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1 Einleitung oder: Der erfolgreiche Kampf um die Anerkennung der Tatsache des Rassismus

Als Bundesinnenminister Horst Seehofer im Juli 2020 erklärte, er werde keine Studie zu institutionellem Rassismus in der Polizei in Auftrag geben, war die Empörung migrantischer und antirassistischer Initiativen und Vereine sowie kritischer Wissenschaftler:innen groß. Denn diese Absage wirkte wie eine unmissverständliche Machtdemonstration, das Offensichtliche einfach nicht zur Kenntnis nehmen zu können. Und doch muss diese Absage als Erfolg der unermüdlichen Arbeit eben dieser Initiativen und Akteur:innen gewertet werden, denn dass ein Bundesinnenminister den Begriff des institutionellen Rassismus verwendet und sich öffentlich rechtfertigen muss, warum er diesen nicht untersuchen lassen möchte, wäre vor Kurzem noch undenkbar gewesen. Jahrzehntelang standen nur die Begriffe Ausländer- oder Fremdenfeindlichkeit zur Verfügung, mit denen sich zwar Einstellungen, nicht aber Strukturen benennen ließen und die schlichtweg falsch sind, suggerieren sie doch, Rassismus würde nur Menschen betreffen, die keinen deutschen Pass besitzen. Mit der Nicht-Verwendung des Begriffs war auch eine gesamtgesellschaftliche Nicht-Anerkennung rassistischer Ausschlüsse verbunden.

Dass es nun möglich ist, über Rassismus zu sprechen, hat auch mit der zunehmenden Diversifizierung der Gesellschaft zu tun. 2019 hatten bereits 37 % der unter 18-Jährigen, die in Deutschland leben, einen sogenannten Migrationshintergrund. Mehrsprachigkeit, Mehrfachzugehörigkeit, internationale Bezüge, religiöse und kulturelle Diversität werden immer mehr zur Alltagsrealität Aller – auch derer, die diese Bezüge selbst nicht haben. In dieser „postmigrantischen Gesellschaft“Footnote 1 finden diejenigen, die rassistische Ausschlüsse erleben, immer mehr Möglichkeiten, diese zu thematisieren, zu kritisieren und dagegen vorzugehen. Der folgende Beitrag gibt einen – notwendigerweise unvollständigen – Einblick in die Entwicklungen der Rassismusforschung, die Theorie des Rassismus als gesellschaftlichem Verhältnis sowie insbesondere den institutionellen Rassismus.

2 Rassismusforschung in Deutschland

Die jahrzehntelange Verweigerung, Rassismus anzuerkennen, spiegelt sich auch in der Forschung wider und wirkt sich nach wie vor in einem Mangel an empirisch gesättigter, kritischer Rassismusforschung aus. Nach wie vor handelt es sich um ein umstrittenes Forschungsfeld, dem angemessene öffentliche Förderung ebenso fehlt wie entsprechende Denominationen von Professuren, auch hat sich in keiner Fachgesellschaft bisher eine Sektion Rassismusforschung etablieren können.Footnote 2 Trotz dieses Mangels an Institutionalisierung lässt sich ab Mitte der 1980er Jahre eine Zunahme an rassismuskritischer Forschung feststellen.Footnote 3 Diese Forschungen sind u. a. maßgeblich Migrant:innen und Schwarzen Deutschen zu verdanken, die als Wissenschaftler:innen Rassismus zum Forschungsgegenstand machten. Seit diesen Anfängen hat sich die Rassismusforschung deutlich verbreitert, wenn auch aufgrund des Mangels an öffentlicher Förderung die meisten Untersuchungen eher klein angelegt sind.Footnote 4

