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1 Einleitung: Aktuelle Debatten zu Rassismus in der Polizei

In Politik und Gesellschaft werden seit dem Frühjahr 2020 Forderungen nach sofortigen Maßnahmen gegen Rassismus durch die und in der Polizei laut. Die öffentlichen, v. a. zivilgesellschaftlichen Forderungen folgten auf die Ermordung von George Floyd am 25. Mai 2020 durch einen Polizisten und die folgenden Black Lives Matter ProtesteFootnote 1, die insbesondere auch in Deutschland gegen ein Racial Profiling bei der Polizei und andere Formen des Rassismus protestierten. Verstärkt wurde die Aufmerksamkeit auf die Polizei auch durch menschenfeindliche Chats unter Polizeibeamt:innen wie Verfassungsschützer:innen im Herbst 2020 und zuletzt im Juni 2021. Sie scheinen den schon seit den ersten „NSU 2.0-Aufdeckungen“ entstandenen Eindruck einer demokratietheoretisch problematischen Entwicklung in den Organisationskulturen der Polizei zu verstärken. Die Vermutung, dass gerade in der Polizei gruppenbezogene Abwertungen im Rahmen von beruflichen Alltagspraktiken sagbar sind, hat sich in öffentlichen und medialen Debatten deutlich verstärkt. Auch ein Zusammenhang mit gesamtgesellschaftlichen Radikalisierungen und Polarisierungen seit der verschärften Einwanderungslage im Jahr 2015Footnote 2 liegt nahe. Parteien und Gruppierungen des (neu)rechten, autoritär-nationalradikalenFootnote 3 Spektrums haben seit 2015 deutlich an politischer Macht gewonnen. Sie greifen Sicherheitsdiskurse auf und verschieben gezielt im öffentlich-politischen Diskurs die Grenzen des Sagbaren, was menschenfeindliche Äußerungen bis hin zu rechtsextremen Ansichten angeht, gerade indem sie diese durch autoritäre Law-and-Order-Parolen rechtfertigen und vorgeben, „das Volk“ sei nicht hinreichend sicher.Footnote 4 Sie finden damit sukzessive Eingang in parlamentarische und öffentliche Debatten, aber auch in das politische Agenda Setting und in die öffentliche Meinung, wie die jüngste Mitte-Studie zeigt.Footnote 5 Die Polizei hatte in den Debatten immer eine besondere Bedeutung, ob ihr das gefiel oder nicht. Ihre besondere gesellschaftliche Verantwortung aufgrund des staatlichen Gewaltmonopols zwingt sie aber noch mehr als andere Institutionen, sich mit den kritischen Stimmen der Öffentlichkeit auf eine nachvollziehbare und glaubhafte Art auseinanderzusetzen. Nur so können berufliche Integrität und Identität der Polizist:innen geschützt werden. Eine sachliche und evidenzbasierte Diskussion über demokratierelevante Einstellungen und Werthaltungen innerhalb der Polizei auf Grundlage von wissenschaftlichen Erkenntnissen ist dazu eine Grundvoraussetzung. Sie wurde auch im Kabinettsausschuss zur Bekämpfung von Rechtsextremismus, Rassismus und anderen Formen der Menschenfeindlichkeit im November 2020, wie auch mit NGOs und Forschenden kontrovers diskutiert.

Leider scheitert die systematische Aufarbeitung oft an einer Abwehr- und Verteidigungshaltung von einflussreichen Akteur:innen in Politik und Polizei. Die Abwehr bezieht sich, neben den bereits aus den 1990er Jahren bekannten ArgumentationsmusternFootnote 6, insbesondere auf eine unterstellte Vorverurteilung: Kritiker:innen würden ungeprüft unterstellen, die Polizei habe ein strukturelles Rassismusproblem.Footnote 7 Der Begriff Rassismus wird im engen sicherheitsbehördlichen Verständnis implizit extremistisch konnotiert, also klar gegen die FDGOFootnote 8 verstoßend aufgefasst. Das führt dazu, dass Rassismusdiskussionen als vorweggenommenes und vorverurteilendes Ergebnis statt als Analyseraster für eine wissenschaftliche Untersuchung in der Polizei aufgefasst werden. Die Diskussion von Rassismus wurde so aus Sicht der Polizei als „Frontalangriff“ verstanden, und umso mehr musste sich die Polizei mit dem Generalverdacht der Leugnung von institutionellem wie strukturellem Rassismus und der Anfälligkeit ihrer Mitglieder für individuellen Rassismus auseinandersetzen. Die Frage, wie innovative Maßnahmen zur Stärkung der Resilienz, Toleranz und Offenheit auf den Weg gebracht werden können, verblasste in der Debatte. Dabei geht es überhaupt nicht darum gesellschaftliche Stereotype, Vorurteile, Rassismen wie auch rechtspopulistische und -extremistische Ideologien zu finden, um Generalverdächtigungen wie -abwehrhaltungen aufrechtzuerhalten. Die Polizei stammt aus der Mitte der Gesellschaft, gehört zu ihr und soll sie repräsentieren wie schützen. Gerade das Wissen um die Bedeutung unterschiedlichster Vorurteilsmuster in der Gesellschaft, die Vielfalt der Abwertungsmuster und die empirisch nachgewiesene Wahrscheinlichkeit, dass mit der Akzeptanz des einen Vorurteils die Akzeptanz weiterer Vorurteile steigtFootnote 9, ist für die demokratische Resilienz der Polizei hilfreich und gibt Impulse für eine weitere Professionalisierung. Das ist darüber hinaus auch deshalb relevant, weil die Polizei selbst diverser wird, sich öffnet und immer mehr mögliche Betroffene von Vorurteilen und Rassismus in der Polizei arbeiten.

Damit Polizei präventiv gegen Vorurteile und Rassismus in den eigenen Reihen und darüber hinaus handeln und resilienter werden kann, braucht sie ein solides Verständnis der Risiken, gegen die sie sich schützen soll. Im Folgenden wird dazu ein Konzept vorgestellt das Ideen innovativer Polizeiprävention und -arbeit eröffnet.

2 Das Syndrom Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit (GMF)

Das Konzept eines Syndroms der Gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit (GMF) wurde von Wilhelm HeitmeyerFootnote 10 erstmals ausführlich beschrieben und durch eine Forschungsgruppe, zu der auch die Erstautorin und der dritte Autor gehörten, in einer zehnjährigen empirischen Studie entwickelt. Die Ergebnisse wurden regelmäßig in der Reihe Deutsche Zustände beim Suhrkamp-Verlag publiziert. Seit 2014 werden die Studien unter Verantwortung des Drittautors im Rahmen der Mitte-Studien fortgeführt, die von der Friedrich-Ebert-Stiftung gefördert werden. Das GMF-Konzept ist auch in der internationalen Forschung aufgenommen. Mehr noch hat es sich in Deutschland zur Grundlage für Analysen und vor allem für die Prävention gegen Intoleranz und Stärkung von Demokratie etabliert. Es steht sogar im Koalitionspapier der gegenwärtigen Bundesregierung, im „Nationalen Aktionsplan gegen Rassismus“ und ist Thema von Ausschreibungen sowie dem Bundesprogramm „Demokratie leben!“.

