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Thema unseres Beitrags ist der Zusammenhang zwischen polizeilichen Praxen und der öffentlichen Aushandlung natio-ethno-kultureller ZugehörigkeitsordnungenFootnote 1. Rassismus verstehen wir als Ungleichheitsverhältnis, das auf allen Ebenen von Gesellschaft wirkt. Entsprechend können wir zunächst recht unaufgeregt folgern, dass auch polizeiliche Praxen auf rassistische Wissensbestände zurückgreifen können und zurückgreifen. Dies geschieht auf eine institutionalisierte Art und Weise, „in bestimmte[n] routinierte[n] Abläufe[n], Praktiken und Verfahren“Footnote 2, wie in diesem Sammelband an verschiedenen Stellen erläutert wird. Dadurch wiederum reproduzieren Polizeien Rassismen auf eine für die Gesellschaft und ihre Mitglieder ausgesprochen wirkungsvolle Weise.

1 Die Besprechbarkeit von institutionellem Rassismus

1993 wurde der damals 18jährige Schwarze Brite Stephen Lawrence aus rassistischen Motiven getötet. Das polizeiliche Handeln und die Ermittlungen der Polizei und der Strafverfolgungsbehörden nach seinem Tod waren rassistisch geprägt. In den Folgejahren wurde durch den enormen öffentlichen Druck und den Nachweis von Ermittlungsfehlern schließlich eine unabhängige Untersuchung angeordnet. Nach zwei Jahren umfassender Arbeit wurden zahlreiche (unbewusste) Prozesse der Diskriminierung aufgespürt und vermeintlich neutral wirkende Gesetze, Verhaltensweisen oder Praktiken als strukturell diskriminierend entlarvt.

In dem sogenannten Macpherson Report wird institutioneller Rassismus definiert als „The collective failure of an organisation to provide an appropriate and professional service to people because of their colour, culture, or ethnic origin. It can be seen or detected in processes, attitudes and behaviour which amount to discrimination through unwitting prejudice, ignorance, thoughtlessness and racist stereotyping which disadvantage minority ethnic people.Footnote 3 Die klare Benennung von institutionellem Rassismus und die daraus abgeleiteten Handlungsempfehlungen gelten als ein bedeutender Moment der modernen Rechtsprechung in Großbritannien und führten u. a. zu konkreten Änderungen innerhalb der britischen Polizei und zur Modernisierung vieler Bereiche des Strafjustizsystems.Footnote 4 Während wir das schreiben, denken wir zugleich unweigerlich an die Ermittlungen zu den Morden an Enver Şimşek, Abdurrahim Özüdoğru, Süleyman Taşköprü, Habil Kılıç, Mehmet Turgut, İsmail Yaşar, Theodoros Boulgarides, Mehmet Kubaşık und Halit Yozgat und den Umgang mit den Ermittlungsverfehlungen gegen den NSU.Footnote 5

Ein Verständnis von Rassismus als gesellschaftliches Verhältnis setzt sich in den letzten Jahren zunehmend durch. Geht es allerdings um Polizeien, herrscht noch häufig eine andere Betrachtungsweise. Als die Bundesvorsitzende der SPD Saskia Esken im Juni 2020 angesichts der weltweiten Proteste gegen Polizeigewalt feststellte, dass es auch in Deutschland „latenten Rassismus in den Reihen der Sicherheitskräfte [gibt], die durch Maßnahmen der Inneren Führung erkannt und bekämpft werden müssen“Footnote 6 und eine unabhängige Stelle für Beschwerden gegen Gewalt und Rassismus bei der Polizei einzurichten forderte, war die Empörung über alle Parteien hinweg groß. Linken-Fraktionschef Dietmar Bartsch nahm etwa die Polizei in Schutz: „Die Polizei unter den Generalverdacht des Rassismus zu stellen und damit eine ganze Berufsgruppe in Misskredit zu bringen, ist falsch“. Der CDU-Innenpolitiker Wolfgang Bosbach sagte, es sei „völlig abwegig, unsere Polizei pauschal unter Generalverdacht des latenten Rassismus zu stellen“, und SPD-Parteikollegin und Bundesjustizministerin Lambrecht bekundete, dass die „absolute Mehrheit der Polizistinnen und Polizisten in Deutschland […] mit Rassismus absolut nichts am Hut“ habe.Footnote 7 Dabei bedeutet Rassismus als Machtverhältnis ernst zu nehmen, eben nicht (oder doch nicht vorrangig) Rassist:innen unter Polizist:innen auszumachen.Footnote 8

