5.1 Zusammenfassung der Vorgehensweise und Struktur der Arbeit

Den Ausgangspunkt der vorliegenden Untersuchung stellte das doppelte Wertschätzungsproblem der beruflichen Lehrerbildung in der Ukraine dar. Dieses besteht in einer geringen Wertschätzung zum einen des Lehrerberufs, zum anderen der beruflichen Bildung. Der erwartete Umfang einer umfassenden Analyse des doppelten Wertschätzungsproblems legte nahe, sich auf einen Strang zu konzentrieren. Aufgrund ihrer zentralen Stellung als Analysekategorie in der Berufs- und Wirtschaftspädagogik wurde der Schwerpunkt auf die Wertschätzung der beruflichen Bildung gelegt. Im berufs- und wirtschaftspädagogischen Diskurs fällt immer wieder der Begriff der meritokratischen Logik, wenn eine Geringachtung der beruflichen Bildung thematisiert wird. Einige Aspekte, die in Zusammenhang damit genannt und erläutert werden, erinnerten an die Situation in der Ukraine. Somit lag es auf der Hand, die Analyse des ukrainischen Falls auf Grundlage einer Betrachtung des Zusammenhangs zwischen Meritokratie und beruflicher Bildung durchzuführen. Dementsprechend wurde folgende Forschungsfrage formuliert:

Welche Funktion und Relevanz kommt der Orientierung an der meritokratischen Denkfigur mit Blick auf die Geringschätzung beruflicher Bildung in der Ukraine zu?

Auf der Suche nach einer Antwort erfolgte zunächst eine ausführliche, allgemeine Auseinandersetzung mit dem Verhältnis von Meritokratie und beruflicher Bildung. Grundlage war eine Betrachtung des Meritokratiebegriffs sowie des meritokratischen Ideals und der Rolle des Bildungssystems in der sogenannten bildungsbasierten Meritokratie, die fortan in den Blick genommen wurde. Eine Synthese aus unterschiedlichen Theorien führte das Leistungsprinzip mit wertlogischen Aspekten, Strukturen sowie der Reproduktion der funktionalen Differenzierung von Gesellschaften zusammen, bei der das Bildungssystem und als Teil davon die berufliche Bildung bestimmte Funktionen übernehmen. Mithilfe einer idealtypischen Wertlogik, die konstruiert wurde, wurde ein Idealtypus der Beziehung zwischen Meritokratie und beruflicher Bildung erarbeitet. Er stützte sich auf realtypische Phänomene von zwei Ländern, in denen sich das meritokratische Prinzip durchgesetzt und andere Prinzipien verdrängt hat. An diesem Punkt war ein Analyseinstrument verfügbar, um den ukrainischen Fall zu erforschen. Dieser wurde zunächst vor seinem geschichtlichen Hintergrund erläutert. Dabei wurden insbesondere solche Phänomene betrachtet und auf ihre realtypischen Ausprägungen bzw. Funktionsweisen hin untersucht, die im Idealtypus in Erscheinung treten. Ein Vergleich mit dem Idealtypus erlaubte es, Rückschlüsse darauf zu ziehen, inwiefern die geringe Wertschätzung beruflicher Bildung in Zusammenhang mit einer Orientierung am meritokratischen Prinzip zu sehen ist. Anschließend wurden Schlussfolgerungen ermittelt und ein Rückbezug zur beruflichen Lehrerbildung in der Ukraine hergestellt.

Als Methoden kamen Literatur- und Dokumentenanalysen zum Einsatz, die Informationen bereitstellten, um einen Idealtypus konstruieren zu können. Die Ukraine wurde ebenfalls anhand einer Literatur- und Dokumentenanalyse in den Blick genommen. Ergänzend wurden halbstandardisierte Gruppeninterviews ukrainischer Expert/-innen abgehalten, wobei die Interviews Diskussionselemente enthielten. Hierdurch konnten aufgetretene Informationslücken in der verfügbaren deutsch- und englischsprachigen Literatur über die Ukraine geschlossen werden.

Im nächsten Abschnitt wird erläutert, zu welchen Ergebnissen die einzelnen Untersuchungsschritte führten.

