Zusammenfassung
Der Beitrag stellt die soziologische Denkweise und Forschung von Alain Touraine vor – einem jener vier Autoren, die als moderne Klassiker der französischen soziologischen Theorie gelten, als ‚Quadriumvirat‘ der Disziplin (neben Michel Crozier, Raymond Boudon und Pierre Bourdieu). Touraines soziologische Denkweise wird dabei sichtbar als eine des Akteurs oder des Subjekts – und zwar weniger entlang eines weberianischen methodologischen Individualismus, als vielmehr in einer genuin politischen und aktivistischen Denkweise. Das Subjekt ist für Touraine eines, das sich im Konflikt gegen die gesellschaftlichen Kräfte konstituiert, die es zu kontrollieren suchen. Durch die im Beitrag aufgezeigten theoretischen Umorientierungen (von einem zunächst noch deterministischen über ein konflikttheoretisches Denken zu einer Theorie sozialer Bewegungen) hindurch zieht sich eine konzeptionelle Linie – die Frage nämlich, wie es dem Individuum gelingt, wirklich Akteur, wirklich Subjekt, ‚sujet-véritable‘ zu werden. Damit verbunden ist eine Soziologie, die sich immer erneut für die Auflösung des Gesellschaftsbegriffes ausspricht – für eine „Soziologie nach der Soziologie“.
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Notes
- 1.
Siehe zu den Bibliografien von Touraine und den Mitgliedern seines Forschungszentrums www.ehess.fr/cadis. Alle Übersetzungen aus dem Französischen im Folgenden von mir, HD (Übersetzerin).
- 2.
Seine erste Frau war eine Chilenin; Touraine lehrte an zahlreichen südamerikanischen Universitäten und unterhielt enge Beziehungen vor allem mit solchen aus Chile, Brasilien und Mexiko. Er war im Übrigen auch in Santiago de Chile, als Pinochet putschte.
- 3.
Der Konflikt betrifft den sozialen Wandel und erfüllt zumindest die notwendigen Bedingungen für den Übergang von einem Gesellschaftstyp zum anderen (vgl. dazu Touraine Touraine 1974a.
- 4.
Anm. d. Ü.: Touraines ‚Handlungswissenschaft‘ oder ‚Soziologie des Akteurs‘ ist also trotz dieser Titel nicht zu verwechseln mit dem handlungstheoretischen Ansatz Max Webers und dessen Nachfolgern, auch, weil Touraine die Maxime der Werturteilsfreiheit nicht teilt, weil er nicht rein methodologisch oder wissenschaftstheoretisch operiert – und vor allem nicht handlungstheoretisch. Vgl. zum Unterschied zwischen den Handlungstheorien aus Frankreich – von Raymond Boudon und Francois Bourricaud („Aktionismus“) – zum Ansatz von Touraine („Aktionalismus“) sowie zum Unterschied zwischen Weber und Boudon/Bourricaud Hirschhorn (2000); zu Touraine vgl. auch Lapeyronnie (2000) (der von einer „Soziologie der sozialen Bewegungen“ spricht, nicht von einer Akteurstheorie); siehe zudem (deutschsprachig) Peter (2004).
- 5.
Vgl. z. B. L’État, Le Pouvoir, Le Socialisme (in dt. Übersetzung Staatstheorie, Poulantzas 2002 [1978]).
- 6.
Vgl. dazu Richter (2011), zu Touraine auch Bert (2013: 1). Auch Claude Lévi-Strauss sprach vom Ziel, den Menschen in den Humanwissenschaften „aufzulösen“ (1973: 284); ähnlich siehe auch Derrida (1976); zum neuen Humanismus von Lévi-Strauss dagegen Loyer (2017). Siehe dazu auch den Beitrag von Heike Delitz und Julia Koch in diesem Band.
- 7.
Anm. d. Ü.: Die okzitanischen Bewegungen suchen seit dem 19. Jh., die historische und kulturelle sowie Sprachregion ‚Okzitanien‘ wiederherzustellen, die Teile Frankreichs, Spaniens, Italiens und Monacos beinhaltet und die seit dem 13. Jahrhundert nachweisbar ist.