„Rechtsextreme“ Einstellungen und Gewalt in der Polizei sind keine Einzelfälle. Öffentlich gewordene Skandale wie „NSU 2.0“, „Nordkreuz“ und die zahlreichen rechtsextremen Chatgruppen von Polizist:innen, die allein in jüngerer Vergangenheit bekannt geworden sind, zeigen das eindrücklich. Entsprechend wichtig ist es diese Fälle zu thematisieren und deutlich in einen Zusammenhang mit dem Rassismus in dieser Gesellschaft zu stellen und im Hinblick auf seine Wirkung auf die Gesellschaft nicht zu vernachlässigen.

Zu fragen ist aber nicht ausschließlich nach dem intendiert schädigenden Verhalten von Polizist:innen gegenüber Rassifizierten.Footnote 9 Polizeien institutionalisieren Rassismus unter anderem, insofern sie polizeiliches Handeln anhand von rassistischen Unterscheidungen ermöglichen und manchmal auch nahelegen.Footnote 10 Schwerpunkt dieses Beitrags sind gerade die so normalisierten rassistischen Praxen und deren Wirkungen auf gesellschaftliche Verhältnisse und Subjekte. Diese Wirkungen auszumachen ist angesichts vielfältiger Wechselbeziehungen zwischen unterschiedlichen Ebenen von Rassismus allerdings herausfordernd. „[D]ie Organisationsebene [steht] im wechselseitigen Austausch mit der individuellen Mikroebene sowie der gesellschaftlichen Makroebene […] und [durchläuft] auf diese Weise ebenfalls in einem bestimmten Zeitverlauf gewisse Anpassungsprozesse […], da sich beispielsweise rassistische Diskurse auf der Makroebene in Praktiken auf der Organisationsebene übersetzen, Gesetze Veränderungen in bestimmten Abläufen hervorrufen oder sich individuelles Verhalten unter bestimmten Umständen auf die Organisationskultur auswirken kann.“Footnote 11

Auch die fehlende Anerkennung rassistischer Verhältnisse aus Angst vor der Diskreditierung von Polizist:innen und die damit verbundene Hemmung einer kritischen Auseinandersetzung mit der Institutionalisierung von Rassismen in Polizeien hat Auswirkungen auf Polizeien und auch auf die Wirkung ihrer Praxen auf Gesellschaft. Rassistische Polizeipraxen konstruieren ein dominanzgesellschaftlichesFootnote 12 „wir“ und sein „Anderes“. Das ist kein Alleinstellungsmerkmal von Polizeien, im Gegenteil. Aber stärker noch als auf anderen gesellschaftlichen Ebenen von Rassismus reproduziert sich im institutionellen Rassismus der Polizeien ein Sicherheitsdispositiv, das auch Wirkung entfaltet, wenn und wo Polizeien abwesend sind, erst recht, wenn kritische Interventionen fehlen.

2 Die polizeiliche Konstruktion des „Anderen“

2.1 Die äußeren „Anderen“ – polizeiliche Veranderung durch Grenzschutz

Grundlegend für Rassismus ist die Unterscheidung zwischen einem konstruierten „wir“ und den „Anderen“ anhand von natio-ethno-kulturellen Grenzziehungen. Polizeien folgen in ihrem Handeln häufig entsprechenden Zugehörigkeitsordnungen und reproduzieren sie so. Das ist zunächst überraschend. Die verfassungsrechtliche Gleichheit aller Menschen ist ein Grundsatz, an dem sich polizeiliches Handeln messen lassen muss. Polizeien gehören zur Exekutive, haben auf Grundlage von Entscheidungen der Legislative, und damit rechtlich verankerten demokratischen Werten zu handeln. Die Staatsgewalt geht „vom Volke“ aus (Art. 20 GG).Footnote 13

