Der vorige Teil der vorliegenden Arbeit war der allgemeinen, idealtypischen Untersuchung des Zusammenhangs zwischen Meritokratie und beruflicher Bildung gewidmet. Als Resultat wurden dessen idealtypische Wertlogik konstruiert sowie mit ihr korrespondierende idealtypische Strukturen und Funktionen der beruflichen Bildung im Zusammenspiel mit allgemeiner bzw. akademischer Bildung und dem Beschäftigungssystem. Diese Theoriearbeit stellt den Rahmen zur Verfügung, innerhalb dessen der ukrainische Fall in den Blick genommen wird. Hierbei sollen, daran sei an dieser Stelle erinnert, folgende Fragestellungen im Vordergrund stehen:

Welche Funktion und Relevanz kommt der Orientierung an der meritokratischen Denkfigur mit Blick auf die Geringschätzung beruflicher Bildung in der Ukraine zu?

  • Inwiefern lassen sich die damit assoziierten Merkmale und Beschreibungsdimensionen mit Blick auf die Ukraine behaupten und identifizieren?

  • Welche Wirkungen und Empfehlungen ergeben sich daraus für die berufliche Bildung und ihren Kontext in diesem Land?

Insbesondere wird es im folgenden Abschnitt darum gehen, den ukrainischen Realtypus vor seinem geschichtlichen Hintergrund zu beschreiben und ihn mit obigem Idealtypus zu vergleichen. Im Anschluss können Schlussfolgerungen für die ukrainische Berufsbildung abgeleitet werden. Eine separate Ermittlung der ukrainischen Wertlogik ist nicht vorgesehen, da wertlogische Aspekte in der Übersicht des Idealtypus (Tabelle 3.2) enthalten sind, die als Vergleichsgrundlage dient.

Wie bereits oben erläutert, kann eine tiefgehende Analyse von Bildungssystemen nicht auf eine Berücksichtigung der historischen Genese verzichten. Als Hintergrundinformation muss man sich Folgendes ins Gedächtnis rufen: Anfangs des 20. Jahrhunderts war die Ukraine kein autonomer Staat. Das Gebiet der heutigen Ukraine befand sich großteils unter russischer Zarenherrschaft (zu circa 80 %; die restlichen circa 20 % gehörten zum Habsburger- bzw. später österreichisch-ungarischen Reich). Einer sehr kurzen Phase der Unabhängigkeit zwischen den Jahren 1917 und 1919 folgte die Angliederung an die Sowjetunion, bevor die Ukraine 1991 langfristig die Unabhängigkeit erlangte (vgl. Böhme 1999, 303–381; Magocsi 2010; Subtelny 2012; Melnyk 2021). Die Wiedervereinigung mit dem westlichen Teil der Ukraine datiert auf das Jahr 1939 (Magocsi 2010, 661). Eine große und wichtige Zeitspanne der Herausbildung des heutigen Bildungswesens der Ukraine markierten die Jahrzehnte, in denen die Ukraine an die Sowjetunion angegliedert war. Damalige Argumente und Kernelemente des bildungspolitischen Diskurses und bildungspolitischer Reformen drehten sich Schmidt zufolge um die Frage nach dem Verhältnis von beruflicher und allgemeiner Bildung, sodass beide sich als eng verflochten erwiesen (Schmidt 1973). Dadurch bietet es sich an, beide Bereiche in einem gemeinsamen Abschnitt zu vereinen, da der Verlauf auf diese Weise nachvollziehbarer erläutert werden kann. Bevor nachfolgend auf das sowjetische Bildungssystem in seinen unterschiedlichen Phasen Bezug genommen wird, erfolgt eine Skizzierung der Situation der Ukraine vor dem Anschluss an die Sowjetunion. Seit deren Auflösung befindet sich die Ukraine als Teil des post-sowjetischen Raumes in einer Transformation hin zu einer demokratischen und kapitalistischen Gesellschaft mit einer eigenen, ausgeformten nationalen Identität. Der Gesetzgeber steht vor der Herausforderung, die historisch entstandenen Strukturen des Bildungswesens, das kolportierte sowjetische Bildungsverständnis und spezifisch ukrainische Vorstellungen über Bildung und deren Funktion mit Maximen der EU, an der sich die Ukraine stark orientiert, zu vereinen.

4.1 Geschichtliche Hintergründe und Entwicklung des ukrainischen Bildungssystems

4.1.1 Berufliche Bildung und Hochschulbildung auf ukrainischem Gebiet in der vor-sowjetischen Zeit

Die Institutionalisierung der beruflichen Bildung auf ukrainischem Territorium hat ihre Ursprünge Mitte/Ende des 19. Jahrhunderts (Bakalo/Krawchenko 2001; Melnyk 2021, 102). Mit der Abschaffung des Leibeigentums und dem Fortschritt von Industrie und Handel begann in den 1860er Jahren die Entwicklung eines Netzwerks von beruflichen Schulen. Westeuropa investierte in den industriellen Aufbau auf ukrainischem Gebiet und brachte ausgebildete Ingenieure, Techniker und Facharbeiter mit, von denen die heimischen Arbeiter lernten. 1869 wurde ein Gesetz über die Organisation der beruflichen Bildung erlassen. Zwischen 1870 und 1890 verfügten die ukrainischen Realschulen über ergänzenden Unterricht, in dem angewandte Mechanik und Chemie vermittelt wurden, sowie Handelsabteilungen, die spezialisierte Bildung durchführten. 1888 unterteilten weitere Regulierungen die berufliche Bildung in drei Teile: (1) technische Sekundarschulen mit Vier-Jahres-Ausbildungen für Techniker; (2) „niedrige“ technische Schulen mit dreijährigen Berufsbildungsgängen für Handwerk und Gewerbe; (3) Handelsschulen mit dreijährigen Fachausbildungen. Bis zum Ende des 19. Jahrhunderts öffneten wichtige berufliche Schulen, die man heute noch kennt, ihre Tore. Vor der Revolution 1917 zählte man in der Ukraine 16 „höhere“ berufliche Schulen, 125 berufliche Schulen auf Sekundarniveau und 535 „niedrigere“ berufliche Schulen in zahlreichen Fachrichtungen. Im Vergleich zu Westeuropa aber war die berufliche Bildung der fremdbeherrschten Ukraine zu dieser Zeit sowohl im Osten als auch im Westen unterentwickelt (Bakalo/Krawchenko 2001).

Eine einheitliche Tradition von Hochschuleinrichtungen ist in der Ukraine unbekannt, was unter anderem auf die unterschiedlichen Nationalstaats- bzw. Reichszugehörigkeiten einzelner Gebiete der heutigen Ukraine zurückzuführen ist. Während die ältesten ukrainischen Universitäten eingangs des 17. Jahrhunderts gegründet wurden, entstand die Mehrzahl der Hochschulen des heutigen ukrainischen Staatsgebietes im 19. Jahrhundert unter russisch-zaristischem Regime. Ausgangs des 19. Jahrhunderts eröffneten einige Technische Universitäten (Zimmermann 2017, 10; Zimmermann/Schwajka 2018, 11). Den Universitäten im russisch-geführten Gebiet wird nachgesagt, wenig eigene Autonomie gehabt und unter starker staatlicher Kontrolle gestanden zu haben, was zu Konflikten führte. Im Westen waren die Autonomieverhältnisse anders, jedoch erregten unterschiedliche religiös motivierte Vorstellungen Diskussionen. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts hatten sich die Studierendenzahlen im Vergleich zu 100 Jahren zuvor verdoppelt, wobei der Hochschulzugang für Heranwachsende aus der ärmeren Arbeiterklasse und Kleinbauernfamilien stark restringiert war. Vor der Revolution wurde die Anzahl an ukrainischen Hochschulen auf 27 beziffert, bei rund 35 000 Studierenden; während der kurzen Unabhängigkeitsphase kamen weitere hinzu (Kurbatov 2014; Rumyantseva/Logvynenko 2018, 408 f.).

4.1.2 Bildung in der Ukrainischen Sowjetrepublik

Kontext bzw. grobe Entwicklungslinie der Bildungspolitik in der Sowjetunion war die Überwindung der landwirtschaftlich geprägten Sozialstruktur und wirtschaftlichen Rückständigkeit durch die Errichtung einer modernen industriellen Leistungsgesellschaft (Anweiler et al. 1976, 1 f.). Man kann sie in fünf Etappen unterteilen, in denen sich je unterschiedliche Akzente als prägend herausstellten. Die erste begann mit der Oktoberrevolution von 1917. Davon ausgehend finden sich bei Anweiler et al. bis zur Mitte der 1970er Jahre folgende vier Phasen:

  • Frühsowjetische Phase (1917 bis Anfang der 1930er Jahre): gekennzeichnet durch „revolutionäre[] pädagogische[] Experimente“ und die „allmähliche[] Konsolidierung des neuen Systems“

  • Stalin-Periode (bis Mitte der 1950er Jahre): charakterisiert durch die Anpassung des Bildungswesens an die „Bedürfnisse der Kaderpolitik“ und die Forcierung des „sowjetischen Patriotismus“

  • Zeitabschnitt der Experimente und Reformen (bis Mitte der 1960er Jahre): geprägt durch die enge Verknüpfung von Bildung und Produktion, initiiert von Chruschtschow

  • Stabilisierungsphase (bis Mitte der 1970er Jahre): durch die Orientierung „an den Anforderungen der wissenschaftlich-technischen Revolution“ und beeinflusst durch das Verständnis von Reformen als „Politik schrittweiser Innovationen“ (Anweiler et al. 1976, 1)

Die letzte Phase nach Anweiler et al. hielt an, bis durch Regelungen aus dem Jahr 1984 und anschließend unter Gorbatschow durch die Perestroika-Politik dem Bildungswesen ein neues Gesicht gegeben wurde, indem die Steuerung dezentralisiert wurde. Diese Periode wird als fünfte Phase betrachtet, bevor schließlich im Folgeabschnitt die Transformationszeit der unabhängigen Ukraine zur Sprache kommt.

4.1.2.1 Die frühsowjetische Phase in der Ukraine

Die Ukrainische Sozialistische Sowjetrepublik (UkrSSR) unterlag in weiten Teilen der zentralen Politik und den Bestimmungen aus Moskau, konnte sich in mancherlei Hinsicht jedoch zumindest eine Zeit lang eine gewisse Eigenständigkeit bewahren: Unter anderem galt die ukrainische Gestaltung des Bildungswesens bis 1930 als nationalspezifischer Sonderweg (Anweiler/Meyer 1979b, 26).

Ursprünglich bestand das seit 1917/18 in unterschiedlichen Dokumenten postulierte große sowjetbildungspolitische Ziel in der ‚allseitige[n], gleiche[n] und möglichst hohe[n] Bildung für alle Bürger‘ (Anweiler et al. 1976, 6; vgl. auch Helmert 1994, 18). Der Auftrag des Bildungswesens bestand in der „Heranbildung eines Menschen, der in einer herrschaftsfreien Gesellschaft als Gleicher unter Gleichen leben und arbeiten und dabei kollektiv die Natur bewältigen soll“ (Helmert 1994, 18). In einem Aufruf des damaligen Volkskommissars für Bildung, Lunatscharski, heißt es über die „wirkliche Demokratie“ ganz ähnlich: „[S]ie muß nach der Organisation einer absoluten weltlichen Einheitsschule für alle Bürger in mehreren Stufen streben. Das Ideal ist: gleiche und möglichst hohe Bildung für alle Bürger“ (Lunatscharski 1979, 56).

Per Dekret aus dem Jahr 1918 wurden dementsprechend mit Ausnahme der Hochschulen sämtliche Schularten, das heißt „Grundschulen, Gymnasien, Realschulen, Gewerbeschulen, technische und Handelslehranstalten und alle übrigen Typen der niederen und mittleren Schulen“ in die ‚Einheits-Arbeitsschule‘ überführt (AZES 1979, 66 f.). In der Hauptsache beruhte diese auf einem engen Konnex zwischen Unterricht und produktiver Arbeit (Anweiler/Meyer 1979b, 23). Vielzitierter Begiff hierfür war die „polytechnische Bildung“, im Parteiprogramm der Bolschewiki aus dem Jahr 1919 definiert als „in der Theorie und Praxis mit allen Hauptzweigen der Produktion vertrautmachende[] […] Bildung“ (Anweiler/Meyer 1979b, 29). Infolge der Polytechnisierung der allgemeinen Bildung sah sich die eigentliche berufliche Bildung einer Vernachlässigung gegenüber (Anweiler/Meyer 1979b, 29). Diejenigen Lehranstalten der beruflichen Bildung, die nicht geschlossen wurden, wandelte man in polytechnische Schulen um, da berufliche Spezialisierung abgelehnt wurde (Jenkner 1966, 74 f.). Ebenso wurde das Leistungsprinzip zurückgewiesen: Verpflichtende Hausaufgaben wurden verboten, außerdem Strafen und Prüfungen aller Art. Die Leistungsmotivation sollte aus dem Arbeitsprinzip erwachsen. Lehrer/-innen wurden nicht länger in unterschiedliche Kategorien eingeteilt und alle Schulmitarbeiter/-innen, wie Lehrer/-innen, Schulärzt/-innen und Inspektor/-innen, erhielten dieselbe Vergütung (Jenkner 1966, 76 f.). Allerdings gelang es aus verschiedenen Gründen nicht, das durchaus radikale und ambitionierte Bildungskonzept zu realisieren. So wurde 1921 die Einheitsschule erst auf sieben Jahre verkürzt, später die danach entstandenen vielfältigen allgemeinen sowie fachlich-beruflichen Schultypen legalisiert (Anweiler/Meyer 1979b, 27 f.).