Das mag darauf zurückzuführen sein, dass das Konzept als Kern von Menschenfeindlichkeiten die auch im Grundgesetz zentrale Norm der Gleichwertigkeit berührt: GMF markiert und legitimiert die Ungleichwertigkeit von Gruppen oder Menschen, die in Gruppen kategorisiert oder klassifiziert werden, sodass deren Diskriminierung wahrscheinlicher wird.Footnote 11 Menschenfeindlichkeit bezieht sich dabei auf das Verhältnis zwischen Gruppen und meint kein interindividuelles Feindschaftsverhältnis. Das besondere Kennzeichen des Syndroms ist die Spannbreite: GMF umfasst negative Stereotype, Vorurteile, rassistische Ideologie, wie auch soziale Distanzierungen oder Schädigungsabsichten gegenüber unterschiedlichsten Gruppen. Sie richten sich dabei nicht nur gegen Personen vermeintlich fremder Herkunft oder AbstammungFootnote 12, wie Sinti:zze und Rom:nja oder Einwandernden, sondern auch gegen solche gleicher Herkunft, die als „von der gesellschaftlichen Norm“ abweichend stigmatisiert werden, wie z. B. obdachlose oder arbeitslose Menschen, oder Gruppen die nach ihrer Religion als „anders“ markiert werden, wie z. B. Jüd:innen oder Muslim:innen. Theoretisch können je nach gesellschaftlichem Kontext die unterschiedlichsten Ungleichwertigkeitszuschreibungen bzw. Elemente zu einem GMF-Syndrom gehören. Dieses wird durch einen gemeinsamen Kern bzw. eine generelle Ideologie zusammengehalten, nach der die Gesellschaft eine mehr oder minder natürliche, zu akzeptierende Ordnung zwischen höher- und minderwertigen Gruppen aufweise.Footnote 13 Das heißt zugleich, dass eine Person oder Gruppe, die eine andere Gruppe menschenfeindlich markiert, mit einer höheren Wahrscheinlichkeit auch andere Gruppen abwertet oder diskriminiert. In empirischen Analysen ist näher zu bestimmen, welche Abwertungen ein Syndrom bilden, und das kann variieren.Footnote 14 In Betrieben, Schulen, Nachbarschaften, wie auch Polizeien kann das Syndrom empirisch anders sein als es sich in den GMF-Studien gesamtgesellschaftlich abbildet.

Abb. 1 zeigt schematisch das in einer Bevölkerungsumfrage des Jahres 2018/19 empirisch ermittelte GMF-Syndrom.

Abb. 1
figure 1

Footnote

Zick et al. (2019), S. 58. Die Abbildung allein würde mit dem Blick auf die Polizei schon Fragen aufwerfen: Welche Elemente des GMF-Syndroms sind in der Polizei zu beobachten? Welche Elemente hängen enger und weniger eng zusammen? Welche Elemente prägen die Polizeiarbeit darüber hinaus? Wie drücken sie sich in Wahrnehmungen und Verhaltensweisen aus?

Syndrom Gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit (GMF).

Das Syndrom bietet einen möglichen Ausgangspunkt, um über GMF in der Polizei theoriegeleitet und mit empirischem Interesse zu diskutieren. Vorab sei bemerkt, dass die Aufdeckung von strafrechtlich relevanten Menschenfeindlichkeiten oder gar rechtsextremen OrientierungenFootnote 16 nicht im Vordergrund unserer analytischen Ideen steht, weil sie Aufgabe von unabhängigen Beobachtungs-/Beschwerdestellen oder internen Ermittlungsstellen sein muss. Vielmehr sind die Konzeption des GMF-Syndroms und seine Manifestationen relevant für Fragen der Prävention und Professionalisierung polizeilicher Arbeit.Footnote 17 Zudem trägt die Frage nach GMF bei der Polizei zur Diskussion über den Zusammenhang von gesellschaftlichen Ungleichwertigkeitsvorstellungen und ihren Einfluss auf Polizei sowie ermöglichende (Sub-)Kulturen und Rahmenbedingungen in der Polizei bei, ohne die es keine Legitimationsgrundlage für radikalere Aktivitäten und Akteursgruppen innerhalb der Polizei geben könnte. Diese Abhängigkeit rechtsextremer Handlungen von Einzelpersonen und klandestinen Gruppen von GMF beschreiben Heitmeyer und Kollegen im konzentrischen Eskalationskontinuum.Footnote 18 Über solche ermöglichenden Einstellungen von GMF in Organisationskulturen der PolizeiFootnote 19 ist fast nichts bekanntFootnote 20. Umso mehr zwingt die GMF-Konzeption, genau hierauf zu blicken. Sie zwingt dazu, über Entstehungsbedingungen von Hasstaten, antidemokratischen Organisationsformen (Chatgruppen, menschenfeindliche Netzwerke etc.), Handlungen (Racial Profiling, Fehleinordnungen von Taten nach Herkunft) sowie auch verzerrten Wahrnehmungen und interkulturellen Inkompetenzen, die die Polizeiarbeit beeinflussen, nachzudenken, weil sie fragt, wie Ungleichwertigkeit von Gruppen reproduziert wird.Footnote 21

Eine Ausgangsthese wäre: Was für die Gesellschaft gilt, dringt in die Polizei. „Menschenfeindlichkeit beginnt unauffällig.“Footnote 22. Es gibt „[…] keine einzige Hass-Tat von rechtsextrem orientierten Personen oder Gruppen und auch keine Hass-Reden von „Durchschnittsbürgern“ ohne eine menschenfeindliche Einstellung, die dem zugrunde liegt“.Footnote 23 Erkenntnisse dazu, von welchem gesellschaftlichen Reservoir auszugehen ist, werden im folgenden Abschnitt diskutiert.

3 Theoretische Perspektiven und Kernergebnisse bestehender Forschung zu Ursachen und Entstehungsbedingungen Gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit (GMF) in Deutschland

