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Abschließende Diskussion

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Therapeutische Arrangements im Maßregelvollzug
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Zusammenfassung

In der abschließenden Diskussion werden die spezifischen Bezugsprobleme der forensischen Psychiatrie systematisch aufgearbeitet und dargestellt. Diese kreisen um das Dilemma, dass der Versuch, forensische Patienten zu resozialisieren, nolens volens Eigensozialisation voraussetzt (also die Veränderung des Selbstverhältnisses des Patienten), dies jedoch außerhalb der Kontrolle der Klinik liegt. Für den Patienten besteht umgekehrt die Herausforderung, in einem Zwangsregime autonom zu bleiben. Die Klinik unterdrückt Autonomie und ist andererseits jedoch auf die eigensinnige Mitarbeit des Patienten angewiesen. Sie versucht nicht zuletzt aufgrund ihres gesellschaftlichen Auftrags die Patienten zu kontrollieren, muss aber an entscheidenden Stellen genau hiervon absehen – und dabei nach außen dennoch so tun, als ob sie jederzeit die Kontrolle hätte. In einer ethischen Reflexion wird darüberhinausgehend die Frage gestellt, wie die Organisation des Maßregelvollzug die Freiheitsgrade generieren kann, welche für therapeutische Arbeit und die Selbstermächtigung der Patienten notwendig sind.

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Notes

  1. 1.

    Rilke (1955, S. 557).

  2. 2.

    Die Theorie dynamischer Systeme behandelt Selbstorganisationsvorgänge in physikalischen, chemischen oder biologischen Systemen, die sich fern vom Gleichgewicht befinden (s. etwa Prigogine und Nicolis 1987). In diesem Zusammenhang sind Konzepte und eine Theoriesprache entstanden, deren Begriffe gut geeignet sind, die Dynamiken sozialer Systeme zu beschreiben.

  3. 3.

    In den einleitenden Kapiteln haben wir den Fall von Herrn Volkert, einem Mann mit pädophilem Begehren, vorgestellt. Hier zeigten sich zunächst drei Konstellationen, in die die Systemdynamik in Sinne eines stabilen Attraktors einrasten kann: 1) Im Schutze einer bürgerlichen Normalbiografie in verdeckter Form die Pädophilie zu leben; 2) sich als verurteilter Straftäter für seine pädophilen Handlungen verantworten zu müssen; 3) als psychisch kranker Pädophiler im Maßregelvollzug behandelt zu werden.

  4. 4.

    Die Theorie dynamischer Systeme spricht hier von „Bifurkationen“ (Prigogine und Nicolis 1987, S. 138) innerhalb der Systementwicklung.

  5. 5.

    Während bspw. Herr Volkert vor seiner Einweisung in den MRV mit über 50 Jahren zuvor ein normales, bürgerliches Leben führte, haben wir auch Untergebrachte getroffen, die bis auf wenige Jahre ihr gesamtes bisheriges Leben in mehr oder weniger offenen bzw. geschlossenen Einrichtungen verbracht haben. In solchen Fällen stellt der MRV dann möglicherweise lediglich eine weitere Unterbringung unter vielen dar.

  6. 6.

    Es ließe sich darüber hinaus auch fragen, inwieweit diese Weltverhältnis durch die institutionellen Entscheidungsprämissen der jeweiligen Klinik konditioniert wird, etwa dem leitenden Behandlungskonzept und der hiermit einhergehenden therapeutischen Ideologie. So kann das Setting psychoanalytisch geprägt oder gefärbt sein, was heißt, dass von allen Beteiligten gefordert wird, über die inneren Zustände, Phantasien, Assoziationen etc. Auskunft zu geben, um auf diesem Wege Ich-Stärke und Selbstkontrolle zu entwickeln. Der primäre therapeutische Rahmen kann jedoch auch verhaltenstherapeutisch formatiert sein, sodass Selbstkontrolle und Selbstmanagement vor allem über positive und negative Anreize konditioniert werden. Ein anderes Setting mag wiederum mehr systemisch oder sozialtherapeutisch ausgerichtet sein und beispielsweise über eine angegliederte Druckerei die Reintegration bahnen wollen. Folgt eine Einrichtung hingegen eher dem Paradigma der biologischen Psychiatrie, so wird man von einem pädophilen Patienten als Voraussetzung für den Freigang womöglich die Einnahme antiandrogener Medikation verlangen, während in einem eher psychotherapeutisch angelegten Setting die chemische Triebdämpfung nicht gefordert bzw. nur unterstützend angewendet wird, wenn der Patient es von sich aus will. In den meisten Kliniken kommt jedoch eine bestimmte Mischung unterschiedlicher Konzepte und Settings zur Anwendung, was dann wiederum jeder Station oder Einrichtung einen spezifischen Charakter gibt. Generell ist jedoch darauf hinzuweisen, dass Rehabilitationsprogramme und Psychotherapien als personenenbezogene Dienstleistung technologisch unterbestimmt sind, also nicht ohne weiteres auf eine allgemeine, fachübergreifend akzeptierte Wissensbasis (bzw. therapeutische Ideologie) gestellt werden können (vgl. Klatetzki 2010, S. 13).