Für den Entwurf eines Bildungswesens, das den Rahmen für die Implementierung des eigenständigen nationalen Bildungssystems der UkrSSR in den 1920er Jahren vorgab, waren laut Pennar et al. der ukrainische Volkskommissar für Bildung Hrynko (auch unter der Transliteration „Grinko“ bekannt) und dessen Assistent für den Bereich der beruflichen Bildung, Ryappo, verantwortlich (Pennar et al. 1971, 216). Darin enthalten war eine Befürwortung des „Arbeitsprinzips“ auf allen Stufen des Bildungswesens (Hrynko 1979, 103), das Hrynko bildungstheoretisch durch einen nicht-utilitaristischen Ansatz rechtfertigte:

Hierbei ist die produktive Arbeit nicht auf die Befriedigung utilitaristischer Bedürfnisse und das Erlernen irgendeines Handwerks auszurichten, sondern ausschließlich auf die Entwicklung der schöpferischen Kräfte des Kindes und die Aufdeckung seiner Neigungen für den Beginn der beruflichen Bildung. (Hrynko 1979, 103)

Hrynko fügte weiter an: „In diesem System stellt die berufliche Ausbildung keine äußere Zugabe zur allgemeinen Bildung, sondern ihre grundlegende Quelle dar“ (Hrynko 1979, 103). Strukturell richtete die UkrSSR eine siebenjährige Primarschule mit Arbeitsbezug ein (Anweiler/Meyer 1979b, 27; Pauly 2010, 77, 80). Sie umfasste zwei Stufen und mündete ab der achten Klasse in verschiedene, fachlich differenzierte Bildungsgänge, die in gleicher Weise vertikal untergliedert waren und folgende Bereiche einschlossen: industriell-technische, landwirtschaftliche, ökonomische, pädagogische, medizinische und künstlerische Erziehung. Die „niedrigste“ dieser Schulformen bestand in beruflichen Schulen, die zwei- bis dreijährige schulische Ausbildungsgänge anboten, denen zur Erlangung eines Abschlusses als qualifizierte/-r Facharbeiter/-in ein praktisches Jahr folgte. Als nächsthöheren Schultyp gab es das Technikum für die Ausbildung von sogenannten hochqualifizierten Spezialist/-innen und Ausbilder/-innen. Oberhalb der Technika waren die sogenannten Institute angesiedelt, die hochqualifizierte leitende Spezialist/-innen hervorbringen sollten. Daneben konnte man Wissenschaftliche Akademien besuchen, um einen qualifizierten Abschluss als Wissenschaftler/-in zu erlangen (Jenkner 1966, 80; Pennar et al. 1971, 217; Melnyk 2021, 107). Die Institute ersetzten die 1920 abgeschafften Universitäten; die Technika waren umgewandelte frühere Technikerschulen auf Sekundarschulniveau bzw. Realschulen und konzentrierten sich in ihrer Lehre auf eng abgegrenzte angewandte Berufsfelder (Bakalo/Krawchenko 2001). Im Unterschied zum Moskauer Vorgehen integrierte die UkrSSR Berufsschulen als ‚zweite Stufe‘ in das allgemeinbildende Schulsystem (Anweiler/Meyer 1979b, 29). Dadurch war die berufliche Bildung keine Sackgasse, sondern öffnete den Weg zur „höheren“ Bildung. Geisteswissenschaftliche Disziplinen wie Literatur, Philosophie, Geschichte und andere wurden nur in sehr begrenztem Maße und auf die marxistische Theorie reduziert gelehrt (Pennar et al. 1971, 217 f.).

Lenin missbilligte den ukrainischen Weg der engen beruflichen Spezialisierung ausdrücklich (Jenkner 1966, 88); ebenso erfuhr er Kritik vom Bildungskommissariat der Russischen Sozialistischen Föderativen Sowjetrepublik (RSFSR) mit Lunatscharski an der Spitze (Pennar et al. 1971, 216). Insgesamt wird von laufenden Auseinandersetzungen zwischen der UkrSSR und dem Moskauer Volkskommissariat berichtet, bei denen die Frage des Ausmaßes der Berufsbezogenheit der allgemeinbildenden Schule debattiert wurde (Anweiler/Meyer 1979b, 28).

Als politisches Motiv hinter der Förderung der beruflichen Bildung auf Sekundarniveau nennt Pauly einen erheblichen Facharbeitermangel in der sowjet-ukrainischen Region (Pauly 2010, 80). Hrynko begründete den Fokus auf berufliche Bildung mit der Ablehnung einer Auffassung, die mit der zweiten Schulstufe eine „allgemeine Entfaltung“ anstrebte. Aus seiner Perspektive war es die berufliche Bildung, die als Basis dienen sollte, nicht die allgemeine (Hrynko 1979, 103; vgl. auch Jenkner 1966, 80). Insofern ist es schlüssig, dass in der UkrSSR der Unterricht in der siebenjährigen Primarstufe Bezüge zur Arbeitswelt enthielt. Diese dienten Pauly zufolge der Vorbereitung auf die beruflichen Schulen und waren noch nicht als Teil einer beruflichen Ausbildung gedacht und konzipiert, sondern sollten bei den Schüler/-innen ein Bewusstsein für die industrielle und landwirtschaftliche Produktion kreieren (Pauly 2010, 78 f.).

Weiteres Kennzeichen der von der ukrainischen Politik geforderten Pädagogik der 1920er Jahre war eine Hinwendung zu sogenannten lokalen Studien. Sie korrespondierten mit einer Bildungspolitik der Dezentralisierung, die den einzelnen Schulen und lokalen Regionen des Sowjetstaates der Ukraine große curriculare Freiheiten einräumte. Es sollte nach Themenkomplexen vorgegangen werden, die breit angelegte Themen aus unterschiedlichen Blickwinkeln in ihrem Kontext betrachteten, sodass Fächer als den Komplexen untergeordnet aufgefasst wurden.Footnote 1 Hierbei spielte die Umwelt der Schüler/-innen als Lernumgebung eine zentrale Rolle. Demzufolge fanden Teile des Unterrichts außerhalb des Klassenzimmers statt. Dabei führten die Schüler/-innen selbstständig Studien durch und erkundeten ihre lokale Umwelt mit dem, was sie zu bieten hatte. Man betonte die Bedeutung des schülerzentrierten Lernens und forderte die Lehrer/-innen dazu auf, die Auswahl der behandelten Inhalte von den Talenten und Interessen der Schüler/-innen abhängig zu machen. Die Lehrkraft sollte Sorge dafür tragen, die Unterrichtsinhalte, die auf den lokalen Gegebenheiten fundierten, auf regionaler und überregionaler Ebene einzuordnen und so die übergeordneten Bezüge klarzumachen. Mit der Umsetzung der nicht ausgereiften und nur vage ausformulierten Komplex-Pädagogik waren die nicht dafür ausgebildeten Lehrkräfte jedoch überfordert. Während sich unter den Eltern der Schulkinder erhebliche Zweifel daran breitmachten, ob die Schulen noch die basalen Kenntnisse vermittelten, bezeugten Evaluationsberichte faktisch die mangelnde Umsetzung der hochgesteckten Ziele (Pauly 2010, 81–92).

4.1.2.2 Die Stalin-Periode

Mit der Machtergreifung Stalins im Jahre 1927 begann in der Sowjetunion eine neue Ära, die die Beendigung bildungsstruktureller nationaler Alleingänge implizierte. Ein Abkommen zwischen der UkrSSR und der RSFSR bahnte 1930 den Weg für die Errichtung eines einheitlichen, zentral gesteuerten sowjetischen Bildungssystems, das ab dem Jahr 1934 in der Primar- und Sekundarbildung umgesetzt wurde (Pennar et al. 1971, 218). Der Status der ukrainischen Technika wurde auf Sekundarniveau zurückgestuft; einige berufliche Schulen wurden in Sekundarschulen mit beruflichen Zweigen umgewandelt und andere geschlossen (Bakalo/Krawchenko 2001). Auch wenn weiterhin, von Anweiler als Wahrung des Scheins interpretiert, revolutionäre Begrifflichkeiten verwendet wurden, so änderte sich doch ihr Inhalt, dem fortan nicht ein revolutionär-emanzipatorischer, sondern vielmehr ein herrschaftsstabilisierender Impetus zu eigen war (Anweiler 1978, 241). Die zu Beginn der Herrschaft Stalins in der allgemeinen Schulform noch als Kernprinzip angewandte Polytechnisierung wurde Gegenstand sehr kontroverser Debatten und schließlich wurde das wichtigste Schulfach der polytechnischen Bildung, der Arbeitsunterricht, aus dem allgemeinen Bildungssystem eliminiert (Helmert 1994, 19–29). Ebenso strich man technische Fächer aus dem Bildungskanon (Anweiler/Meyer 1979b, 37). Die Diskussion um die polytechnische Bildung und ihre soziale Dimension lässt sich wie folgt zusammenfassen:

Während eine Auffassung von der Intellektualisierung der Arbeit in der materiellen Produktion ausgeht und damit ein eher egalitäres Bildungsideal zugrunde legt, sieht die andere den Kern der polytechnischen Bildung in der Anwendung wissenschaftlicher, auch rein gesellschaftswissenschaftlicher, Gesetze in jeglicher menschlichen Tätigkeit – auch außerhalb der materiellen Produktion, sprich im Dienstleistungsbereich und in den Intelligenzberufen. Die letztere Ansicht läßt damit eine soziale Differenzierung im Bildungskanon zu. Was die Konsequenzen beider Ansätze für die Verbindung von allgemeiner und beruflicher Bildung angeht, so tendiert die erste Konzeption zu einer Lösung, die berufliche Bildung erst im Anschluß an eine lediglich berufsvorbereitende einheitliche allgemeinbildende Unterweisung zu vermitteln. Dagegen stellt der zweite Ansatz, der vor allem in der ukrainischen Bildungspolitik seit der Revolution zum Ausdruck kam, auf eine frühe Differenzierung und Professionalisierung des Unterrichts ab. (Schmidt 1973, 389)

Nach dem genuin emanzipatorischen Verständnis aus der Zeit Lenins, das sich in Einklang mit Marx‘schen Postulaten befand und das dem bei Schmidt als erstes thematisierten Verständnis entspricht, bezweckte die polytechnische Bildung eine breit angelegte Bekanntmachung der Schüler/-innen mit verschiedenen gesellschaftlichen Produktionszweigen inklusive wissenschaftlichen Wissens über Produktionsprozesse. Oberstes Ziel war die Abschaffung der Trennung von körperlicher und geistiger Arbeit sowie der Arbeitsteilung, um die Gleichheit aller Menschen zu erreichen und die Einteilung der Gesellschaft in Ausführende und Leitende zu beenden. Anstatt einseitig zu spezialisieren, also monotechnisch, sollte im Sinne des allseitig gebildeten Menschen polytechnisch ausgebildet werden (Jenkner 1966, 73 f.; Helmert 1994, 20–25). Letztlich setzte sich dementgegen die sozial-konservative, technokratische Ansicht unter anderem der Wirtschaftsoligarch/-innen durch, die auf einer eingeschränkten Bildung der Arbeiterklasse beharrten, die lediglich der Ertüchtigung der Heranwachsenden zu ausführenden, von oben angeordneten Tätigkeiten dienen sollte. In dieser Auffassung stand die Effizienz der polytechnischen Bildung für die Wirtschaft und die Produktion im Vordergrund (Helmert 1994, 24–29). Hierbei spielte die angestrebte Industrialisierung, die eine ökonomische Ausrichtung der Bildung implizierte, eine wesentliche Rolle (Gock 1985, 247). „Ferner hieß es, die polytechnische Erziehung habe große disziplinierende Bedeutung; sie fördere die Fähigkeit, nach Plan oder Instruktionskarte vorzugehen, bewirke rationelle Handgriffe, richtige Organisation des Arbeitsplatzes und schonenden Umgang mit Werkzeug und Materialien“ (Helmert 1994, 28). Zudem wurde die Notwendigkeit einer Wissenschaftsbasierung des schulischen Unterrichts hervorgehoben, namentlich sollten Physik, Chemie und Mathematik nicht von polytechnischer Bildung getrennt werden. Man unterstrich die Verknüpfung der polytechnischen Bildung mit den Aufgaben der Partei und kritisierte die mangelnde Vorbereitung auf Fach- und Hochschulen (Zentralkomitee der KPdSU 1979, 179 f.). Folge der neuen Definition polytechnischer Bildung war ein Unterricht, der sich einerseits vom Überblick der Wirtschaft als Ganzer zu Einzelinhalten verlagerte. Andererseits hob er sich durch die Wissenschaftsorientierung von der Praxis ab. Er wandte sich abstrakter Theorie zu, indem der polytechnische Unterricht dem traditionellen Fächerkanon untergeordnet wurde (Helmert 1994, 26–29). Strukturell erfolgten eine Verallgemeinerung der allgemeinbildenden Schule und eine Spezialisierung des Arbeitsunterrichts sowie der beruflichen Bildung. Laut Jenkner kam es bis 1931 in der Sowjetunion zu einer „fortschreitenden faktischen Auflösung des einheitlichen Grundschulsystems in drei Siebenjahrschultypen, die den drei Produktionssektoren Industrie, Landwirtschaft und kommunale Dienste zugeordnet waren“ (Jenkner 1966, 108). Ab 1931 und bis 1937 wurde das allgemeinbildende Schulwesen der Sowjetunion zugunsten der Vorbereitung auf das Hochschulstudium umgestaltet. Zum einen sollte dies den diagnostizierten Mangel hinsichtlich der Vermittlung allgemeinbildender Kenntnisse beheben; zum anderen strebte man generell eine Höherqualifizierung des Volkes an. Es erfolgte eine Rückkehr zum traditionellen Unterrichtsstil mit vorgegebenen Lehrbüchern, Lehrplänen und Stundentafeln, der den zuvor praktizierten Projektunterricht wieder ersetzen sollte. Man reorganisierte die Oberstufe derart, dass ein direkter Weg von der allgemeinbildenden Schule zur Hochschule wiederhergestellt wurde: Auf die vierjährige Grundschule folgte die „unvollständige“ Mittelschule, die bis zum Ende der siebten Klasse reichte und an die die „vollständige“ Mittelschule dreijähriger Dauer anschloss. Auch führte man wieder Prüfungen, Noten, Zeugnisse und Belobigungsurkunden ein (Jenkner 1966, 116 ff.; Tatur 1977, 882; zur Rückkehr zu alten Unterrichtsformen vgl. Anweiler/Meyer 1979b, 38; Helmert 1994, 164–174). Exzellente Schüler/-innen erhielten silberne bzw. goldene Medaillen, die ihnen einen Anspruch auf Bevorzugung bei der Studienplatzvergabe sicherten (Anweiler/Meyer 1979b, 38 f.). Nachdem der Arbeitsunterricht zu Beginn der 1930er Jahre in städtischen Schulen noch acht bis 14 Stunden pro Dekade betrug und auf dem Land etwa 50 % der Unterrichtszeit der Arbeit gewidmet waren, waren für das Jahr 1935 gerade noch ein bis zwei Wochenstunden zu verzeichnen. Dabei widmete sich der Arbeitsunterricht hauptsächlich diversen praktischen Tätigkeiten, die mit entsprechender Theorie verbunden wurden (Helmert 1994, 125 f.). Das in der ganzen Sowjetunion einheitliche allgemeinbildende Schulsystem schuf eine breite Basis, von der aus sich „der vom Staat geförderte Aufstieg von Millionen begabter und bildungswilliger Menschen, denen ein ebenfalls vereinheitlichtes und stark ausgebautes System von Fachschulen, Hochschulen und Universitäten zahlreiche weitere Bildungsmöglichkeiten bot“, vollzog (Anweiler/Meyer 1979b, 35).