Das hat auch etwas mit einem Defizit in der Datenerhebung zu tun. Anhand allgemeiner statistischer Daten wie z. B. dem Mikrozensus, der Schulstatistik oder der Arbeitsmarktstatistik lassen sich nur bedingt Aussagen zu rassistischer Diskriminierung treffen.Footnote 5 Denn hier werden zwar die Staatsangehörigkeit und/oder der Migrationshintergrund abgebildet. Diese Kategorien lassen aber nur bedingt Rückschlüsse auf rassistische Ausgrenzungen zu. Der Rassismus gegenüber Schwarzen Deutschen, Muslim:innen, Sinti:zze und Rom:nja oder auch Antisemitismus bleiben dabei weitgehend unsichtbar.Footnote 6 Einige Wissenschaftler:innen plädieren darum dafür, sogenannte equality data zu erheben. Diese ermöglichen Befragten anzugeben, aufgrund welcher Zuschreibungen sie rassistische Diskriminierung erfahren – unabhängig davon, ob diese auf sie zutreffen.Footnote 7 Damit stehen die rassistischen Zuschreibungen und deren Effekte im Zentrum der Analyse.

3 Rassismus als gesellschaftliches Verhältnis

Die kritische Rassismusforschung, die in diesem Beitrag rezipiert wird, konzipiert Rassismus als eine Analyseperspektive. Rassismus wird als ein gesellschaftliches Verhältnis verstanden, das sich auf allen Ebenen wiederfinden lässt: in Symbolen, in behördlichen Verfahrensweisen, in der Sprache, in Interaktionen etc.Footnote 8 Rassismus lässt sich also nicht auf eine individuelle negative Einstellung beschränken, sondern stellt eine Ordnungsstruktur dar und ist somit in die Gesellschaft als Ganzes eingeschrieben. Rassismus ist ein gesellschaftliches Verhältnis, das Menschen anhand verschiedener möglicher Merkmale als Gruppen konstruiertFootnote 9, denen in homogenisierender und essenzialisierender Weise (zumeist negativ konnotierte) Verhaltensweisen, Werte oder Eigenschaften zugeschrieben werden und denen aufgrund dieser Zuschreibungen der Zugang zu materiellen, sozialen und symbolischen Ressourcen behindert, limitiert oder vorenthalten wird).Footnote 10

Merkmale, an denen sich der Rassismus festmacht, sind dabei höchst variabel: Es kann sich um die Hautfarbe handeln, ein Merkmal, das als Hinweis auf eine nicht-deutsche Herkunft interpretiert wird, wie ein Name, oder auch ein religiöses Symbol wie das Kopftuch. Rassismus macht sich also nicht zwingend an körperlichen Merkmalen fest, sondern schließt von einem fast beliebigen Merkmal auf eine unveränderliche Andersartigkeit des Gegenübers. Insofern kann auch ein Kopftuch, das auf- und abgesetzt werden kann (und im Laufe des Tages ja auch wird) rassistische Ausschlüsse nach sich ziehen.Footnote 11

Der Begriff der „natio-ethno-kulturellen Zugehörigkeit“ reflektiert den empirischen Befund, dass Vorstellungen über Nationalität, Hautfarbe, Religionszugehörigkeit oder die vermutete „Kultur“ zumeist verschmelzen und bei der Konstruktion von Gruppen nicht voneinander zu unterscheiden sind.Footnote 12 Dies zeigen auch Studien, denen zufolge angehende Lehrkräfte die Klassenarbeiten von Schüler:innen mit türkischen Namen schlechter bewerten als die von Schüler:innen mit deutsch klingenden Namen.Footnote 13 In der Bundesverwaltung sind Menschen mit Migrationshintergrund unterrepräsentiert und für ihre Beschäftigungspositionen überqualifiziert.Footnote 14 Lehrerinnen, die ihre Religionszugehörigkeit über ein muslimisches Kopftuch ausdrücken, sind in einigen Bundesländern vom Schuldienst ausgeschlossen, während das Tragen christlicher Symbole erlaubt ist.Footnote 15 Schwarze Menschen werden überdurchschnittlich häufig Opfer von racial profilingFootnote 16 und polizeilicher GewaltFootnote 17. Diese Ausschlüsse erfolgen, weil die sehr unterschiedlichen Merkmale jeweils mit unveränderlichen, abgewerteten Eigenschaften in Verbindung gebracht werden: weniger klug oder kompetent zu sein, aufgrund der muslimischen Religionszugehörigkeit staatliche Neutralität nicht vertreten zu können oder kriminell zu sein.