5.2 Zusammenfassung der Ergebnisse und Anmerkungen zu ihrer Aussagekraft

Als Kernprinzip, das in bildungsbasierten Meritokratien zur Anwendung kommt, dient das Leistungsprinzip, aufgrund dessen, vermittelt durch Bildungszertifikate, Positionen, Status und Vermögen verteilt werden. Wie unsere Theoriesynthese ergab und der Name schon sagt, basiert das Leistungsprinzip auf der Kategorie der Leistung, die abhängig von sozialen Einflüssen und Werthaltungen ist, über die sie sich als Prinzip in Strukturen und Systemen äußert. Letztere teilen Funktionen, die zur Erhaltung der Gesellschaft als Gesamtsystem erforderlich sind, unter sich auf, passen sich aneinander an und kommunizieren miteinander. Dies gilt zum Beispiel für das Bildungssystem und das Wirtschaftssystem. Die Strukturen der Systeme und ihre Funktionsweise haben einen Einfluss auf die Systemteilnehmer/-innen. Sie geben bestimmte Optionen vor und wirken auf ihre Werthaltungen zurück, unter anderem im Rahmen der Leistungssozialisation. Letztere bewirkt einen gesellschaftlichen Konsens darüber, was als gute Leistung akzeptiert wird.

In bildungsbasierten Meritokratien greift idealtypisch eine bestimmte Wertlogik. Sie kann als Kreislauf verstanden werden, bei dem es zu einer sich immer weiter verschärfenden Abwertung beruflicher Bildung kommt. Insbesondere wird Leistung zur Wertträgerin und erlangt in der Hierarchie der Werte eine hohe Wertigkeit. Leistung wird kulturell determiniert. Tätigkeitsorientierte oder praktische Bildung bzw. Leistung wird als minderwertig eingestuft, da sie als intellektuell wenig anspruchsvoll gilt. Durch das Leistungsprinzip sind ein Vergleich und eine Bewertung von Leistungen notwendig, um selektieren zu können. Dies erfordert eine eher allgemein ausgerichtete, einheitliche Grundbildung auf Sekundarniveau anstelle einer Ausdifferenzierung in Spezialgebiete oder einer berufsbasierten Aufteilung. Es entstehen Hierarchien von Bildungsarten, Bildungsgängen und Bildungseinrichtungen, die nach Leistungsanforderungen gestaffelt werden. Folge davon ist ein Wettlauf um möglichst „hohe“ Bildungszertifikate, die bei möglichst prestigereichen Bildungseinrichtungen in möglichst prestigereichen Bildungsgängen erworben werden. Bildungszertifikate erhalten eine übersteigerte Wertigkeit und werden als Signal der moralischen Redlichkeit ihrer Inhaber/-innen (miss-)verstanden. Wer „nur“ ein Zertifikat der beruflichen Bildung nachweisen kann, wird demzufolge als faul und/od-er leistungsschwach einsortiert. Selbst berufliche Bildungsgänge, die sich formal auf derselben Stufe wie allgemeiner orientierte Bildungsgänge befinden, verfügen kulturell über eine geringere Wertschätzung, weil an ihnen das Makel „beruflich“ haftet.