Die Prozesse und Kontroversen in Zusammenhang mit der polytechnischen Bildung waren nach Helmert eng mit machtpolitischen Kalkülen verbunden. Die Rede von der Aufhebung der Arbeitsteilung verschwand zugunsten einer Abgrenzung von Leitenden und Angeleiteten, durch die sich die existierenden Eliten zu legitimieren versuchten. Unter einem sozialistischen Gesellschaftsaufbau verstand man nunmehr eine „vielstufig hierarchische[] Kaderstruktur“. Schlussendlich fand der polytechnische Arbeitsunterricht in den allgemeinbildenden Schulen im Jahre 1937 sein Ende, als das Volksbildungskommissariat ihn per Verfügung abschaffte. Begründung war die mangelnde Praxisnähe der schulischen Werkstätten (Helmert 1994, 2528; vgl. auch Jenkner 1966, 119). Fortan galt der Fokus der allgemeinbildenden Mittelschule ausschließlich der intellektuellen und wissenschaftlichen Vorbildung der Heranwachsenden für die Hochschule, wobei die direkte Berufsvorbereitung nicht mehr als ihre Aufgabe betrachtet wurde (Jenkner 1966, 119).

Letztere kam der elementaren beruflichen Bildung zu, deren Hauptschultyp die FZU-Schulen waren (Jenkner 1966, 122; Anweiler/Meyer 1979b, 30). „FZU“ war die Abkürzung der russischen Bezeichnung für die Fabrik- und Werkschulen für Lehrlinge, die in den 1920er Jahren entstanden waren (Tatur 1977, 882; Anweiler/Meyer 1979b, 30). Sie durchliefen unter Stalin eine wechselvolle Reformgeschichte, während der das Ausmaß allgemeinbildender Inhalte und die Ausbildungsdauer immer wieder Änderungen unterlagen. Ab 1929 weist die Tendenz der Reformen in der beruflichen Bildung in Richtung zunehmender Spezialisierung und aufgrund dessen auch Hierarchisierung in Form einer Dreiteilung. Neben Schulen für Massenberufe waren Schulen zur Ausbildung von Arbeiter/-innen auf mittlerem Qualifikationslevel vorhanden und auf höchster Stufe sogenannte Schulen gehobenen Typs für „besonders qualifizierte Tätigkeiten“. Die Unterweisung am Arbeitsplatz spielte in der elementaren Berufsausbildung eine große Rolle und Absolvent/-innen mussten drei Jahre Berufsarbeit ableisten, bevor ihnen erlaubt wurde, eine höhere Schule zu besuchen (Jenkner 1966, 122 f.; vgl. auch Tatur 1977, 882 ff.).

Einen weiteren Teil der elementaren beruflichen Bildung stellte die Ausbildung in der Produktion dar, die dem Bereich der Berufsschulen zahlenmäßig weit überlegen war. Im Jahre 1941 standen knapp 6 Millionen Berufsschulabsolvent/-innen circa 22,6 Millionen Menschen gegenüber, die in der Produktion ausgebildet worden waren. Die Produktionsausbildung war von einer engen Spezialisierung gekennzeichnet, die sich in der Ausarbeitung eines Berufsregisters niederschlug, das 1937 alleine für das Metallgewerbe über 2 000 Berufsbezeichnungen und Fachgebiete auflistete. So bestand beispielsweise der Schlosser/-innenberuf aus 150 Fachgebieten. Die Anlernung am Arbeitsplatz wurde durch das „Techminimum“ ergänzt, ein 30- bis 40-stündiges Programm, das jeweils relevante theoretische Kenntnisse vermitteln sollte (Jenkner 1966, 124).

Während der Stalinära führte ein im Jahr 1940 herausgegebener Erlass des Präsidiums des Obersten Sowjets den größten Einschnitt für die elementare berufliche Bildung herbei: Man fasste die gesamte „niedrige“ Berufsbildung zusammen und unterstellte sie einem zentralen staatlichen Organ, der Hauptverwaltung der Arbeitsreserven beim Rat der Volkskommissare der UdSSR. Dies implizierte zugleich eine stärkere staatliche Regulierung, bei der unter anderem zahlreiche Jugendliche dazu verpflichtet wurden, eine berufliche Ausbildung zu durchlaufen und anschließend minimal vier Jahre den erlernten Beruf auszuüben. Zur selben Zeit erhob man Studiengebühren für die Oberstufen der Mittelschulen, mittleren Fachschulen und Hochschulen (Anweiler/Meyer 1979b, 39; vgl. auch Tatur 1977, 884). Lehranstalten der Arbeitsreserven schlossen „Gewerbe-, Industrie-, Eisenbahner-, Bergbau- und Baufachschulen“ sowie „Schulen der Fabrik- und Werksausbildung“ (FZO) ein, die neu entstanden bzw. teilweise aus den FZU hervorgingen (Anweiler/Meyer 1979b, 40).

Für die UkrSSR wird von einer negativen Haltung gegenüber den Arbeitsreserven berichtet. Es wurden sowohl der Zwangscharakter und die autoritären Lehrmethoden als auch die zentralistische Steuerung moniert, überdies die mangelhafte Ausstattung von Klassenräumen und Werkstätten. Die Bildung der Arbeitsreserve wurde als Bildung für sozial benachteiligte Gruppen verstanden, die ihnen eine Integration in die Gesellschaft ermöglichte, und erfuhr auch deshalb keine hohe Wertschätzung (Melnyk 2021, 111).

Neue Typen berufsbildender Schulen wurden 1943/44 zur Zeit des Zweiten Weltkrieges etabliert, die „Schulen der Arbeiterjugend“ und die „Abendschulen der Landjugend“. Sie ermöglichten es Arbeiter/-innen und Landwirt/-innen, die nur über eine vierjährige Schulbildung verfügten, in Abendkursen und an einzelnen Wochentagen den Mittelschulstoff zu erlernen (Anweiler/Meyer 1979b, 40).

In der mittleren Berufsbildung waren Technika und mittlere Fachschulen vorzufinden. Ihre Bildungsgänge waren durch eine starke Orientierung an Wirtschaft und Industrie bestimmt und produzierten hochspezialisierte Arbeitskräfte, zum Teil auch über Fern- und Abendunterricht. Bei den mittleren Fachschulen gab es Auflagen, die die Anzahl der Bewerber/-innen bestimmten und den Unterricht stark reglementierten, wobei nach Abschluss der Schule eine regulierte Zuweisung der Absolvent/-innen an Berufsplätze erfolgte (Anweiler/Meyer 1979b, 41).

Als Einrichtungen der höheren Berufsausbildung bzw. beruflich ausgerichteten Hochschulbildung sind Technische Hochschulen mit einer Bildungsgangdauer von höchstens vier Jahren zu nennen, außerdem „Technische Hochschulen Neuen Typs“, deren Ausbildungszeit ab 1929 nicht mehr als drei Jahre betrug, wobei inhaltlich beim neuen Typ eine ausgeprägte Spezialisierung verfolgt wurde (Jenkner 1966, 126; vgl. auch Anweiler/Meyer 1979b, 42).

Unter Stalin unterzog man das Hochschulwesen generell einer Verschulung, die mit einer Regulierung und Vereinheitlichung einherging. Studiendauer, -verlauf, und -pläne, Organisation sowie innere Struktur der Hochschulen wurden zentral vorgegeben. An der Leitung von Fachhochschulen waren weiterhin Fachbehörden, die hauptsächlich aus der Industrie kamen, beteiligt. Hochschulabsolvent/-innen unterlagen der Pflicht, zumindest drei Jahre lang eine zugewiesene Arbeitsstelle zu besetzen. Zunehmend verlagerte sich der Schwerpunkt der Universitäten auf die Lehrerbildung, vor allem für Hochschullehrer/-innen, und die Ausbildung wissenschaftlichen Nachwuchses. Andere Studien spielten sich überwiegend im Rahmen von Fern- und Abendunterricht ab (Anweiler/Meyer 1979b, 42 ff.).

Ging der von Lenin angestrebte „Abbau elitärer Herrschaft“ noch mit dem Prinzip der Selbstverwaltung und freieren, offeneren Unterrichtsformen einher (Helmert 1994, 164 f.), so verfolgte Stalin andere Ziele. Die Ausführungen über die Stalin-Ära zeigen erste Ansätze einer Hinwendung zu Prinzipien, die nicht auf Gleichheit, sondern auf Ungleichheit abzielten und der Stabilisierung der Herrschaftsstrukturen, die eine Zweiteilung in Elite und Volk aufwiesen, dienten (vgl. zum Beispiel Anweiler/Meyer 1979b, 33 ff.). Im allgemeinen Bildungswesen äußerte sich das Umdenken einerseits in einer „Vereinheitlichung in Richtung auf eine produktionsferne und wissenschaftsorientierte allgemeine Schulbildung“ (Schmidt 1973, 389) und andererseits in der Rückwendung zu hergebrachten Unterrichtsmethoden, die zentral festgelegte Lehr- und Stundenpläne sowie Lehrbücher und Prüfungsverfahren und Leistungskontrollen beinhalteten, wie Helmert (1994, 164–174) und Jenkner (1966, 116 ff.) nachzeichnen. Das heißt, es fand durch die „Ausrichtung des Unterrichts auf sicht- und prüfbare Resultate“ (Anweiler/Meyer 1979b, 37) in gewissen Grenzen eine Einführung des Leistungsprinzips statt.

4.1.2.3 Bildungsreformen und -experimente unter Chruschtschow

Bereits im Vorfeld der einschneidenden Schulreform des Jahres 1958 verfolgte die Bildungspolitik der UkrSSR das Ziel, die spezialisierte Bildung wieder stärker in das allgemeine Mittelschulwesen zu integrieren. Mit dem Beginn des Schuljahres 1954/55 führte die Ukraine zwei unterschiedliche Mittelschultypen mit spezialisierten Bildungsgängen ein. Erstens war dies eine dreijährige Schule, die von der achten bis zur zehnten Klasse dauerte und eine abgeschlossene berufliche Ausbildung zum Facharbeiter bzw. zur Facharbeiterin beinhaltete. Zweitens wurde eine Schulform errichtet, die Spezialist/-innen mittleren Qualifikationsniveaus ausbildete. Somit kam es zu einer direkten Professionalisierung der Mittelschule (Jenkner 1966, 138 f.). Trotz aller Kritik an der ukrainischen Version vermochte sich diese Position im Rahmen der 1958er Schulreform zunächst durchzusetzen (Jenkner 1966, 141), wie sich in den folgenden Abschnitten zeigt.

Mit der Machtergreifung Chruschtschows änderte die Sowjetunion unter anderem in Bezug auf die Bildungspolitik ihren Kurs. Anweiler et al. deuten zwei unterschiedlich geartete ökonomische Überlegungen als Hintergrund der neuen Bildungspolitik. Zum einen gab es Ende der 1950er Jahre eine hohe Zahl an Absolvent/-innen der „vollständigen“ Mittelschule, die an die Hochschulen drängten (Anweiler et al. 1976, 3). Viele von ihnen erhielten jedoch keine Zulassung, da das Hochschulwesen nicht ausreichend ausgebaut war, um sie aufzunehmen (Jenkner 1966, 131; Schmidt 1973, 390). Also mussten sie in die Berufswelt eingegliedert werden. Insofern entstand das Motiv, über die Sekundarschule eine berufliche Vorbildung zu erreichen, die einen direkten und leichten Übergang in die Erwerbstätigkeit sicherte. Zum anderen befand sich die industrielle Produktion im technischen Wandel, sodass Curricula und Qualifikationen angepasst werden mussten (Anweiler et al. 1976, 3; Tatur 1977, 885 f.). Allerdings muss hinzugefügt werden, dass der erwartete Fortschritt, in dessen Gefolge man eine Intellektualisierung von Arbeit annahm, nicht im vorausgesagten Umfang eintraf (Schmidt 1973, 390). Wie Pennar et al. darlegen, attackierte Chruschtschow die vorherrschende Haltung, die auch schon zur Zarenzeit beobachtbar war, dass nur universitäre Bildung zu Führungspositionen führen und jeder ohne Hochschulabschluss dazu gezwungen sein sollte, als minderwertig verpönte körperliche Arbeit zu verrichten. Es sei anti-sozialistisch, zu denken, dass Industriearbeiter/-innen Menschen zweiter Klasse seien (Pennar et al. 1971, 43). „[Die] frühzeitige Gewöhnung der Kinder und Jugendlichen an produktive Arbeit [sollte] den sozialen Vorurteilen, der Scheu vor körperlicher Arbeit und dem übermäßigen Andrang zum Hochschulstudium aus sozialen Prestigegründen entgegenwirken“ (Anweiler/Meyer 1979b, 45).

In diesem Sinne gestaltete die Regierung unter Chruschtschow 1958 das Bildungssystem um. Die Umstrukturierung stand unter dem Motto, die Lebensnähe des Unterrichts zu stärken und das öffentliche Schulwesen weiterzuentwickeln. Unter „Lebensnähe“ fasste man in erster Linie die Nähe zur industriellen Produktion. Kern der Reform war die Vorgabe, dass Sekundarschulen nicht nur für allgemeine Bildung sorgen, sondern auch berufliche Inhalte und Fähigkeiten berücksichtigen sollten (Pennar et al. 1971, 43 f.; Schmidt 1973, 391). Das heißt praktisch, dass die Oberstufe der Sekundarschule doppelt vorbereiten sollte, nämlich für eine Fortsetzung der Bildungskarriere an höheren Schulen und gleichzeitig für einen direkten Berufseinstieg (Pennar et al. 1971, 99; Anweiler et al. 1976, 7). Zentrale Stichwörter, welche die Reform beschreiben, waren ‚zweite Polytechnisierung‘ und ‚Professionalisierung‘, wobei man an der strikten Lerndisziplin und dem systematischen Pauken von Wissen, die in der Stalin-Periode an der Tagesordnung gewesen waren, festhielt (Anweiler/Meyer 1979b, 46).

Die gesetzliche Grundlage zur Umwandlung des Bildungswesens, bei Anweiler et al. übersetzt als „Gesetz über die Festigung der Schule mit dem Leben und über die weitere Entwicklung des Volksbildungssystems in der UdSSR“ (Anweiler et al. 1976, 3), sah im Einzelnen folgende Neuerungen vor:

  1. 1.

    Die Pflichtschulzeit wurde von sieben auf acht Jahre angehoben, die aus der „unvollständigen“ Mittelschulbildung mit allgemeinbildenden und arbeitsbezogenen Inhalten bestanden. Zusätzlich wurde festgelegt, dass Schüler/-innen sich beruflich zu bilden und bis zu ihrem 16. Lebensjahr altersgemäße sozialdienliche Arbeit zu verrichten hatten.