Diese Zuschreibungen werden nicht individuell von Lehrer:innen, Arbeitgeber:innen, Schulleiter:innen oder Polizist:innen „erfunden“, sondern sie haben zumeist eine im Kolonialismus gründende GeschichteFootnote 18, wobei für Deutschland festzuhalten ist, dass sich diese koloniale Geschichte auch auf Osteuropa bezieht.Footnote 19 Denn Rassismus entsteht nicht aufgrund von Fremdheit oder Differenz, sondern die Geschichte des Rassismus ist die Geschichte der Legitimation der Abwertung von Menschen, um sie systematisch und in großem Stil ausbeuten, enteignen und vertreiben zu können.Footnote 20 Der Aspekt der Ausbeutung ist auch im Rassismus der Gegenwart relevant: Indem Menschen in ihren Rechten eingeschränkt oder von gesellschaftlichen Bereichen ausgeschlossen werden, sind sie auf gefährliche, schwere, schlecht bezahlte und informelle Bereiche des Arbeitsmarktes angewiesen.Footnote 21 Rassismus schließt Menschen also in der Regel nicht völlig aus der Gesellschaft aus, sondern führt zu einer Form der differenzierten Inklusion.Footnote 22 Rassistische Ausschlüsse sind häufig mit anderen Machtverhältnissen wie Geschlecht oder Klasse verbunden, sie sind intersektional.Footnote 23

Und die Zuschreibungen sind immer relational. Das in der postkolonialen Theorie entstandene Konzept des OtheringFootnote 24 beschreibt Prozesse, in denen Gruppen diskursiv, symbolisch sowie durch soziale Praxen als komplementär unterschiedliche „Andere“ erzeugt und festgeschrieben und einem „Wir“ gegenübergestellt werden.Footnote 25 In diese Konstruktionen des Anderen ist dabei zum Teil auch ein Begehren eingeschrieben, das sich in scheinbar positiv konnotierten essenzialisierenden Zuschreibungen (wie Naturverbundenheit oder Familiensinn) ausdrückt, die aber in der Gegenüberstellung zumeist als defizitär oder vormodern abgewertet werden.Footnote 26 Aus dieser Perspektive leitet die kritische Weißseinsforschung ab, nicht nur die rassistischen Konstruktionen oder die rassistisch Ausgeschlossenen zum Gegenstand der Analyse zu machen, sondern besonders die durch den Rassismus Privilegierten in den Blick zu nehmen und die Konstruktion von „weiß“-sein zum Gegenstand der Analyse zu machen.Footnote 27

3.1 Rassismus als individuelle Einstellung?

Rassismus ist somit nicht in erster Linie eine Frage der individuellen Einstellung, sondern eine gesellschaftliche Struktur, die sich auf allen gesellschaftlichen Ebenen wiederfindet. Dies spiegelt auch der Begriff des strukturellen Rassismus wider. Auch Menschen, die für sich selbst reklamieren, nicht rassistisch eingestellt zu sein, bewegen sich in einer rassistischen Gesellschaft. Darum geht die Behauptung, selbst „farbenblind“ zu sein, also individuell keine Unterschiede zwischen Hautfarben, Herkunft oder Religion zu machen, am Problem vorbei.Footnote 28

