öhlinger (2018, 630–632) darin zu sehen, dass der erste Absatz dieses Artikels auf die „die Wahrung beziehungsweise Achtung der Grundsätze der Charta der Vereinten Nationen“ Bezug nimmt. Angesichts der innerösterreichischen Debatte über den Vertrag von Lissabon, spricht laut Öhlinger (2018, 631–632)

einiges dafür, Art 23j Abs 1 B-VG als ein striktes verfassungsrechtliches Gebot zu verstehen, dass sich Österreich an militärischen Aktionen der EU gegen Drittstaaten nur beteiligen darf, soweit eine Autorisierung durch den Sicherheitsrat vorliegt – und dies auch dann, wenn auf der EU-Ebene eine weniger strikte Auslegung der im Art 23j B-VG verwiesenen Bestimmung des [EU Vertrags] vertretbar scheint.

Insgesamt lässt sich festhalten, dass das Neutralitätsgesetz durch diesen Artikel 23j des Bundes-Verfassungsgesetz teilweise aufgehoben wirdFootnote 24. Im Bereich der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik hat Österreich im Rahmen seiner Rechtsordnung nicht länger eine Pflicht zur Wahrung der Neutralität, gleichzeitig räumt die Irische Klausel im Vertrag von Lissabon Österreich aber das Recht ein, sich im Beistandsfall gemäß des Status als neutraler Staat zu verhaltenFootnote 25.

Als die Beistandsklausel nach den Terroranschlägen des 13. November 2015 zum ersten und bislang einzigen Mal aktiviert wurde, erbat Frankreich von Österreich Beistand in Form einer Aufstockung oder zumindest Beibehaltung der Beteiligung an EU- und UN-geführten Missionen in Afrika sowie von Lufttransportkapazitäten. Österreich beschloss schließlich eine Verstärkung, beziehungsweise Aufstockung der Beteiligung an mehreren EU/UN MissionenFootnote 26 sowie das Angebot von 100 Flugstunden des Transportflugzeug C-130 Herkules im Rahmen von EU/UN Missionen beschlossen, wobei letzteres nicht von Frankreich abgerufen wurde (Jandl 2018, 174; sowie persönliche Korrespondenz des Autors mit G. Jandl).

Neben der Einschränkung des Geltungsbereichs der Neutralität und ihrer Reduktion auf den militärischen Kern, ist diese vierte Phase des Wandels der österreichischen Neutralität jedoch vor allem durch eine zunehmende Vernachlässigung der Neutralitätspolitik, also eine fortschreitende De-Politisierung der Neutralität gekennzeichnet. Diese zeigt sich zum einen dadurch, dass die Auseinandersetzung mit und über die Relevanz und Ausgestaltung der Neutralität in mehrfacher Hinsicht stagniert. Wie Abb. 2 zeigt, ist das Thema der österreichischen Neutralität in der medialen Berichterstattung immer weniger präsent und – abgesehen von einem gelegentlichen Aufflackern (z. B. Reiter 2011; Kramer 2011; Jandl 2015; Leidenmüller 2015; Mueller 2020) – sehr selten Gegenstand öffentlicher, in den Medien ausgetragenen Debatten. Ein ähnliches Bild zeigt sich, wie in Abb. 3 zu sehen ist, in den Debatten des Parlaments, die im Laufe der vergangenen 20 Jahre immer seltener Bezüge zur Neutralität aufwiesen.

Abb. 2
figure 2

(Quelle: Online Manager der Austria Presse Agentur, eigene Darstellung)

Frequenz der Begriffe „Neutralität“ und „Österreich“ in österreichischen Tageszeitungen (seit 1986, absolute Häufigkeit pro Jahr).

Abb. 3
figure 3

(Quelle: Parlagram, Momentum Institut, eigene Darstellung)

Frequenz des Begriffs „Neutralität“ in parlamentarischen Debatten (seit 1945, absolute Häufigkeit pro Jahr).

Im Gegensatz zur Schweiz, die nach dem Ende des Ost-West-Konflikts in einem dezidierten „Neutralitätsbericht“ des Bundesrates (1993) eine Bestandsaufnahme der Neutralität unter geänderten Rahmenbedingungen durchführte und diesen nach dem Kosovo- und dem Irak Krieg jeweils durch weitere Berichte zur Neutralitätspraxis ergänzte (Bundesrat 2000, 2005), ist eine solche Reflexion über das Wesen und den Nutzen der Neutralität sowie die Gestaltung der Neutralitätspolitik in Österreich nur in Ansätzen erkennbar. Am ehesten könnte man den Analyse-Teil zum „Bericht der Bundesregierung betreffend Sicherheits- und Verteidigungsdoktrin“ aus dem Jahr 2001 als eine solche bezeichnen, wenngleich dieses Dokument eher eine Chronologie des Wandels der österreichischen Neutralität und ein Absage an deren Relevanz beinhaltet. Die Sicherheitsstrategie des Jahres 2013 verweist auf die Neutralität als Grundlage der Sicherheits- und Verteidigungspolitik, ohne jedoch im Detail über das Wesen oder den Mehrwert der Neutralität zu reflektierenFootnote 27.