  7. 7.

    Vielleicht nimmt der Patient dabei nur formal die Rolle des forensischen Patienten ein, etwa als gelehriger Patient, wie beispielsweise Herr Volkert. Vielleicht geht er oder sie eher in offenen Widerstand, wie lange Zeit Frau Schmidt oder es findet eine Art Rückzug in eine depressive Haltung statt, womit ebenfalls ein Widerspruch mit der Patientenrolle ausgedrückt werden kann.

  8. 8.

    Hier nochmals der Verweis darauf, dass diese Metapher dem Aufsatz von Gregory Bateson über die „Kybernetik des Selbst“ am Beispiel von Alkoholikern entlehnt ist (1992[1972], S. 400 ff.). An dieser Stelle ist jedoch darauf hinzuweisen, dass die Einnahme dieser Epistemologie (anders als in Batesons Aufsatz anklingend), nicht in jedem Falle als problematisch anzusehen ist sondern auch – wie im Falle von Frau Schmidt – dem Prozess der Resozialisation zuträglich sein kann.

  9. 9.

    Dies stellt eine sprachliche Vereinfachung dar. Wir haben es immer mit Selbst- und Weltverhältnissen zu tun, betonen aber je nach Perspektive mal den einen, mal den anderen Aspekt.

  10. 10.

    Gerade im Auszug der Behandlungskonferenz von Herrn Zimmermann lässt sich gut beobachten wie ‚fluide‘ eine konkrete Diagnose ist. Dies konnten wir auch in anderen Fällen beobachten.

  11. 11.

    Man könnte hier mit Blick auf die Statistik der Unterbringungsdauern ergänzen, dass es einen großen Unterschied macht, in welchem Bundesland ein Patient untergebracht ist. So ist ein Patient in Hessen im Schnitt rund 5 Jahre (!) schneller entlassen als ein Patient im Saarland (vgl. hierzu etwa Müller 2019).

  12. 12.

    Eine erfahrene therapeutische Stationsleitung berichtete uns den eigentlich offensichtlichen und doch nicht zu unterschätzenden Umstand, dass die gleichen Patienten je nach Station und Konzept unterschiedlich behandelt werden. Auf einer Station für Persönlichkeitsgestörte wird man behandelt wie ein Persönlichkeitsgestörter, wechselt man auf eine Station, auf der vorwiegend schizophrene Patienten untergebracht sind, wird man ebenfalls vorwiegend als Schizophrener behandelt.

  13. 13.

    Hier trafen wir alles an – von größter Freundschaft bis größter Feindschaft.

  14. 14.

    In expliziter Form geschieht dies etwa, wenn die Klinik den Patienten in eine extra hierfür vorgesehene Station für aussichtslose Langzeitpatienten verschiebt. Implizit geschieht es, wenn mit den Jahren allen Beteiligten des Personals mehr oder weniger klar wird, dass der Patient nur noch verwahrt wird.

  15. 15.

    Ein Klinikleiter berichtete uns von einem Patienten, bei dem er ahnte, dass dieser erst einmal entweichen muss, um die Ernsthaftigkeit des Maßregelvollzugs zu begreifen. Er ließ ihn kontrolliert entweichen, um ihn dann wieder zu „schnappen“.

  16. 16.

    Siehe hierzu bereits Strauss et al. (1963), kritisch mit Blick auf die Psychiatrie auch Dellwing (2008).