Gleichwohl sind auch individuelle rassistische Einstellungen Gegenstand der Forschung, und zwar insbesondere in den regelmäßigen und breit rezipierten Einstellungsforschungen. Allerdings liegt diesen ein anderes Verständnis von Rassismus zugrunde als diesem Beitrag. So misst die Leipziger Autoritarismus-StudieFootnote 29 nur „Fremdenfeindlichkeit“ und die Mitte-StudieFootnote 30 unterscheidet bei den Einstellungen zwischen Rassismus (7,2 %), Fremdenfeindlichkeit (18,8 %) und klassischem Antisemitismus (5,8 %) – die im Vergleich zur Studie von 2016 leicht gesunken sind – und Zustimmung zu Israelbezogenem Antisemitismus (24,2 %), antimuslimischem Rassismus (18,7 %) und der Abwertung von Sinti:zze und Rom:nja (25,8 %) – die im Vergleich zu 2016 leicht gestiegen sind – sowie der Abwertung asylsuchender Menschen, die mit 54,1 % gegenüber 2016 stark gestiegen ist.Footnote 31

Zur Frage, wie rassistische Einstellungen entstehenFootnote 32, sind viele gesellschaftlich verbreitete Annahmen bereits empirisch widerlegt, so z. B. die weit verbreitete These, dass Rassismus durch einen Mangel an Bildung oder „Aufklärung“ entstehe oder automatisch mit Armut einhergehe.Footnote 33 Sozialpsychologische Ansätze verstehen Rassismus als eine Möglichkeit, sich durch die Benennung eines Sündenbocks in einer gesellschaftlichen Situation, auf die man selbst wenig Einfluss hat, handlungsfähig zu fühlen.Footnote 34 Kulturwissenschaftliche Ansätze in marxistischer Tradition heben hervor, dass rassistische Einstellungen die hegemoniale Position einer Gruppe gegenüber einer anderen legitimiert. Rassismus verschafft Einigen privilegierten Zugang zu im Kapitalismus verknappten Ressourcen, sei es auf dem Wohnungs- oder Arbeitsmarkt oder im Bildungsbereich. Insofern ist Rassismus vielfältig funktional.Footnote 35

Zu einer Beschäftigung mit Rassismus in seiner individuellen Dimension gehört auch die Thematisierung der physischen und psychischen Folgen der Erfahrung von Rassismus.Footnote 36 Internationale Studien zeigen, dass der mit Rassismus verbundene Stress, der durch Mikroaggressionen, aber auch durch sozial-ökonomische Benachteiligungen entsteht, die Wahrscheinlichkeit erhöht, stressassoziierte Belastungsreaktionen wie z. B. Depressionen auszubilden oder an schweren Störungen wie Schizophrenie oder Psychosen zu erkranken und auch Herz-Kreislauf-Erkrankungen begünstigt.Footnote 37 Der sogenannte stereotype threat trägt dazu bei, dass rassistisch Diskriminierte aus Angst vor einer Diskriminierung schlechtere Leistungen erbringen.Footnote 38

3.2 Rassismus oder Rassismen?

Seit längerem besteht in der Forschung die Tendenz, von Rassismen statt von Rassismus zu sprechen, um die Unterschiedlichkeit der Ausschlüsse und ihre historische Gewordenheit angemessen zu reflektieren. In der deutschen Debatte finden sich insbesondere Untersuchungen, die spezifisch anti-Schwarzen RassismusFootnote 39, antimuslimischen RassismusFootnote 40, Rassismus gegen Sinti:zze und Rom:njaFootnote 41, antiasiatischen RassismusFootnote 42 sowie AntisemitismusFootnote 43 fokussieren.