Neben der Ausdeutung der Neutralität zeigt sich die De-Politisierung der Neutralität auch in den neutralitätspolitischen Teilbereichen der Abschreckung und Attraktivität. Das Österreichische Bundesheer, dem die Verteidigung der Neutralität obliegt, ist seit jeher unterfinanziert und dessen Lage hat sich in der jüngeren Vergangenheit zusehends verschärft. Zwar mangelt es nicht an Reformversuchen, aber am politischen Willen die Rolle und Relevanz des Bundesheers im Kontext der Neutralität und der europäischen Integration zu definieren und auch entsprechend zu finanzieren. Anstatt einer Profilbildung wurden dem Bundesheer im Laufe der Zeit immer mehr Aufgaben übertragen, wodurch sich dessen Unterversorgung noch weiter zugespitzt hat.

Schließlich lässt sich hinsichtlich der Attraktivität der österreichischen Neutralität eine gewisse Sorglosigkeit erkennen, die an deren Glaubwürdigkeit beeinträchtigt. So haben die Einladung des russländischen Präsidenten Putin auf die Hochzeit der damaligen Außenministerin Karin Kneissl (parteilos) im August 2018 und dabei vor allem Bilder eine unglückliche Verbeugung der Ministerin während eines Tanzes mit Putin für Verwunderung und Kritik innerhalb und außerhalb Österreichs gesorgt. Das Hissen der israelischen Flagge auf dem Bundeskanzleramt und dem Außenministerium während der Eskalation in Gaza im Mai 2021 führten ebenfalls zu heftigen Reaktionen. Nicht zuletzt seitens des iranischen Außenministers, der seine geplante Teilnahme an den Verhandlungen über das iranische Atomprogramm in Wien absagteFootnote 28.

5 Einflussfaktoren

Wie dieser Beitrag auf den vergangenen Seiten dargestellt hat, war die Neutralität Österreichs keineswegs starr, sondern hat sich im Laufe ihres Bestehens mehrfach gewandelt. Abb. 4 fasst die äußeren und inneren Faktoren zusammen, die auf die politischen Eliten und die Bevölkerung des Landes gewirkt und diesen Wandel im Laufe der Zweiten Republik beeinflusst haben – sowohl in Form von Beharrungsfaktoren als auch in Form von Faktoren, die den Wandel der Neutralität erlaubt oder angestoßen haben.

Abb. 4
figure 4

(Eigene Darstellung)

Einflussfaktoren der österreichischen Neutralität.

Ein erster und zentraler Faktor in der Entwicklung der Neutralität ist das Sicherheitsumfeld, in dem sich Österreich befindet. Während der Zeit des Ost-West-Konfliktes machte Österreichs Position an der Grenze rivalisierender Machtblöcke die Neutralität zu einer attraktiven Option – sowohl für Österreich, dem die Neutralität als Instrument zur Wiedererlangung und Absicherung der staatlichen Souveränität diente, als auch für die Sowjetunion, die damit einen neutralen Keil zwischen die europäischen NATO-Staaten trieb und Hoffnungen hegte, dass NATO-Staaten dem Vorbild folgen und damit das Bündnis schwächen würden. Mit dem Ende des Ost-West-Konfliktes endete auch Österreichs sicherheitspolitische Exposition, wodurch sich die Relevanz der Neutralität als Instrument der Existenzsicherung relativierte. Zudem erweiterte der Zerfall der UdSSR den Gestaltungsspielraum Österreichs im Bereich der Neutralität. Gleichzeitig führten jedoch die Kriege auf dem Balkan dazu, dass der Neutralität vor allem seitens der Bevölkerung wiederum größerer Wert zugeschrieben wurde.