  17. 17.

    Mit Blick auf Luhmanns Formulierung zum Misstrauen wird deutlich, dass im Falle des unbegleiteten Ausgangs nicht alle Gefahren kontrolliert werden können, und man – allen Kontrollmaßnahmen zum Trotz –nicht gänzlich ohne Vertrauen auskommt: „Mißtrauen ist die stärker einschränkende (aber immer noch erweiternde) Strategie. Man läßt sich auf ein Risiko nur ein, wenn man für Eventualitäten vorgebeugt hat, zum Beispiel Sanktionen an der Hand hat oder gegen Schaden ausreichend versichert ist“ (Luhmann 1984, S. 180).

  18. 18.

    Vgl. hierzu wieder die unterschiedlichen durchschnittlichen Verweildauern im Ländervergleich (Müller 2019). Wir haben auch Patienten getroffen, die – nach Aussage des betreuenden Personals – bereits vor zwei Jahren hätten entlassen werden sollen, man aber immer noch auf die Zusage eines Wohnheimplatzes warte. Die betreffende Klinik hat mit dem Problem zu kämpfen, dass selbst die trägereigenen Anschlusseinrichtungen die Patienten aus der MRV-Klinik nicht haben will.

  19. 19.

    In einem uns von einer Oberärztin berichteten Fall sollte ein gut behandelter und einsichtig erscheinender pädophiler Mann in ein Wohnheim auf dem Lande entlassen werden. Dies konnte jedoch nicht umgesetzt werden, da der Bürgermeister der Ortschaft unter Verweis auf bauliche Mängel die auf ehemalige Sexualstraftäter spezialisierte Einrichtung schließen ließ.

  20. 20.

    Man denke hier etwa an das gegen Ende von Kap. 1. benannte Beispiel eines Patienten mit Migrationshintergrund, der bei der Ankunft in seinem Wohnheim nach der Entlassung von ein paar älteren Herrschaften mit dem Hitler-Gruß begrüßt wurde.

  21. 21.

    Siehe in diesem Sinne dann auch Wittgenstein: „Angenommen, es hätte jeder eine Schachtel, darin wäre etwas, was wir „Käfer“ nennen. Niemand kann je in die Schachtel des Anderen schauen, und jeder sagt, er wisse nur vom Anblick seines Käfers, was ein Käfer ist. — Da könnte es ja sein, dass jeder ein anderes Ding in seiner Schachtel hätte. Ja, man könnte sich vorstellen, dass sich ein solches Ding fortwährend verändert. — Aber wenn nun das Wort ‚Käfer‘ im Sprachgebrauch dieser Leute doch etwas bedeutete? — So würde er nicht als Bezeichnung eines Dings gebraucht. Das Ding in der Schachtel gehört überhaupt nicht zum Sprachspiel, auch nicht einmal als ein Etwas, denn die Schachtel könnte auch leer sein. (…) Es hebt sich [aus der Betrachtung] weg, was immer es ist“ (Wittgenstein 1990, S. PU § 293).

  22. 22.

    Siehe auch di Paolo et al. (2018).

  23. 23.

    Und scheint nicht zu sehen, dass ‚emotionale Abflachung‘ ein lehrbuchgemäßes Symptom der von ihnen gestellten Diagnostik ist, vor allem bei einer bereits mehrere Jahrzehnte andauernden Behandlung mit Psychopharmaka.

  24. 24.

    Derzeit gibt es eine Diskussion, ob Elektrokrampftherapie als Zwangsmaßnahme im Maßregelvollzug eingeführt werden soll (siehe hierzu bereits Witzel et al. 2009).

  25. 25.

    An dieser Stelle sei darauf hingewiesen, dass es allerdings auch psychiatrische Krankheitsbilder gibt – etwa aus dem schizophrenen Formenkreis – die sich durch starke Schmerzresistenz und Dissoziation vom Körpererleben auszeichnen.

  26. 26.

    Einer der teilnehmenden Beobachter hat einmal aus Versehen den Alarm am Pieper ausgelöst (dies geschieht bereits, wenn das Gerät für eine Sekunden in eine Schräglage kommt). Innerhalb von ca. 30 s kamen fünf Pflegekräfte in den Raum.

  27. 27.