Diese Wertlogik findet strukturelle Entsprechungen, die idealtypisch in drei Phasen in einer größeren Übersicht (s. Tabelle 3.2) dargestellt wurden. In der ersten Phase wird das meritokratische Prinzip eingeführt, wobei berufliche und allgemeine Bildung getrennt werden, scharf selektiert wird und die leistungsstarken Schüler/-innen allgemeine Bildungsgänge belegen, während die schlechteren in die berufliche Bildung einmünden. Phase 2 ist durch eine Förderung der Chancengleichheit gekennzeichnet, die zu einer Bildungsexpansion führt, in deren Nachhut berufliche Bildung an den Rand gedrängt wird. Aufgrund der nun milderen Selektion und der Implementierung von Brücken zwischen beruflicher und allgemeiner Bildung gelingt es zahlreichen Schüler/-innen, die Hochschulreife abzulegen. Auch der relative Anteil derer, die ein Studium absolvieren, steigt enorm. Die Wirtschaft stellt für „höhere“ Positionen diejenigen ein, die sich im Bildungssystem als leistungsfähig erwiesen haben, das heißt schwer zugänglichen Bildungsgänge an prestigereiche Bildungseinrichtungen besucht haben. Sie haben dort vorwiegend allgemeinbildende Inhalte erlernt und große kognitive Fähigkeiten nachgewiesen. Die Karrierechancen von Absolvent/-innen der beruflichen Bildung sinken mit dem Anstieg der Anzahl derer, die „höhere“ Bildungsgänge abschließen. Also passt sich die berufliche Bildung an die allgemeine Bildung an und versucht durch die Anpassung an die als höherwertig wahrgenommene Bildung, ihre Anerkennung zu steigern. Dadurch verliert sie ihr Profil und vernachlässigt ihre qualifikatorische Funktion. Somit büßt sie ihren Vorteil gegenüber allgemeineren, theoretischeren Bildungsgängen ein. Es kommt zu einem Facharbeitermangel und einem Defizit an Beschäftigungsfähigkeit von Absolvent/-innen sämtlicher berufsqualifizierender Bildungsstufen. Folgerichtig versucht man in Phase 3, die berufliche Bildung zu fördern und/oder praxisorientierte Elemente ins Bildungssystem zu integrieren. Es werden berufliche Hochschulstudiengänge als Anschluss an die berufliche Bildung der Sekundarstufe II bzw. das berufliche Abitur ins Leben gerufen. Sie werden jedoch oftmals nur als Durchgangsstation für höherwertigere, allgemeinere Studienabschlüsse benutzt. Die eingeführten Praxiselemente sind meist nicht auf den Erwerb beruflicher Kompetenzen ausgerichtet, da Spezialisierung verpönt bleibt, sondern dienen eher dem Kennenlernen der Arbeitswelt und dem Aufbau von Beziehungen, die bei der Einmündung von Abiturient/-innen oder Student/-innen in den Arbeitsmarkt relevant werden. Unternehmen behelfen sich mit längeren Anlernphasen, um dem Nachwuchs berufliche Kompetenzen zu vermitteln und schicken sie auf Fort- und Weiterbildungen.

Der Idealtypus bestätigt überwiegend die Vermutungen aus der berufs- und wirtschaftspädagogischen Literatur, die von einer Marginalisierung beruflicher Bildung, einer Vernachlässigung ihrer Qualifikationsfunktion, einer Überbetonung von Bildungszertifikaten und einer zentralistischen Steuerung des Bildungssystems in bildungsbasierten Meritokratien ausgehen.

Die idealtypische Konstruktion des Zusammenhangs zwischen bildungsbasierter Meritokratie und beruflicher Bildung entstand mithilfe einer Analyse der Gegebenheiten in Japan und Frankreich – zwei Ländern, die als meritokratisch und leistungsorientiert bekannt sind und durch ihre Verortung in unterschiedlichen Kulturkreisen eine gewisse Breite der Betrachtung garantieren. Es ist gelungen, auf idealtypischer Ebene ein schlüssiges und einheitliches Bild zu zeichnen, ohne dass eine Typenbildung notwendig gewesen wäre. Variabel ist lediglich, ob die berufliche Bildung als solche in der zweiten Phase völlig aus dem regulären Bildungssystem verdrängt und in anderer Form ins Wirtschaftssystem verlagert wird oder sich zumindest als soziales Auffangbecken hält. Die idealtypische Werthaltung gegenüber der beruflichen Bildung nimmt letztlich Bezug auf realtypische Ausprägungen, die historisch bedingt und nicht unbedingt meritokratisch sind. Hierzu gehört, dass die Bedeutung praxis- und tätigkeitsbezogenen Unterrichts negiert, Spezialisierung abgelehnt und berufliche gegenüber allgemeiner Bildung als Bildung der Elite geringgeschätzt wird. Diese Wertung erweist sich als funktional für Meritokratien und erlaubt die in bildungsbasierten Meritokratien systemisch erforderliche Hierarchisierung von Bildungsgängen und -einrichtungen. Eine Hinzunahme weiterer Länder, die dem meritokratischen Prinzip folgen, könnte eine Verfeinerung des Idealtypus herbeiführen, weitere Details liefern und Alternativen aufzeigen. Eine Änderung der groben Entwicklungslinien und der Hauptphänomene, die die hier konstruierte idealtypische Beziehung zwischen bildungsbasierter Meritokratie und beruflicher Bildung charakterisieren, ist dabei nicht zu erwarten. Nicht zuletzt zeigt die vorgenommene Ukraine-Analyse, bei der der Idealtypus zur Anwendung kam, dass er aussagekräftige Ergebnisse liefert und als Untersuchungsinstrument geeignet ist, das einen Maßstab zur Verfügung stellt, an dem der Meritokratiegrad von Ländern in Bezug auf ihr Bildungssystem und die Rolle der beruflichen Bildung ermittelt werden kann. Zudem beleuchtet er funktionale Zusammenhänge und Entwicklungsverläufe, die zum besseren Verständnis realtypischer Phänomene und Prozesse beitragen können, und ermöglicht Prognosen von bildungspolitischer Relevanz.