Ein zweiter, prägender Faktor ist die zunehmende Institutionalisierung der Weltpolitik. Seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs ist die Zahl der internationalen Institutionen und Organisationen signifikant gestiegen (Rittberger et al. 2019, 2), wodurch sich für neutrale Staaten zusehends die Frage nach dem Mehrwert und Möglichkeiten des Mitwirkens an internationalen Institutionen gestellt hat. Für Österreich war die Mitgliedschaft in und Beherbergung von internationalen Organisationen eine Möglichkeit, die internationale Sichtbarkeit zu erhöhen und damit die Existenz des Staates abzusichern. So trat Österreich bereits in den 1950er-Jahren einer Reihe von Verträgen und Organisationen bei, alle voran den Vereinten Nationen, wobei ein Betritt zur EG nicht zuletzt aufgrund der ablehnenden Haltung der Sowjetunion keine Option war. Angesichts der fortschreitenden europäischen Integration in den 1980er-Jahren und des Risikos wirtschaftlich ins Hintertreffen zu gelangen sowie vor dem Hintergrund der Entspannung zwischen Ost und West begann Österreich schließlich einen EG-Betritt anzustreben. Wie im vorigen Abschnitt beschrieben, machten der Beitritt zur EU und die zunehmenden Aktivitäten des UN-Sicherheitsrates Anpassungen der Neutralität nötig.

Internationaler Status stellt einen dritten Faktor im Umfeld des Staates dar. Wie die jüngere Forschung zeigt, ist das Streben nach Status und Anerkennung ein zentrales Motiv staatlicher Außenpolitik (siehe hierzu MacDonald und Parent 2021), auch jener von Kleinstaaten (Neumann und Carvalho 2016; Baxter et al. 2018)Footnote 29. Die Neutralität ermöglicht es Österreich, die Rolle als Brückenbauer und Vermittler einzunehmen und damit trotz seiner Kleinheit in vielen Politikbereichen eine wesentliche und respektierte Rolle in der Weltpolitik zu spielen. Diese Statusfunktion stellte und stellt einen wesentlichen Beharrungsfaktor der österreichischen Neutralität dar.

Der vierte und letzte Faktor im Umfeld Österreichs ist internationales Recht. Jenseits der wenigen internationalen Rechtsnormen zur Neutralität (siehe Abschn. 2) ist vor allem die Frage der völkerrechtlichen Verankerung von Österreichs Neutralität relevant. Hierzu haben sich im Laufe der Zeit zwei Sichtweisen herausgebildet. Zur Zeit des Ost-West-Konfliktes herrschte unter österreichischen Völkerrechtsexpert*innen und außenpolitischen Praktiker*innen die Sichtweise vor, dass Österreich durch die Notifikation und die Anerkennung der Neutralität völkerrechtlich eine quasi-vertragliche Bindung eingetreten sei und eine Beendigung der Neutralität daher der Zustimmung anderer Staaten bedürfe. In der jüngeren Vergangenheit hat sich jedoch die alternative, Sichtweise durchgesetzt, dass keine quasi-vertraglichen Bindung vorliegt und Österreich den Status der permanenten Neutralität einseitig beenden könne (siehe hierzu Tichy et al. 2014, 216)Footnote 30. Die rechtliche Ausdeutung hat sich demnach in eine Richtung bewegt, die einen Wandel erleichtern würde.

Im Inneren des Staates ist zunächst auf die Rolle der Neutralität als wesentlichen Teil der österreichischen Identitätsbildung nach dem Zweiten Weltkrieg zu verweisen (siehe hierzu Kovács und Wodak 2003). Sie wurde nach 1955 zu einem Identitätsmerkmal, auf das sich Anhänger verschiedener politischer Lager verständigen konnten und das nach den Wirren der Ersten Republik und den Schrecken des Nationalsozialismus eine positive Identifikation mit der Zweiten Republik ermöglichte. Zudem bot die Neutralität die Möglichkeit, sich von Deutschland abzugrenzen (Gehler 2001, 27, 97) und zugleich an das alte Selbstbild eines relevanten Akteurs in der regionalen und globalen Politik anzuknüpfen. Dieser Brückenschlag zur Identität des alten Österreich zeigt sich etwa im Redebeitrag des ÖVP-Abgeordneten und späteren Außenministers (1966–1968) Lujo Tončić-Sorinj in der Debatte des Nationalrats über das Neutralitätsgesetzt am 26. Oktober 1955:

Wir sehen daher, daß die Funktion Österreichs, aus einer geographischen Lage kommend, darin besteht, das Herz Europas freizuhalten und es autochthon und unabhängig zu bewahren. Solange Österreich selber eine Großmacht war, standen ihm dafür die Mittel einer Großmacht zur Verfügung. In welcher Form aber kann es dieser Funktion heute als ein kleiner Staat wenigstens annähernd entsprechen? [...]

Die Neutralität ist somit die nach der heutigen politischen Lage gegebene Form der alten Aufgabe unserer geschichtlichen Funktion. (Stenographisches Protokoll 1955, 3701)

Vor allem für die österreichische Bevölkerung, aber auch für Teile der politischen Eliten, ist die Neutralität nach wie vor ein wesentlicher Teil der österreichischen Identität. Diese Identitäts-stiftende Wirkung der Neutralität stellt nach wie vor eine zentrale Beharrungskraft der österreichischen Neutralität dar.

