Zusammenfassung
Rassistisches Polizieren produziert vielschichtige Formen von Gewalt, die durch institutionelle Verschränkungen verstärkt werden. Der Beitrag diskutiert auf Grundlage der Wissensbestände und Archive von betroffenen Personen und unterstützenden Initiativen die Erfahrungen, Umgangsweisen und Interventionen gegen rassistisches Polizieren. Am Beispiel von Racial Profiling sowie von Tötungen schwarzer Menschen in Deutschland werden die vielschichtigen und strukturellen Formen institutioneller Gewalt in den Blick genommen und diskutiert. Abschließend werden Umgangsweisen und Interventionspraktiken vorgestellt.
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Schlüsselwörter
1 Einleitung
Die globalen Black Lives Matter Proteste gegen rassistische Polizeigewalt im Jahr 2020, die auf die Ermordung von George Floyd, Breonna Taylor und Tony McDade in den USA folgten und auch in Europa die historisch größten anti-rassistischen Mobilisierungen in Gang gebracht haben, haben auch Rassismus als gesellschaftliches Verhältnis in Deutschland erneut thematisiert. Dabei ist wichtig zu beachten, dass die Proteste und Mobilisierungen aufzeigten, was bereits seit Jahrzehnten von migrantischen, rassifizierten und anti-rassistischen Gruppen, Initiativen, Menschenrechtsorganisationen und einigen kritischen Wissenschaftler:innen auch in Deutschland betont, analysiert und eingefordert wird. Zudem haben vor allem die anti-rassistischen Formationen und Initiativen der letzten Jahre der Ermöglichung dieser breiten Proteste und Mobilisierungen den Weg geebnet, da viele Protestierende auf ihre langjährige Arbeit aufbauen konnten. So war es möglich, dass hiesige Fälle von rassistischem Polizieren und die Verschränkungen mit weiteren Institutionen wie Justiz und den Medien weiter in den gesellschaftlichen Diskurs getragen werden konnten. Dabei wurden im Rahmen der Proteste und Kampagnen vor allem zwei Dinge hervorgehoben, wenn sie auch gesamtgesellschaftlich, medial und politisch stets wieder eingehegt werden sollten: Dass es sich bei rassistischem Polizieren nicht um „Einzelfälle“ handelt und dass rassistisches Polizieren über das „Ereignis“ (bspw. die Kontrolle oder die Verhaftung) hinausgeht.
Dies macht besonders die Auseinandersetzung mit Erfahrungen des rassistischen Polizierens und den Perspektiven der betroffenen PersonenFootnote 1 sowie unterstützenden Initiativen deutlich, die auf die vielschichtigen und strukturellen Formen von Gewalt durch rassistisches Polizieren hinweisen, und auf die ich in diesem Beitrag den Fokus lege. Dabei diskutiere ich Erfahrungen rassistischen Polizierens sowie Umgangsweisen und Interventionspraktiken in Deutschland, basierend auf der Auseinandersetzung mit einigen der Archive und Wissensbeständen betroffener Personen und unterstützenden Initiativen sowie eigener ethnographischer Forschung zu rassistischem Polizieren und Widerständen.Footnote 2 In einem ersten Teil diskutiere ich Erfahrungen und Folgen rassistischen Polizierens für betroffene Personen und gehe dabei auch auf die intersektionalen Artikulationsweisen dieser Gewalt und ihre Folgen ein. Unter Bezugnahme von Rob Nixons Konzept der „langsamen Gewalt“Footnote 3 und mit Fokus auf die Praxis des Racial Profiling diskutiere ich die vielschichtigen Konsequenzen für betroffene Personen. In einem zweiten Teil wird Racial Profiling in einem breiteren Sinne und auch mit Bezug auf tödliche Formen rassistischen Polizierens in den Blick genommen. Auf Grundlage von Erfahrungsberichten von betroffenen Personen und anti-rassistischen Initiativen argumentiere ich, dass Erfahrungen rassistischen Polizierens weit über die Institution Polizei hinausgehen, auf die Verschränkung von Polizei und weiteren staatlichen sowie nicht-staatlichen Institutionen (wie bspw. den Medien) und Strukturen verweisen und daher auch Ausgangspunkte für eine gesamtgesellschaftliche Auseinandersetzung und Kritik liefern. Im dritten Teil gehe ich auf Umgangsweisen und Interventionspraktiken ein, die ich als Teil radikal demokratischer Formationen diskutiere.