Ein Vergleich des ukrainischen Realtypus mit der idealtypischen Beziehung zwischen Meritokratie und beruflicher Bildung zeichnete ein gemischtes Bild, was die Relevanz einer Orientierung an der meritokratischen Denkfigur in der Ukraine angeht. Es gab sowohl dem Idealtypus ähnliche Merkmale und Beschreibungsdimensionen, die sich mit Blick auf die Ukraine behaupten und identifizieren ließen, als auch Unterschiede. Insgesamt wurde eine verstärkte Ausrichtung am meritokratischen Prinzip festgestellt, wobei bei einigen gefundenen Phänomenen, die dem Idealtypus entsprechen, auch andere Einflüsse eine Rolle spielten.

Die schon zu Sowjetzeiten eingeläutete fehlende Wertschätzung beruflicher Bildung brach mit der Unabhängigkeit in der Ukraine voll durch, weil die Öffnung der Hochschulen, die fortan leicht zugänglich waren, zahlreichen jungen Menschen ein Studium erlaubte. Sie versprachen und versprechen sich von einem Hochschulabschluss bessere Karrierechancen. Das heißt, sie verbinden dem meritokratischen Prinzip entsprechend Bildungszertifikate mit Berufspositionen. Dies geschieht in weiten Teilen auch auf der Arbeitgeberseite, die entsprechende Einstellungspraktiken und Beförderungsstrategien an den Tag legt, sowie in Vorgaben des Gesetzgebers. Die Folge ist eine exzessive Zertifikatsorientierung, gerade auch auf Seiten der Bildungsteilnehmer/-innen, bei der es in der Ukraine wie im Idealtypus, mit Deißinger gesprochen, „nicht um die Verwertbarkeit der Inhalte des Qualifizierungsprozesses, sondern vielmehr um die seines formalisierten Ergebnisses“ (Deißinger 2019, 55) geht. Es entwickeln sich zunehmend Hierarchien von Bildungsgängen und Bildungseinrichtungen, die auch durch die Ausarbeitung eines NQR mit verschiedenen Bildungsniveaustufen gestützt werden. Während die berufliche Bildung lange auf gesetzliche Regulierungen warten musste, arbeitete man zunächst für andere Bildungsarten, wie die Sekundarschulbildung und die Hochschulbildung, neue Regelungen und Gesetze aus. Auch finanziell wurde der beruflichen Bildung die nötige Unterstützung versagt. Somit hat die Geringschätzung beruflicher Bildung mittlerweile auch qualitative Gründe. Hochschulzertifikate sind zum Mindeststandard selbst für einfachere Tätigkeiten geworden und Voraussetzung für Führungspositionen oberhalb des Meisters bzw. der Meisterin. Da das Hochschulwesen aufgrund seiner Theorielastigkeit kaum beschäftigungsfähige Mitarbeiter/-innen liefert und nur wenige junge Menschen mit Berufsausbildung in den Arbeitsmarkt einmünden, existiert ein Fachkräftedefizit. Fort- und Weiterbildungen bzw. eigene betriebliche Trainingszentren gewinnen an Bedeutung. Verstärkte Bemühungen um die berufliche Bildung setzten erst in jüngerer Zeit ein. Sie sehen unter anderem eine Dezentralisierung sowie eine stärkere Beteiligung der Stakeholder der beruflichen Bildung an deren Steuerung und Durchführung vor.

Diese Phänomene ähneln stark der idealtypischen Beziehung zwischen Meritokratie und beruflicher Bildung, wobei sich die chronologische Abfolge geschichtsbedingt unterscheidet. Der Trend zeigt in der Ukraine in der zweiten Phase nicht in Richtung Förderung der Chancengleichheit, sondern in Richtung Trennung von beruflicher und allgemeiner Bildung und Zunahme an Selektivität. Damit werden aktuell Vorgehensweisen und Strukturen aus der ersten idealtypischen Phase in das realtypische Bildungssystem eingebracht, das historisch nach dem Gleichheitsprinzip konzipiert wurde.