Allerdings ist bereits die Gesetzeslage in Deutschland wie andernorts auf der Welt auf eine Weise gestaltet, die zwischen Staatsangehörigen und Menschen ohne deutsche Staatsangehörigkeit unterscheidet, die also ein Volk, von dem Staatsgewalt ausgehen könnte, zuallererst formt. Das deutsche Rechtssystem, das die allgemeinen Menschenrechte zu sichern verspricht, ist außerdem bekanntlich nicht für alle Menschen gleichermaßen zugänglich. Polizeien, wie bspw. die Bundespolizei, die Ausweisungen durchführen, machen die Gewalt nationalstaatlicher Logiken sichtbar.Footnote 14 Das polizeiliche Vorgehen in einer Erstaufnahmeeinrichtung für Geflüchtete in Ellwangen 2018 bspw. zeigt eindrücklich wie sicherheitspolitische Maßnahmen unterschiedliche Rechte zuweisen und eine aus dominanzgesellschaftlicher Perspektive als bedroht imaginierte Ordnung mitunter auch gewaltsam zu fixieren versuchen. Aino Korvensyrjä fasst die Ereignisse folgendermaßen zusammen: „500 bis 600 teils schwerbewaffnete Beamt:innen drangen gegen 5 Uhr morgens in die Schlafräume der Bewohner:innen, warfen etwa 300 Personen aus dem Bett, fesselten sie mit Kabelbindern und durchsuchten die Zimmer. Viele wurden festgenommen und später von der Justiz wegen angeblichen Widerstandshandlungen kriminalisiert. Für die Behauptung der Polizei, Schwarze Bewohner:innen der LEA hätten drei Tage zuvor eine Dublin-Abschiebung eines Togolesen nach Italien ‚mit Gewalt‘ verhindert und außerdem ‚Waffen‘ gehabt, fanden sich später keine Belege.“Footnote 15

Die Mittel bei Polizeieinsätzen finden in einem Ermessensspielraum statt, der nicht zufällig gefüllt wird. Wenn Polizeien Veranderte „anders“, und das meint hier schlechter, behandeln, dann nicht nur, weil die juristischen Rahmenbedingungen gesellschaftlicher Hierarchisierungsprozesse das im Vornherein ermöglichen, sondern auch in Erwartung einer nachträglichen Bestätigung ihres sich an gesellschaftlichen Grenzziehungen orientierenden Handelns. „Die Arbeit des Polizisten besteht also darin, in dem Moment, in dem er in Interaktion tritt, das politische Mandat abzuschätzen, das ihm die Gesellschaft [und wir möchten spezifizieren: die Dominanzgesellschaft] verleiht.“Footnote 16 Das polizeiliche Vorgehen in Ellwangen setzte bspw. voraus, dass in Erstaufnahmeeinrichtungen in Baden-Württemberg nicht der Schutz der Wohnung gilt. Bestätigt wurde das juristisch erst im Nachhinein.

Die polizeiliche Markierung der Bewohner:innen der Erstaufnahmerichtung als gefährlich, eine Verfolgung „mit aller Härte und Konsequenz“ bedürfend (Seehofer)Footnote 17, ist getragen von einem gesellschaftlichen Rassismus, der zwischen einem nationalstaatlich gedachten deutschen „wir“ und den „Anderen“ unterscheidet. Zugleich speist das polizeiliche Deuten und Handeln wiederum rassistisches Wissen in gesellschaftliche Veranderungsdiskurse. Eine „imperiale Lebensweise“Footnote 18, die auf weltgesellschaftliche Ausbeutungsverhältnisse ebenso wenig wie auf ein Gefühl der moralischen Überlegenheit verzichten will, sucht Bestätigung unter anderem durch die Kriminalisierung der Veranderten. Das hat Paul Mecheril im Hinblick auf die Ereignisse rund um die Kölner Silvesternacht 2015/2016 herausgearbeitet.Footnote 19 Auch hier diente das Bild des unkontrollierbar gefährlichen „anderen Mannes“ zur Legitimation von restriktiver Asylpolitik. Auch hier hatte Polizei Anteil an der Produktion entsprechender öffentlicher Bilder (Stichwort: Nafri).