Die interdisziplinäre empirische Forschung zu GMF basiert vor allem auf den GMF-Langzeitstudien wie sie in der Reihe Deutsche Zustände dokumentiert sind, sowie seit 2014 den Mitte-Studien.Footnote 24 Das zentrale Ziel der Studien ist die Dokumentation von Verbreitungen von GMF und deren Ursachen in der Gesellschaft. Dazu werden repräsentative Bevölkerungsumfragen durchgeführt. Zur Analyse der Ursachen, soweit dies mit korrelativen Daten möglich ist, greift die Forschung vor allem auf soziologische und sozialpsychologische Erklärungsansätze zurück, die empirisch untersucht wurden und zentrale mikro-soziale (individuelle), meso-soziale (gruppenbezogene) und makro-soziale (gesellschaftliche) Einflussfaktoren auf GMF hervorheben. Auf einer mikro-sozialen Ebene spielen individuelle Orientierungen wie Autoritarismus, Patriotismus, soziale Dominanzorientierungen oder auch Anomie (Orientierungslosigkeit) eine Rolle. Auf der meso-sozialen Ebene werden soziale Identifikationen, Bedrohungen von Gruppen, Konkurrenzen zwischen Gruppen oder auch Kontakte untersucht. Auf der makro-sozialen oder soziologischen Ebene werden Einflüsse wie die Ökonomisierung des SozialenFootnote 25, Entwicklungen eines „autoritären Kapitalismus“Footnote 26, soziale DesintegrationsbewegungenFootnote 27, DemokratieentleerungenFootnote 28, institutionelle Formen der AnomieFootnote 29, wie auch sozialdemografische Einflüsse untersucht. Neben diversen sozialpsychologischen Ansätzen aus der Vorurteilsforschung wie der Theorie Sozialer DominanzFootnote 30, der KontakthypotheseFootnote 31, der Theorie Sozialer IdentitätFootnote 32, oder GruppenbedrohungstheorienFootnote 33 und soziologischen Ansätzen wie relative Deprivation, (institutionelle) Anomie und Theorien zur Ökonomisierung des Sozialen, ist eine der zentralen theoretischen Brillen in den Langzeituntersuchungen die Theorie Sozialer Desintegration (TSD).Footnote 34 Sie bietet einen breiten und theorieintegrativen Rahmen in der bestehenden Forschung zu GMF und hat den interdisziplinären Anspruch, aus mehreren ForschungsperspektivenFootnote 35 gleichzeitig individuelle, institutionelle und strukturelle Einflussfaktoren auf GMF zu berücksichtigen und zu analysieren.

Es ist kaum möglich, die Befunde der 20-jährigen Forschung in den jeweiligen historischen Kontexten zusammenzufassen. Daher sollen nur einige universale empirische Befunde genannt werden, die sich immer wieder beobachten lassen und die im Kontext der Polizei relevant sein können.

Die Ursachen der GMF lassen sich, so Zick et al.Footnote 36, grob nach zwei Dimensionen unterscheidenFootnote 37: einerseits nach der eigenen Zugehörigkeit zu bestimmten gesellschaftlichen Gruppen (z. B. entlang der Soziodemographie oder institutionellen Zugehörigkeit)Footnote 38 und andererseits, in Anlehnung an FiskeFootnote 39, nach fünf „sozialen Motiven“, die Menschen durch die Abwertung anderer in ihren Bezugsgruppen erfüllen können: Zugehörigkeit, positiver Selbstwert/soziale Anerkennung, Sicherheitsbedürfnis/Vertrauen, Verstehen, Einfluss/Kontrolle.Footnote 40 Den sozialen Motiven können Orientierungen zugeordnet werden, die neben Gruppenzugehörigkeiten einen maßgeblichen Einfluss auf GMF haben. Sie drücken sich in Wünschen, Meinungen, Ideologien und Verhaltensabsichten aus und sind durch Zugehörigkeiten geprägt.

Zugehörigkeit, also der Wunsch, zur Gesellschaft oder Gruppen dazuzugehören, ist über soziale Identität definiert, wobei es unterschiedliche Zugehörigkeitsangebote gibt, von unterschiedlichen Gruppen, die sich z. B. in kulturellen, nationalen oder auch extremistischen Identitäten ausdrücken können. Auch eine soziale Identität als Polizist:in kann das Motiv der Zugehörigkeit bedienen. Soziale Identitäten erzeugen Abwertung, wenn sie gefährdet erscheinen.Footnote 41 Der Wunsch nach positiver Bewertung des Selbst, also Selbstwert und soziale Anerkennung durch andere, lassen sich u. a. über soziale Vergleiche herstellen. Wenn sie bedroht werden, können sie sich in negativen Gefühlen der Benachteiligung und Minderwertigkeitsgefühlen ausdrücken, die Abwertung auslösen. Dem Sicherheitsbedürfnis entspricht ein Bedürfnis nach Vertrauen zwischen Menschen, in die gesellschaftlichen Verhältnisse und deren Entwicklungen. Das Sicherheitsmotiv kann Abwertung anderer erzeugen, wenn Misstrauen und Unsicherheit entstehen und Vertrauen wieder zurückerobert werden will (die entsprechenden Ideologien sind Autoritarismus wie Law-and-Order Haltungen). Soziale Umstände wollen zudem verstanden werden. Der Wunsch nach einem mit anderen geteilten, gemeinsamen Verständnis der Welt und der gesellschaftlichen Verhältnisse kann auch zur Abwertung von Gruppen führen, wenn Werte und Normen sich ändern und verlorenzugehen erscheinen (Orientierungslosigkeit als Verstehensverlust). Das Motiv der Kontrolle und Einflussnahme ist eng verbunden mit einem Machtmotiv und dem Streben nach Dominanz und sozialen Hierarchien. Das Kontrollmotiv erzeugt GMF wenn die Eigengruppe ihre Kontrolle über und ihren Einfluss auf Fremdgruppen bedroht sieht.

Empirisch zeigt sich in vielen Analysen eine besondere Erklärungskraft für GMF durch Faktoren, die das Kontroll- und MachtmotivFootnote 42 sowie das SicherheitsbedürfnisFootnote 43 scheinbar befriedigen. Beide Motive, die sich auch in Werten oder Ideologien ausdrücken und sich teils überschneiden, dürften sich, so unsere Vermutung, leicht in den Polizeikulturen der Alltagspraxen wiederfinden. Erste Pretest-Ergebnisse unter Studierenden der Hochschule der Akademie der Polizei HamburgFootnote 44, in denen berufserfahrene, also in Polizeikulturen und deren Alltagroutinen bereits sozialisierte Aufsteiger:innen mit berufsunerfahrenen Direkteinsteiger:innen verglichen werden konnten, liefern Indizien dafür, dass die Alltagsroutinen und -praktiken im Polizeivollzug autoritäre Haltungen (Motiv Sicherheit wie Macht/Kontrolle als ausgeprägter Bestandteil von Polizeikulturen) tatsächlich begünstigen könnten (vgl. Abb. 2).

Abb. 2
figure 2

(eigene Berechnungen und Darstellung).