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass sich diese Rassismen in ihrer Struktur ähneln. Allerdings unterscheiden sich die konkreten Ausgestaltungen der Wir-Sie-Konstruktionen, da sie auf unterschiedliche (Kolonial-)Geschichten zurückgehen. Dementsprechend unterschiedlich können auch die gesellschaftlichen Ausschlüsse gestaltet sein, die Menschen aufgrund dieser Konstruktionen erfahren. Kolonial tradierte Zuschreibungen, Diskurse und Ausgrenzungspraxen verbinden und aktualisieren sich dabei im Kontext gegenwärtiger Politik. So haben die Terroranschläge des 11. September 2001 in vielen „westlichen“Footnote 44 Ländern der Welt zu einem Aufschwung des antimuslimischen Rassismus geführt, indem koloniale Stereotype aufgerufen wurden, nach denen der Islam an sich archaisch, gewaltvoll, antidemokratisch und irrational sei.Footnote 45 Mit dieser Interpretation wurden auch militärische Interventionen wie der „War on Terror“ gerechtfertigt. In Deutschland fielen die Anschläge des 11. September und die anschließende Welle des antimuslimischen Rassismus zeitlich mit der Liberalisierung des Staatsangehörigkeitsrechts zusammen, die Migrant:innen die Einbürgerung erlaubte. In der Folge wurde die größte Einwanderer:innengruppe – Migrant:innen aus der Türkei – nicht mehr als Ausländer:innen, sondern durch einen antimuslimischen Rassismus gesellschaftlich ausgeschlossen, der ihnen pauschal und ebenfalls aufgrund kolonialer Stereotype patriarchale Familienstrukturen und Demokratiefeindlichkeit unterstellte.Footnote 46

Die Unterscheidung von verschiedenen Rassismen ist wichtig, weil ansonsten Ausschlüsse (von Ungleichbehandlungen bis zu Gewalttaten) unter Umständen gar nicht als rassistisch und damit durch eine gesellschaftliche Struktur bedingt analysiert werden können. So wurden beispielsweise die Morde, die ein Attentäter im Februar 2021 in Atlanta im US-Bundesstaat Georgia an Beschäftigten in drei Massagesalons verübte, zunächst als individueller Amoklauf eingeordnet und erst im Nachhinein als Ausdruck eines gesellschaftlichen antiasiatischen Rassismus.Footnote 47

Antisemitismus und Rassismus gegen Sinti:zze und Rom:nja können in mehrfacher Hinsicht von anderen Formen des Rassismus unterschieden werden, denn beide lassen sich nicht auf den Kolonialismus zurückführen. In aller Kürze sei hier darauf verwiesen, dass der Antisemitismus älter ist als der Kolonialismus und mit der Abspaltung des Christentums entstand. Der moderne Antisemitismus projiziert Probleme und Widersprüche der Moderne auf Jüd:innen, indem sie als übermächtig imaginiert werden.Footnote 48 Das Ziel des Antisemitismus ist die Vernichtung jüdischen Lebens. Zudem werden Jüd:innen im Antisemitismus als nicht-sesshaft imaginiert und als das „Andere“ innerhalb der Nation. Hier findet sich eine Ähnlichkeit zum Rassismus gegen Sinti:zze und Rom:nja, dessen Kern ebenfalls das Ressentiment gegen Nicht-Sesshaftigkeit und der damit verbundenen Verdächtigung einer transnationalen Orientierung statt einer nationalen Verbundenheit bildet.Footnote 49 Auch imaginiert der Antisemitismus genauso wie der Rassismus gegen Sinti:zze und Rom:nja die vermeintlich Anderen als von den Zurichtungen des Zwangs zur Arbeit befreit:

„Juden und Jüdinnen wird so unterstellt, nicht zu ‚schaffen‘, sondern zu ‚raffen‘, und machtvoll hinter den Zumutungen des Kapitalismus zu stecken bzw. von ihnen zu profitieren. Sinti*zze und Rom*nja wiederum wird unterstellt, sich durch Kriminalität ein gutes Leben in Faulheit zu erschleichen.“Footnote 50

3.3 Institutioneller Rassismus

Rassismus als ein gesellschaftliches Verhältnis zu verstehen bedeutet auch, den Beitrag von Institutionen zu diesem Verhältnis in den Blick zu nehmen.Footnote 51 Der vielzitierte MacPhershon Report definiert institutionellen Rassismus wie folgt: „The collective failure of an organisation to provide an appropriate and professional service to people because of their colour, culture, or ethnic origin.“Footnote 52 Institutioneller Rassismus ist ein Begriff, der im Kontext der Black Power Bewegung in den 1960er Jahren von den Theoretikern und Aktivisten Stokely Carmichael und Charles Hamilton in den USA entwickelt wurde.Footnote 53 Sie beschreiben damit eine Form des Rassismus, die nicht direkt von Individuen ausgeht, sondern die subtiler wirkt und weniger sichtbar ist, die aber sichtbare Ungleichheiten hervorbringt: beispielsweise eine höhere Sterblichkeit von Schwarzen Menschen in den USA oder einen geringeren Bildungserfolg von Schüler:innen mit Migrationshintergrund in Deutschland.