2.2 Die inneren „Anderen“ – polizeiliche Veranderung durch Kriminalisierung

Polizeien spielen nicht nur eine wichtige Rolle bei nationalstaatlichen Grenzziehungen auf Grundlage rechtlicher Ungleichbehandlung von Menschen und damit der Produktion äußerer „Anderer“. Sie markieren auch Grenzen, die sich weniger durch Gesetze als aus der tief in diese Gesellschaft eingeschriebenen rassistischen Imagination eines weißen deutschen Volkes erklären.

„All das Gerede von europäischem Zusammenschluss Fahr ich zur Grenze mit dem Zug oder einem Bus Frag ich mich warum ich der Einzige bin, der sich ausweisen muss Identität beweisen muss“

Die Erfahrung, die in dem berühmten Lied von Advanced Chemistry „Fremd im eigenen Land“ bereits 1995 geschildert wurde, ist (zumindest bei rassifizierten Menschen) allgemein bekannt und wird gerade durch die beständige Arbeit von Migrantisierten in die Öffentlichkeit getragen. Der rechtmäßige Aufenthalt phänotypisch als „Andere“ wahrgenommener Personen wird insbesondere in staatlichen Grenzregionen regelmäßig angezweifelt. Als potenziell Illegale und Nichtzugehörige wird ihnen mit gesonderten Sicherheits-, Überwachungs- und Kontrolltechniken begegnet. Ein solches selektives polizeiliches Handeln führt letztlich dazu, dass People of Color und Schwarze beständig als Fremde markiert, rassifiziert und aus einer als homogen vorgestellten Gemeinschaft herausdekliniert werden. Polizeien folgen und manifestieren so Logiken einer durch Rassismus strukturierten Gesellschaft, deren Wurzeln in einem kolonialzeitlichen Verständnis von weißem Europäischsein und in völkischen Zugehörigkeitsdenken liegen.Footnote 20

Historische Kontinuitäten zeigen sich auch in der polizeilichen Reproduktion von Rassismus gegen Sinti:zze und Rom:nja. Bereits die rassistische Fremdbezeichnung für Sinti:zze und Rom:nja ist eng mit ihrer Kriminalisierung verbunden.Footnote 21 Weil nach wie vor rassistische Zuschreibungen Beurteilungen bestimmten, wurden noch bis 1965 die nationalsozialistischen Verbrechen an ihnen in Teilen zu rechtfertigen versucht.Footnote 22 Auch die rassistische Sondererfassung von Sinti:zze und Rom:nja wurde nach 1945 fortgeführt. „Antiziganistische Wahrnehmungs- und Deutungsmuster sind tief in behördlichen, hier: polizeilichen Alltagsroutinen verankert und werden unreflektiert von einer Beamtengeneration an die nächste weitergeben. Im Falle der polizeilichen Zigeuner-Erfassung verwendeten die Beamten über Jahrzehnte hinweg die gleichen schematisierten Kategorien, die sich in standardisierten Formularen oder Karteikarten niederschlugen.“Footnote 23

OtheringFootnote 24 ist eine wichtige Funktionsweise von Rassismus. In Veranderungsprozessen werden Gruppen konstruiert, homogenisiert und hierarchisiert. Dies geschieht auch durch polizeiliche Markierungen als potenziell gefährlich. Ein aktuelles Beispiel dafür ist die sogenannte Clankriminalität. Die generelle Lesart und spezifisch diffamierende und stigmatisierende Rahmung bestimmter Verbrechen als Clankriminalität geht zwar nicht nur, aber eben auch auf polizeiliches Handeln und Sprechen zurück.Footnote 25 Dadurch, dass Polizeien allgemeine Gesetze in konkreten Situationen zur Anwendung bringen, besitzen sie eine eigenständige Definitionsmacht.Footnote 26 Indem die Polizei die Aufnahme von Anzeigen ebenso verantwortet wie die Kategorisierung von Straftaten, bestimmt sie auch die öffentliche Wahrnehmung dessen, was als Kriminalität gelten kann.Footnote 27 Ein eindrückliches Beispiel hierfür ist die Erfassung von Delikten wie mehrfachem Schwarzfahren von Jugendlichen aus Familien, die als Clans rassistisch markiert werden, als „Clankriminalität“.Footnote 28