Bezüglich der Einrichtung eines beruflichen Abiturs und beruflicher Hochschulstudiengänge geht die Ukraine einen Weg, der die Abschaffung der bereits in der Sowjetzeit existierenden Abschlüsse Juniorspezialist/-in und Spezialist/-in beinhaltet. Ersatzweise werden ein berufliches Abitur und ein Junior-Bachelor eingeführt. Dies kann am besten mit der seit Jahren forcierten Angleichung an den Europäischen Bildungsraum erklärt werden, die dem politischen Willen geschuldet ist, sich über kurz oder lang der Europäischen Union anzuschließen.

In der Ukraine nimmt der Hochschulabschluss die idealtypische Funktion des Abiturs ein. Grund dafür ist unter anderem die nicht-meritokratische Praxis, Studienplätze an Selbstzahlende zu vergeben, die nicht unbedingt zu den leistungsstärksten Abiturient/-innen gehören. Die Durchdringung der ukrainischen Gesellschaft und des Bildungssystems durch verschiedene Formen der Korruption und die Alltäglichkeit gesetzeswidriger Praktiken stehen der Selektion und der Vergabe von Posten nach Leistung entgegen. Es wird weniger scharf selektiert als im Idealtypus, es findet mehr Spezialisierung statt und Leistung nimmt in der kulturellen Werthierarchie nicht unbedingt den Spitzenplatz ein. Dies zeigt sich unter anderem an einer nach wie vor vergleichsweise großen Akzeptanz des Bedarfsprinzips und der Weigerung, Bildungsabschlüsse wie im Idealtypus als Indikatoren der Moral und Wertigkeit ihrer Inhaber/-innen anzusehen. Letzteres dürfte auch der Korruption und dem Plagiarismus geschuldet sein.

Die Auseinandersetzung mit dem ukrainischen Realtypus im Spiegel des Idealtypus hat einen explorativen Charakter. Dies hängt damit zusammen, dass die berufliche Bildung der Ukraine ein in der deutschsprachigen Literatur fast völlig unerforschtes Gebiet darstellt. Die realtypisch beschriebenen Phänomene sind daher als erste Annäherung an die Thematik zu begreifen. Dabei wurde ausführlich die aktuelle berufliche Bildung der Ukraine als Teil des Bildungssystems, das Bezüge zum Wirtschaftssystem aufweist und einer bestimmten Art der Steuerung unterliegt, systematisch und umfassend aus wissenschaftlicher Perspektive und vor dem historischen Hintergrund in deutscher Sprache beschrieben. Mit der Thematisierung der Wertschätzung der ukrainischen beruflichen Bildung aus Perspektive des meritokratischen Prinzips konnte ein neues Schlaglicht auf diesen Forschungsgegenstand geworfen werden. Es konnten Tendenzen und Funktionalitäten ermittelt werden, die aus dem Vergleich mit dem Idealtypus resultierten und es erlauben, bestimmte Vorgänge in der Ukraine besser zu verstehen und daraus erste Empfehlungen für die ukrainische berufliche Bildung abzuleiten. Diese sind aufgrund ihrer explorativen Basis als vorläufig einzuordnen.

5.3 Zusammenfassung und Spezifizierung der Implikationen für Theorie, Forschung und Praxis sowie Desiderata

Der konstruierte Idealtypus des Zusammenhangs zwischen bildungsbasierter Meritokratie und beruflicher Bildung führt auf Implikationen und Desiderata für die Theoriebildung, für die Wissenschaft und für die Praxis.

Hinsichtlich der Theoriebildung ist zunächst daran zu erinnern, dass das gängige Vorgehen der Meritokratieforschung darin besteht, das meritokratische Ideal und die Realität einzelner Staaten zu vergleichen. Weil das Ideal logische Inkonsistenzen aufweist, kommen solche Studien übereinstimmend zu dem Ergebnis, dass Meritokratie die Reproduktion sozialer Ungleichheit in den meisten Fällen eher begünstigt als sie zu beseitigen. Hier könnte die Konstruktion eines umfassenden Idealtypus von Meritokratie eine vielversprechende Analyseebene eröffnen, die neue Erkenntnisse ermöglicht, weil sie das Wesen von Meritokratie unter Rückgriff auf empirisch vorzufindende Erscheinungen beleuchtet, anstatt sie an einer logisch nicht schlüssigen Idealvorstellung zu spiegeln.