Autoritäre Unterwürfigkeit bei Aufsteiger:innen und Direkteinsteiger:innen im Vergleich; *= p < 0.05

Es lassen sich zwischen Aufsteiger:innen und Direkteinsteiger:innen systematische UnterschiedeFootnote 45 in der erwarteten Richtung beobachten: Die berufserfahrenen und polizei-sozialisierten Aufsteiger:innen weisen tendenziell autoritärere Haltungen auf als die berufsunerfahrenen Direkteinsteiger:innen (Abb. 2). Dies spricht für unsere Annahme einer Kulturalisierung der oben beschriebenen Motivdynamiken mit Blick auf das Sicherheits- wie Macht-/Kontrollmotiv.Footnote 46 Die Zusammenhänge werden wir weiter unten, im Rahmen der zentralen Annahmen zu Entstehungsbedingungen der GMF in der Polizei, theoretisch weiter aufschlüsseln.Footnote 47

Bei der Migranten-,  Muslim- und Islamfeindlichkeit, dem Antisemitismus und Etabliertenvorrechten zeigt sich in der bisherigen GMF-Forschung zudem das Motiv des „Verstehen-Wollens“, gemessen über Orientierungslosigkeit (Anomia), als Faktor, der die Abwertung erklärt. Soziale Identifikationen wie eine Betonung von Nationalstolz (Operationalisierung des Motivs Zugehörigkeit) und die relative Deprivation (Operationalisierung des Motivs Anerkennung) hatten unter Kontrolle der anderen Einflussfaktoren vergleichsweise schwache Effekte in der Allgemeinbevölkerung, was aber teilweise auch auf unzuverlässige Messinstrumente zurückzuführen ist.Footnote 48 Detailliertere Auswertungen zum Effekt von Anerkennungsdefiziten und sozialer Desintegration deuten an, dass diese zur Erklärung von GMF hingegen sehr bedeutsam sind.Footnote 49 Bezüglich der soziodemografischen Zugehörigkeiten stellten die Analysen für alle Syndromelemente das Bildungsniveau, Alter, Einkommen und politische Selbstpositionierung als relevante Einflussfaktoren heraus. Weniger gebildete Befragte, ältere, einkommensschwächere und solche, die sich politisch eher rechts einstufen, neigen eher zu Feindseligkeiten.Footnote 50 Ob sich Polizei oder bestimmte Organisationseinheiten bezüglich dieser soziodemografischen Merkmale, die GMF begünstigen, von der Allgemeinbevölkerung, bzw. untereinander unterscheiden, bleibt zu untersuchen.

Neben den beschriebenen Ursachen nennt Heitmeyer im Rückblick auf die 10-Jahres-Untersuchung „erregende Signalereignisse und schleichende Prozesse“ als Einflüsse auf GMF.Footnote 51 Damit spricht er gesamtgesellschaftliche Entwicklungen, Diskurse und Ereignisse anFootnote 52, welche die Wahrscheinlichkeit erhöhen, dass Minderheiten, über welche Stereotype, Vorurteile und Minderwertigkeitsvorstellungen vorliegen, verantwortlich gehalten werden für Krisen und Konflikte. Solche gesamtgesellschaftlichen Kräftefelder nehmen Einfluss auf Artikulationen und Sagbarkeiten von Ungleichwertigkeit und sollten bei einer Analyse von GMF in der Polizei, neben den (sozial)psychologischen Aspekten, mitberücksichtigt werden. Das ist für die Frage nach GMF in der Polizei relevant, denn Polizei wird von den gesellschaftlichen Prozessen beeinflusst. Konfliktäre Debatten, Polarisierungen, Proteste gegen den Staat, all das erreicht die Polizei nicht nur in ihren Schutzaufgaben. Sicherheit und Polizei sind selbst Adressat neuerer demokratiefeindlicher Bewegungen. Gerade die neueren rechtspopulistischen Gruppierungen versuchen das Thema Sicherheit zu besetzen und inszenieren sich als Anwälte der Polizei. Zugleich ist die Polizei Zielscheibe von menschenfeindlichen Angriffen, wie die jüngsten Ausschreitungen auf den Coronaprotesten zeigen, und zurecht fragen sich Polizeien, welche gesellschaftlichen Entwicklungen dahinterstecken. Auch die zunehmende Ökonomisierung von zentralen Institutionen, die Privatisierung von Sicherheit und die Dominanz von MarktgesetzenFootnote 53, auch im Bereich der Sicherheit, berühren die Polizei und führen zu Verunsicherungen, die dann Polizist:innen öffnen für gesellschaftlich vorhandene menschenfeindliche Ideologien.

Das Verständnis von GMF bietet eine Perspektive für die Erklärung möglicher erhöhter Anfälligkeiten für GMF in der Polizei. Die oben beschriebenen Pretest-Ergebnisse unter Studierenden der Hochschule der Akademie der Polizei Hamburg liefern auch für diese Annahme erste Indizien (Abb. 3).

Abb. 3
figure 3

(eigene Berechnungen und Darstellung).

Zustimmungswerte zu GMF im Vergleich zwischen Aufsteiger:innen, Direkteinsteiger:innen und der Durchschnittsbevölkerung aus der Mitte-Studie 2018/2019; Stichproben bezüglich Alter und Bildung angepasst, also vergleichbar; Angaben zu Signifikanz beziehen sich auf den Gruppenvergleich zwischen Aufsteiger:innen und Direkteinsteiger:innen; *= p < 0.05, **= p < 0.01, ***= p < 0.001; Werte > 3 bei zwei 5-stufigen Items werden als Zustimmung bei den Mittelwertskalen gezählt; Einzelitem „Islam gehört nicht zu Deutschland“ Zustimmung wie in Beschriftung Abbildung (zusätzliche Stichprobe, darum leicht veränderten)

Bei fast allen GMF-Elementen stimmen die berufserfahrenen Aufsteiger:innen stärker der Abwertung zu als die unerfahrenen Direkteinsteiger:innen. Als Vergleichswerte sind zudem je die Werte der Allgemeinbevölkerung aus der Mitte-Studie 2018/2019 angegeben. Diese liegen bei der Abwertung von langzeitarbeitslosen Menschen, obdachlosen Menschen, asylsuchenden Menschen, der Abwertung von Sinti:zze und Rom:nja und der Fremdenfeindlichkeit deutlich unter den Werten aus der Polizeistichprobe (Aufsteiger:innen und Direkteinsteiger:innen). Keinen Unterschied zwischen der Allgemeinbevölkerung und Aufsteiger:innen finden wir dagegen bei der Muslimfeindlichkeit, Antisemitismus und Etabliertenvorrechten. Hier scheint die Abwertung in der Allgemeinbevölkerung gleichauf mit jener der bereits berufserfahrenen Aufsteiger:innen.

Dies sind erste Indizien für einen Effekt der Alltagsroutinen und -praktiken im Polizeiberuf in der erwarteten Richtung. Feinere Mechanismen der Abwertung lassen sich anhand dieser Daten jedoch noch nicht untersuchen. Weitere Studien sind notwendig um diese systematischer zu erforschen.

Übertragen auf die Polizei legen die bisherigen Ausführungen nahe, dass einerseits Bedrohungen der zentralen sozialen Motive aus polizeispezifischen Arbeitsstrukturen, -kulturen und -tätigkeitsmerkmalen entstehen und GMF befördern können. Andererseits sind auch Befriedigungspotenziale aus möglichen Unterstützungsangeboten bzw. emotionalem Rückhalt in der Gruppe entscheidend dafür, ob Polizist:innen menschenfeindliche Ideologien akzeptieren und subkulturell in Gruppen teilen, bspw. um solchen Bedrohungen zu begegnen.

Um zu verstehen, wie und wann Polizei sich für menschenfeindliche bzw. demokratiegefährdende Ideologien öffnet, müssen allerdings die spezifischen Entstehungsbedingungen im beruflichen Polizeialltag identifiziert werden. Das soll unter Berücksichtigung von arbeits- und organisationspsychologischen Befunden nun erfolgen.