  2. 2.

    Auch die „vollständige“ Mittelschulbildung wurde um ein Jahr verlängert und dauerte nun elf Jahre. Dabei war das zusätzliche Jahr für berufliche Bildung und sozialdienliche Arbeit vorgesehen (Pennar et al. 1971, 43 f.).

Zudem bewirkte die Reform die Einführung neuer Schultypen. Erstens eröffnete man dreijährige Abendschulen, die allgemeinbildenden Sekundarschulunterricht abhielten und berufliche Kompetenzen vermittelten. Zielgruppe waren erwerbstätige Absolvent/-innen der achtjährigen Mittelschule, also insbesondere Arbeiter/-innen und Landjugend. Zweitens wurden allgemeinbildende polytechnische Arbeitsmittelschulen installiert. Für den Besuch kamen ebenfalls Absolvent/-innen der achtjährigen Mittelschule infrage. Es handelte sich hierbei aber, anders als beim erstgenannten Typus, um Tagesschulen, deren Besuch sich über drei Jahre erstreckte. Der Schwerpunkt der Lehre lag auch hier auf allgemeiner und beruflicher Bildung, die in diesem Fall entweder in Betrieben oder schulischen Lehrwerkstätten stattfand. Drittens errichtete man Technika oder andere spezialisierte Sekundarschuleinrichtungen für allgemeine und spezialisierte Bildung, ebenfalls für Absolvent/-innen der „unvollständigen“ Mittelschule. Bei diesen Schulen beschränkte man den Zugang mittels Aufnahmeprüfungen und anderen Aufnahmeverfahren (Pennar et al. 1971, 44).

Auf Seiten der beruflichen Bildung im engeren Sinne erfolgte im Rahmen des Schulreformgesetzes aus dem Jahre 1958 eine Vereinheitlichung der bestehenden Schultypen der Arbeitskräftereserven, die mittlerweile auf eine Anzahl von zehn unterschiedlichen Typen angewachsen war (Anweiler et al. 1976, 12; Tatur 1977, 885). Sowohl die FZO als auch die noch existierenden FZU wurden „in beruflich-technische Stadt- bzw. Landschulen mit 1-3jähriger, bzw. 1-2jähriger Ausbildungsdauer umgewandelt“ (Anweiler et al. 1976, 12). Sie schlossen an die achtjährige Mittelschule an und „bildeten nunmehr qualifizierten Arbeiternachwuchs für alle Bereiche der Volkswirtschaft aus“ (Anweiler et al. 1976, 12). Man unterlegte den beruflich-technischen Schulen eine neue Systematik von Ausbildungsberufen und Berufsbeschreibungen, für die man Stundentafeln und Bildungspläne ausarbeitete. Insgesamt unterschied man drei Arten von beruflich-technischen Lehranstalten: die beruflich-technischen Schulen auf „niedrigem“ Niveau, unter anderem als Abendschulen vorhanden, mittlere beruflich-technische Schulen und Technische Lehranstalten. Jede der beruflich-technischen Schulen kooperierte eng mit einem ihr zugeordneten Basisbetrieb, auf dessen Gelände sie sich teilweise auch befand. Daneben gab es nach wie vor die betriebliche Ausbildung (Anweiler et al. 1976, 13 f.; Anweiler/Meyer 1979b, 49 f.).

Auf Ebene der „niederen“ Berufsbildung vereinigten „Berufliche-technische Schulen in Stadt und Land“ als neuer Schultyp alle bisherigen Formen. Voraussetzung für den Schulbesuch stellte der Abschluss der achtjährigen Mittelschule dar. Ein Erwerb der Hochschulreife war an diesen Schulen nicht möglich. Sie unterrichteten sowohl in Abend- als auch Tageskursform Inhalte, die von einer starken Spezialisierung nach Berufszweigen charakterisiert waren. Um die industrielle Praxis zu erlernen, durchliefen die Schüler/-innen Lernphasen in Betrieben (Anweiler/Meyer 1979b, 49). Letztlich ging es bei der 1958er Reform im Prinzip gleichwohl mehr darum, die „niedere“ berufliche Bildung im allgemeinbildenden System aufgehen zu lassen, als darum, sie als separate Bildungsart zu fördern (Schmidt 1973, 385).

Für die mittlere Berufsbildung zeigten sich weiterhin vorrangig Technika und mittlere Fachschulen verantwortlich, die meist einen Abschluss der „unvollständigen“ Mittelschule und zum Teil der „vollständigen“ Form verlangten. Im Zuge der proklamierten engen Verbindung von Leben und Schule veränderte man die Form des Fachunterrichts, indem man die Produktionsarbeit thematisch stärker abbildete. Die Zuständigkeit für das mittlere Berufsschulwesen verlegte man zum bisherigen Hochschulministerium, das umbenannt wurde in ‚Ministerium für Hochschulbildung und mittlere Fachbildung der UdSSR‘ (Anweiler/Meyer 1979b, 50 f.).

Auch Hochschulabsolvent/-innen sollten nach Chruschtschows Auffassung fähig sein, systematisch körperliche Arbeit zu verrichten, überdies wissenschaftliche Grundlagen kennen und eine Erziehung zur nutzenbringenden Einfügung in die Gesellschaft erhalten (Anweiler/Meyer 1979b, 46). Hierfür verband man produktive Arbeit und Hochschulstudium, die auf unterschiedliche Weise im Rahmen von Fern-, Schicht-, Abendunterricht und Arbeitsunterbrechungen kombiniert wurden (Jenkner 1966, 148 f.).

Bereits 1956 schaffte man die Studiengebühren ab und kurz darauf traten neue Regelungen zur Vergabe von Stipendien in Kraft, die nun außer der leistungsorientierten wissenschaftlichen Eignung und politischem Engagement auch die sozialen Verhältnisse der Bewerber/-innen berücksichtigten. Eine weitere Version von Zulassungsbestimmungen aus den Jahren 1958/59 forderte von der Mehrzahl der künftigen Studierenden den Nachweis einer mindestens zweijährigen Berufspraxis (Anweiler/Meyer 1979b, 50). Nach Braun und Glowka legte man einen Anteil von Zulassungen von Bewerber/-innen mit mindestens einjähriger Praxis von 80 % fest, sodass nur 20 % ohne Nachweis einer Erwerbstätigkeit in der Produktion an Hochschulen immatrikuliert wurden (Braun/Glowka 1975, 42).

1959 wurde der Bereich der Kindergärten dem Bildungsministerium zugeordnet, um den Bildungsprozess bereits zu einem frühen Zeitpunkt zu fördern und die Chancengleichheit zu verbessern. War es vormals Recht der jeweiligen Fachministerien, die Curricula der Technika zu bestimmen, so ging dieses jetzt zum Ministerium für Hochschul- und spezialisierte Sekundarbildung über (Pennar et al. 1971, 100). Die berufliche Bildung verblieb ein gesondert verwalteter Bereich, da die Planung der Arbeitskräfte und der Wirtschaft eng miteinander verzahnt waren. Ab 1959 nannte sich das entsprechende Verwaltungsorgan „Staatskomitee des Ministerrates der UdSSR für beruflich-technische Bildung“ (Anweiler et al. 1976, 12).

In der Literatur bezeichnet man das Ergebnis der Mittelschulbildungsreform von 1958 als desaströs. Problematisch war die mangelnde Ausstattung der Schulen für die geforderte berufliche Bildung, sowohl was adäquate Lehrpersonen als auch Gerätschaften betrifft. Die Zweilinigkeit hatte einen großen Workload für die Schüler/-innen zur Folge und daher wies ihre Allgemeinbildung erhebliche Mängel auf. Meist landeten sie im Anschluss an den Schulabschluss nicht in den Berufszweigen, für die sie ausgebildet worden waren (Pennar et al. 1971, 44; Braun/Glowka 1975, 42).

4.1.2.4 Die Stabilisierungsphase

An der Frage nach dem Spezialisierungsgrad der Mittelschulbildung entzündeten sich Kontroversen. Während die „Polytechnizisten“, insbesondere der RSFSR, für eine eher breit angelegte berufliche Spezialisierung votierten, die zugleich für mehrere Berufe eines Feldes qualifizieren sollte, favorisierten die „Professionalisten“, vor allem aus der UkrSSR stammend, eng profilierte Berufe. Schließlich setzten sich die „Polytechnizisten“ durch (Wiessner 1963, 31 f.; Tatur 1977, 886; vgl. auch Braun/Glowka 1975, 41).

Somit fand infolge des Scheiterns der Umwandlungen ein Umdenken statt, das die Bildungspolitik fortan in die entgegengesetzte Richtung zeigen ließ, die darin bestand, in den Lehrkonzepten des Berufsbildungswesens „gehobene“ Allgemeinbildung einzuschließen (Schmidt 1973, 385).

Noch bevor Chruschtschow 1964 gestürzt wurde, ruderte man hinsichtlich der Mittelschulpolitik zurück. Die Verlängerung der „vollständigen“ Mittelschule um ein Jahr wurde zurückgenommen, sodass sie wieder mit dem vollendeten zehnten Schuljahr beendet wurde (Schmidt 1973, 392; Braun/Glowka 1975, 43; Anweiler et al. 1976, 8). Der Werkstättenunterricht wurde stark reduziert und die zwei Tage Produktionspraxis für Oberstufenschüler/-innen gestrichen (Pennar et al. 1971, 45, 101). 1966 leitete man eine Konsolidierungsphase der Mittelschule ein, die unter anderem beinhaltete, die enge berufliche Spezialisierung aus der Mittelschule zu entfernen, die nicht die erwartete berufslenkende Wirkung entfaltet hatte. Wie von den „Polytechnizisten“ eingefordert, kehrte man dazu zurück, polytechnische Bildung umfassender, als berufsorientierte, aber nicht (verfrühte) berufsspezifische Bildung, zu verstehen (Schmidt 1973, 392; Braun/Glowka 1975, 43; Anweiler et al. 1976, 8). Fortan bestand der Produktionsunterricht nur noch aus einem Praktikum und die berufsvorbereitenden Fächer erhielten die Aufgabe, „einen Sockel an allgemein technischen Kenntnissen in einem bestimmten Industriezweig zu vermitteln“ (Tatur 1977, 88). Als Hauptweg deklarierte man die Tagesform der Mittelschule, und nicht wie zuvor die Abend- und Schichtschule, der nun eine ergänzende Funktion zugedacht wurde. Sie hatte sich ohnehin nicht, wie von Chruschtschow angestrebt, als Hauptform durchgesetzt (Schmidt 1973, 392; Braun/Glowka 1975, 43). Generell änderte sich gleichwohl nichts an der Intention der zehnjährigen Mittelschule, für den direkten Berufseintritt, eine Berufsausbildung oder ein Hochschulstudium vorzubereiten (Braun/Glowka 1975, 43; Tatur 1977, 887). Da indes die Inhalte und Tradition eher auf ein Hochschulstudium verwiesen, entsprach es auch der Aspiration zahlreicher Absolvent/-innen, zu studieren. Die Tatsache, dass bloß rund ein Fünftel einen Studienplatz erhielt, sorgte aber für viele Enttäuschungen (Braun/Glowka 1975, 43; Glowka 1986, 127 f.). Durch das propagandistisch idealisierte Bild des allseitig entwickelten Menschen und die Dominanz der Hochschulpropädeutik in der Mittelschule erweckte man Bildungs- und Karriereaspirationen, die häufig nicht erfüllt wurden. Letztlich lag es nahe, ein Studium und die Aussicht auf einen geistig anspruchsvolleren Job der Perspektive einer monotonen, eng spezialisierten Tätigkeit vorzuziehen (Glowka 1970, 764, 771 f.; Braun/Glowka 1975, 43; Scharff 1977, 503 f., 507 f.).

Ziel der sowjetischen Bildungspolitik in der Stabilisierungsphase war es, dass möglichst die gesamte Schuljugend den „vollständigen“ Mittelschulabschluss erreichen und jedem Bürger bzw. jeder Bürgerin eine berufliche Ausbildung gewährt werden sollte. Seit dem vielzitierten Parteitag 1966 galt das Augenmerk der Bildungspolitik verstärkt der beruflichen Bildung. Neben den regulären Mittelschulen boten die Optionen der Abend- und Schichtschulen, mittleren Fachschulen oder mittleren beruflich-technischen Schulen Gelegenheiten, sich beruflich ausbilden zu lassen. Seit Ende der 1960er Jahre waren es die mittleren beruflich-technischen Schulen, die einen aufgewerteten Sondertypus der Normalform bildeten, indem sie doppelt qualifizierten. Durch die Erlangung der Hochschulreife und eines Berufsabschlusses erschienen sie attraktiv und legten an Bedeutung zu. Mittlere beruflich-technische Schulen vermittelten eine Berufsausbildung und allgemeinbildende Inhalte, die sich kaum vom Unterricht an den regulären Mittelschulen unterschieden, denn Berufsschulabsolvent/-innen sollten gleichwertige Chancen auf ein Studium erhalten wie Absolvent/-innen der regulären Mittelschule (Schmidt 1973, 394 f.; Braun/Glowka 1975, 44; vgl. auch Anweiler et al. 1976, 13; Tatur 1977, 889). Die Zahl der an eng spezialisierten beruflich-technischen Schulen der „niederen“ Berufsbildung erlernbaren Berufe wurde von 2 000 auf etwa 1 100 reduziert, sodass die einzelnen Ausbildungsprofile einen breiteren Charakter erhielten. Nichtsdestoweniger galten sie als Restschulen (Anweiler et al. 1976, 14). Viele, darunter eine beachtliche Anzahl Jugendliche mit Mittelschulabschluss, entschieden sich für die kürzere betriebliche Ausbildung, die finanziell reizvoller erschien (Tatur 1977, 888). Für andere waren sie nicht attraktiv, da man für eine Fortsetzung der Bildungskarriere den anschließenden Besuch einer Abend- bzw. Schichtschule in Kauf nehmen musste. In der öffentlichen Wahrnehmung wurden sie als Schulen minderwertigen Ranges eingeordnet, die oftmals von Schüler/-innen ohne Abschluss der „unvollständigen“ Mittelschulbildung, die an anderen Schulen wegen Disziplinproblemen abgewiesen worden waren, frequentiert wurden. Durch den neuen doppelqualifizierenden Berufsschultypus erhielt die berufliche Bildung jedoch ein neues Gewicht. Diese Schulart etablierte sich als dritter Weg zur Hochschulreife neben den Oberstufen der Mittelschulen und den mittleren Fachschulen (Anweiler et al. 1976, 14).