Der in der vorliegenden Arbeit konstruierte idealtypische Zusammenhang könnte durch eine Analyse realtypischer Erscheinungen in meritokratischen Ländern, wie zum Beispiel angelsächsischen oder asiatischen Ländern (vgl. zum Beispiel Tan 2008; Fan 2013; Chong 2014; Liu 2016; Wheelahan 2016), ergänzt und bei Bedarf modifiziert werden. Er nimmt hinsichtlich der Wertschätzung beruflicher Bildung und der beschriebenen Prozesse und Phänomene die Perspektive von Meritokratie ein und arbeitet ihren Einfluss heraus. In diesem Sinne wurden andere Einflüsse in der Betrachtung ausgeklammert, die realiter zusätzlich zum Tragen kommen (s. hierzu zum Beispiel Abschnitt 3.2.3.3.5).

Bewusst wurde eine recht breite Fragestellung gewählt, um aus der Makroperspektive die großen, übergeordneten Zusammenhänge von Meritokratie und beruflicher Bildung betrachten zu können. Der hierdurch gesetzte breitere Basis liefert einen heuristischen Analyserahmen, der als Ausgangspunkt einer „spezialisierteren“ Betrachtung dienen kann. Er stellt theoretische Erkenntnisse zur Verfügung, die für zukünftig anzustellende Untersuchungen mit engerem Fokus benötigt werden, um theoriegeleitete empirische Nachforschungen zu betreiben (vgl. zum Beispiel Egetenmeyer 2014, 25). Er kann in Zukunft als Mess- und Prognoseinstrument für die vergleichende Erziehungswissenschaft, die sich mit beruflicher Bildung befasst, dienen und als Grundlage zur Ermittlung von Handlungsempfehlungen herangezogen werden.

Für die Wissenschaft impliziert die vorliegende Betrachtung, dass folgende Überlegungen zukünftig in der Meritokratieforschung einbezogen werden sollten, um der einseitigen Einnahme einer spezifischen Perspektive und durch eine meritokratische Werthaltung vorgeprägten Beurteilung von Resultaten aus dem Weg zu gehen: Ein Studium ist nicht per se etwas Besseres als eine Berufsausbildung. Kognitive Fähigkeiten werden aufgrund von kulturell beeinflussten Werthaltungen als höherwertig als praktische Fähigkeiten begriffen, was aber objektiv hinterfragt werden muss – gerade in Zeiten des Mangels an Handwerker/-innen und anderen Fachkräften wie beispielsweise Pflegepersonal. Sekundäre Herkunftseffekte, die dazu führen, dass Arbeiterkinder sich eher für berufliche Bildungsgänge entscheiden als für ein Studium, müssen nicht in jedem Fall als Problem gesehen werden. Es könnte umgekehrt auch als Problem angesehen werden, dass Akademikerkinder eine Präferenz besitzen, zu studieren.

Für die Praxis impliziert der Idealtypus, dass eine Bildungspolitik, die der Dominanz der meritokratischen Logik Nahrung gibt, kontraproduktiv ist. Sie führt zu einer Überbetonung der Selektionsfunktion des Bildungssystems, einer übergroßen Relevanz von Bildungszertifikaten und formalen Bildungswegen, einer Verallgemeinerung des Bildungssystems und einer dysfunktionalen Verdrängung berufsqualifizierender, fachspezifischer Bildung. Versuche, die Attraktivität der beruflichen Bildung zu steigern, die sie zu diesem Zweck an die kulturell höherwertige allgemeine bzw. akademische Bildung anzupassen, führen nicht zum Ziel.

Interessant wäre hier ein Vergleich des Idealtypus mit dem deutschen Realtypus, wo zum Beispiel mit einer Novelle des Berufsbildungsgesetzes, die am 1.1.2020 in Kraft trat, durch die neu eingeführten Abschlüsse „Bachelor Professional“ und „Master Professional“ eine Angleichung an die akademische Bildung eingeleitet wird. Erklärtes bildungspolitisches Ziel der Initiative ist die Aufwertung der beruflichen Bildung (vgl. BMBF 2019; Berufsbildungsgesetz in der Fassung vom 12.12.2019, § 53, § 53a–e, § 54).