Die Fokussierung auf die Archive und Wissensbestände von betroffenen Personen und unterstützenden Initiativen verweisen jedoch nicht nur auf die vielschichtige und strukturelle Gewalt durch rassistisches Polizieren, sondern auch auf eine nötige Reflektion des Umgangs mit alternativen Wissensbeständen, die zuvor auch von unterschiedlichen Teilen der kritischen Forschung marginalisiert oder schlichtweg nicht ernst genommen wurden. Problematisch an einer solchen Haltung kann sein, dass diese nicht nur eine bloße Hierarchisierung von Wissensbeständen befördert, anstatt das Verhältnis zwischen Wissensformen sowie zwischen Wissenschaft, Aktivismus, sozialen Bewegungen und Zivilgesellschaft in den Blick zu nehmen (wie es bspw., wenn auch auf unterschiedliche Weise, in den Black Studies, transnationaler kritischer Rassismusforschung, anti- sowie post-kolonialen, materialistischen und feministischen Theorien vorgenommen wird). Zudem spiegelt sie die Konjunktur des epistemischen RassismusFootnote 4 in Deutschland wider. Diese Haltung hat jedoch auch gesellschaftliche Implikationen. Rassismuskritische Initiativen und aktivistische Gruppen weisen bereits seit Jahren auf die Verschränkung von institutionellem Rassismus und dem Erstarken des Rechtsextremismus, sowie auf den „alltäglichen Ausnahmezustand“Footnote 5 mit Bezug auf die institutionelle Gewalt durch staatliche Institutionen wie der Polizei hin. Die Auseinandersetzung mit diesen Analysen ist m. E. grundlegend, um gegenwärtige und kontinuierliche „Ereignisse“, wie bspw. rechtsextreme Netzwerke in der Polizei und ihr Gedeihen in institutionell rassistischen Strukturen, besser zu verstehen und angehen zu können.
Wenn es auf Grundlage der anti-rassistischen Kämpfe, die in diesem Falle durch eine starke transnationale schwarzeFootnote 6 politische Präsenz und in Verbindung mit weiteren rassifizierten und migrantischen Gruppen und inmitten einer globalen Pandemie entfachten, nun ein reges wissenschaftliches Interesse an der Forschung zu Rassismus und dem Verhältnis zu Polizei und Polizeigewalt gibt, dann erfordert dies auch eine Revision des vorherigen Umgangs mit diesen Wissensbeständen, die kein „pre-theoretisches Rohmaterial“Footnote 7 darstellen, sondern bereits Bestände erstellt, Wissen produziert und geteilt haben, von denen kritische Wissenschaftler:innen lernen und mit denen sie in einen horizontaleren Austausch treten können.Footnote 8
Die Archive rassismuskritischer Initiativen und Gruppen sowie ihre Untersuchungen, Kampagnen und Interventionen, die (vielseitigen) Berichte von betroffenen Personen (in Form von Protokollen, aber auch im Rahmen kultureller Produktion, etc.) und politische Mobilisierungen stellen auch in Deutschland ein Archiv marginalisierter Wissensbestände dar, die für das Verstehen und die Analyse des Verhältnisses zwischen Polizei, Rassismus und Gewalt unabdingbar sind.Footnote 9
2 Racial Profiling und Formen der langsamen Gewalt
Im deutschen Kontext wird bereits seit mehreren Jahren auf die Gewaltförmigkeit rassistischen Polizierens hingewiesen. Dies lässt sich besonders am Beispiel von Racial Profiling verdeutlichen.Footnote 10 Racial Profiling verstanden als Strategie von Polizieren als Methode des racial KapitalismusFootnote 11 umfasst unterschiedliche Kontroll-, Befragungs- und Durchsuchungsformen sowie Verhaftungen auf Basis rassifizierter Zuschreibungen wie Hautfarbe, phänotypischen Merkmalen, vermeintlicher nationaler Herkunft und Religion. Gleichzeitig verlaufen diese Zuschreibungen entlang von intersektionalen Ungleichheitsstrukturen, sind also auch vergeschlechtlicht, vollziehen sich entlang von psychischer Gesundheit etc. und betreffen, wie jede Form des Polizierens, hauptsächliche arme und mittellose Menschen.Footnote 12 In Deutschland ist diese Praxis auf der Grundlage des Grundgesetzes, des Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes sowie internationalen Menschrechtskonventionen