    Der „Schlüssel“ steht dann auch im Feld als Metapher für die Unterordnungs-/Überordnungsverhältnisse, nicht nur visuell, sondern auch akustisch. Auch für uns als teilnehmende Beobachter war in den unterschiedlichen Kliniken eine je eigene „Akustik“ des Schließsystems wahrnehmbar. Sei es das Rasseln von Schlüsselbunden oder das Piepen und Klacken von Transpondersystemen.

  28. 28.

    Vor allem Zinkler und von Peter (2019) fordern eine organisationale Trennung von „Unterstützung“ und „soziale Kontrolle“.

  29. 29.

    Siehe zum Thema „Menschenregierungskünste“ unter dem schönen Titel „Gute Hirten führen sanft“ Bröckling (2019).

  30. 30.

    Siehe zu letzterem etwa den Kölner Express vom 14.12.2009, ferner auch den Weserkurier vom 12.05.2017, insgesamt zu den Zuständen am Beispiel Berlin die ZEIT vom 16. Dezember 2020. https://www.weser-kurier.de/bremen/nach-gewaltsamer-fixierung-psychiatrie-patient-stirbt-doc7e3i9sr6nop18kpm7glj;

    https://www.zeit.de/2020/53/berliner-massregelvollzug-kmv-straftaeter-gewalt-drogen-betreuung (beides Abruf am 13.10.2021).

  31. 31.

    Einer der von uns interviewten Patienten hatte aufgrund der Medikation 60 kg zugenommen.

  32. 32.

    Siehe zur Auseinandersetzung mit Bataille etwa „Welt der Abgründe“ (Boelderl 2015)..

  33. 33.

    Man mag hier etwa an junge Patienten aus dem bürgerlichen Milieu denken, die das Regime des Maßregelvollzugs mit ihren eigenen Werten bzw. Normalitätsvorstellungen in Einklang bringen und sich entsprechend auch schnell auf die Therapie einlassen können. In Einzelfällen gewinnen diese Patienten – etwa nach erfolgreicher medikamentöser Einstellung – schnell ihre Autonomie zurück und werden dann auch so zeitig entlassen, dass die Möglichkeiten einer ‚normalen‘ bürgerlichen Biografie zumindest prinzipiell noch vorhanden sind.

  34. 34.

    So noch die Bezeichnung in § 20 Strafgesetzbuch, Stand 2018. Im Jahr 2020 wurde im Zuge einer sprachlichen Änderung die „Abartigkeit“ durch „Störung“ ersetzt.

  35. 35.

    Es mögen auch Fälle denkbar sein, in denen die Krankheit positiv, die Taten aber negativ besetzt sind und umgekehrt. In Sinne der Leerstellengrammatik des forensischen Arrangements ist also jeweils im Einzelfall zu rekonstruieren, wie und unter welchem Vorzeichen sich die jeweiligen Stellen und Positionen 

    zueinander verhalten.

  36. 36.

    Das ist ja genau die Grundlage der Schuldunfähigkeitserklärung (§ 20 StGB), die hiermit konterkariert wird.

  37. 37.

    Das psychiatrische Regime kann seitens der Patienten noch in einer anderen Form internalisiert werden, etwa durch die besonders strebsamen Patienten, die alles richtig machen wollen, sich konform verhalten und gerade dadurch die Chance bekommen, schneller entlassen zu werden.

  38. 38.

    Maturana (1994).

  39. 39.

    Die genauere Analyse der Gesprächsprotokolle einiger Patienten wird dann vermutlich zeigen, dass immer beides gleichzeitig der Fall ist. Und damit ist mit der bevorstehenden Entlassung zugleich eine immer auch problematische Trennung vorprogrammiert. Dies kreuzt sich dann mit der Frage, wie man sich als Patient zum medizinischen Regime verhalten soll, inwieweit dabei Beziehungen oder gar eine Art von Freundschaft mit Therapeuten oder Mitgliedern vom Personal aufgebaut werden kann, zumal ja gute Gründe bestehen, das Regime abzulehnen.

  40. 40.

    Siehe hierzu ausführlicher Feißt (2017).

  41. 41.

    Winnicot (2020) und Klein (1952).

  42. 42.