4 Einflussfaktoren auf GMF im polizeilichen Arbeitsalltag

Empirische Studien geben Hinweise auf einige Faktoren im polizeilichen Arbeitsalltag, die Anfälligkeiten für GMF hervorbringen oder verstärken können. Eine geringe Arbeitszufriedenheit geht mit negativen Einstellung gegenüber Muslim:innen, Islamfeindlichkeit und Distanzverhalten gegenüber Muslim:innen sowie „Fremdenskeptizismus“ bzw. „-feindlichkeit“ einher.Footnote 54 Ebenso scheint das Stresserleben von Beamt:innen in einer positiven Beziehung zu „Fremdenfeindlichkeit“ zu stehen.Footnote 55 Die Ursachen für die empirischen Zusammenhänge sind bis heute nur in Ansätzen erforscht, geben aber Hinweise auf den Einfluss der Arbeitsbedingungen, die die ArbeitszufriedenheitFootnote 56 und das StresserlebenFootnote 57 beeinflussen. Das gibt Anlass zur Formulierung weiterer Annahmen auf der Grundlage der skizzierten GMF-Konzeption.

Es ist davon auszugehen, dass insbesondere solche Arbeitserfahrungen GMF bei der Polizei begünstigen können, die der Befriedigung der zentralen sozialen Motive der Arbeitenden nach 1) Zugehörigkeit und positiver Identität, 2) Anerkennung und positivem Selbstwert, 3) Vertrauen und Sicherheit, 4) einem geteilten Verständnis sozialer Umstände sowie 5) Kontrolle und MachtFootnote 58 entgegenstehen könnten. Der Beruf ist für viele Menschen ein wichtiger Teil ihrer sozialen Identität.Footnote 59 Er vermittelt an der Schnittstelle zwischen individuellem Handeln und gesellschaftlichen Anforderungen und Chancen intensive und prägende Erfahrungen.Footnote 60 Es ist davon auszugehen, dass berufliche Erfahrungen einen bedeutsamen Einfluss auf die Befriedigung bzw. Bedrohung zentraler sozialer Motive von Individuen und Gruppen leisten können. Bedrohungen dieser identitätsgebundenen Motive begünstigen die Überzeugung, dass „die Anderen“ Schuld seien. Gerade extreme Gruppen suggerieren Menschen eine unmittelbare Motivbefriedigung, die sie aber nur auf der Grundlage einer Identifikation mit ihnen und einer Unterordnung unter die Gruppe erhalten. Angesichts des Arbeitsalltages kann es kaum verwundern, dass auch in der Polizei extremistische wie menschenfeindliche Chatgruppen auftauchen. Im Folgenden gehen wir genauer auf Befriedigungs- und Bedrohungspotenziale von zentralen Motiven für GMF im Polizeialltag ein.

4.1 Soziale Anerkennung und Polizeialltag

Eine gesellschaftlich positiv bewertete berufliche Rolle als Polizist:in oder die Mitgliedschaft in einer positiv bewerteten Organisation Polizei kann zur Motivbefriedigung und der Herausbildung einer positiven sozialen Identität beitragen. Auch wenn Umfragen der Polizei in Deutschland regelmäßig ein hohes Ansehen in der Öffentlichkeit bescheinigenFootnote 61, werden in der Literatur jedoch auch Angriffe auf das Ansehen von Polizist:innen durch die ÖffentlichkeitFootnote 62 und die MedienFootnote 63 als Belastungsfaktoren thematisiert, die das Anerkennungsmotiv von Polizist:innen von außen bedrohen können und zugleich jene meso-sozialen Einflussfaktoren befördern, die in den GMF-Studien identifiziert wurden (s. o.).Footnote 64 Auch die aktuell öffentlich geführte Diskussion um Rassismus in der Polizei und rechtsextreme Gruppenchats in einigen Dienstgruppen dürften ein entsprechendes Bedrohungspotenzial für die Polizeiidentität haben, welches ideologisch orientierte Gruppen aufgreifen. Dass dies wirkt, zeigen entsprechende Chatgruppen, welche die Polizei als Opfer darstellen und Verschwörungs- und Unterdrückungsfantasien anbieten.

Anerkennungsbedrohungen können unter Arbeitsbedingungen entstehen, die mit dem Erleben von Abwertungen und Ungerechtigkeit bzw. mangelnder Fairness verbunden sind; auch wenn dies objektiv nicht der Fall sein muss. Aus der Gerechtigkeitsforschung ist bekannt, dass faire Interaktionen in Organisationen Anerkennung und Respekt vermitteln, während erlebte Ungerechtigkeit u. a. zu Leistungseinbußen, kontraproduktivem Arbeitsverhalten und Stress führtFootnote 65. Aspekte distributiverFootnote 66, prozeduralerFootnote 67 und interaktionalerFootnote 68 (Un-)Gerechtigkeiten wurden auch im Polizeidienst in verschiedenen Studien als relevante arbeitsbezogene Stressoren untersucht. Ungerechtigkeitserfahrungen und Anerkennungsbedrohungen können die Anfälligkeit für GMF erhöhen und zur Entstehung von menschenfeindlichen wie extremistischen Überzeugungen beitragen.Footnote 69 Zudem weisen Studien auf polizeiinterne Status- und Anerkennungsprobleme der Polizeiarbeit und unklare Zukunftsaussichten von Polizist:innenFootnote 70, unbefriedigende Karriere- bzw. AufstiegschancenFootnote 71 und eine unzureichende BezahlungFootnote 72 als Belastungsfaktoren hin. Frühere Studien, die den Ursachen von „Fremdenfeindlichkeit“ in der Polizei nachgingen, konnten schon Belastungen durch polizeiinterne Statusverluste einzelner Beschäftigtengruppen als Gefährdungsfaktoren für diskriminierendes Verhalten in der Interaktion mit „Fremden“ aufzeigen.Footnote 73

Weitere wichtige Aspekte nennt das Modell beruflicher Gratifikationskrisen.Footnote 74 Es postuliert, dass ein Ungleichgewicht zwischen beruflicher Anstrengung und materiellen sowie immateriellen Gratifikationen (Anerkennung, Wertschätzung) soziale Reziprozitätserwartungen verletzt und über erlebte Frustrationen langfristig Gesundheit und Wohlbefinden beeinträchtigt. Gratifikationskrisen als Ausdruck unfairer Tauschprozesse zwischen Leistung und Gegenleistung sind insbesondere in solchen beruflichen Bereichen zu erwarten, in denen – wie im Polizeidienst – kaum berufliche Alternativen verfügbar sind.Footnote 75 Die Relevanz von Gratifikationskrisen wird als Belastungsfaktor im Polizeidienst durch verschiedene Studien belegt.Footnote 76 Erlebte Gratifikationskrisen blockieren im Kern die Befriedigung des grundlegenden Motivs nach sozialer Anerkennung und einem durch fairen Umgang und Wertschätzung gestärkten Selbstwertgefühl.Footnote 77 Entsprechend der weiter oben berichteten Forschungsergebnisse zu den Ursachen von GMF vermuten wir, dass das Erleben von Gratifikationskrisen im Polizeiberuf die Entstehung von GMF begünstigen kann.