Auf einem Parteitag im Jahr 1971 fasste man den Beschluss, die betriebliche Anlernausbildung weitgehend abzubauen. Die Heranwachsenden sollten vor dem Berufseintritt eine Berufsausbildung erhalten (Schmidt 1973, 395 f.).

Eine Kommission aus Wissenschaftler/-innen, Unterrichtsmethodiker/-innen und leitenden Funktionär/-innen befasste sich in einem zwei Jahre andauernden Prozess mit der Ausarbeitung neuer Lehrpläne für die Klassenstufen eins bis zehn (Anweiler et al. 1976, 9). Für Mathematik und naturwissenschaftliche Fächer und Literatur setzte man neue Lehrbücher auf (Pennar et al. 1971, 45). Nach wie vor galten Mathematik und Naturwissenschaften als wichtigste Fächer. In ihnen nahm man neue Inhalte hinzu. Hinsichtlich der Lehrmethoden begann man, die Bedeutung von Kreativität zu betonen, was angesichts des bislang vorherrschenden „mechanischen“ Lehr- und Lernstils des Auswendiglernens neu war (Popovych/Levin-Stankevich 1992, 7).

Kennzeichen des Hoch- und Fachschulwesens mit den Hochschulen und mittleren Fachschulen war seit den 1930er Jahren eine relativ hohe Stabilität. Die im Zuge der 1958er Reform vorgenommenen Veränderungen, die bis 1964/65 Bestand hatten, nahm man sukzessive bis 1973 wieder zurück (Anweiler et al. 1976, 18). Hatte man unter Chruschtschow versucht, Fernstudien zu fördern und vollzeitliche Tagesstudien zur Ausnahme zu machen, so musste man bald feststellen, dass unter anderem aufgrund von Mängeln in der Organisation nicht der gewünschte Erfolg eintrat. Schließlich erklärte man die Tagesstudienform wieder zum Regelfall, was sich ab dem Studienjahr 1971/72 auch in den Statistiken äußerte (Anweiler et al. 1976, 20). Ab 1964 verabschiedete man sich vom „Praxisprinzip“, das besagte, dass 80 % der Hochschulstudierenden bei Eintritt in die Hochschule über berufspraktische Erfahrung verfügen mussten. Es wird berichtet, dass ohnehin nur 57 % erreicht worden waren, da das Prinzip unterschiedlich interpretiert worden war (Pennar et al. 1971, 101 f.). Fortan gab primär die intellektuelle Leistung den Ausschlag für die Aufnahme an einer Hochschule, wobei die „Angehörigen der städtischen Intelligenz“ bevorzugt wurden. Daher rief man Vorbereitungskurse und -abteilungen ins Leben, die Anderen die Möglichkeit gaben, aufzuholen. Sie wurden unter dem Namen „Arbeiterfakultäten“ bekannt und bekamen einen festen Platz im Hochschulsystem (Anweiler et al. 1976, 20 f.). Durch die Eröffnung zahlreicher neuer Institutionen im Bereich der postsekundären Bildung erfuhr die Studienlandschaft zwischen 1970 und 1989 ein starkes Wachstum. Insgesamt entsprach das Angebot an Studienplätzen bei Weitem nicht der Nachfrage (Popovych/Levin-Stankevich 1992, 26 f.).

Das stabilisierte Schulsystem brach an mehreren Stellen mit dem Prinzip der einheitlichen Beschulung. Eine Bruchstelle bestand im fakultativen Unterricht der Klassen 7 bis 10. In Klasse 7 war er einstündig, in der achten Klasse zweistündig und danach je vierstündig. Diese Stunden erlaubten es, individuell auf die Bedürfnisse und Interessen der Schüler/-innen einzugehen und sie beispielsweise für Förderunterricht für schwächere Schüler/-innen zu nutzen (Braun/Glowka 1975, 44; vgl. auch Pennar et al. 1971, 101). Zudem wurden „Spezialschulen“ erlaubt, beispielsweise mit Schwerpunkt Mathematik, anderen Naturwissenschaften oder Fremdsprachen (Pennar et al. 1971, 101), die ihren Schüler/-innen durch die Spezialisierung gewisse Vorteile verschaffen konnten und einer positiven Selektion unterlagen (Braun/Glowka 1975, 45). Neben den neu errichteten Spezialschulen offerierten, wie schon zuvor, künstlerisch-musische Spezialschulen und Sportschulen eine spezifische Ausbildung. Die Zahl der profilbildenden Mittelschulen stieg rasch auf einige hundert an (Anweiler et al. 1976, 7 f.).

Braun und Glowka schätzen das sowjetische Schulsystem in dieser Form, bei der sich die Bildungswege nach der achten Klasse schieden, als „relativ differenziert“ ein „und geeignet, soziale Unterschiede vorzubereiten beziehungsweise zu reproduzieren“ (Braun/Glowka 1975, 45 f.). Mit Bezug auf die Spezialschulen sind auch Anweiler et al. der Meinung, dass sich durch das in den 1960er Jahren vollzogene Umdenken „der Gedanke der Differenzierung als Mittel individueller Förderung und der Begabtenauslese […] auch in der Mittelschule stärker durchsetzte“ (Anweiler et al. 1976, 8). Nach Ansicht von Pennar et al. wiesen die Reformen der 1960er Jahre in Richtung „strengthening the elite forms of education“, da zwar eine höhere Anzahl an Absolvent/-innen der „vollständigen“ Mittelschule angestrebt, der zahlenmäßige Umfang der Studienplätze im Verhältnis dazu aber nur geringfügig angehoben wurde (Pennar et al. 1971, 102 f.). Popovych und Levin-Stankevich bestätigen, dass soziale Mobilität in den 1960er und 1970er Jahren auf Bildungserfolg beruhte und ein Universitätsstudium die erste Wahl der Heranwachsenden darstellte (Popovych/Levin-Stankevich 1992, 7).

Da generell nach der achten Klassenstufe eine Gabelung der Bildungswege eintrat, ergaben sich an dieser Stelle Differenzierungen, die sich tendenziell auf den weiteren sozialen Status auswirkten. Hierbei verband sich die besuchte Schulart, also entweder spezialisierte Schule, allgemeine Sekundarschule oder berufliche Schule, eng mit der beruflichen Zukunftsperspektive in der Wirtschaft. Bei der Studienplatzvergabe besaßen die Absolvent/-innen der regulären „vollständigen“ Mittelschule, in der nur die besten Schüler/-innen bleiben durften, die besten Karten, die Auswahlprüfungen zu bestehen. Wer eine Vollzeitschulform besuchte, war meist gegenüber den Abend- und Schichtschüler/-innen, die eine hohe Arbeitsbelastung schultern mussten, im Vorteil. Wer einen Platz an einer zulassungsbeschränkten Fachschule ergattern konnte, durfte im Anschluss mit einer gehobenen Stellung rechnen – Absolvent/-innen der Spezialschulen rekrutierte man für Semi-Professionen wie Lehrer/-in, Krankenpfleger/-in oder Ingenieur/-in. Ein sofortiger Arbeitseintritt nach der Pflichtschule führte in aller Regel dazu, auf dem Status als an- bzw. ungelernte/-r Arbeiter/-in zu verbleiben. Auch wenn Hochschulen theoretisch für diejenigen mit einer abgeschlossenen Berufsausbildung offen standen, landeten in der Realität nie mehr als 1 % dort; bei den spezialisierten Schulen konnten nicht mehr als 5 % an Abgänger/-innen, die ein Studium aufnahmen, verbucht werden. Somit war bereits im Alter von 14 Jahren eine entscheidende Selektionsstufe erreicht (Braun/Glowka 1975, 45 f.; Titma/Saar 1995, 40; vgl. auch Noelke/Müller 2011, 17; Roberts et al. 2000, 26).

4.1.2.5 Die Phase der Perestroika-Politik Gorbatschows

Mit der Einleitung der Restrukturierungen in Politik, Wirtschaft und Bildung, die Gorbatschow, 1985 an die Macht gekommen (Brodinsky 1991, 60), im Rahmen der Perestroika-Politik intendierte (Savelyev et al. 1990, 13), veränderte sich neben vielem anderem die Steuerung des Bildungswesens. Im Zentrum standen Begriffe wie Humanisierung und Demokratisierung oder auch Pluralismus und Diversität (Brodinsky 1991, 60). Begriff man das Bildungswesen zuvor als gesellschaftsstabilisierenden Faktor, der Menschen dazu erzog, ihren zugewiesenen Platz in der Gesellschaft einzunehmen, so änderte sich dies mit der neu ausgerufenen Offenheit („Glasnost“), die Raum für Ansichten schuf, die von den seitens der Parteispitze vorgegebenen Narrativen abwichen (Kutsyuruba 2011, 289; vgl. auch Chernetsky 1994 Lahusen/Kuperman 1993).

Bereits 1984 waren erste Reformbestrebungen zu beobachten, die eine Verlängerung der Schulzeit in der „unvollständigen“ Mittelschule um ein Jahr, das heißt bis einschließlich Klasse 9, verursachten. Die letzten Jahre der allgemeinbildenden Mittelschule wurden im Zuge dessen stärker berufsbildend ausgelegt. Erneut wurde 1984/85 der damals allgemeinbildend dominierte Unterricht mit arbeitsbezogenen Inhalten angereichert, indem man polytechnische und berufsvorbereitende Elemente integrierte (Bojanowski/Dedering 1991, 87). Zu der Zeit verband man mit polytechnischer Bildung die „Vermittlung ökonomischer und sozialer Aspekte“. Dabei ging man von einem umfassenden Technikbegriff aus, der nicht nur Ingenieurwissenschaften, sondern auch die Felder „Politik, Erziehung, Wissenschaft u. a.“ einschloss (Bojanowski/Dedering 1991, 114). Zur Gewährleistung der Umsetzung des polytechnischen Unterrichts verordnete die Regierung, dass alle Mittelschulen auf einer festen vertraglichen Basis mit Betrieben unterschiedlicher Art zusammenzuarbeiten hatten, die „aus Industrie, Landwirtschaft, Bauwesen, Post- und Fernmeldewesen, aus dem Dienstleistungssektor usw.“ stammten (Bojanowski/ Dedering 1991, 198). Es wurde verfügt, dass die Basisbetriebe hinsichtlich des berufsvorbereitenden Unterrichts mit den Schulen kooperierten und Plätze für die nun obligatorisch gewordene nützliche, produktive Arbeit zur Verfügung stellten. In den unteren Klassen wurde diese in anderen Bereichen, wie der eigenen Schule, dem Naturschutz o. Ä., durchgeführt (Bojanowski/Dedering 1991, 92 f.).

Das 1988 neu gegründete Staatliche Komitee für Öffentliche Bildung übernahm die übergeordnete Verwaltung der allgemeinen und beruflichen Bildung der Sowjetunion, zum Teil auch der Hochschulen, vollständig. In den einzelnen Sowjetrepubliken wurden analog solche Komitees für die untergeordneten „nationalen“ Belange ins Leben gerufen. Spezialisierte Hochschulen der Bereiche Gesundheit, Transport und Landwirtschaft verblieben bei den entsprechenden Fachministerien (Read 1989, 610; Savelyev et al. 1990, 14; Popovych/Levin-Stankevich 1992, 8). Obgleich nach wie vor Ideen und Empfehlungen von der zentralen, übergeordneten Bildungsverwaltungsstelle unterbreitet wurden, war ihre nationale Befolgung nun freiwillig (Brodinsky 1991, 60). Hintergrund der Neuverteilung von Zuständigkeiten war unter anderem die mangelnde Passung von Absolvent/-innen und verfügbaren Arbeitsstellen (Popovych/Levin-Stankevich 1992, 8; Loginow 1994, 13). Dies galt allgemein für die UdSSR, aber auch für die UkrSSR, in der 1987 mehr als 200 000 Ingenieur/-innen Stellen besetzten, für die sie überqualifiziert waren. Zur selben Zeit konnten insgesamt in der UdSSR über vier Millionen Arbeitsplätze nicht von ausreichend qualifiziertem Personal ausgefüllt werden (Loginow 1994, 13). Man erwartete, besser auf regionale Spezifika und Bedarfe reagieren zu können, indem die zentrale Planung zugunsten der nationalen Planung eingestellt wurde. Wichtiger Bestandteil der Neuerungen war die Schaffung einer besseren Verbindung von Wirtschaft und Bildung durch die Stärkung von Beziehungen zwischen Betrieben und Bildungseinrichtungen bzw. Forschungsinstitutionen. Forschungsarbeit wurde mit spezifischen Desiderata von Unternehmen verknüpft und die Ausbildung von Spezialist/-innen zwischen Hochschulen, Forschungseinrichtungen und Betrieben besser koordiniert (Popovych/Levin-Stankevich 1992, 8; vgl. auch Savelyev et al. 1990, 15 ff.; Loginow 1994, 29).

Seit 1989 wandelte man manche Technika in Kollegs um, was eine Aufwertung beinhaltete. Ihre Aufgabe bestand darin, hochqualifizierte Spezialist/-innen auszubilden, die in der Lage waren, dieselben Tätigkeiten auszuführen wie Universitätsingenieur/-innen. Vor allem ging es um das Feld der automatisierten Produktion. Die entsprechenden Studiengänge waren zulassungsbeschränkt und verfügten über weitaus mehr Bewerber/-innen als Studienplätze (Popovych/Levin-Stankevich 1992, 20).

Hochschulen bekamen neue Stundenpläne und die Lehrbücher und -stoffe erfuhren eine qualitative Aufwertung. Hochschuldidaktisch schwenkte man auf ein mehr studierendenzentriertes Lernen um. Ferner bekamen die Hochschulen das Recht, über bis zu 15 % der Studienzeit selbst zu bestimmen sowie die Häufigkeit und Dauer von Prüfungen und die Semesterzeiten eigenständig festzulegen (Loginow 1994, 25).

In den Sekundarschulen veränderte sich das Klima, da den Lehrpersonen signalisiert wurde, sie seien fortan frei, sich um die Bildung ihrer Schützlinge zu kümmern, ohne für ihre politische Indoktrinierung verantwortlich zu sein. Sie durften eigenständig über Änderungen von Inhalten und Methoden entscheiden, verbrachten nur noch wenig Unterrichtszeit mit den Theorien von Marx und gaben Schüler/-innen mehr Gelegenheiten, Fragen zu stellen (Brodinsky 1991, 60). Gleichwohl stellte es sich als schwierig heraus, eine echte Abkehr von den gängigen Methoden zu realisieren (Brodinsky 1992, 379), die Brodinsky wie folgt umreißt: „Lecture is the basis ingredient in the secondary schools; assigning textbook material and listening to recitation is the standard“ (Brodinsky 1991, 62).