    Siehe zur Typisierung von „sozialen personenbezogenen Dienstleistungsorganisationen“ und den damit verbundenen Unterscheidungen zwischen „people processing“, „people sustaining“ und „people changing“, Klatetzki (2010, S. 10).

  43. 43.

    Siehe zur „Verborgenheit der Gesundheit“ auch Gadamer (1993).

  44. 44.

    Um es mit Niklas Luhmann zu formulieren: „Wir müssen uns jetzt der Frage stellen, wieso das Problem der doppelten Kontingenz ‚sich selbst löst‘; oder weniger zugespitzt formuliert: wie es dazu kommt, daß das Auftreten des Problems einen Prozeß der Problemlösung in Gang setzt. Entscheidend hierfür ist der selbstreferentielle Zirkel selbst: Ich tue, was Du willst, wenn Du tust, was ich will. Dieser Zirkel ist, in rudimentärer Form, eine neue Einheit, die auf keines der beteiligten Systeme zurückgeführt werden kann. In dieser Einheit hängt die Bestimmung eines jeden Elements von der eines anderen ab, und gerade darin besteht die Einheit. Man kann diesen Grundtatbestand auch als eine sich selbst konditionierende Unbestimmtheit charakterisieren: Ich lasse mich von Dir nicht bestimmen, wenn Du Dich nicht von mir bestimmen läßt. Es handelt sich, wie man sieht, um eine extrem instabile Kernstruktur, die sofort zerfällt, wenn nichts weiter geschieht. Aber diese Ausgangslage genügt, um eine Situation zu bilden, die die Möglichkeit birgt, ein soziales System zu bilden. […] Dieses soziale System gründet sich mithin auf Instabilität. Es realisiert sich deshalb zwangsläufig als autopoietisches System. Es arbeitet mit einer zirkulär geschlossenen Grundstruktur, die von Moment zu Moment zerfällt, wenn dem nicht entgegenwirkt wird“ (Luhmann 1984, S. 166).

  45. 45.

    Die organisationale Problematik solcher Entscheidungen ist nicht neu, wie Hess und Bretthauer anhand eines Falles aufzeigen, der 1885 an der Charité verhandelt wurde: „Die Krankenakte K. enthält jedoch die Dokumentationen zweier Einrichtungen. Deren Überlieferung mag nicht symmetrisch sein, doch hinreichend für eine Widersprüchlichkeit und Heterogenität, in der sich ein Eigensinn des historischen Quellenmaterials manifestiert. Doch auch an den Grenzen zweier institutioneller Diskurse beantwortet sich die Frage nach der agency des Gefängnisinsassen und Patienten K. nicht. Vielmehr ist diese nur als Leerstelle zu ahnen, als Widerständigkeit der von institutionellen Wahrheitstechniken eingefangenen und gebannten Worte, Sätze und Wendungen, das gewissermaßen „Unsagbare“. Wir möchten sogar behaupten, dass die Sprache der Akte, die Beobachtung der Ärzte und das Bemühen der Justiz um Neutralität, mithin die „Wahrheitswirkungen“ der textlichen Überlieferung, diese Frage systematisch verfehlen (Foucault 2003, S. 331). Damit ist das Konzept einer den historischen Akteuren eigenen agency keineswegs entkräftet. Vielmehr markiert der Verdacht dieser Unentscheidbarkeit einen Eigensinn des historischen Subjekts, der sich in der archivalischen Überlieferung niederschlägt, aber nicht von ihr erfasst wird“ (Hess und Bretthauer 2009).

  46. 46.

    In Wittgensteins Tractatus heißt es dann:

    „Es ist klar, dass sich die Ethik nicht aussprechen lässt.

    Die Ethik ist transzendental. (Ethik und Ästhetik sind Eins.)

    Der erste Gedanke bei der Aufstellung eines ethischen Gesetzes von der Form „Du sollst. “ ist: Und was dann, wenn ich es nicht tue? Es ist aber klar, dass die Ethik nichts mit Strafe und Lohn im gewöhnlichen Sinne zu tun hat. Also muss diese Frage nach den F o l g e n einer Handlung belanglos sein. – Zum Mindesten dürfen diese Folgen nicht Ereignisse sein. Denn etwas muss doch an jener Fragestellung richtig sein. Es muss zwar eine Art von ethischem Lohn und ethischer Strafe geben, aber diese müssen in der Handlung selbst liegen. (Wittgenstein 1990, S. Proposition 6.421 f.)