rechtlich verboten, findet jedoch, wie bereits von unterschiedlichen anti-rassistischen Initiativen und Menschenrechtsorganisationen seit mehreren Jahren skandalisiert und untersucht, im Leben vieler rassifizierter und migrantischer Gruppen alltäglich statt. Dabei werden in der hegemonialen politischen Debatte um Racial Profiling meist die Ansichten, Wahrnehmungen oder Haltungen einzelner Polizeibeamt:innen diskutiert, was nicht nur die institutionelle Dimension von Racial Profiling, sondern zudem auch die sozialpsychologischen und gesellschaftlichen Folgen und gewaltförmigen Konsequenzen für vor allem betroffene Personen verkennt.Footnote 13
Für die betroffenen Personen reichen die Folgen dieser Kontrollen von öffentlicher Demütigung und Abwertung – sich zu fühlen „wie ein Fußabtreter“Footnote 14 – bis hin zu physischen und psychosozialen Verletzungen und Krisen. Racial Profiling kann schwere Folgen für die mentale Gesundheit von betroffenen Personen haben. sozialwissenschaftliche Untersuchungen sowie die Berichte von Menschenrechtsorganisationen, Antidiskriminierungsstellen und selbstorganisierten Initiativen verweisen, gerade auch wegen der iterativen Erfahrungen des Racial Profilings und öffentlicher Präsenz der Polizei an vielen Orten, auf Angstzustände, Scham, Bedrohungsgefühle, sozialen Rückzug und weitere Symptome Posttraumatischer Belastungsstörungen.Footnote 15 So schildert mir Jane W., Mitglied in einer selbstorganisierten Initiative geflüchteter Frauen in einem Interview von Erfahrungen des Racial Profilings als traumatisierend:
„I have experienced a lot of racial profiling, especially in the train where the policemen came by. They are not controlling everybody, but just come to me and the other migrant women. And they only ask for ‚Ausweis‘ not even the ticket, only our ‚Ausweis‘.“ (08.2020)
Polizeilich angehalten, befragt und durchsucht zu werden, während man z. B. auf dem Weg zur Schule, zu einem Treffen, dem Arbeitsweg, einfach dem Nachgang seines alltäglichen Lebens ist, ist als „stopping device“ (Instrument des Stoppens)Footnote 16 lesbar und schränkt Menschen massiv in ihrer Bewegungsfreiheit und Partizipation am öffentlichen Leben ein.Footnote 17 Auch werden Kontrollen oft als physisch übergriffig und gewaltvoll erlebt.Footnote 18
Zudem erfahren betroffene Personen in diesen Momenten oft soziale Isolation und Entsolidarisierung, da die Kontrolle durch die Inaktivität von Passant:innen gesellschaftlich legitimiert wird. In vielen Berichten verweisen betroffene Personen darauf, dass gerade auch die passiven Reaktionen von Passant:innen verletzend seien. So schildert Salah Chant mit Bezug auf die Erfahrungen von Racial Profiling in der Schweiz:
„Das tat mir wirklich weh. Niemand half mir. Die Leute waren wie Marionetten, sie gingen einfach vorbei.“Footnote 19
Dies weist darauf hin, dass es sich bei den Folgen von Racial Profiling um psychische, physische sowie um soziale und gesellschaftliche Auswirkungen handelt.Footnote 20 Diese Auswirkungen lassen sich temporal nicht auf die Zeit der Kontrolle beschränken. Racial Profiling geht über die Kontrolle oder die Durchsuchungen als eine Form der „langsamen Gewalt“ hinaus.Footnote 21 In Anlehnung an diese Erfahrungen und Analysen der Verlängerung der Gewalt durch Racial Profiling und unter Bezugnahme von Johan Galtungs Konzept der strukturellen Gewalt sowie Rob Nixons Konzept der langsamen Gewalt, einer Gewalt die sich nicht durch spektakuläre Ereignisse vollzieht, sondern die sich über Zeit und Raum verteilt sowie der Offenlegung der Vielschichtigkeit von Gewalt besonders in schwarz-feministischer TheoriebildungFootnote 22, diskutiere ich die Folgen von Racial Profiling entlang Modalitäten struktureller und langsamer Gewalt, die in ihrer institutionellen Form für Betroffene zwar sichtbar und spürbar, gesellschaftlich jedoch durch ihre Unsichtbarkeit und oft auch durch ihre Langsamkeit und ihre Stille charakterisiert ist.