Auch hinsichtlich anderer Aspekte könnte ein Vergleich zwischen Deutschland und dem Idealtypus wertvolle Erkenntnisse und Handlungsempfehlungen liefern. Auch in Deutschland, als Land mit dualen Berufsausbildungen und relativ eigenständigem Berufsbildungswesen, entscheiden sich laut Statistischem Bundesamt Jugendliche verstärkt für ein Studium anstelle einer Berufsausbildung (Statistisches Bundesamt 2019, 85). Dies spricht dafür, dass die meritokratische Orientierung zunimmt. – Aktuell trat während der Corona-Pandemie 2020 die kritikwürdige Verteilung von Wertigkeiten in Deutschland zutage. Die „Systemrelevanz“ bestimmter Berufe wie Krankenpfleger/-in, Altenpfleger/-in oder Einzelhandelskaufmann bzw. -kauffrau, die sonst eher wenig Wertschätzung erfahren, hat einen öffentlichen Diskurs angestoßen, der die gängigen Wertungsmuster hinterfragt. Will man die bisherige Kategorisierung in Zukunft verlassen und anderen Werten folgen, so impliziert der Idealtypus, dass dafür zumindest eine teilweise Abkehr vom meritokratischen Prinzip erforderlich ist.

Der explorative Charakter der vorliegenden Ukraine-Studie impliziert, dass weitere Forschung benötigt wird, die sich mit der beruflichen Bildung in diesem Land auseinandersetzt. Sie kann zum einen dazu beitragen, die vorliegenden Erkenntnisse zu verifizieren oder bei Bedarf auch zu modifizieren. Zum anderen wäre es zu begrüßen, spezifischere Fragestellungen zu untersuchen, um weitere Details der Strukturen der beruflichen Bildung in der Ukraine, ihrer Funktionsweise und ihrer „Tiefenstrukturen“ sichtbar werden zu lassen. Dies könnte helfen, Ansatzpunkte zu finden, um sie noch besser zu fördern zu können. Es wäre hierzu sicher gewinnbringend, den Vergleich mit anderen post-sowjetischen Staaten zu ziehen. Beispielsweise wäre ein Vergleich mit anderen osteuropäischen Übergangsstaaten interessant, in denen der Bevölkerungsanteil mit Tertiärabschluss nach Angabe des ETF deutlich unter dem ukrainischen liegt (vgl. ETF 2009, 50). Insbesondere in Bezug auf die existierende Idee, die Ukraine und andere post-sowjetische Staaten in die EU aufzunehmen, sollte die Forschung Analysen zur Verfügung stellen, die eine bessere Reflexion erlauben. Sollten diese Staaten, gerade was das Bildungssystem anbelangt, weiter unter Anpassungsdruck stehen, ohne dass die EU sich mit den Stärken ihrer Systeme auseinandersetzt und bereit ist, sich ihrerseits anzupassen, könnte dies bedeuten, sich wichtige Potenziale vorzuenthalten und die Bildungssysteme dieser Länder zu schwächen.

Implikationen für die Praxis, die aus der Betrachtung des ukrainischen Realtypus im Lichte des Idealtypus gewonnen wurden, betreffen die Ausgestaltung der beruflichen Bildung direkt – und ihren Kontext, dessen Einflüssen sie unterliegt. Ein wichtiges Anliegen ist die Anhebung der Qualität der beruflichen Bildungsgänge. Sie hat nur dann Aussichten auf Erfolg, wenn interne Aufstiegswege offenbleiben und „höhere“ Positionen nicht mit Hochschulzertifikaten als Voraussetzung verknüpft werden. Ein wichtiger Faktor, der bei der Anhebung der Qualität nicht vernachlässigt werden sollte, ist, dass die berufliche Bildung sich auf ihre qualifizierenden Stärken besinnt und diese zur Entfaltung bringt. Dass die akademischen Anschlüsse an die berufliche Bildung der Sekundarstufe dem Junior-Bachelor weichen müssen, der unter den akademischen Abschlüssen die unterste Stufe darstellt, könnte sich als Fehler erweisen, will man wirklich die berufliche Bildung als solche stärken, die ihre Wertigkeit nicht aus ihrer Berechtigungsfunktion schöpft, sondern aus ihrer Eigenschaft, für Berufe vorzubereiten.

Der über weite Strecken fehlende Praxisbezug impliziert eine Geringschätzung beschäftigungsbezogener Inhalte, sodass hieraus eine zusätzliche Abwertung der beruflichen Bildung mit ihren spezifischen Inhalten entstehen kann. Insofern ist eine Ausweitung der Praxisorientierung in der Hochschulbildung zu begrüßen. Die existierende Auffächerung der Oberstufe durch Spezialrichtungen vermeidet, dass man sich einseitig auf eine sehr allgemein gehaltene Definition von Leistung stützt. Sie wird jedoch dadurch aufgehoben, dass einige wenige Fächer systemisch eine größere Rolle spielen als andere und die Leistung in diesen Fächern relevanter ist als in anderen. Eventuell könnten beruflich orientierte Fächer zu einem fakultativen Teil des EIT gemacht werden, um so die Wertigkeit beruflicher Inhalte zu steigern. Voraussetzung dafür wäre es, dass prestigereiche Studiengänge inhaltlich an diese Fächer anschließen und der Arbeitsmarkt positiv auf Abiturient/-innen mit guten Leistungen in diesen Fächern reagiert, indem er sie bevorzugt einstellt.