  47. 47.

    Siehe hierzu ausführlich das Kapitel „Implizite Ethik, Leiblichkeit und Polykontexturalität“ in Vogd (2018b).

  48. 48.

    Mit Blick auf die Frage der eigenen Wirkmächtigkeit landen wir damit bei dem kybernetischen Primat: Willst Du kontrollieren und steuern, so musst Du dich von anderen kontrollieren und steuern lassen (vgl. Baecker, 1994).

  49. 49.

    Wir wollen damit keineswegs eine normative Perspektive einnehmen, die besagt, dass der Maßregelvollzug doch eine „gute Sache“ sei, wenn sich die Beteiligten nur darauf einlassen würden. Unser Punkt an dieser Stelle ist: es bringt im Alltag weder dem Personal noch dem Patienten besonders viel, sich über die Dysfunktionalität des Systems zu beschweren. Das ist nur dann produktiv, wenn es eine politische Dimension bekommt.

  50. 50.

    Für Stanley Cavell, der ebenfalls an Wittgensteins Arbeiten zur impliziten Ethik ansetzt, liegt der „Witz der Bewertung“ entsprechend nicht darin, „zu bestimmen, ob sie angemessen ist, wobei das, was angemessen ist, durch die Form der Bewertung selbst gegeben ist; der Witz ist vielmehr zu bestimmen, welche Position du einnimmst, d. h., für welche Position du die Verantwortung übernimmst – und ob ich diese achten kann. […] Soweit wir haben sehen können, steht in solchen Beispielen nicht die Gültigkeit der Moral als Ganzes auf dem Prüfstand, sondern das Wesen oder die Qualität unserer Beziehung zueinander“ (Cavell 2016, S. 438 f.).

  51. 51.

    Aus unserer Sicht liegt denn auch genau hierin die Crux im Fall Zimmermann. Hier hat sich das Arrangement zu sehr auf die Durchsetzung einer Common-Sense Perspektive eingeschossen (‚Sie müssen jetzt endlich mal ein bisschen Reue zeige‘). Gerade diese Form der Moralisierung scheint hier ein (auch in ethischer Hinsicht) erfolgreiches Arrangement zu verhindern, da sie den Blick auf andere, ebenfalls mögliche Beziehungen verstellt. So stellt sich das zumindest aus unserer Rekonstruktion der Konstellationen dar, die sich im Rahmen unseres Feldaufenthaltes gezeigt haben.

  52. 52.

    In diesem Sinne lassen sich die leitenden Diagnosen als Erwartungskorridore betrachten, die als Entscheidungsprämissen (Luhmann 2000) die Praxis konditionieren. Im Sinne der Leerstellengrammatik erscheinen diese Erwartungskorridore als ein zum Systemgedächtnis verhärtetes Arrangement, das gegenüber einer Rekonfiguration bzw. Lernen eine gewisse Trägheit entgegensetzt. Eine Psychose und die hiermit möglicherweise einhergehende Diagnose einer paranoiden Schizophrenie legt ein bestimmtes Behandlungsregime nahe, das zumindest unter dem üblicherweise hier vertretenen biomedizinischen Paradigma die Tat unter Absehung von Beziehungsaspekten und Fragen nach dem Motiv allein als Ausdruck der psychiatrischen Erkrankung ansieht. Damit ist für den Patienten wie auch für die Therapie eine bestimmte Richtung vorgegeben. In Bezug auf das Delikt fragt man nicht mehr nach dem Motiv und strebt auch nicht an, die Einzelheiten der Tat aufzudecken, sondern man einigt sich eher darauf, dem Wahn selbst keine sinnhafte Bedeutung zu geben. Dass Herr König seine Mutter für einen Klon des Geheimdienstes gehalten und getötet hat, erscheint damit gleichsam ‚nur‘ als ein sehr, sehr tragischer Unfall, es braucht jedoch nicht gefragt werden, ob dahinter ein verborgener Beziehungsaspekt liegt, ob etwa der Patient vielleicht seine Mutter aus diesem oder jenem Grund gehasst und deshalb angegriffen hat. Dies reduziert erheblich die Komplexität im Behandlungsarrangement.