Was als Clankriminalität öffentlich verhandelt wird, ist aus kriminalistischer Perspektive eine Randerscheinung. Ganz sicher jedenfalls erklärt hier Quantität keinesfalls die gesellschaftliche Aufmerksamkeit, die diesem Phänomen zuteilwird. Stereotypisierungen sind eine wichtige rassistische RepräsentationspraxisFootnote 29 und im Bild des Clanmitglieds, das in Serien wie Skylines und 4 Blocks aufgerufen wird, finden sich rassistische Archetypen, die Gefühle zu mobilisieren in der Lage sind. Auf die durch entsprechende gesellschaftliche Erzählungen erzeugten Ängste wiederum reagiert bspw. Politik („gemeinsam gegen Clankriminalität“ (CDU))Footnote 30, aber eben auch Polizeien. Auf die Frage, wessen Sicherheitsempfinden hier in polizeilichem Handeln Berücksichtigung findet, kommen wir später zurück. Aber durch eine Politik der „tausend Nadelstiche“Footnote 31 soll nicht nur Stärke gegenüber Tatverdächtigen signalisiert werden, sondern auch zur Beruhigung einer beunruhigten Öffentlichkeit beigetragen werden. Die dieser Politik folgenden z. T. öffentlichkeitswirksam begleiteten Polizeirazzien tragen entsprechend wenig zur Aufklärung von Straftaten bei, umso mehr aber zu einer Kriminalisierung migrantisierter Orte.Footnote 32 Durchgeführt wurden solche Razzien vornehmlich in Wettbüros, Spielhallen und Shishabars.Footnote 33 Die öffentliche rassistische Markierung von Shishabars findet einen grausamen Ausdruck in dem Attentat von Hanau.

Von der Kriminalisierung von Orten sind insbesondere migrantisch geprägte Stadtteile betroffen, die von dominanzgesellschaftlichen Raumnutzungsvorstellungen abweichen. Der abstrakten Gefahr durch migrantisierte „Andere“, dem entstehenden Unsicherheitsgefühl, der Kriminalitätsfurcht und dem imaginierten territorialen Kontrollverlust weiß-bürgerlicher Milieus wird mit polizeilicher Praxis entgegenzuwirken versucht.Footnote 34 So werden etwa durch die Polizei bestimmte Gefahrenzonen identifiziert und als sogenannte „gefährliche“ oder „verrufene Orte“ ausgewiesen.Footnote 35 Die wiederum legitimieren verdachtsunabhängige Kontrollen, von denen vorwiegend Migrantisierte betroffen sind.Footnote 36

Rassistische polizeiliche Logiken und Praxen sind Teil gesellschaftlicher Rassismen und nicht losgelöst von ihnen zu betrachten.Footnote 37 Rassismen speisen sich aus unterschiedlichen Quellen und sind tief in das kulturelle Gedächtnis einer Gesellschaft eingeschrieben. Polizeien wird vor diesem Hintergrund ein Raum eröffnet, der sowohl bei der Strafverfolgung als auch der Kriminalitätsprävention rassistisches Handeln, eben auch racial profiling, ermöglicht. Die „differentielle Adressierung der Bevölkerung“Footnote 38 prägt wiederum gesellschaftliche Wahrnehmungsmuster. „Eine bestimmte Gruppe wird in der institutionellen Praxis durch Schließungen sichtbar gemacht, sie wird zu einer ‚Positivität‘“Footnote 39 Die Wirkmächtigkeit gerade polizeilichen Handelns für die öffentliche Wahrnehmung ist nicht zu unterschätzen. Immerhin institutionalisieren Polizeien das staatliche Gewaltmonopol und zugleich Rassismus.