Institutioneller Rassismus ist eine Analyseperspektive, die versucht, den Beitrag von Institutionen (z. B. Schule, Gesundheitsamt, Polizei) zur Herstellung rassistischer Verhältnisse zu klären. Da der Rassismus tief in die Gesellschaft eingelassen ist, ist auch davon auszugehen, dass er sich überall in Institutionen findet – solange nichts aktiv dagegen unternommen wird.Footnote 54 Unter direkter institutioneller Diskriminierung wird die formal abgesicherte Ungleichbehandlung von Menschen, die rassistisch markiert sind, verstanden. Dazu gehört z. B., dass Ärzt:innen, die dem muslimischen Glauben angehören, nicht in katholischen Krankenhäusern beschäftigt werden. Daneben bestehen indirekte Formen der institutionellen Diskriminierung, die häufig schwieriger nachzuvollziehen sind, weil sie das Produkt des Zusammenwirkens von Regeln, Gesetzen, Normen, Vorgaben, professionellem und Alltagswissen sowie Routinen und Entscheidungen, die im Sinne von Organisationsinteressen ausgelegt und umgesetzt werden, sind.

Bei der Betrachtung von institutionellem Rassismus steht nicht individuelles rassistisches Verhalten der in einer Organisation handelnden Akteur:innen im Vordergrund der Betrachtung (obgleich ein solches nicht ausgeschlossen ist), sondern Regeln und Routinen, mit denen die Organisationen den an sie gestellten Aufgaben nachkommen. Das Bundeskriminalamt beispielsweise unterscheidet „Clankriminalität“ – ein Begriff, der nur auf muslimische Täter:innen (verschiedener Herkunft) angewandt wird – von anderen Formen der organisierten Kriminalität und beschreibt die Täter:innen als „ethnisch-abgeschottete Subkulturen“ mit einer „eigenen Werteordnung“, nämlich „patriarchalisch-hierarchischer Familienstruktur“ und „mangelnde Integrationsbereitschaft mit Aspekten einer räumlichen Konzentration“.Footnote 55 Diese Ansammlung von rassistischen Stereotypen – die Verbindung von Kriminalität und Abstammung, das „Ghetto“ und die Parallelgesellschaft – kann als eine polizeiliche Institutionalisierung von antimuslimischem Rassismus verstanden werden. Dieser ist für die Behörde insofern funktional, als mit dem Aufrufen von gesellschaftlich weit verbreiteten rassistischen Zuschreibungen die Dringlichkeit des polizeilichen Handelns und die Intensität polizeilicher Operationen (Razzien, Telefonüberwachung, Hausdurchsuchungen) legitimiert werden kann.

Rassistische Unterscheidungen sind zudem bereits historisch in viele Institutionen eingeschrieben. Goldberg zeigt in seiner Arbeit über den „racial state“, wie die Herausbildung von Nationalstaaten im Kontext des Kolonialismus zu einer in vielfältiger Weise rassistisch strukturierten Nationalstaatsbildung führte, indem z. B. nur weiße Menschen Staatsbürger:innen werden konnten.Footnote 56 Für die Schule zeigen Steinbach et al. analog auf, wie auch die Schule in eine rassistische Nationalstaatsbildung eingebunden ist, indem sie ein Staatsvolk u. a. über die Standardisierung einer Sprache, damit verbundener spezifischer kultureller Setzungen und der Vermittlung eines kolonialen rassistischen Wissens erzieht.Footnote 57 Das macht es auch schwierig, Rassismus im Kontext von Schule zu bearbeiten, weil rassistische Trennungen die Ziele und Strukturen der Schule konstituieren.