Um keine zusätzlichen Anreize für Korruption zu schaffen, sollte eine zu starke Fokussierung auf das Leistungsprinzip in der Ukraine vermieden werden. Dies erhält auch der beruflichen Bildung die Chance, sich neu als ernsthafte Alternative für leistungsfähige junge Menschen zu etablieren.

Die geplante Bindung der Finanzierung von Bildungsgängen ihre Leistung lässt ein wachsendes Auseinanderklaffen der Qualität guter und schlechter Bildungsgänge erwarten.

Dass Stakeholder verstärkt in die Steuerung und Durchführung der beruflichen Bildung einbezogen werden, lässt darauf hoffen, dass Arbeitgeber/-innen in Zukunft mehr Vertrauen in die berufliche Bildung und ihre Absolvent/-innen setzen und ihnen verbesserte Chancen auf dem Arbeitsmarkt einräumen.

Die in jedem Falle wünschenswerte Qualitätssicherung, die in der Ukraine vermehrt als Teil der bildungspolitischen Agenda in den Fokus rückt, sollte nicht auf wettbewerbsorientierte Verfahren setzen, die Rankings und Hierarchien hervorbringen. Dies bewirkt, dass leistungsschwächere Schüler/-innen, die förderbedürftig sind, auf schlechtere Bildungseinrichtungen übergeleitet werden. Vielmehr ist hier an die berufliche Lehrerbildung als wichtige Stellschraube für die Förderung der Qualität beruflicher Bildungsgänge zu denken. Wenn auch alles andere als flächendeckend, so gibt es diesbezüglich doch erste Ansätze in Form von Projekten, die Grund zur Zuversicht geben. Nicht zuletzt ist die Attraktivität der beruflichen Lehrerbildung unter anderem von der gesellschaftlichen Wertschätzung und dem Stellenwert der beruflichen Bildung abhängig, gerade auch im Vergleich zu anderen Lehrerbildungsprogrammen, die Lehrpersonen für angesehenere Bildungsarten ausbilden.

5.4 Fazit

Der vorliegenden Arbeit ist es gelungen, das intendierte „heuristische[] Instrumentarium für den internationalen Vergleich zu gewinnen“ (Deißinger/Frommberger 2010, 345), indem idealtypisch die Beziehung zwischen Meritokratie und beruflicher Bildung beschrieben wurde. Die Anwendung des Instrumentariums auf die Ukraine stellt die erste deutschsprachige berufs- und wirtschaftspädagogische Analyse dieses Landes dar. Sie hat gezeigt, dass dort der Orientierung an der meritokratischen Logik durchaus eine Funktion und Relevanz zukommt, die die Geringschätzung der beruflichen Bildung in der Ukraine bedingt. Allerdings wurden auch andere Einflussfaktoren, die nicht auf die meritokratische Denkfigur mit der entsprechenden Wertlogik zurückzuführen sind, gefunden. Die anhand der idealtypischen Betrachtung aufgezeigten Verläufe und Phänomene einer bildungsbasierten Meritokratie, die mit der beruflichen Bildung verknüpft sind, legen für den ukrainischen Realtypus nahe, dass von einer konsequenten Durchsetzung des meritokratischen Prinzips mit Blick auf die berufliche Bildung abgeraten werden muss. Dies dürfte auch im Interesse der beruflichen Lehrerbildung liegen, deren Wertschätzung auch von der Attraktivität der beruflichen Bildung abhängt. Sollte es gelingen, diese zu steigern, besteht eine Chance, dass der Weg in die Berufstätigkeit des Lehrers bzw. der Lehrerin an einer beruflichen Schule in Zukunft mehr als eine Notlösung darstellt. Voraussetzung hierfür ist die Erkenntnis, dass diese Menschen der Gesellschaft einen überaus wertvollen und wichtigen Dienst erweisen, der eine angemessene Honorierung verdient.