3 Die Polizei als primary definer

Die Wirkmächtigkeit polizeilichen Handelns für die öffentliche Wahrnehmung wird außerdem dadurch verstärkt, dass die Deutungsmacht der Polizeien nicht nur deren eigene Handlungslogiken bestimmt, sondern auch durch Öffentlichkeitsarbeit nach außen getragen wird. Polizeien kommt als „primary definer“Footnote 40 eine besondere Rolle in der Deutung und Beschreibung von Kriminalität und Kriminalisierten, aber auch in der Darstellung ihrer eigenen Maßnahmen zu. Sie besitzen eine „zunehmend machtvolle Sprecher*innenposition in der Öffentlichkeit“Footnote 41.

So wurden bspw. für die Razzien gegen „Clankriminalität“ Medien immer wieder von der Polizei gezielt miteinbezogen und bereits im Vorfeld informiert.Footnote 42 Und auch wenn die Verhältnismäßigkeit des oben beschriebenen Einsatzes in der Erstaufnahmeeinrichtung in Ellwangen bald diskutiert wurde, dominierten 2018 Darstellungen vonseiten der Polizei die damalige Berichterstattung und damit auch die öffentliche Wahrnehmung. Bei einem Machtgefälle wie diesem, deutsche Polizist:innen auf der einen Seite, Bewohner:innen einer Erstaufnahmeeinrichtung auf der anderen, verwundert eine vorwiegend durch Polizei geprägte öffentliche Wahrnehmung wenig.

Rassismus geht nun aber eben mit Machtungleichheiten einher. Betroffene rassistischer Polizeigewalt erhalten deshalb gerade aufgrund öffentlicher rassistischer Darstellungen häufig nicht die Solidarität, die sie verdienen. Erinnert sei hier an die Tode von Achidi John und Laye-Alama Condé durch den polizeilichen Einsatz von Brechmitteln. Obwohl der Europäische Gerichtshof diese Praxis bereits zur verbotenen Folter erklärt hatte, wurde sie noch in den frühen 2000er Jahren in bestimmten Fällen bei unter Verdacht des Drogenhandels stehenden Personen angewandt.Footnote 43 Der öffentliche Protest dagegen war marginal. Hier stellt sich die Frage, welcher Zusammenhang zu der öffentlichkeitswirksamen Kriminalisierung Schwarzer Männer über das Stereotyp des Drogendealers besteht und welche Rolle dabei wiederum die Öffentlichkeitsarbeit der Polizeien einnimmt.

Sowohl in Pressemitteilungen als auch in Stellungnahmen von Polizeigewerkschaften explizieren sich regelmäßig die rassistischen Wissensbestände, aus denen polizeiliche Praxen schöpfen und werden dadurch umso mehr Teil öffentlicher Diskurse. So kann etwa die vorherrschende rassistische Berichterstattung über Rom:nja auch als Folge von Polizeiberichten verstanden werden.Footnote 44 In für die Presse zusammengestellten Hintergrundinformationen über eine Trickdiebstahlmethode formulierte bspw. die Polizeiinspektion Lüneburg 2013: „‚Budscho‘ bedeutet in der Roma-Sprache ‚Beutel, Tasche, Bündel’ und bezeichnet einen Modus Operandi, den nahezu alle traditionell lebenden Roma-Frauen vom Ablauf her beherrschen.“Footnote 45 Auch Begriffe wie „Nafri“ und „Clankriminalität“ machen die Notwendigkeit einer stärkeren Sensibilität für die Gewalt eines solchen Sprechens und darauf aufbauenden Handelns deutlich.