Ein weiterer Faktor im Inneren ist die Verankerung der Neutralität in der Rechtsordnung Österreichs. Durch die Verankerung der Neutralität als Bundesverfassungsgesetz sind die Hürden zu deren Aufhebung relativ hoch, wenn auch nicht so hoch wie im Fall eines Baugesetzes der Verfassung, dessen Änderung einer Volksabstimmung bedarf. Immerhin bedürfte die Änderung des Neutralitätsgesetzes jedoch einer Zwei-Drittel-Mehrheit im Nationalrat. Eine solche wird jedoch, und damit ist auf den letzten innerstaatlichen Faktor der politischen Gelegenheitsstruktur verwiesen, zusehends schwerer erreichbar, da sich die Parteienlandschaft Österreichs fragmentiert und polarisiert und Regierungskoalitionen sich auf immer geringere Mehrheiten stützen können (siehe hierzu Helms et al. 2019). Dieser Wandel der politischen Gelegenheitsstruktur stellt auch einen Faktor dar, der einer Re-Politisierung und substanziellen Weiterentwicklung der Neutralität angesichts sich wandelnder Bedingungen im äußeren Umfeld Österreichs entgegensteht.

6 Konklusion

Im Kern dieses Beitrags steht der Befund, dass sich die österreichische Neutralität im Laufe ihres Bestehens von einer umfassenden und extensiv interpretierten Neutralität zu einer differenziellen und zusehends de-politisierten Neutralität gewandelt hat. Sie ist gegenwärtig in einer Zwischenwelt gefangen: eine formelle Abkehr scheint angesichts ihrer hohen Wertschätzung in der Bevölkerung und der Anforderung einer Zwei-Drittel Mehrheit politisch nicht erreichbar – ein stärkeres und bewusstes Engagement in der Neutralitätspolitik ist politisch nicht gewollt.

Angesichts gegenwärtiger Entwicklungen im regionalen und globalen Sicherheitsumfeld, vor allem angesichts der sich intensivierenden Großmachtrivalität und einer Vielzahl neuer sicherheitspolitischer Herausforderungen (z. B. Konflikte im Cyberbereich, transnationaler Terrorismus oder organisierte Kriminalität) und der Perspektive einer weiteren verteidigungspolitischen Integration Europas wäre eine Auseinandersetzung mit dem Wesen und dem Wert der Neutralität im 21. Jahrhundert jedoch dringend geboten. Auch die beiden anderen Dimensionen der Neutralitätspolitik, Abschreckung und Attraktivität, sollten mehr politische Auf- und Achtsamkeit erhalten und auf Grundlage eines Ausdeutungsprozesses entsprechend angepasst werden. Steuert man der De-Politisierung der Neutralität jedoch nicht entgegen, wird sich die Neutralität zusehends von einem Instrument der Außenpolitik zu einer Bürde für diese entwickeln und Österreich vermehrt als außenpolitischer Opportunist oder „strategischer Schnorrer“ (Cramer und Franke 2021, 43) wahrgenommen werden.

Weiterführende Quellen

Stourzh, Gerald, und Wolfgang Mueller. 2020. Der Kampf um den Staatsvertrag 1945–1955. Ost-West-Besetzung, Staatsvertrag und Neutralität Österreichs. Wien: Böhlau.

Schreiner, Julia. 2018. Neutralität nach „Schweizer Muster“? Österreichische Völkerrechtslehre zur immerwährenden Neutralität, 1955–1989. Baden-Baden: Nomos.

Diese beiden Monographien sind umfassende Studien der Entstehung der österreichischen Neutralität sowie ihrer rechtlichen Ausgestaltung und Interpretation.

Müller, Leos. 2019. Neutrality in World History. London; New York, NY: Routledge.

Upcher, James. 2020. Neutrality in Contemporary International Law. Oxford: Oxford University Press.

Umfassende Nachschlagewerke zur Geschichte der Neutralität in der Weltpolitik und ihrer rechtlichen Grundlagen.

Lottaz, Pascal, und Herbert R. Reginbogin. 2018. Notions of Neutralities. Lanham, MD; et al.: Lexington Books.

Gärtner, Heinz. 2017. Engaged Neutrality: An Evolved Approach to the Cold War, Lanham, MD; et al.: Lexington Books.

Diese Sammelbände beschäftigen sich mit unterschiedlichen Verständnissen der Neutralität und ihren Anwendungen in der Weltpolitik.