Neben den bereits beschriebenen psychischen, physischen und sozialen Auswirkungen lassen sich zudem institutionelle und finanzielle Auswirkungen festhalten. Das Fehlen von unabhängigen Beschwerde- und Ermittlungsstellen in Deutschland sowie anderen Ländern in Europa verunmöglicht die Dokumentation und Sichtbarmachung dieser dehumanisierenden Praxis und führt langsame Gewalt institutionell fort. Zudem sind die Aussichten auf eine Verurteilung, falls Personen überhaupt die Ressourcen und auch die Kraft haben zu klagen, aufgrund verschiedener Faktoren innerhalb der Gesetzeslage und aus strukturellen Gründen sehr gering.Footnote 23 Angesichts der polizeilichen und gesellschaftlichen Kriminalisierung finden sich selten aussagewillige Zeug:innen. Anwält:innen lehnen Mandate zumeist ab, da Rechtsverfahren meistens verloren gehen. Im Anzeigefall, vor allem bei körperlichen Übergriffen, müssen Betroffene mit einer polizeilichen Gegenanzeige rechnen, zunehmend lassen sich, wie von selbstorganisierten Initiativen argumentiert wird, auch auch „präventive“ Anzeigen beobachten.Footnote 24 Wegen des Mangels institutioneller Unterstützung sind Beratungs-, Dokumentations- und Unterstützungsstellen oft ausgelastet.
Zudem sind asylsuchende und illegalisierte Personen von diesen bereits marginalisierten Unterstützungsstellen oft abgeschnitten, müssen bei Racial Profiling Deportationen und Ausweisungen fürchten und sind im Falle von migrationsregulatorischer Abdrängung in illegalisierte Ökonomien nicht nur besonders verletzlich für polizeiliche Kontrollen sowie weitere Formen polizeilicher und staatlicher Gewalt und haben gleichzeitig aufgrund des unsicheren Aufenthaltsstatus viel weniger Möglichkeiten sich zu wehren, sondern erfahren zudem weniger gesellschaftliche Solidarität.
Racial Profiling zieht als institutionalisierte und intersektionale Praxis der Kontrolle und Kriminalisierung im racial Kapitalismus nicht nur Trennlinien zwischen polizierten (oftmals armen und rassifizierten), zu „überflüssig“ gemachten, Subjekten und zu schützenden Gruppen einer bürgerlichen Dominanzgesellschaft, sondern auch zwischen kommensurablen und nicht-kommensurablen (oder auch „zu Unrecht“ und „zu Recht“ kontrollierten) polizierten Subjekten. Dabei problematisiert eine abolitionistische Kritik der Polizei besonders auch Positionen, die kritische Perspektiven auf die Polizei lediglich vor dem Hintergrund der „unberechtigten“ Kontrollen formulieren. Wie die Abolitionistin Ruth Wilson Gilmore erklärt, greift „das Problem der Unschuld“ nicht nur zu kurz, sondern ist selbst Teil der karzeralen Logik.Footnote 25
3 Rassistisches Polizieren als vielschichtige strukturelle Gewalt
Wird Racial Profiling im deutschen Kontext meist auf Befragungen, Kontrollen und Durchsuchungen begrenzt, erlaubt es die Analyse rassistischen Polizierens auch die tödlichen Folgen von Racial Profiling in den Blick zu nehmen, da es die differentiellen Wahrnehmungsökonomien, in denen soziale Gruppen (und deren Anrecht auf Schutz) unterschiedlich positioniert sind, sowie die (auch verrechtlichte) Entwertung von rassifizierten, migrantischen, armen und geflüchteten Personen entlang der Kriminalisierung von Migration, Grenzregimen und der Kriminalisierung von Armut in den Blick nimmt. Praktiken der Kriminalisierung und Kontrolle gehen auch polizeilichen Tötungen oder Toden in Gewahrsam voraus, wie in dem Falle von Oury Jalloh, Achidi John, Laye Condé, John Amadi, Rooble Warsame, Amad Ahmad, Qosay Khalaf und Mohammed Idrissi, und vielen weiteren. Der Slogan „Racial Profiling tötet!“ weist genau auf diese Dimension der staatlichen nekropolitischen Gewalt hin (Mbembe 2003).