Das Stress-as-Offense-to-Self-Konzept (SOS) fokussiert direkte und indirekte Interaktionen, die durch mangelnde Fairness und Wertschätzung geprägt sind. Diesem Konzept nach verursachen bestimmte Arbeitssituationen deshalb Stress, weil sie eine Bedrohung für den sozialen Selbstwert der arbeitenden Person darstellen.Footnote 78 Dieser wird bedroht, wenn das Handeln anderer direkt oder indirekt einen Mangel an Akzeptanz oder Respekt signalisiert („stress as disrespect“ (SAD)). Beispiele für Belastungsfaktoren im Polizeidienst, in denen dieser Stress offensichtlich eine Rolle spielt, sind soziale Stressoren, die aus herabwürdigendem Verhalten anderer resultieren. Soziale Stressoren durch Kolleg:innen, Vorgesetze und Bürger:innen wurden in der polizeilichen Stressforschung des Öfteren untersucht.Footnote 79 Auch Aggressionen gegen Polizeibeamt:innenFootnote 80 gehören unseres Erachtens dazu. Mit Blick auf zentrale GMF-Faktoren (s. o.), sollte hier auch die Qualität interkultureller Kontakte bedeutsam sein.Footnote 81 Frühere Untersuchungen zu Entstehungsbedingungen von „Fremden“- bzw. Muslimfeindlichkeit in der Polizei identifizierten negativ gefärbte berufliche Kontakte mit ausländischen Bürger:innenFootnote 82, „Fremden“ als Interaktionspartner:innenFootnote 83 sowie negativen beruflichen Kontakt mit Muslim:innenFootnote 84 bzw. Stress in der beruflichen, interethnischen InteraktionFootnote 85 von Polizist:innen als Risikofaktoren für die Entstehung von „Fremden“- bzw. Muslimfeindlichkeit im Polizeidienst, die u. E. nach in die Kategorie sozialer Stressoren eingeordnet werden können. Ebenso zeigen Projekte zur Stärkung der interkulturellen Kompetenz bei der Polizei, dass diese stressreduzierend sind und dies gerade, weil dadurch Ressentiments reduziert werden können.Footnote 86

Mangelnde Anerkennung drückt sich dem skizzierten Konzept zufolge nicht nur in der direkten sozialen Interaktion aus. Sie wird vielmehr auch indirekt durch die Gestaltung von Arbeitsbedingungen vermittelt. Hierzu gehört z. B. die Übertragung „illegitimer Aufgaben“, die von den Arbeitenden als unnötig bzw. unzumutbar erlebt werden, weil sie im ersten Fall als ungerechtFootnote 87 oder im zweiten Fall als nicht zur Berufsrolle passend und damit als Bedrohung der eigenen Identität erlebt werden.Footnote 88 In beiden Fällen wird die Übertragung solcher Aufgaben als Respektlosigkeit empfunden, die Bedrohungen des Anerkennungsmotivs von Polizist:innen befördern kann. In der polizeilichen Belastungsliteratur finden sich Hinweise auf belastende, polizeifremde AufgabenFootnote 89, sowie BürokratieFootnote 90, die als Hinweis auf die Existenz illegitimer Aufgaben im polizeilichen Vollzug interpretiert werden können.

Ein weiterer, bisher kaum erforschter Belastungsfaktor, der dem SOS-Konzept nach Anerkennungsbedrohungen beinhaltet, ist das Auftreten illegitimer Stressoren. Diese sind dadurch gekennzeichnet, dass ihr Auftreten aus Sicht der Beschäftigten von Personen in verantwortlicher Position verhindert werden könnte und sollte.Footnote 91 Wir vermuten, dass die in einigen polizeilichen Belastungsstudien untersuchten Regulationshindernisse z. B. in Form von mangelhaften Arbeitsmitteln, bürokratischen Verwaltungsvorschriften und fehlenden InformationenFootnote 92, aber auch hohe Arbeitsbelastungen aufgrund von PersonalmangelFootnote 93 hier einzuordnen sind. Sie sind besonders belastend, wenn sie mit der Erwartung verbunden sind, dass diese Probleme von Autoritäten (in Politik, Behördenleitung, polizeilicher Führung) beseitigt werden könnten und sollten.

Neben selbstwertschädigenden Belastungen wird auch die Bedeutung von zwischenmenschlicher Wertschätzung als zentralem, selbstwertförderlichen Schutzfaktor im Arbeitsleben hervorgehobenFootnote 94, der zur Befriedigung des Anerkennungsmotivs beitragen kann. Zur Motivbefriedigung geeignet sind demnach Situationen im Arbeitsalltag, die Wertschätzung ausdrücken bzw. als wichtiges Element enthalten. Dazu gehören z. B. wertschätzende Interaktionen mit Kolleg:innen, Vorgesetzten und andere berufliche Kontakte, die Lob und Dankbarkeit oder Vertrauen ausdrücken, sowie die Übertragung von Verantwortung, die Demonstration von Unterstützung und Respekt, aber auch konkrete Belohnungen und Beförderungen.Footnote 95 Förderliche Wirkungen für das Befinden von Polizist:innen sind für soziale Unterstützung und wahrgenommene Fairness nachgewiesen.Footnote 96 Wir nehmen an, dass die genannten Faktoren im Polizeidienst auch dazu beitragen können, das Motiv nach sozialer Anerkennung zu befriedigen und damit der Entwicklung von GMF vorzubeugen.

Es lassen sich aus der Forschung also eine Reihe von Belastungsfaktoren im Polizeidienst identifzieren, deren Auftreten den Selbstwert der Arbeitenden in direkten und indirekten Interaktionen durch einen objektiven oder subjektiven Mangel an Respekt und Fairness verletzen können. Durch die Bedrohung des sozialen Motivs nach Anerkennung können sie eine Anfälligkeit für GMF begünstigen. Das alles muss allerdings noch genauer mit Blick auf GMF ermittelt werden. Erste empirische Hinweise auf Zusammenhänge zwischen geringer sozialer Anerkennung von Polizist:innen und der Ablehnung von Muslim:innenFootnote 97 sowie zwischen (negativen) beruflichen Kontakten zu „Fremden“ und Muslim:innenFootnote 98 und GMF-Elementen liegen vor.