In einer ähnlichen Perspektive konstatiert Thompson in Bezug auf die Polizei, dass diese historisch zum Schutz vergeschlechtlichter und rassifizierter Besitzverhältnisse etabliert wurde. Aber auch das Kontrollieren, Erfassen und nicht zuletzt das Unterbinden der Mobilität von Menschen gehört historisch zu den Kernaufgaben der Polizei, die dabei Prozesse der Rassifizierung unterstützt, aber auch selbst hervorbringt.Footnote 58 Sehr deutlich lässt sich das an der jahrhundertewährenden polizeilichen Erfassung von Sinti:zze und Rom:nja nachzeichnenFootnote 59, die trotz eines Verbots immer wieder erfolgt und durch antirassistische Initiativen problematisiert wird (zuletzt z. B. in der Berliner Kriminalstatistik von 2017). Mit diesen Befunden wird deutlich, dass in Institutionen nicht nur die sogenannte Pfadabhängigkeit zum Problem wird – dass also einmal etablierte rassistische Erklärungsmuster und Handlungsroutinen immer weiter verfolgt werden. Vielmehr wurden einige Institutionen eigens dafür gegründet, rassistische Unterscheidungen hervorzubringen, zu etablieren und abzusichern. Die Befunde zeigen, dass diese historische Dimension des Rassismus in Institutionen berücksichtigt werden muss, wenn dieser abgebaut werden soll.

4 Schluss

Rassismus ist ein komplexes gesellschaftliches Verhältnis, das sich auf allen Ebenen des Gesellschaftlichen (Diskurse, Institutionen, Praktiken etc.) analysieren lässt. Obgleich rassistische Gruppenkonstruktionen oft Jahrhunderte alt sind, wandelt sich Rassismus dennoch beständig. Wie der Begriff des „Rassismus als gesellschaftlichem Verhältnis“ bereits andeutet, wandelt er sich nicht zuletzt durch die Kämpfe gegen ihn.Footnote 60 So haben z. B. erfolgreiche Kämpfe um eine Reform des Staatsangehörigkeitsrechts, die Einbürgerung ermöglicht, insbesondere Migrant:innen politische Partizipationsmöglichkeiten eröffnet. Gleichzeitig wurde damit in gewisser Weise ein doppelter Boden in die Staatsangehörigkeit eingezogen: Für Menschen, die sie nicht von Geburt an besitzen, ist sie in vielen Fällen reversibel geworden.Footnote 61 Jahrzehnte andauernde Kämpfe um eine nicht-diskriminierende Sprache haben dazu geführt, dass Straßennamen und auch das wording in Medien nachhaltig verändert wurden.Footnote 62 Gleichzeitig haben Kämpfe gegen Rassismus dazu geführt, dass sich rassistische Ausschlüsse verändert haben: So ist ein Kopftuchverbot für Lehrer:innen 2003 eingeführt worden, zwei Jahre nach der Reform des Staatsangehörigkeitsrechts und damit in dem Moment, als eine nennenswerte Zahl muslimischer junger Frauen ein Lehramtsstudium absolvierte, statt wie ihre Eltern noch in der Fabrik zu arbeiten.Footnote 63 Zum Teil hat sich der Kampf gegen Rassismus selbst institutionalisiert, indem Ombuds- und Beratungsstellen für Diskriminierung eingerichtet werden. Viele dieser Kämpfe werden von einzelnen Personen allein und ohne Erfolg in ihrem Alltag ausgefochten, andere Kämpfe sind außerordentlich erfolgreich. Die Beschäftigung mit Rassismus sollte die Kämpfe gegen Rassismus immer im Blick behalten. Denn nur so gelingt es, Rassismus als ein gesellschaftliches Verhältnis zu verstehen, dass veränderbar ist.