Dass diese auf mehreren Ebenen intersektional verläuft (mit Bezug auf die Verschränkung von Ungleichheiten sowie im Hinblick auf die Verschränkung von Institutionen) haben vor allem schwarze Feminist:innen erläutert. Die Fälle um Christy Schwundeck, eine schwarze migrantische Frau, die in einem Frankfurter Jobcenter im Mai 2011 um einen Vorschuss bat, und von einer Polizistin erschossen wurde, und Mareama N’deye Sarr, eine schwarze migrantische Frau, die im Hause ihres weißen Ex-Ehemannes im Juli 2001 in Aschaffenburg erschossen wurde, als sie ihr Kind abholen wollte, verweisen dabei nicht nur darauf, dass Polizieren im racial Kapitalismus entlang intersektionaler Ungleichheitsverhältnisse verläuft. Diese Fälle verweisen zudem darauf, dass die „Unsichtbarkeit“ solcher Gewalterfahrungen und Tötungen mit der Fokussierung auf physische und letale Polizeigewalt in öffentlichen Räumen oder in Gefängnissen sowie Abschiebelagern zusammenhängt.Footnote 26 Das Polizieren gründete weder auf einer polizeilichen Identitätskontrolle noch fand es im öffentlichen Raum oder im sog. Gewahrsam statt.Footnote 27
Während Racial Profiling im engeren Sinne vor allem wegen der unermüdlichen Arbeit von Aktivist:innen, Initiativen sowie Menschenrechtsorganisationen in den letzten Jahren mehr mediale und politische Aufmerksamkeit erlangt hat, werden polizeiliche Tötungen im deutschen Kontext bisher gesamtgesellschaftlich nur marginal (oder selektiv) diskutiert, was betroffene Personen und vor allem Angehörige von Opfern oft mit einer Erfahrung der gesellschaftlichen Isolation zurücklässt und auch re-traumatisiert. Auch die Reproduktion der Kriminalisierung von Opfern in den Medien (dass Medien eine wichtige Rolle in der Ko-Produktion des „Polizierens der Krise“ spielen, hat bereits Stuart Hall gezeigt) oder auch in diversen Ausschüssen und von Ministerien einberufenen „unabhängigen“ Kommissionen, führt langsame Gewalt gegen betroffene Personen, Angehörige und Freund:innen von Opfern fort.Footnote 28 So sind es meist Angehörige und Freund:innen von Opfern, die Gegendarstellungen veröffentlichen und so die Opfer re-humanisieren (müssen) und sich insgesamt gegen das gesellschaftliche und strukturelle aktive „Vergessen“ (machen) wenden.
Eng verknüpft ist der institutionelle polizeiliche Rassismus mit Artikulationen der fortgeführten Kriminalisierung in Gerichtssälen und im Umgang staatlicher Behörden mit betroffenen Personen und Angehörigen von Opfern, wie immer wieder in Publikationen von Gruppen und Initiativen sowie in Stellungnahmen betont und im Rahmen von Justiz-Watch Initiativen beobachtet und dokumentiert wird.Footnote 29 Die Einstellungen der Ermittlungen oder Verfahren bei Tötungen im Rahmen von Polizeieinsätzen oder in Gewahrsam, ein wiederkehrendes Narrativ ist hier „Notwehr“, stellt ebenfalls eine Verlängerung der Gewalt besonders auch für Angehörige und Freund:innen der Opfer dar. Auch berichten Angehörige und Freund:innen von Einschüchterungen und Kriminalisierung ihrer Aufklärungsarbeit, im Falle um Oury Jalloh bspw. wurden viele der Aktivist:innen bereits mehrmals angezeigt.Footnote 30
Auch Alltagsrassismen während Anhörungen oder weitere Kriminalisierung von Opfern tragen dazu bei, dass Angehörige und Freund:innen von Opfern rassistischer polizeilicher Gewalt eine Verlängerung dieser erfahren. Dass auch langsame Gewalt frühzeitige Tode hervorruft, zeigt auch der plötzliche Tod der Mutter von Oury Jalloh namens Mariama Djombo Diallo im Jahre 2012, die nach ihrem zweiten „Besuch“ in Deutschland während des Prozesses am Magdeburger Landgericht zutiefst erschüttert abgereist war. Mitglieder der Initiative in Gedenken an Oury Jalloh erklären, dass Mariama Djombo Diallo vor allem an einem gebrochenen Herzen aus tiefer Trauer um ihren Sohn gestorben sei.Footnote 31
Angehörigen und Freund:innen der Opfer, die nicht selten mit Unterstützer:innen Initiativen gründen, bleibt so nicht nur keine Zeit zu trauern, sondern sie müssen die Arbeit der De-kriminalisierung, Ermittlungen und Recherchen oft selbst in die Hand nehmen, geben unabhängige Gutachten in Auftrag, organisieren Informationsveranstaltungen und Proteste, müssen sich rechtliche Expertise erarbeiten, unterstützen Familien und Angehörige auch bei der Trauerverarbeitung oder bspw. der Wohnungssuche. Zudem leisten diese Initiativen wichtige Erinnerungsarbeit, gerade in einem gesellschaftlichen Kontext, in welchem Rassismus als gesellschaftliches Verhältnis stets in die Vergangenheit, an einen anderen Ort platziert oder auf der individuellen Ebene verhandelt wird.