1991 erklärte das Parlament der UkrSSR die volle Unabhängigkeit in Bildungsfragen und machte Ukrainisch zur offiziellen Landessprache (Popovych/Levin-Stankevich 1992, 9). Bevor die weitere Entwicklung des ukrainischen Bildungssystems nachvollzogen wird, gibt der folgende Abschnitt in aller Kürze einen Überblick über das sowjetische Bildungswesen, wie es 1990 strukturiert war und der Ukraine nach der Autonomiegewinnung als Ausgangspunkt diente.

Als Pflichtschulen gab es, je nach lokalen Gegebenheiten, Grundschulen (Klasse 1 bis 3 oder 4), achtjährige „unvollständige“ Mittelschulen (Klassen 1 bis 8) oder „vollständige“ Mittelschulen mit Oberstufe (Klassen 1 bis 10 oder 11). Am üblichsten war die dreistufige allgemeinbildende Mittelschule. Sie stellte eine Einheitsschule dar. Bereits auf der zweiten Stufe konnten die Schüler/-innen sich in geringem Umfang spezialisieren, in der Oberstufe in extensivem Maße (Savelyev et al. 1990, 22 f.).

Berufliche Schulen wiesen grundsätzlich eine Zweiteilung auf. Der erste Typ diente als Schule für Absolvent/-innen der „unvollständigen“ Mittelschule und führte nicht nur zu einem Berufsabschluss, sondern auch zum „vollständigen“ Mittelschulabschluss, das heißt der Hochschulreife. Der zweite Typ war für Absolvent/-innen mit Abschluss der „vollständigen“ Mittelschule gedacht und vermittelte komplexe und spezifische berufliche Inhalte. Beide Typen waren nach Fachrichtungen organisiert und lehrten auf breiter Basis allgemeines technisches sowie spezifisches theoretisches Wissen (Savelyev et al. 1990, 23 f.).

Im Einzelnen entwickelte man technische Lyzeen, die auf höherer Ebene qualifizierten, also für Tätigkeiten bzw. Spezialgebiete von besonders großer Komplexität. Zu den spezialisierten Sekundarschulen gehörten Technika und andere Schulen, die Spezialisierungsoptionen anboten: technische Mittelschulen und polytechnische Schulen, Spezialschulen für den nicht-industriellen Sektor, integrierte technische und spezialisierte Mittelschulen, die an Betriebe angebunden waren, und medizinisch spezialisierte Mittelschulen. Die Funktion der spezialisierten Sekundarschulen war es, technisches Personal der mittleren Qualifikationsebene auszubilden, das über einen „unvollständigen“ oder „vollständigen“ Sekundarstufenabschluss verfügte. Für Absolvent/-innen der „unvollständigen“ spezialisierten Mittelschule richtete man neue spezialisierte Mittelschulen ein, wo sie einen Junior-Ingenieurabschluss ablegen konnten. Ein erfolgreiches Durchlaufen einer spezialisierten Mittelschule bedeutete gleichzeitig auch den Erhalt der Hochschulreife (Savelyev et al. 1990, 24 f.).

Auf Hochschulniveau unterschied man folgende Institutionen: Universitäten, Institute für Ingenieurwissenschaften und Technik, landwirtschaftliche Institute, rechtswissenschaftliche Institute, wirtschaftswissenschaftliche Institute, medizinwissenschaftliche Institute, Lehrerbildungsinstitute und Institute für Kunst und Kinematografie (Savelyev et al. 1990, 26–29).

Das Informationsportal für ausländische BerufsqualifikationenFootnote 2 ordnet in einer Übersicht die einzelnen Schulen der Sowjetunion, die im Zeitraum von 1973 bis 1991 relevant waren, den entsprechenden Bildungsniveaustufen zu und veranschaulicht ihren jeweiligen Platz im Schulwesen. Auf die Grundschule (Primarstufe) folgte die unvollständige Mittelschulbildung (Sekundarstufe I). Ab Sekundarstufe II konnten folgende Schularten besucht werden (in Klammern wird jeweils die Dauer und der Abschluss angegeben): Allgemeine Mittelschulbildung (2 bis 3 Jahre; Hochschulreife), Allgemeine Mittelschulbildung und Arbeitsunterricht (2 bis 3 Jahre; Zeugnis über berufliche Qualifikation und Hochschulreife), Technikum/Berufsschule/berufliches Lyzeum/College (3 bis 4,5 Jahre; Diplom der mittleren Fachbildung), Mittlere beruflich-technische Schule/beruflich-technische Schule (2 bis 3 Jahre mit bzw. 1 bis 2 Jahre ohne Hochschulreife; Zeugnis über berufliche Qualifikation; Diplom der beruflich-technischen Bildung), Betrieb/Bildungszentrum/beruflich-technische Schule (1 bis 12 Monate; berufliche Qualifikation). Die Hochschulreife, also das Zeugnis der allgemeinen Mittelschulbildung, berechtigte zum Zugang an eine Hochschule (Universität, Akademie, Institut), an Technikum/Berufsschule/berufliches Lyzeum/College (2 bis 3 Jahre; Diplom der mittleren Fachbildung) oder zu verkürzten Bildungsgängen an die Mittlere beruflich-technische Schule/beruflich-technische Schule (1 bis 2 Jahre; Diplom der beruflich-technischen Bildung) (IdW 2011–2020a).

4.1.2.6 Die Sowjetunion zwischen leistungsbasierter Selektion und Gleichheitsbestrebungen

Der vorige Abschnitt enthält für uns notwendige Informationen zum geschichtlichen Hintergrund des ukrainischen Bildungssystems, die dazu dienen, den zu ermittelnden aktuellen Realtypus in seiner historischen Bedingtheit besser verstehen zu können. Wie oben bereits angedeutet, wich man seit der Stalin-Periode im Bildungsbereich von einer strengen Gleichbehandlung ab. Die Schüler/-innen erhielten Noten, mussten Prüfungen ablegen und die besten wurden mit Medaillen ausgezeichnet, die ihnen Vorteile beim Wettbewerb um die begehrten, aber knappen Studienplätze verschafften. Im Weiteren werden unsere Ausführungen um einige Aspekte hinsichtlich der Rolle des Leistungsprinzips in der Ukraine zur Zeit ihrer Integration in die UdSSR ergänzt. In den Blick genommen wird konkret, welchen ideologischen Überbau die Sowjetunion aufwies und inwiefern das Leistungsprinzip oder andere Prinzipien im Bildungswesen und bei der Status- und Vermögensdistribution Einfluss hatten. Insbesondere interessiert, inwiefern damals meritokratische Tendenzen vorlagen, auch wenn das ideologische Ziel Gleichheit war, und nicht die Rechtfertigung funktional als notwendig erachteter sozialer Ungleichheit. Dadurch soll eine umfassende Basis zum Verständnis des heutigen ukrainischen Bildungswesens geschaffen werden, die es erlaubt, nachzuvollziehen, an welchem Punkt die Ukraine hinsichtlich der ideellen Ausrichtung des Bildungswesens in die Unabhängigkeit gestartet ist.

Ideologisch verschrieb sich die Sowjetunion der Verteilung von Vermögen bzw. Gütern nach dem Bedarfsprinzip und dem Ziel der sozialen Gleichheit (Zander/Robejšek 1990, 9, 11, 27). Das bedeutet, sie verfolgte ein „sozialegalitäres Modell einer distributiven Chancengleichheit“ (Anweiler 1998, 83), das der meritokratischen sozialen Ungleichheit auf Leistungsbasis diametral entgegensteht. Wie Zander und Robejšek zeigen, sollte im Kommunismus der Einzelne seinen Fähigkeiten entsprechend Leistung erbringen, um den Bedarf eines jeden decken zu können. Man nahm an, dass der Mensch durch den Einfluss der neu zu schaffenden sozialen Umwelt zum Idealbild des sowjetischen Menschen hingeformt werden würde. Dieser Mensch, so die Theorie, würde in Zukunft freiwillig, aus idealistischen Motiven heraus Leistungsbereitschaft an den Tag legen. Die Motivation für die Leistungserbringung sollte demnach nicht in der Belohnung der Leistung liegen. Im Sozialismus, als Vorstufe des Endziels des Kommunismus, galt freilich „noch“ die Arbeitsleistung auf Basis der Fähigkeiten als Bemessungsgrundlage der Güterverteilung (Zander/Robejšek 1990, 11 f.). Um Anreize für Leistung zu schaffen und dadurch die Moral zu stimulieren, wurden unterschiedliche Werkzeuge und Methoden eingesetzt: öffentliche Anerkennung von Leistungen, Beförderungen, Verleihung von Titeln, Orden, Abzeichen, Medaillen etc., die zum Teil inoffiziell mit finanziellen Belohnungen einhergingen (Zander/Robejšek 1990, 25).

Bekanntermaßen erwiesen sich die ideologischen Erwartungen nicht als richtig und es kam häufig nicht zu den geplanten Höchstleistungen:

Die zunächst ideologisch bedingte Neigung zur Gleichbehandlung der Menschen mündete in eine allgemeine Tendenz zur Nivellierung der Einkommen und führte eben nicht zur Verbesserung ihrer Leistungen. Das ‚Gießkannen-Prinzip‘ ließ jedem seinen Teil zukommen, ohne daß er sich besonders anstrengen mußte. Und nur die wenigsten waren bereit, nur aus ideellen Gründen mehr Arbeitskraft zur Verfügung zu stellen, ohne dafür eine zusätzliche Belohnung zu erhalten. (Zander/Robejšek 1990, 19)

Schließlich erreichte die Plansteuerung einen Zustand, in dem der Staatsapparat über die Zuweisung des Arbeitsplatzes an den Einzelnen, seine Ausbildung und Beförderung, seinen Wohnraum und die individuelle Verfügbarkeit von Konsum- und Gebrauchsgütern entschied. Dadurch gerieten die Bürger/-innen in Abhängigkeit von der staatlichen Verwaltung, die so ihre Macht sichern konnte (Zander/Robejšek 1990, 26). Es entstanden Phänomene wie ein zweites Wirtschaftssystem im Untergrund, unproduktiver Einsatz von Energien in politischen Trainings und Sitzungen sowie Fehlleitungen von Leistung bzw. Anstrengung, zum Beispiel durch Schlangestehen, um an elementare Alltagsgüter zu kommen (Zander/Robejšek 1990, 48 f.).

Das Problem der sozialen Differenzierung der Gesellschaft wurde seit den 1970er Jahren vordergründig zu einem Diskurs über das Leistungsprinzip (Anweiler/Steier 2009, 260). Im Laufe der Zeit entfernte man sich angesichts offensichtlicher Dysfunktionalitäten des Systems immer weiter vom Ziel der sozialen Gleichheit und ließ Unterscheidungen zu (Zander/Robejšek 1990, 28–34). Von politischer Seite forderte man eine Orientierung am Leistungsprinzip, um die wirtschaftliche Effizienz zu steigern (Anweiler/Steier 2009, 260; vgl. auch Scharff 1977, 502; Beyme 1975, 134). Unter der Gorbatschow-Regierung schwenkte man immer offener zur leistungsbasierten Differenzierung um, beispielsweise durch eine abgestufte Entlohnung nach Leistung in technisch anspruchsvollen Berufen (Zander/Robejšek 1990, 80 f.). Wurden zuvor Punkte wie proletarische Herkunft, Regimetreue und Bewährung in der Praxis als Kriterien für Führungsrollen herangezogen, so rückte im Laufe der Zeit die Ausbildung in den Vordergrund (Glowka 1970, 772). Eine Studie der intergenerationellen sozialen Mobilität von Titma, Tuma und Roosma, in der auch die ukrainische Charkiw-Region enthalten war, ergab, dass die beiden Schlüsselfaktoren bei der Allokation von Menschen zu sozialen Positionen in den letzten Jahren der Sowjetunion ihre Bildung und ihr Geschlecht waren (Titma et al. 2003).

Bei der Entlohnung richtete man sich nach einer sechsstufigen Tarif- und Qualifikationsskala (Anweiler et al. 1976, 14 f.). Es existierte eine den westlichen Industrieländern sehr ähnliche Definition der Kriterien des Werts von Arbeitsleistung, die sich in leistungsbasierten Entlohnungsmethoden äußerte (Zander/Robejšek 1990, 14). Belohnt wurde nach Wissen, Anstrengung und dem Grad der Verantwortung (Zander/Robejšek 1990, 30). Wie wir unten noch sehen werden, hieß das jedoch keineswegs, dass ein Studienabschluss ein höheres Gehalt nach sich zog. Löhne waren gemäß Roberts et al. weder durch Individuen noch durch Arbeitnehmerverbände verhandelbar. Unternehmer/-innen konnten aber bisweilen Anreize schaffen, indem sie Boni zahlten oder Unterkünfte zur Verfügung stellten (Roberts et al. 2000, 128). Als vorherrschende Anstellungsform wird die lebenslange Beschäftigung genannt (Feiler 2014, 15).

Durch die Planwirtschaft fanden sich Bildungswesen und Beschäftigungsmarkt in reger Kooperation. Prognosen des Bedarfs an Personal wurden in Staatsaufträge an das Bildungssystem übersetzt, das entsprechend der vorhergesagten Planzahlen Arbeitskräfte auszubilden hatte (Feiler 2014, 15). Dabei berücksichtigte man die benötigten Fähigkeiten in der Ausgestaltung der Bildungsstrukturen, indem man tätigkeitsbezogen und eng spezialisiert, also auch hochdifferenziert, ausbildete und so starke Verknüpfungen zwischen Bildung und Wirtschaft herstellte (Noelke/Müller 2011, 24). Eine enge Beziehung unterhielten speziell die „niedrigeren“ beruflichen Schulen zu den Unternehmen. Unter anderem wurden Auszubildende für bezahlte Praktika angestellt, bei denen sie einen Beitrag zu den Produktionszielen zu leisten hatten (Melnyk 2021, 113). Die Industrie beteiligte sich in hohem Maße an der Finanzierung der beruflichen Bildung. Sie stattete Berufsschulen mit Material und Finanzen aus und erhielt im Gegenzug ausgebildete Fachkräfte (Kooperation international 2012). Alle Schulen außer der allgemeinen Mittelschule bildeten für spezifische Berufe aus, in denen anschließend im Normalfall auch gearbeitet werden sollte. Deswegen entstand ein Dreigespann aus Bildung, beruflicher Erstausbildung und der ersten Arbeitsstelle (Roberts et al. 2000, 128). Es lässt sich an der Stelle eine starke Betonung der Qualifizierungsfunktion des Bildungssystems konstatieren, sodass die Art des Zusammenhangs von Bildung und Beschäftigung durch wirtschaftsspezifische Inhalte, die den von der Wirtschaft benötigten Fähigkeiten entsprachen, gekennzeichnet war.