    Um es mit Dirk Baecker (1997) zu formulieren: Es entsteht eine Form „einfacher Komplexität“, die jedoch immer wieder zur komplexeren Formen zurückkehren kann, etwa indem mit der Frage nach der richtigen Diagnose (wie im Fall Zimmermann) das Fass erneut aufgemacht wird. Infolge dieser Reduktion von Möglichkeiten stellt sich ein Arrangement ein, in dem der Patient und die Therapeuten ‚wissen‘, dass es in der weiteren Zusammenarbeit wesentlich darum geht, dass die Medikamente eingenommen werden und in der Psychoedukation gelernt wird, mit der Krankheit umzugehen und rechtzeitig zu erkennen, wenn Symptome auftreten, die auf eine Verschlimmerung der Erkrankung hinweisen. Es geht jedoch nicht etwa darum, die Affektdynamik der familiären Konstellationen aufzuarbeiten. Die Nebenwirkungen der Medikation bestärken dann ebenso wie die kommunikativen Aspekte des Behandlungssettings ein Selbst- und Weltverhältnis, das sich auch in dem hiermit einhergehenden Arrangement der beteiligten Körper ausdrückt und damit mit der Zeit gewissermaßen ‚in Fleisch und Blut übergeht‘.

  53. 53.

    Dass diese Beziehung nicht einer ‚normalen‘ Alltagsbeziehung entspricht, spricht hier weniger dafür, einen anderen Begriff hierfür zu verwenden, sondern weist gerade auf die Normalität hin, die eben für die Patientinnen auf Station herrscht. Medikamentenausgabe etc. ist eben Alltag. Und das über Jahre und Jahrzehnte.

  54. 54.

    Vergleiche hierzu auch die ethnographische Studie zum „Alltag in der Anstalt“ von Fengler & Fengler (1980).

  55. 55.

    Siehe zu einer Ethik der Vulnerabilität im Anschluss an Lévinas auch Schnell (2017).

  56. 56.

    Dies darf nicht dahingehend interpretiert werden, dass die totale Institution die einzige Möglichkeit ist, psychisch kranken Straftätern wieder einen Platz in der Gesellschaft zu geben. In vielen Fällen kann das System des Maßregelvollzugs durchaus als dysfunktional angesehen werden, da es auf Hochsicherheitseinrichtungen setzt und mitunter auch Patienten, bei denen das Risiko schwerer Straftaten als recht gering einzuschätzen ist, kaum mehr loswird. Man hat nur keinen anderen Ort für sie.

  57. 57.

    Siehe etwa Oevermann (1996, 2000) und Stichweh (1987, 2008).

  58. 58.

    Dies heißt selbstredend, dass es auch für die immer mit einem Restrisiko behafteten Entscheidungen kein wissenschaftliches Kalkül geben kann, wie nun im Einzelfall richtigerweise in Bezug auf einen Patienten zu handeln ist. Oevermann (1995, S. 94) bezeichnet folgerichtig die „Selbst-Szientifizierung durch Selbst-Subsumption unter wissenschaftliche Theorien“ als eine „technokratische Regression“, in der „die Autonomie zugunsten einer Aufgeklärtheit aufgegeben wird“.

  59. 59.

    Siehe zu einer philosophischen Kritik an der organisationalen Verfestigung ethischer Prämissen Berger und Heintel (1998).

  60. 60.

    Klatetzki spricht von „problematische[n] und aufgezwungene[n] Maße[n] für Erfolg“ (Klatetzki, 2010, S. 17 ff.), um damit auf die Problematik hinzuweisen, dass es in Bezug auf personenbezogene Dienstleistungen in der Regel keine standardisierten Kriterien für ‚gute‘ Arbeit geben kann.

  61. 61.

    Und auch hier wäre zu fragen: besser für wen?

  62. 62.

    Siehe zur Diskussion, ob Jaspers‘ Werk einer impliziten Ethik folgt, Weidmann (2004), sowie generell zur Idee einer impliziten Ethik Wittgenstein (1989).

  63. 63.

    Siehe zu medizinethischen Überlegungen aus Perspektive der Vulnerabilität auch Schnell (2017).

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Vogd, W., Feißt, M. (2022). Abschließende Diskussion. In: Therapeutische Arrangements im Maßregelvollzug. Springer VS, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-658-37131-9_5

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