4 Umgangsweisen und Interventionen
Die Kämpfe und Widerstände gegen Racial Profiling und rassistisches Polizieren sind vielfältig und finden auf vielen Ebenen statt. Schwarze Menschen und migrantische Personen berichten schon seit Jahrzehnten auf vielfältige Weise über diese Erfahrungen und fordern so die gesellschaftliche Normalisierung und Banalisierung rassistischer staatlicher Gewalt heraus. Dies ist nicht erst seit der Gründung von Initiativen und Kampagnen der Fall, auch wenn diese in den letzten Jahrzehnten wesentliche Arbeit in diesem Bereich geleistet haben. Auch in den frühen 1990er Jahren beim „Hamburger Polizeiskandal“ haben sich betroffene Personen gewehrt.
Dabei reichen Umgangsweisen vom Meiden bestimmter Orte, wenn dies möglich ist, dem Versuch der sozialen Anpassung, die oft auch nicht allen betroffenen Personen und Gruppen aufgrund von fehlenden Zugängen und Ressourcen möglich ist, bis hin zu der Unterstützung im kleinen Kreis und der Suche nach Unterstützung bei zivilgesellschaftlichen Organisationen und Initiativen.Footnote 32 Auch sind liminale Informationsnetzwerke, durch welche Personen sich gegenseitig über Orte häufiger Kontrollen informieren sowie über ihre formalen Rechte, langjährige erprobte Umgangsweisen, die auch oft von Initiativen und Gruppen übernommen und weiter ausgebaut werden.
Besonders seit den letzten zehn Jahren teilen immer mehr Menschen, die von Racial Profiling betroffen sind, ihre Erfahrungen bspw. über Soziale Medien, organisieren und wehren sich.Footnote 33 Dabei spielt die Dokumentation dieser gesellschaftlich unsichtbar gemachten rassistischen Praxis eine wesentliche Rolle. In Deutschland dokumentiert die Kampagne für Opfer rassistisch motivierter Polizeigewalt (KOP) bereits seit 2000 rassistisch motivierte Polizeiübergriffe und hat aufgrund fehlender finanzieller Unterstützung einen Rechtshilfefonds organisiert, der es Betroffenen ermöglicht, sich auch rechtlich gegen rassistische Polizeipraxen zur Wehr zu setzen. Zudem ko-organisiert KOP mit weiteren Initiativen auch Kampagnen im Bereich Racial Profiling und zu Toden in Gewahrsam.Footnote 34 Verschiedene copwatch-Gruppen wie bspw. in Frankfurt am Main, Hamburg oder auch Gruppen wie Wrangelkiez United in Berlin dokumentieren oder skandalisieren ebenfalls Fälle von Racial Profiling und greifen dabei auf unterschiedliche Methoden zurück sowie verknüpfen Kämpfe gegen rassistisches Polizieren mit weiteren Kämpfen gegen Kriminalisierung von Armut und Migration.Footnote 35
Neben der Dokumentation ist die Unterstützung ein wesentlicher Teil kritischer Arbeit gegen rassistisches Polizieren. Mit Betroffenen eine Möglichkeit und einen Raum zu schaffen, in dem sie ihre Erfahrungen teilen können, wenn sie das möchten, mit ihnen auszuloten wie dagegen vorgegangen werden kann und ihnen zuzuhören, ist grundlegend für die Arbeit gegen Racial Profiling. Auch die Erstellung von Know Your Rights Flyern und Broschüren gehören dazu. Die bereits genannten Initiativen und Kollektive sowie einige andere haben Unterstützungsstrukturen aufgebaut, in denen die Betroffenen von Racial Profiling im Fokus stehen, aus denen heraus aber auch unter Berücksichtigung von gelebten Erfahrungen kritisches Wissen über rassistisches Polizieren produziert und theoretisiert wird, welches dann auch in Form von Berichten, Artikeln, Stellungnahmen sowie auf Informationsveranstaltungen und in Videos, Filmen und Radiosendungen geteilt wird.