Das sowjetische Bildungsideal war das Marx‘sche Ideal des „allseitig entwickelten Menschen“ (Glowka 1970, 772). Dessen wichtigste Eigenschaft war seine Unterstützung des Primats der kommunistischen Weltanschauung und Führung. Erziehungsziele bestanden also darin, Erbauer/-innen der neuen, kommunistischen Gesellschaft heranzuziehen, die Wichtigkeit des Kollektivs zu vermitteln und sozialistische Persönlichkeiten zu formen. Dies äußerte sich im Vorhandensein entsprechender Schulfächer. Einer der führenden Pädagogen der Sowjetunion, Antin Makarenko, vertrat die These, dass Leibeserziehung und Arbeit bedeutsame Teile von Erziehung seien. Fähigkeiten und Charaktereigenschaften waren nach seinem Ermessen keine genetisch festgelegten Einheiten. Stattdessen glaubte er an den Einfluss der Umwelt und daran, dass Bildung in der Lage sei, eine neue gesellschaftliche Ordnung zu errichten. Dabei hatten Individuen ihre Interessen den staatlichen und kollektiven Präferenzen unterzuordnen (Holowinsky 1995, 198 f.; Kononenko/Holowinsky 2001, 221 f.). Im Gegensatz dazu herrschten in der Wirklichkeit der Sowjetunion individualistische Werte wie „Familienglück, soziales Ansehen und materieller Besitz“ vor (Zander/Robejšek 1990, 37).

Ein ideologisches Ziel der Sowjetunion war es, Chancengleichheit für alle zu gewährleisten, ganz gleich aus welchem sozialen Hintergrund jemand kam (Roberts et al. 2000, 127; Anweiler/Steier 2009, 260). Über die UkrSSR heißt es, dass alle Kinder am selben Tag dieselben Geschichten in denselben Lehrwerken zu lesen hatten (Holowinsky 1995, 205). Unterschiede beim Bildungserfolg waren dennoch stark durch die regionalen Gegebenheiten, das heißt insbesondere den Gegensatz zwischen Stadt und Land, bedingt (Titma/Saar 1995, 38 f.).

Ideell betrachtet sollte in der UdSSR jede Art der Sekundarbildung die gleiche Wertigkeit besitzen. Insbesondere galt es als undenkbar, praktische Arbeit zu verachten (Roberts et al. 2000, 127). Um Bildungsungleichheiten zu eliminieren, schaffte man die Einteilung der Schüler/-innen in verschiedene Schularten in der Sekundarstufe I ab, indem man eine Einheitsschule einführte, wobei man Primar- und Sekundarschule integrierte. Der Bereich der Sekundarstufe II hingegen war hochstratifiziert und nach Berufen geordnet (Noelke/Müller 2011, 16 f.). In der Anfangsphase des Sozialismus wurden Kinder aus Arbeiterfamilien und bäuerlichen Familien bevorzugt, um die Reproduktion der sogenannten Intelligenzija zu verhindern. Hernach war zu beobachten, dass der Einfluss der Eltern auf ihre Kinder bei deren Schulwahl eine bedeutende Variable war. Akademikereltern, die im Management oder anderen hochrangigen Berufen aktiv waren, probierten, ihre Kinder in zulassungsbeschränkten, allgemeinbildenden Sekundarschulen unterzubringen. Um die Chancen ihrer Kinder zu erhöhen, zahlten sie in vielen Fällen private Nachhilfestunden. Die Zulassung zu den Hochschulen hing einerseits von den Ergebnissen der Hochschulreife ab, andererseits vom Erfolg bei Selektionsprüfungen. Durch neuerlichen privat finanzierten Zusatzunterricht versuchten Akademikereltern in zahlreichen Fällen, ihren Kindern diesen Erfolg zu sichern. Wer es schaffte, sich bei den Selektionsprüfungen gegen die anderen durchzusetzen, erhielt einen Studienplatz, der vom Staat finanziert wurde. Das verbleibende Kontingent an Studienplätzen ging an Selbstzahler/-innen (Roberts et al. 2000, 127; vgl. auch Anweiler/Steier 2009, 260; Glowka 1970, 772; Zander/Robejšek 1990, 35 ff.). In der Wirklichkeit ließ sich das System der Hochschulzulassung nicht durchschauen, da illegale Praktiken und Vergünstigungen zur Normalität wurden (Anweiler et al. 1976, 23; vgl. auch Pennar et al. 1971, 44; Scharff 1977, 502). Dabei hatte es System, dass Eltern aller Schichten ihren Sprösslingen den Hochschulzugang käuflich erwarben (Glowka 1970, 772). Elterliches Motiv war Bildung um des Gebildetseins und des zugehörigen Lebensstils willen. Finanziell lohnte sich ein Hochschulabschluss häufig nicht; der Lohn für höhere Bildung bestand vielmehr in kultureller Anerkennung (Roberts et al. 2000, 127). Auch nach Glowkas Einschätzung war bei der Wahl eines Studiums anstelle einer anderen Art von Ausbildung weniger die Hoffnung auf ein besseres Gehalt als das Versprechen sozialer Anerkennung ausschlaggebend (Glowka 1970, 772). Zwar führte ein Hochschulstudium häufig zu Managerjobs und hochprofessionellen Beschäftigungen (Roberts et al. 2000, 131), auf den Lohn musste es sich jedoch nicht unbedingt auswirken. Im Jahr 1986 lagen die Gehälter von Hochschulabgänger/-innen, die in der Industrie angeheuert hatten, bei dem 1,1-fachen der Löhne von Arbeiter/-innen; in der Maschinenbaubranche lediglich beim 0,99-fachen (Loginow 1994, 23). 70 bis 90 % der Jugendlichen planten, ein Hochschulstudium zu beginnen. Sie zogen die allgemeine, besser auf die Zulassungsprüfung zur Hochschule vorbereitende Mittelschule den enger spezialisierten und dadurch vorab festlegenden Schulen vor (Glowka 1970, 764). Jugendliche, die nach ihrer Motivation für ein Hochschulstudium befragt wurden, nannten das Prestige eines Studiums als wesentlichen Faktor. Nach ihren Werten und Leitbildern bei der Planung ihrer Karriere gefragt, gaben sie primär zu Protokoll, sich durch eine geistig herausfordernde Tätigkeit selbstverwirklichen zu wollen. Zusätzlich dürfte das Ansehen der exklusiven Intelligenzija und der mit einem Studienabschluss verbundene Eintritt in ihre gehobene Kultur von Bedeutung gewesen sein (Glowka 1970, 771 f.).

Entgegen dem Gleichheitsideal fanden Forscher/-innen vorherrschende Statushierarchien von Berufen vor, was einen Beitrag zur Erklärung des verbreiteten Studienwunsches leisten kann. Yanowitch und Doge beziehen sich bei ihren Auswertungen auf Daten eines Forscherteams um den Soziologen Shubkin von der Staatlichen Universität Nowosibirsk. Befragt wurden circa 3 000 Studierende am Ende ihres Studiums, vorwiegend in der Region um Nowosibirsk. Sie schätzten Berufe wie Wissenschaftler/-in und Ingenieur/-in besonders hoch ein. Konkret genossen Mathematiker/-innen und Physiker/-innen unter den Wissenschaftler/-innen höchstes Ansehen, gefolgt von Naturwissenschaftler/-innen und Mediziner/-innen, danach Sozial- und Geisteswissenschaftler/-innen. Den meisten oben angesiedelten Berufen war die Zuordnung zur Intelligenzija gemein. Unten auf der Skala landeten Berufe der Bereiche Landwirtschaft, Verkauf und Dienstleistungen. Mittlere Wertigkeit wurde den Arbeiterberufen in der Industrie, im Bauwesen und im Transportwesen zugeschrieben. Besonders ins Auge fällt die relative Geringachtung von Verkaufspersonal, Sachbearbeiter/-innen und Buchhalter/-innen, die unter den zehn am schlechtesten eingestuften Berufen von insgesamt 74 Berufen, nach denen gefragt wurde, rangierten (Yanowitch/Dodge 1969, 621–629).

Familien, die mit einer entsprechenden Tradition, dem Willen sozial aufzusteigen und/oder dem Drang zur Bildung ausgestattet waren, erzeugten einen differenzierenden Druck. Er kam auch in der Einheitsschule an und bewirkte die Berücksichtigung von überdurchschnittlichen Begabungen durch die Einrichtung von Spezialschulen und Spezialklassen (Anweiler/Steier 2009, 261). Über die unter anderem daraus resultierende selektive Differenzierung nach der achten Klasse wurde oben schon berichtet.

„Niedrigere“ berufliche Bildungsgänge litten in der Sowjetunion in vielen zugehörigen Ländern unter permanenter, notorischer Geringschätzung (Kogan et al. 2012, 70), während traditionelle Universitäten und technische Institute die Statushierarchie anführten (Noelke et al. 2012, 708). Die Mobilität zwischen den unterschiedlichen Sekundarschulen war eingeschränkt (Kogan et al. 2012, 70), und es existierte eine klare Trennung zwischen den verschiedenen berufsbildenden Schulen und der allgemeinbildenden Mittelschule (Titma/Saar 1995, 40; Kogan 2008, 15). Der Weg in eine berufliche Schule wurde von den am wenigsten ambitionierten Jugendlichen beschritten – obwohl starke Anreize für den Berufseintritt in gerade die Berufe, für welche dort ausgebildet wurde, geschaffen worden waren (Noelke/Müller 2011, 17 f.).

Letzten Endes zeigte sich der sowjetische Sozialismus in der Realität zugleich sowohl leistungsorientiert als auch leistungsfeindlich (Zander/Robejšek 1990, 26, 47). Die UdSSR hinterließ der Ukraine ein zentralistisch verwaltetes Schulsystem, das sich am Anspruch der Gleichheit orientierte (Hellwig/Lipenkowa 2007, 808; Želudenko/Sabitowa 2015, 852), diesen aber nicht einzulösen vermochte und sich immer mehr der ungleichmachenden Leistungsorientierung zuwandte, was auch in Zusammenhang mit Praktiken stand, die in der Wirtschaft ausgeübt wurden. Auffallend ist nicht nur die Diskrepanz zwischen Ideologie und Strukturen bzw. Handlungsweisen, sondern auch zwischen dem Ideal des sowjetischen Menschen und den tatsächlichen Werthaltungen, die nicht von Gleichheit, sondern von hierarchischer Einordnung zeugen. Letztere beinhaltete unter anderem eine Höherachtung akademischer Bildung gegenüber beruflicher Bildung. Leistungsorientierte, selektierende Vorgehensweisen wurden im Laufe der Zeit zunehmend Teil der sowjetischen Gesellschaft, sowohl in der Bildung als auch im Beschäftigungssektor. Gleichwohl weigern sich zum Beispiel Titma et al., so weit zu gehen, die UdSSR als Meritokratie zu kategorisieren, weil sie Bildung als Mittel der Parteifunktionäre sehen, Menschen zu Arbeitsposten zuzuweisen und sie in eine Rangfolge zu bringen (Titma et al. 2003, 295 f.).

4.1.3 Das ukrainische Bildungswesen im Zeichen des Übergangs zu einer neuen Gesellschaftsform

Abschnitt 4.1.3 beschäftigt sich mit dem Bildungswesen der unabhängigen Ukraine in der Transformationsperiode. Nach einer Einleitung wird auf Reformen, gesetzliche Neuerungen und Postulate der Bildungspolitik eingegangen, bevor das Ausmaß ihres Erfolgs thematisiert wird. Den Abschluss bildet eine Übersicht über die Struktur des aktuellen ukrainischen Bildungssystems als Grundlage des anschließend en détail zu formulierenden Realtypus.Footnote 3

In sämtlichen ehemals sozialistischen Staaten der Sowjetunion war das Bildungswesen ein Feld, in dem seit dem Ende der UdSSR radikale Veränderungen in Strukturen und Inhalten sichtbar wurden, aber auch „beharrende Elemente aus älteren historischen Schichten“. Es ergab sich ein „Gemengelage“ an Charakteristika, zu denen sich bald „europäische“ Merkmale im Sinne des Bologna-Prozesses gesellten (Anweiler/Steier 2009, 259). In Transformationsländern entstehende Problemlagen, die das Spannungsfeld von Hierarchie, Gleichheit der Bildungschancen und individueller Verschiedenheit angehen, sind aus anderen europäischen Ländern bekannt (Anweiler/Steier 2009, 262 f.). Dies trifft auch auf den ukrainischen Fall zu.

Das Jahr 1991 bedeutete für die Ukraine als Jahr der Unabhängigkeitserlangung von der Sowjetunion eine erhebliche Zäsur (Holowinsky 1995, 195; Koshmanova/Ravchyna 2008, 138). Unmittelbar kamen große Herausforderungen auf das Land zu. Das alte, sowjetische System war zusammengebrochen, eine neue politische, wirtschaftliche und gesellschaftliche Ausrichtung musste eingeleitet, rechtlich umrahmt und institutionell gegründet werden. Es wurde ein Transformationsprozess eingeleitet, dessen Ziele strategisch geplant und umgesetzt werden mussten (vgl. zum Beispiel Pascual/Pifer 2002, 176 ff.). Konkret war der Übergang hin zu einem souveränen, pluralistischen Staat mit demokratischer Ordnung und freier, kapitalistischer Marktwirtschaft zu bewältigen. Selbstverständlich war das Bildungswesen davon alles andere als ausgenommen. Es bedurfte einer neuen Organisation des Schulwesens, neuer Curricula und Schulbücher, einer neuen Bildungsphilosophie, einer Reform der Lehrerbildung und einer Aktualisierung der Lehrmethoden. Dabei war es bald ein wichtiges Anliegen der Ukrainer/innen, das Bildungssystem kompatibel zu den Standards des Europäischen Bildungsraumes aufzubauen (Holowinsky 1995, 210 f.; Pascual/Pifer 2002, 177; Kremen/Nikolajenko 2006, 18; Koshmanova/Ravchyna 2008, 138; Filiatreau 2011, 51; Kutsyuruba 2011, 288 f.).