4 Sicherheit im „Wir“

Die Wirkung polizeilicher rassistischer Praxen auf Gesellschaft ist nicht ungebrochen. Das zeigt Black Lives Matter als die wohl größte Bürgerbewegung der US-Geschichte. Zugleich hat die Mehrheit der deutschen Bevölkerung großes Vertrauen in die Polizei.Footnote 46 Das allein entlastet aber keinesfalls von dem Eindruck, dass auch in Polizeien in Deutschland Rassismen institutionalisiert sind. Vielmehr ist gerade die Normalisierung von Herrschaftsverhältnissen Teil rassistischer Wirkweisen. Indem weißes bürgerliches Erleben als Norm gesetzt und andere Erfahrungen marginalisiert werden, finden polizeiliche Praxen, die weißes bürgerliches Leben wichtiger nehmen, ihre Legitimation. Weiße bürgerliche Perspektiven sind dann nicht deshalb Richtschnur polizeilichen Handelns, weil bewusst und entschieden rassistische (und klassistische) Einstellungen vorherrschen, sondern weil diese Perspektiven in einer rassistisch strukturierten Gesellschaft als die richtigen erscheinen. Die polizeiliche Institutionalisierung der Dominanz weißer bürgerlicher Perspektiven wiederum ist angesichts der polizeilichen Exekutivfunktion des staatlichen Gewaltmonopols und ihrer Kontroll- und Sanktionsmacht von immenser gesamtgesellschaftlicher Bedeutung. Polizeien handeln nach dem dominanzgesellschaftlich imaginierten Willen eines imaginierten Volkes. Zugleich ist, was ein schützenswertes Subjekt dieses Volkes ist, auch durch die entsprechende Adressierung durch die Polizei bestimmt. Es sind Polizeien, die Abweichungen von der einmal gesetzten (weißen bürgerlichen) Norm sanktionieren. Im unmittelbaren Zusammenhang mit einem Dessauer Polizeigewahrsam starben vor Oury Jalloh bereits zwei Menschen: Hans-Jürgen Rose und Mario Bichtermann. Bichtermann war obdachlos. Er starb aus bisher ungeklärten Ursachen.

Die Begegnung mit der Polizei kann zur existenziellen Bedrohung werden. Die Wahrscheinlichkeiten dafür sind allerdings sehr unterschiedlich gelagert und von der Positionierung in der Gesellschaft abhängig. Diesen Unterschied macht Noah Sow deutlich: „Menschen ohne Migrationshintergrund. Erkennbar daran, dass sie selbst mit verfilzten Haaren und in Batikklamotten noch frech zu einem Polizisten werden können.“Footnote 47 Und tatsächlich herrscht in der Polizeipraxis ein differentieller Blick vor, der vorwiegend unter rassistischen und klassistischen Gesichtspunkten Teile der Bevölkerung als Fremdkörper und potenzielle Unruhestifter:innen wahrzunehmen nahelegt. Ein solcher Ausschluss aus der Dominanzgesellschaft bedeutet einen Ausschluss aus dem Sicherheitskollektiv. Für diese Menschen resultieren regelmäßig Ungleichbehandlungen, die nicht selten auch in Entwürdigungen münden. Ein solches stets erdenkliches (Gefahren-)Szenario steht im Raum und wirkt auf ihn und die Raumpraxis der darin befindlichen Körper. Für die durch die staatliche Praxis der Rassifizierung und Kriminalisierung Betroffenen sind die sozial geschaffenen Grenzen ihrer Körper und ihre Verletzlichkeit präsent. Das eigene Verhalten richtet sich entsprechend aus. Die zugleich vorherrschende Ignoranz der Dominanzgesellschaft und die massiv eingeschränkten Möglichkeiten der Sichtbarmachung dieser dehumanisierenden Praxis können als „slow violence“ (Nixon) charakterisiert werden.Footnote 48

Polizeiliche Gewaltmaßnahmen, die minorisierte Orte und minorisierte Menschen kriminalisieren, legen wiederum Mitgliedern der Dominanzgesellschaft nahe sich in Dominanzräumen und in Dominanzverhalten einzurichten. Dabei ist es aber nicht der äußerliche Druck allein, der abweichendes Verhalten verhindert. Ein „Sicherheitsdispositiv“Footnote 49, das auch durch polizeiliche Reglementierungen formiert wird, provoziert Selbstregulierungen der einzelnen.Footnote 50 „Die Angehörigen der Mehrheitsgesellschaft wissen nicht nur, dass sie sich in Polizeipräsenz ungehindert bewegen können, sondern auch, dass sie Zugang zu den polizeilichen Zwangsmitteln haben, um ihre Ordnung zu schützen. Dies erlaubt es ihnen, die Deutungen der Polizei zu akzeptieren und fabriziert eine emotionale Investition in die Polizei.“Footnote 51