Die Sensibilisierung der Dominanzgesellschaft spielt dabei auch eine wesentliche Rolle. Ob durch unabhängige Forschungen, Berichte und Interviews, Statements und sowie politischen Widerstand, die genannten und weitere Initiativen und Organisationen tragen wesentlich zu der Skandalisierung und Denormalisierung von rassistischem Polizieren und damit zu der radikalen Demokratisierung der Gesellschaft bei. Initiativenseitige politische Forderungen sind hier vor allem, die Abschaffung verdachts- und ereignisunabhängiger Kontrollen, die rechtliche Spezifikation rassistischer Diskriminierungstatbestände in Antidiskriminierungsgesetzen und die Einrichtung unabhängiger Beschwerde- und Ermittlungsstellen. Andere Ansätze streben zudem grundlegendere gesellschaftliche Transformationen an, die Polizieren als Methode des racial Kapitalismus und als Antwort auf gesellschaftliche Problemlagen zurückweisen und sich für die Entkriminalisierung von Armut und Migration sowie die Entpolizierung und Entkerkerung der Gesellschaft als Teil von gesamtgesellschaftlicher abolitionistischer Transformation von Produktions- und Beziehungsweisen und damit Kämpfe gegen rassistisches Polizieren in einen breiteren Zusammenhang der Kämpfe gegen racial Kapitalismus stellen.Footnote 36
5 Notiz: Was die Wissenschaft von der Arbeit „on the ground“ lernen kann
Rassismus ist in Deutschland nach wie vor ein marginalisiertes Untersuchungsfeld, obwohl rassismuskritische Gruppen und Initiativen, kritische Wissenschaftler:innen aus dem hiesigen sowie dem internationalen Kontext schon lange auf Rassismus als gesellschaftliches Verhältnis hinweisen und zu rassistischen Konjunkturen, Erfahrungen, institutionellem Rassismus und Widerständen und Kämpfen, aus unterschiedlichen Perspektiven, forschen.Footnote 37 Dabei zeigt sich gerade für den deutschen Kontext ein besonders immenser Forschungsbedarf zum Thema Polizei und Rassismus aus kritischen gesellschaftstheoretischen Perspektiven sowie zu ernsthaften Auseinandersetzungen mit bisherigem Wissen, in nicht-akkumulativen und kooperativen Weisen, und mit Alternativen, gerade auch im internationalen Kontext und entgegen den neoliberalen Tendenzen des Integrationismus und des alleinigen Fokus auf Anti-diskriminierung.Footnote 38 Es gibt viel zu tun.
Notes
- 1.
Mit „betroffen“ sind hier Personen und Gruppen gemeint, die rassistisches Polizieren (potentiell) erfahren (müssen). Gleichzeitig ist darauf hinzuweisen, dass der Verweis sowie der Bezug auf Betroffenheit zum einen sehr ambivalent ist (Personen können in einer Situation betroffen sein und in einer anderen, bspw. als Passant:innen nicht direkt betroffen), und zum anderen Rassismus als gesellschaftliches Verhältnis in den Hintergrund rücken kann. Rassistisches Polizieren betrifft freilich auch die bürgerliche Dominanzgesellschaft und unterschiedlich positionierte gesellschaftliche Gruppen, wenn auch entlang einer (komplexen) differentialistischen Logik (Loick 2018; Loick und Thompson 2022).
- 2.
Teile dieses Beitrags sind bereits in Thompson (2018) enthalten.
- 3.
- 4.
Grosfoguel (2015).
- 5.
Kampagne für Opfer rassistischer Polizeigewalt (2016).
- 6.
Ich schreiben schwarz, entgegen einigen Ansätzen im deutschsprachigen Kontext und in Anlehnung an viele schwarze Theoretiker:innen mit kleinem „s“, da sich schwarz als politische Kategorie der liberalen Subjektivierung der kapitalistischen Moderne gerade zu entziehen versucht und zudem auf die Kontingenz von „Rasse“ und Rassismus verweist.
- 7.
Haritaworn et al. (2013).
- 8.
Dabei beinhalten diese Wissensbestände auch Formen der Kritik, die auf gelebten Erfahrungen aufbauen und gleichzeitig über diese hinausgehen. Genealogien schwarzer radikaler Theoriebildung von u. a. W.E.B. Du Bois oder auch Frantz Fanon sowie Angela Y. Davis und Paul Gilroy zeigen auf, dass gelebte Erfahrungen des Rassismus einen epistemologischen Standpunkt ermöglichen (können, nicht müssen), von dem aus theoretische Analysen und Kritik gesellschaftlicher Verhältnisse formuliert werden können. Wichtig für diese Artikulation gelebter Erfahrung als epistemologische Kategorie ist jedoch, dass sie Wissensformation nicht auf Fragen von gelebter Erfahrung reduziert, und damit Erfahrungen und soziale Positionen fetischisiert oder gar soziale Position und theoretische Standpunkte gleichsetzt, sondern als Ausgangs- und nicht als Endpunkte kritischer Gesellschaftstheorien formuliert. Für W.E.B. Du Bois spielt hier das bekannte „double consciousness“ eine wesentliche Rolle. Fanon argumentiert in seiner Analyse des Rassismus in Schwarze Haut, weiße Masken, dass die Aufhebung der kolonialen Entfremdung auf zwei Ebenen angegangen werden müsse, einer objektiven, d. h. der sozio-ökonomischen sowie auf der Ebene der subjektiven Erfahrung (Du Bois 2015; Fanon 1985). Angela Davis argumentiert mit Bezug auf dieses Verhältnis, dass Philosophie „is supposed to perform the task of generalizing aspects of experience, and not just for the sake of formulating generalizations“ (Davis 1971), S. 71.