4.2 Zugehörigkeiten im Polizeialltag

Dem Motiv nach Zugehörigkeit liegt der Wunsch nach befriedigenden und engen sozialen Beziehungen in Gruppen zugrunde.Footnote 99 Zugehörigkeit wird durch die Identifikation mit Gruppen und Institutionen hergestelltFootnote 100, und dazu gehört auch die berufliche IdentitätFootnote 101. Gerade für die Gesellschaft und die Polizist:innen selbst ist die Zugehörigkeit zur Polizei ein zentrales Identitätsmerkmal. Sie muss daher Selbstwert schaffen ohne massive negative Vergleiche zu anderen Gruppen. Tut sie dies nicht, kann Entbindung oder Öffnung für alternative Identitäten und Ideologien von Gruppen resultieren, die ihren Mitgliedern mehr Selbstwert versprechen. Die wichtige Bedeutung enger sozialer Bindungen für die Befriedigung des Zugehörigkeitsmotivs und die Gesundheit sind u. a. durch sozioepidemiologische Studien gut belegt, und umgekehrt stellen der Verlust enger sozialer Beziehungen (Partnerschaft, Freundeskreis), instabile Paarbeziehungen und familiale Desintegration ein Risiko für die individuelle GesundheitFootnote 102 sowie die AnerkennungFootnote 103 dar. Einflussreiche arbeitspsychologische Stressmodelle wie das Demand-Control-Support ModellFootnote 104 und das Job-Demands Resources ModellFootnote 105 weisen auf die wichtige Funktion von unterstützenden sozialen Beziehungen bei der Arbeit hin.Footnote 106 Diese können als Schutzfaktoren der negativen Wirkung von Belastungen entgegenwirken, indem sie die Befriedigung grundlegender menschlicher Bedürfnisse nach Zugehörigkeit ermöglichen.Footnote 107

Das Zugehörigkeitsmotiv kann auch durch Gruppenmitgliedschaften außerhalb des Berufskontexts befriedigt werden. Studien legen jedoch nahe, dass Schichtdienst für Polizist:innen nicht nur einen gesundheitlich relevanten Belastungsfaktor darstelltFootnote 108, sondern auch mit einem erhöhten Risiko für fragile Partnerschaften, fehlende Zeit für die Familie, fehlende Möglichkeiten für Treffen mit Freunden und Hobbys sowie erschwerter Teilhabe an regelmäßigen sozialen Aktivitäten in Vereinen, am öffentlichen und politischen Leben einhergehtFootnote 109. Auch Konflikte zwischen Beruf und Privatleben werden immer wieder als Belastungsmomente im Polizeidienst beschrieben.Footnote 110 Wenn zeitliche Anforderungen im Polizeidienst die Aufrechterhaltung und Pflege enger sozialer Beziehungen und Gruppenzugehörigkeiten außerhalb der Arbeit beeinträchtigen und grundlegende Bedürfnisse nach sozialer Zugehörigkeit im Privaten in der Form bedrohen, dass der Zugang zu wichtigen und alternativen Zuwendungs- und Aufmerksamkeitsressourcen erschwert wird, fehlen wichtige Ressourcen, um Identitätsbedrohungen in anderen Lebensbereichen (z.B im beruflichen Kontext) begegnen zu können. Auch dann steigt das Risiko für Abwertungstendenzen gegenüber als ungleichwertig markierten Gruppen.Footnote 111

4.3 Vertrauen und Sicherheit im Polizeialltag

Vertrauen in Gemeinschaft ist ein hohes Sozialkapital wie zentrales Element sozialen Zusammenhalts und es schafft Sicherheit. Misstrauen und Unsicherheiten öffnen dagegen für sozialen Einfluss und auch Abgrenzungen, wie sie sich in GMF manifestieren. Dieses Grundprinzip der Gruppendynamik ist u. E. auch relevant für den polizeilichen Arbeitsalltag. Polizeiliche „Gefahrengemeinschaften“ sind Belastungen durch Eigengefährdung aufgrund erhöhter Unfallrisiken sowie potenziell gesundheits- und lebensgefährlicher Situationen – inklusive Gewalterfahrungen – ausgesetztFootnote 112, die das Sicherheitsmotiv bedrohen können.Footnote 113 Auch das Miterleben (lebens-)gefährlicher und potenziell traumatischer Situationen, die andere Personen betreffen, wie z. B. schwere Verkehrsunfälle, Gewalttaten, persönliches Leid und TodFootnote 114 können eine Bedrohung des Sicherheitsmotivs auslösen. Wir vermuten, dass sowohl ein erhöhtes Bewusstsein für Gefahren als auch die tatsächliche Konfrontation mit (lebens-)gefährlichen und leidvollen Situationen Misstrauen und Unsicherheit erzeugen können, die die Entstehung von GMF begünstigen können, da hierdurch der verstärkte Wunsch nach Sicherheit kompensiert werden kann. Und ebenso ist Misstrauen in die eigene Bezugsgruppe, auch berufliche Gruppen, ein Einfallstor für andere, die versuchen Polizist:innen in ihren Belastungen anzusprechen, um sie für menschenfeindliche Interessen zu gewinnen. Dabei rekurrieren sie auch auf das folgende Motiv.

4.4 Kontrolle und Einfluss

Menschen streben danach, ihre soziale Umwelt beeinflussen zu können, Wirkung zu entfalten und letztlich Kompetenz zu erleben.Footnote 115 Werden eigene Handlungen als wirkungslos und wenig erfolgreich erlebt wird das Kontrollmotiv bedroht. Gefühle von Ohnmacht und Machtlosigkeit sind die Folge. Die in der Literatur berichteten Kooperationsprobleme zwischen polizeilichem Vollzug und anderen Stellen innerhalbFootnote 116 und außerhalbFootnote 117 der Polizei sowie eine erlebte Macht- und Erfolglosigkeit von Polizist:innenFootnote 118 deuten auf als wirkungslos erlebte Interaktionen mit verschiedenen Kooperationspartnern hin und können das Kontrollmotiv bedrohen und Ohnmachtsgefühle provozieren. Die wiederholte Befürchtung und das tatsächliche Erleben von Kontrollverlust bzw. Machtlosigkeit in beruflichen Interaktionen könnte daher eine Abwertung von Fremdgruppen erzeugen, wenn die eigene Kontrolle über Fremdgruppen bedroht erscheint.Footnote 119 Gruppen, die Polizist:innen für ihre ideologischen Ziele rekrutieren möchten, setzen an dem Kontrollmotiv an, gerade indem sie die Kontrolllosigkeit und das Versagen von Staat und Institution, eben Polizei, hervorheben.

Empirische Zusammenhänge zwischen wahrgenommener Ohnmacht bzw. Erfolglosigkeit im Polizeidienst und Abwertungstendenzen gegenüber „Fremden“ wurden bereits in den neunziger Jahren aufgezeigt. Bornewasser et al. identifizierten in ihrer qualitativen Studie als zentrale Gefährdungsfaktoren für diskriminierendes Verhalten von Polizeibeamt:innen u. a. die Vereitelung polizeilicher Erfolge im justiziellen Verfahren und Selbstwertbedrohungen des Wach- und Wechseldienstes durch ErfolglosigkeitFootnote 120, was im Kern auf Bedrohungen des Kontrollmotivs hindeutet. Backes et al. berichteten einen positiven Zusammenhang zwischen wahrgenommener Wirkungslosigkeit polizeilicher Arbeit und „Fremdenskeptizismus“.Footnote 121

5 Annahmen zum Zusammenhang zwischen Stress und menschenfeindlichen Polizeikulturen

Auf der Grundlage der bisherigen Ausführungen lassen sich zentrale Annahmen zur Frage, wann und warum sich Polizist:innen in ihrem beruflichen Alltag für menschenfeindliche Einstellungen, Gruppierungen und Propaganda öffnen, ableiten. Sie erläutern, warum sich menschenfeindliche Polizeikulturen bzw. -subkulturen bilden können.