- 8.
Lapeyronnie (2000: 82) berichtet übrigens auch, dass mit der Methode der soziologischen Intervention auch terroristische Gruppen (wie die ETA) untersucht wurden, unter anderem mit dem Ergebnis, die Radikalisierung nicht nur monokausal zu verstehen, sondern vielfältige Gründe zu erkennen.
- 9.
Auch an dieser Stelle wäre es übrigens interessant, den zahlreichen Anleihen aus dem Vokabular der Psychoanalyse nachzugehen, die sich bei Touraine finden – im stets sichtbaren Bezug auf Freud und im Versuch, das Subjekt neu zu definieren.
- 10.
Die SoziologInnen bilden Gruppen (von ca. zwölf TeilnehmerInnen) im Ziel, Diskussionen anzustoßen, und um (im Unterschied zum Interview oder der Beobachtung) eine neue Beziehung zwischen Beobachtern und sozialen Akteuren zu erreichen – mit der klassischen Haltung der Soziologie brechend.
- 11.
Die Antiatomkraftbewegung und die antitechnokratische Bewegung ist hingegen vor allem wegen der lokalen Kämpfe und ihrer Kritik an der industriellen Kultur im weitesten Sinn bedeutsam.
- 12.
Diese Frage war Gegenstand einer langen Intervention Touraines: „Man muss sagen, dass die Frauenbewegung keine wichtige soziale Bewegung sein kann, wenn sie nicht über sich selbst reflektiert, angesichts der Forscher, die ebenso Männer wie Frauen sind. Daher muss eine Forschergruppe, die diese Bewegung aktivistischer Frauen betrifft, aus Männern und Frauen bestehen“ (Touraine 1982: 234 f.).
- 13.
Die ‚Regionen‘ der Herrschaft sind vielfältig und reduzieren sich in den postindustriellen Gesellschaften nicht mehr auf den Status der Individuen (Produzent oder Konsument zu sein); fortan ereignet sich die Herrschaft auch über die Kontrolle oder Eingrenzung der nicht-produktiven Aktivitäten: die Freizeit, die kulturellen Güter, die medizinische Versorgung…
- 14.
An dieser Stelle zeigt sich eine Differenz zu Bourdieu, der (Die männliche Herrschaft, Bourdieu 2012) die Bewegung der Frauenemanzipation überhaupt nicht erwähnt; für ihn ist die ‚männliche Herrschaft‘ total, irreversibel und ohne möglichen Ausweg.
- 15.
Anm. D. Ü.: Nach wie vor schreibt Touraine über die Gegenwartsgesellschaft; so erschien 2021 La Société de communication et ses acteurs (Es heißt darin: „Frauen und Migranten [sind] die beiden grundlegenden Kräfte der Kommunikationsgesellschaft […]. Die Frauen, indem sie uns vom Regime der maskulinen Vernunft befreien […], und die Migranten, da die Anerkennung ihrer Rechte uns vom kolonialen Erbe befreit“). 2018 publizierte Touraine zudem eine Défense de la modernité.
- 16.
Anm. d. Ü.: Vgl. Roberge (2012: 22): „Die Kritik des Gesellschaftsbegriffes ist nicht nur mit dessen Theorieansatz verbunden, sie geht auch mit einer radikalen Infragestellung der Disziplin einher. Die ‚Anti-Soziologie‘ Touraines zweifelt an der Einheit und Totalität des Sozialen […]. Wenn die Gesellschaft keine allgemeine Bedeutung mehr hat, […] erlebt die Soziologie eine tiefe Krise, in der es möglich wird, einen neuen Bezug zwischen dem zu denken, was fortan Kultur und Subjekt sind.“
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Bert, JF. (2022). Alain Touraine: Von einer Soziologie der Herrschaft zu einer Soziologie der Subjekte. In: Delitz, H. (eds) Soziologische Denkweisen aus Frankreich. Springer VS, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-658-36949-1_10
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