Zusammenfassung
Der Artikel befasst sich mit der Darstellung der Differenz zwischen Politik und dem Politischen in sozialwissenschaftlichen Schulmaterialien. Er basiert auf einem textanalytischen Mixed-Method-Ansatz: Massentextanalyse wird mit der Untersuchung einzelner Wortgruppen verbunden. Dabei werden vier Textkorpora vergleichend in den Blick genommen, nämlich ein sozialwissenschaftlicher Referenzkorpus und ein Sample an Lehrplänen, Schulbuchkapiteln und externen Unterrichtsmaterialien. Der Artikel klärt, ob und welche politische Kontroversität in den Lehr-Lern-Materialien identifiziert werden kann. Der Mehrwert liegt auf zwei Ebenen: Die Massentextanalyse der Materialien erhöht die Validität der Aussagen zum Vorhandensein von politischer Kontroversität. Insoweit eine neuere demokratietheoretische Diskussion mit schulischen Lehr-Lern-Materialien verknüpft wird, liegt ein aktueller Beitrag an der Schnittstelle Demokratietheorie, Didaktik und politische Sozialisation vor. Im Ergebnis sind schulische Lehr-Lern-Materialien zunächst von „Politik“ als affirmativer Institutionenkunde in der Koppelung von parlamentarisch-repräsentativer Demokratie, Sozialer Marktwirtschaft und konservativem Wohlfahrtsstaatsmodell geprägt. Politische Kontroversität zeigt sich im Feld der wohlfahrtstaatlichen Reformdebatte, besonders in der Arbeitsmarktpolitik. Allerdings hat die Analyse auch offenbart, dass Assoziation und Beteiligungsbereitschaft innerhalb des Regierungssystems maßgeblich sind, nicht das „Politische“ im Sinne des Aufbegehrens.
Schlüsselwörter
- Kontroversität
- Politik
- Politisierung
- Lehr- und Lernmaterialien
- Schulmaterialien
- Demokratietheorie
- Politische Sozialisation
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Das Projekt „Kontroversität und Wissenschaftlichkeit in Materialien und Vorgaben für die sozioökonomische Bildung“ wurde zwischen dem 1.9.2016 und dem 31.12.2018 an der Universität Bielefeld, Fakultät für Soziologie durchgeführt. Es wurde von Reinhold Hedtke und Detlef Sack geleitet. Wissenschaftliche Mitarbeiter waren Patrick Kahle und Henning Middelschulte. Als wissenschaftliche Hilfskraft war uns Johanna Heimann eine große Hilfe. Das Projekt wurde vom „Forschungsinstitut für gesellschaftliche Weiterentwicklung“ (FGW) finanziell gefördert. Die Projektergebnisse sind abrufbar unter: https://www.fgw-nrw.de/fileadmin/user_upload/FGW-Studie-NOED-16-KoWiMa-2019_12_03-komplett-web.pdf (30.06.2020).
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Als externe Unterrichtsmaterialien verstehen wir hier von nichtstaatlichen Stellen angebotene und online zugängliche Materialien.
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In den entsprechenden Co-Occurrence-Analysen wird nicht nur die Häufigkeit einzelner Begriffe, sondern das gemeinsame Auftreten von Begriffen bspw. in Absätzen erfasst. Innerhalb dieses Verfahrens werden Begriffe, die häufig zusammen auftreten, in eine Wortgruppe, also in ein Cluster überführt.
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Im Material gibt es einzelne, abgrenzende Bezüge auf das nationalsozialistische Regime und die DDR, aber keinen zu aktuellen autokratischen Regierungssystemen oder präsidialen Mehrheitsdemokratien.
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Da der Begriff der Herrschaft kritisch besetzt ist, stützt diese semantische Auslassung in den schulischen Lehr-Lern-Materialien den Befund einer verbreiteten affirmativen Institutionenkunde: Demokratie kann nicht kontrovers in ihrem Herrschaftscharakter diskutiert werden.
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Damit ist aber auch die Nutzung einzelner Materialien im Unterricht als Ergänzung zu Schulbüchern sehr voraussetzungsvoll, wenn dem Kontroversitätsgebot der politischen Bildung genügt werden soll.
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Sack, D., Kahle, P. (2022). Politik und das Politische in den schulischen Materialien der sozialwissenschaftlichen Bildung. In: Bieling, HJ., Ewert, B., Haus, M., Oberle, M., Wohnig, A. (eds) Politikwissenschaft trifft Politikdidaktik. Politische Bildung. Springer VS, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-658-36829-6_13
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Publisher Name: Springer VS, Wiesbaden
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