- 9.
Siehe u. a. die Arbeiten der Kampagne für Opfer rassistischer Polizeigewalt (KOP), der Initiative Schwarzer Menschen in Deutschland (ISD), diversen copwatch-Gruppen in vielen deutschen Städten, selbst-organisierten Geflüchtetengruppen wie Women in Exile oder The Culture of Deportation. Mit Bezug auf polizeiliche Tötungen haben besonders Initiativen wie die Initiative in Gedenken an Oury Jalloh, die Initiative Amed Ahmad und viele weitere grundlegende Arbeit im Rahmen des deutschen Kontextes und darüber hinaus geleistet. Siehe auch die Publikation von KOP 2016 sowie die Homepages der vielen Initiativen mit ausführlichen Statements und Archiven sowie u. a. Basu (2016); Melter (2017); Thompson (2018); El-Tayeb und Thompson (2019); und die Publikation der Kollaborativen Forschungsgruppe Racial Profiling (2019).
- 10.
- 11.
- 12.
- 13.
- 14.
Copwatch ffm (2021), S. 81.
- 15.
- 16.
Ahmed (2007), S. 161.
- 17.
- 18.
- 19.
Kollaborative Forschungsgruppe Racial Profiling (2019), S. 96.
- 20.
ADBs für NRW (2017), S. 14–17. Siehe auch Abdul-Rahman in diesem Band.
- 21.
Nixon (2001); Vorbrugg (2019).
- 22.
- 23.
- 24.
Copwatch ffm (2021), S. 83.
- 25.
Gilmore (2021).
- 26.
- 27.
Feministische Perspektiven ermöglichen es auch das Polizieren in wohlfahrtsstaatlichen Institutionen oder vermeintlich privaten Räumen in den Blick zu bekommen. Ebenfalls wichtig: In beiden Fällen waren Kinder involviert. Christy Schwundeck kämpfte um die Wiedererlangung des Sorgerechts für ihre Tochter, wodurch sie in den letzten Monaten an Depressionen litt. N’deye Mareama Sarr wollte ihren Sohn bei seinem Vater abholen, der den Sohn bei seinen Eltern versteckt hatte. Arme und mittellose schwarze, aber auch Rom:nja und Sinti:zze, Muslim:a, migrantische Mütter und Mütter of Color werden oft als „schlechte“ Mütter stigmatisiert und poliziert. Die Erfahrungen der Kriminalisierung von Rom:nja und Sinti:zze Familien werden besonders in dem Film „Die Polizei hat sich schuldig gemacht“ von Isidora Randjelović und Olga Gerstenberger et al. eindrücklich geschildert. Detaillierte und historisierende Analysen und Kritiken der Kriminalisierung rassifizierter und migrantischer Eltern sowie der Rolle von Fürsorgeregimen in Europa stehen bislang weitestgehend aus. Eine Kritik des Polizierens muss daher auch Fürsorgeregime sowie wohlfahrstaatliche Institutionen (inkl. dem Gesundheitswesen) umfassen.
- 28.
Initiative in Gedenken an Oury Jalloh (2020).
- 29.
Naguib (2019), s. auch die Arbeit von https://justizwatch.noblogs.org/.
- 30.
Initiative in Gedenken an Oury Jalloh (2021).
- 31.
Initiative in Gedenken an Oury Jalloh (2012).
- 32.
- 33.
S. Görgen und Wagner in diesem Band.
- 34.
- 35.
- 36.
S. Loick und Thompson (2022).
- 37.
- 38.
S. Pichl in diesem Band.
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Thompson, V.E. (2022). Rassistisches Polizieren. Erfahrungen, Umgangsweisen und Interventionen. In: Hunold, D., Singelnstein, T. (eds) Rassismus in der Polizei. Springer VS, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-658-37133-3_20
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