Die Anrufung durch die Polizei als Teil eines schützenswerten „wir“ dieser Gesellschaft, die besonders erfährt, wer weiß und bürgerlich ist, geht mit einer Wendung einher, die den Blick auf die richtet, die als die „Anderen“ als potenziell bedrohlich imaginiert werden.Footnote 52 Die vermeintliche Bedrohlichkeit Rassifizierter wird immer wieder öffentlichkeitswirksam in den Blick genommen. Das auf die „Anderen“ blickende „wir“ gewinnt dadurch allen Offenkundigkeiten des Gegenteils zum Trotz ein Gefühl von Reinheit und Unschuld.Footnote 53 Entsprechend heißt es bekanntlich in einer im Rahmen der Ermittlungen zu den Morden des NSU in Baden-Württemberg erstellten operativen Fallanalyse: „[…] vor dem Hintergrund, dass die Tötung von Menschen in unserem Kulturraum mit einem hohen Tabu belegt ist, ist abzuleiten, dass der Täter hinsichtlich seines Verhaltenssystems weit außerhalb des hiesigen Normen- und Wertesystems verortet ist.“Footnote 54

Die gemeinsame Blickrichtung formt den Ort, von dem aus geblickt wird. Ein „wir“ entsteht, das seine Überzeugungskraft auch Zugehörigkeitsgefühlen verdankt. Polizeiliche Maßnahmen bspw., die Menschen verandern und kriminalisieren, lenken gerade auch Gefühle. Wenn auf Grundlage rassistischen Sprach- und Verstandesgebrauchs Verbrechen als die originären Verbrechen der „anderen“ zu denken nahegelegt wird, wenn folk devils konstruiert werden, ist die moral panic nicht weit.Footnote 55 Und die geht durch die Körper. Nur stellt sich auch hier wieder die Frage, durch wessen.

5 Fazit

In dem vorliegenden Artikel setzen wir uns mit der Wirkung rassistischer Polizeipraxen auf öffentliche Wahrnehmungen auseinander. Dabei wollten wir zunächst vermeiden, das Bild einer homogenen Öffentlichkeit zu zeichnen. Offenkundig wirkt polizeiliches Handeln auf verschiedene Teilöffentlichkeiten sehr unterschiedlich. Um dem gerecht zu werden, ist eine Berücksichtigung der Ungleichheitsachse race bei weitem nicht ausreichend. Gerade auch Migrantisierten ist es zu verdanken, dass dominanzgesellschaftliche Wahrnehmungsroutinen sich nicht mehr ohne weiteres universalisieren lassen.Footnote 56 Individuen werden in unserer Gesellschaft auf sehr unterschiedliche Weise subjektiviert und das auch, und nicht zuletzt, aufgrund polizeilicher Praxen. Rassistische und rassifizierende Polizeipraxen folgen dabei in Deutschland Imaginationen von Volkszugehörigkeit, die sie zugleich stabilisieren. Die damit einhergehende Versicherheitlichung, das Sicherheitsdispositiv wiederum betrifft alle Mitglieder der Gesellschaft, wird aber gerechtfertigt mit Verweis auf den äußeren und auch den inneren „Anderen“. Dies ohne hohe Kosten unbesprochen zu lassen, ist entsprechend wiederum ein Privileg, das vornehmlich weiße Menschen in dieser Gesellschaft genießen. Insofern Polizeien das Gewaltmonopol des Staates ausüben, kommt ihnen eine besondere Verantwortung zu, sich mit der eigenen Verstrickung in Rassismen und andere Ungleichheitsverhältnisse auseinanderzusetzen. Das Volk, das Uneine, wiederum trägt die Verantwortung Polizeien darin durch beständige Kritik zu unterstützen.