These 1: Die sozialen Motive der Macht und Kontrolle, wie sie sich in sozialer Dominanzorientierungen manifestieren, und das Sicherheitsbedürfnis, wie es sich in autoritären Orientierungen manifestiert, sind zentrale Bausteine des Arbeitsalltages und der Arbeitskultur der Polizei. Bedingt ist dies z. B. durch ihren Charakter als „Gefahrengemeinschaft“Footnote 122, wie auch durch die Zentralität von AutoritätserhaltFootnote 123 in Interaktionen mit dem polizeilichen Gegenüber z. B. bei „Widerstandshandlungen“ (§ 133 StGB).Footnote 124 Auch eine möglicherweise generellere Bedrohung der hoheitlichen AutoritätFootnote 125 kann u. E. die beschrieben Mechanismen begünstigen. Als Ausdruck dafür steht auch der Diskurs um den vermeintlich schwindenden Respekt der Bürger:innen gegenüber der Polizei.Footnote 126

Die beruflich erforderte Anwendung von Gewalt, und die diskutierte Wirkungs- und Erfolglosigkeit, wie sie die polizeiliche Belastungsforschung in den Fokus rückt, heben die Zentralität des Kontrollmotivs hervor, und können Polizist:innen anfällig machen, sich im Austausch mit anderen zu Gruppen zusammenzufinden, die radikal menschenfeindliche Überzeugungen entwickeln und Kontrolle wie Macht anbieten. Darüber hinaus konkretisiert die Stressforschung Merkmale polizeilicher Gefahrengemeinschaften über Stressoren, die u. a. gesundheits- und lebensbedrohliche Situationen im polizeilichen Berufsalltag berücksichtigen und damit die Relevanz des Sicherheitsmotivs in der polizeilichen Interaktion mit dem Gegenüber unterstreichen, das in einer Kultivierung asymmetrisch autoritärer Interaktionen – z. B. zum Eigenschutz – münden kann.Footnote 127

These 2: Die Polizeikultur kann geprägt sein von autoritären Vorstellungen und Dominanzansprüchen, weil die Polizei hierarchisch organisiert ist. Polizei ist mit Blick auf die gesellschaftlichen Erwartungen an Ordnung und Sicherheit immer in einem Dilemma, weil sie mit Blick auf GMF wissen könnte, wie sehr Autoritarismus und Dominanzorientierung sie selbst anfällig für Intoleranz machen können. In der US-amerikanischen Forschung ist gut untersucht, dass autoritäre und dominanzorientierte Personen die Polizei als Arbeitsstelle mögen.Footnote 128 Polizist:innen mit einem höheren Grad an autoritären und dominanzorientierten Überzeugungen sind aber eben anfälliger für GMF, und umso mehr gilt es den möglichen Selektionseffekt vor und in der Ausbildung zu kontrollieren. Durch regelmäßige unabhängige Studien zur Rekrutierung, zur Verdichtung von Überzeugungen in der Polizeiarbeit und die Öffnung der Polizei für Vielfalt und Diversität kann der Selektionseffekt möglicherweise gebremst werden.

These 3: Da die Berufsrolle für viele einen zentralen Bestandteil der sozialen Identität darstellt, können eine positive berufliche Identität und die Zugehörigkeit zu einer angesehenen Organisation das soziale Motiv nach Zugehörigkeit von Personen befriedigen. Im Idealfall können die Polizei bzw. kleinere Organisationseinheiten das Zugehörigkeitsmotiv durch einen starken Zusammenhalt befriedigen und zu einer positiven sozialen Identität beitragen. Es besteht in Eigengruppen wie z. B. der Organisationseinheit, ein starker Zusammenhalt nach innen, was nicht zuletzt die Studien zur „Cop Culture“, Schweigemauern und Korpsgeist oder Kameraderie nahelegen.Footnote 129 Ist die soziale Identität innerhalb der EigengruppeFootnote 130 durch interne oder externe Statusbedrohungen (vgl. Kap. 4) in ihrer positiven Konnotation gefährdet, erhöht dies die Gefahr, dass über Abwertung versucht wird, die eigene Identität wieder aufzuwerten.Footnote 131 Öffentliche Diskurse, die Polizeiarbeit kritisch hinterfragen, aber auch interne Konflikte können dies auslösen, was GMF zur Wiederherstellung einer positiven sozialen Identität wahrscheinlicher macht.

These 4: Die Vorurteils-, also auch GMF-reduzierende Wirkung von spezifischen gleichwertigen Formen des Kontakts mit als ungleichwertig markierten GruppenFootnote 132 ist auch in der Polizei wirksam, wie es die GMF-Forschung nahelegt. Einseitig konflikthafte berufliche Interaktionen mit markierten Minderheitengruppen als polizeiliches Gegenüber befeuern die bekannten Mechanismen und fördern eine Einstellung, die in den frühen Studien der 90er Jahre bereits als „resignativer Fremdenskeptizismus“Footnote 133 beschrieben wurde.Footnote 134 Interventionen gegen GMF in der Polizei können dann an ein großes, bestehendes und wissenschaftlich begleitetes Repertoire an vorurteilreduzierenden Kontakt-Interventionen z. B. in Schulen, Nachbarschaften oder BetriebenFootnote 135 zurückgreifen und diese auf den Polizeikontext übertragen.

These 5: Soziale Anerkennung von Polizist:innen, wie sie aus der Perspektive der Stressforschung und den oben genannten Theorien dargestellt wurde, könnte einen bedeutenden Einfluss auf die Abwertung von Minderheiten durch Polizist:innen haben. Neben der Identifikation mit der eigenen Berufsgruppe, wie bereits oben ausgeführt, spielt auch die soziale Anerkennung innerhalb der beruflichen Kontexte eine ausschlaggebende Rolle mit Blick auf das soziale Motiv der Zugehörigkeit. Anerkennungsverletzungen begünstigen demnach das Bedürfnis nach Wiederherstellung von Anerkennung, das subkulturspezifisch über Abwertung, z. B. in Form von menschenfeindlichen Gruppenchats, zu erreichen versucht wird. Der berufliche Kontext Polizei weist dabei besondere Spezifika auf, die es zu berücksichtigen gilt.

Die genannten Thesen enthalten bereits wichtige Impulse für die Prävention und Möglichkeiten für die Entwicklung von Schutzfaktoren gegen menschenfeindliche Tendenzen bei der Polizei. Es ist angesichts der Fakten und der vielen Hinweise über die Wechselwirkungen zwischen gesellschaftlichen Stimmungen und polizeilichen Arbeitsbedingungen geraten wie möglich, ein zuverlässiges Präventionssystem zu entwickeln und nicht nur an den Symptomen zu operieren und sich auf disziplinarrechtliche Maßnahmen zu verlassen. Dazu allerdings wäre es wünschenswert, diese Prävention auf viel mehr und umfangreichere Forschung zu stützen, damit wir bessere evidenzbasierte Vorschläge machen können als jene, die wir in diesem Beitrag angeboten haben.