Das von der Sowjetunion vererbte, zentralistisch gesteuerte Bildungssystem war darauf ausgelegt gewesen, eine loyale kommunistische Arbeiterschaft auszubilden (Janmaat 2008, 1). Hochgeachtet worden waren die proletarische Kultur und der Kollektivismus (Melnyk 2021, 114). Nun war man gefragt, ein „moderneres“ Bildungswesen aufzubauen, das sich stärker an den Bedürfnissen der Teilnehmer/-innen orientierte und persönlichen Talenten mehr Beachtung schenkte (Janmaat 2008, 1). Die berufliche Bildung stand vor der Herausforderung, als Teil der unabhängigen Ukraine neu aufgestellt zu werden. Sie musste dabei mit den neuen Gegebenheiten der fortschreitenden technischen Entwicklung mithalten und sich auf die neuen Bedarfe einstellen, die sich am Arbeitsmarkt durch den Übergang zur freien Marktwirtschaft ergaben. Durch diesen Übergang löste sich die vormals enge, plangesteuerte Beziehung zwischen Betrieben und beruflichen Schulen auf und viele Industriebetriebe verschwanden von der Bildfläche. Andere gerieten in Krisen, sodass sie nicht länger in der Lage waren, Material, Geld, Praktikumsplätze oder Arbeitsplätze für Berufseinsteiger/-innen zur Verfügung zu stellen. Resultat war eine Unterfinanzierung der beruflichen Bildung. Die Finanzlast lag nun ganz beim Staat, der angesichts des ökonomischen Umbruchs nicht in der Lage war, sie zu stemmen. Es mangelte der Wirtschaft vor allem an Fachkräften in den Feldern Soziales, Dienstleistungen und Handel. Daneben fehlten im Bildungssektor Lehrer/-innen, Tutor/-innen, neue Lehrmodelle und Lehrmaterialien (Roberts et al. 2000, 129; Hellwig/Lipenkowa 2007, 809; Zinser 2015, 688; Melnyk 2021, 114 f.).

Auch nach der völligen staatlichen Unabhängigkeit der Ukraine wurden die unter Gorbatschow unter dem Motto der Perestroika begonnenen Prozesse der Umgestaltung und Demokratisierung des Bildungswesens fortgesetzt. Die in diesem Bezug gebrauchten Begriffe wie Humanisierung, Differenzierung und Pluralismus blieben der politischen Diskussion erhalten (Koshmanova 2006, 107). Betont wurde der nationale Aufbau gemäß den Prinzipien der Menschlichkeit, der Demokratie und des gegenseitigen Respekts. Neuer Ausgangspunkt war die Annahme, dass jedes Kind Lernbereitschaft besitzt, und zwar auf moralischer, intellektueller und psychologischer Ebene. In diesem Sinne forderte eine Blaupause einer Kommission des ukrainischen Bildungsministeriums aus dem Jahr 1992, allen Bürger/-innen Lerngelegenheiten zur Verfügung zu stellen und die berufliche Weiterbildung zu fördern (Holowinsky 1995, 214). Gemäß diesem Dokument wurden die kommenden Reformen unter die Devise gestellt, die autoritäre Pädagogik hinter sich zu lassen, die das totalitäre Sowjetregime eingesetzt hatte und in der naturgegebene Talente und individuelle Fähigkeiten und Interessen der an Bildungsprozessen Beteiligten niedergehalten worden waren (Kutsyuruba 2011, 292). Vorgeschlagen wurde folgende Aufgliederung des Schulsystems: Vorschulwesen, allgemeinbildendes Schulwesen, berufliches Bildungswesen, Hochschulwesen und Graduiertenschulwesen. Als besonders wichtiges Ziel der Vorschule sollten herausragend begabte Kinder möglichst früh identifiziert werden. Das allgemeinbildende Schulwesen sollte drei Stufen umfassen: „elementary“, „basic“ und „secondary“ (Grundschule, Sekundarstufe I und Sekundarstufe II). Hier hob man ebenfalls die Bedeutung der Förderung besonders Begabter hervor, aber auch die Berücksichtigung der Bedürfnisse von Menschen mit intellektuellen, sensorischen oder emotionalen Einschränkungen (Holowinsky 1995, 214).

1993 erschien das erste staatliche Programm zur Reform des ukrainischen Bildungssystems. Ein Schwerpunkt war die Förderung der Erziehung getreu ukrainischen Werten und Traditionen. Ein anderer bestand darin, internationale Erfahrungen als Vorbild zu nutzen, um ein Bildungswesen aufzubauen, das einer offenen, demokratischen Gesellschaftsordnung sowie europäischen Standards entsprach (Koshmanova/Ravchyna 2008, 138). Die ukrainische Regierung restrukturierte und modifizierte die Infrastruktur und Curricula des Bildungswesens auf allen Ebenen. Neue Kurse, Programme, Projekte, Modelle, Lehr- und Lernmethoden sowie Informationstechnologien wurden eingeführt. Dies sollte dem Bildungswesen größere Flexibilität und Offenheit für die Bedürfnisse der Lernenden als Teil einer pluralistischen Gesellschaft verleihen. Private und öffentliche Träger gründeten neue Schulen wie Kollegs, Lyzeen, Gymnasien und alternative Schulen verschiedener Niveaus. Zahlreiche Hochschuleinrichtungen wurden in Akademien und Universitäten transformiert, klassische Universitäten reorganisiert (Koshmanova/Ravchyna 2008, 138).

Als wichtigste Merkmale der ukrainischen Bildungspolitik der frühen Unabhängigkeitsjahre bezeichnet Holowinsky das Anliegen der Nationsbildung und die Reaktion auf den Kollektivismus und die Erfahrung der totalitären sozialistischen Herrschaft durch den neuen Fokus auf das Individuum anstelle der Gruppe (Holowinsky 1995, 218). Man gab die Devise aus, einerseits die Schüler/-innen zu mündigen Staatsbürger/-innen der Ukraine zu erziehen und andererseits mehr lernerzentrierte, problemlöseorientierte Methoden im Unterricht anzuwenden (Zinser 2015, 688). Um die Identifikation mit der ukrainischen Nation zu fördern, führte man die Ukrainekunde ein, sowohl in Schulen als auch an Universitäten. Ihr Inhalt bestand zum Beispiel aus der ukrainischen Sprache, Geschichte, Literatur und Ethnografie (Telus 1998, 466). In den 1990er Jahren stand die nationale Identitätsbildung nicht nur bildungspolitisch, sondern auch in pädagogischen Abhandlungen im Mittelpunkt (Koshmanova 2006, 107 ff.).

Es folgte ein Zeitabschnitt der Stagnation und des Verlustes der Errungenschaften der ersten Bildungsreformen, was sich darauf zurückführen lässt, dass es dringlicher schien, politische und wirtschaftliche Reformen umzusetzen (Kutsyuruba 2011, 292). Bei einer Bewertung des Standes der Bildungsreformen und ihrer Realisierung im Zeitraum von 1990 bis 1999 konstatierte das Bildungsministerium erhebliche Mängel. In der Literatur kam man zu dem Schluss, dass die Ukraine strukturell und institutionell noch immer nach den zentralisierten Sowjetpraktiken vorging und viele Merkmale des Schulsystems unverändert geblieben waren (Kutsyuruba 2011, 293, 302). Unter anderem bestand das Lehrpersonal sämtlicher Klassenstufen bis hin zu Universitätsprofessor/-innen aus Menschen, die in der Sowjetunion ausgebildet und mit der sowjetischen bzw. marxistisch-leninistischen Theorie „indoktriniert“ worden waren (Holowinsky 1995, 195, 204). Zwischen Schulen auf dem Land und in der Stadt herrschten große Unterschiede; privater Nachhilfeunterricht expandierte rasch, Korruption und Bestechung breiteten sich aus, vor allem beim Übergang zum tertiären Bildungssektor, und schlugen tiefe Wurzeln im post-sowjetischen Bildungssystem der Ukraine (Fimyar 2008, 573). Ein genereller Trend war die Eröffnung privater Grundschulen und privater klassischer Sekundarschulen (Holowinsky 1995, 206 f.; vgl. auch Steier 2006, 559). Hinsichtlich der Unterrichtsmethodik war zu hören, dass das Lehrpersonal nur verbal das schülerzentrierte Lernen befürwortete, in Wirklichkeit aber nach wie vor autokratischen Modellen anhing (Koshmanova 2006, 107).

Relativ zu Beginn der Unabhängigkeit verordnete ein Hochschulbildungsgesetz, in dem auch die berufliche Bildung vorkam, eine Reduktion des Spezialisierungsgrades der Berufsschulprogramme (Raimondos-Møller 2009, 17). Es dauerte es bis 1998, bis die berufliche Bildung eine eigenständige, neue gesetzliche Grundlage für die Übergangszeit erhielt, in der Leitlinien für die neue Zeit, ohne die zentral geplante Wirtschaftsverwaltung und ihre Vorgaben, definiert wurden (Melnyk 2021, 114 f.). Neuerungen in der beruflichen Bildung betrafen beispielsweise die Erlaubnis, dass Schulen von erwachsenen Schüler/-innen Schulgeld erheben und Zuschüsse aus integrierten Schülerunternehmen erwirtschaften durften (Zinser 2015, 688).

Im Jahr 1999 erließ die ukrainische Regierung ein Bildungsgesetz für die allgemeine mittlere Bildung. Dieses Gesetz stellte die rechtliche Grundlage für Sekundarschultypen zur Verfügung, die seit der Unabhängigkeit neu entstanden waren. Dazu gehörten klassische Gymnasien, (Junior-)Kollegia und Lyzeen (Kononenko/Holowinsky 2001, 225; ETF 2009, 62).

2001 begann man mit der schrittweisen Einführung der 2000 beschlossenen Verlängerung der vollständigen und verpflichtenden Sekundarschulbildung auf zwölf Jahre, um sie bis zum Schuljahr 2012/13 zu vollenden (Hellwig/Lipenkowa 2007, 809; Österman 2009, 7). Allerdings taucht die geplante Ausweitung auf zwölf Jahre in neueren Dokumenten immer wieder auf, sodass die Annahme naheliegt, dass sie nicht wie vorgesehen bis zu diesem Zeitpunkt flächendeckend implementiert wurde (vgl. Zimmermann 2017, 17). Weitere Neuerungen betrafen verstärkten Fremdsprachenunterricht in Primar- und Sekundarstufe und Profilierungsmöglichkeiten in der Oberstufe (Fimyar 2008, 578).

Qualitätssicherung des Bildungssystems galt alsbald als wichtiges bildungspolitisches Anliegen. Seit 2004 entwickelte man ein externes Qualitätssicherungssystem und ein neues Notensystem für schulische Leistungen. Wesentliche Bedeutung hatten hierbei die Abschlussnoten der Sekundarstufe II als ausschlaggebend für die Hochschulzulassung. Geplant wurde ein Übergang zu zusätzlichen staatlichen Abschlussprüfungen auf Basis externer, standardisierter Tests (Želudenko/Sabitowa 2015, 853 ff.).

2005 begann die Ukraine, ihr Hochschulsystem an andere europäische Hochschulsysteme anzupassen, indem sie die Befolgung der Prinzipien der Bologna-Reform auf den Weg brachte (Zinser 2015, 687) und sich verbindlich dem Bologna-Prozess anschloss (NOICHE 2013b, 12; Želudenko/Sabitowa 2015, 852; ETF 2017d, 7; 2017e, 6). Anstelle einer Hochschulbildung, die von einer Kultur der Autokratie, Korruption und akademischer Stagnation geprägt war, sollten Demokratie, Transparenz, die Einhaltung wissenschaftlicher Prinzipien, Innovation und grenzüberschreitende Zusammenarbeit treten (Filiatreau 2011, 53). Als einen Schritt in diesem Prozess installierten alle Universitäten mit Akkreditierung für die höchsten Qualifikationsebenen III und IV mit Beginn des Studienjahres 2006/07 das europäische Leistungspunktesystem ECTS (Makogon/Orekhova 2007, 5), nachdem man schon 1995 einen Bachelor und einen Master eingeführt hatte, die den einstufigen Spezialistenabschluss ersetzen sollten (Bruun et al. 2009, 21). Man gründete Ukrainische Zentren für die Begutachtung der Bildungsqualität, die Verfahren für die externe und unabhängige Beurteilung von Absolvent/-innen allgemeiner Bildungseinrichtungen entwickeln und durchführen sollten, um gleiche Bedingungen beim Zugang zum Hochschulstudium zu schaffen. Seit 2006 nahmen neun solche Zentren ihre Arbeit auf (Kooperation international 2012). Des Weiteren stand auf der Bologna-Agenda, die Zugangsverfahren der Universitäten zu vereinheitlichen und die Curricula an europäische Standards anzugleichen (Želudenko/Sabitowa 2015, 852).

Im Rahmen der Bemühungen der Integration in den Europäischen Bildungsraum setzte die ukrainische Regierung 2011 einen Nationalen Qualifikationsrahmen (= NQR) in Kraft. Er stand mit einem gemeinsamen Umsetzungsplan des Ministeriums für Sozialpolitik und des Bildungsministeriums in Verbindung. Passend dazu sollten Berufsstandards ausgearbeitet werden. Dabei setzte man auf den kompetenzorientierten Ansatz (Del Carpio et al. 2017, 89), der immer wieder eingefordert wurde (Zinser 2015, 696). Bis 2018 wurden bereits einige berufliche Standards abgesegnet, bis 2020 soll der NQR voll in Funktion treten, betreut und koordiniert durch eine Nationale Agentur für Qualifikationen. Das Grundprinzip, das zur Anwendung kommt, ist das Lebenslange Lernen, das unter anderem beinhaltet, formales, non-formales und informelles Lernen anzuerkennen (ETF 2019b, 3, 7). An der Standardisierung der beruflichen Bildung werden unter anderem die Arbeitgeber/-innen beteiligt (ETF 2017c, 9; Radkevych et al. 2018, 135). Die Berufsstandards enthalten national gültige Komponenten und fakultative regionale Teile (Kooperation international 2012).

Eine Anweisung des ukrainischen Bildungsministeriums brachte 2014 die Errichtung von anwendungsorientierten Trainingszentren unter Beteiligung der Sozialpartner/-innen auf den Weg, die sich Einführungen in innovative Technologien widmen (Radkevych et al. 2018, 135). Neben der Ausbildung von Facharbeiter/-innen, die mit modernsten Technologien vertraut sind, sollte hier ein Lernort für Arbeitslose entstehen, der sich außerdem um Berufsberatung und die Organisation von Lehrerbildung kümmert. Bis 2016/17 wurden 50 solcher Einrichtungen eröffnet, bis Ende 2020 waren weitere 125 geplant (Radkevych et al. 2018, 136). Ferner beschloss die ukrainische Regierung, die Steuerung des beruflichen Bildungswesens zu dezentralisieren. Dies betraf vor allen Dingen die Finanzierung der Berufsschulen, die seit 2016 (seit 2017 auch die Kollegs als höhere berufliche Schulen) den lokalen bzw. regionalen Behörden obliegt. Mit der Dezentralisierung ging eine Gewährung von mehr Freiheiten einher, beispielsweise um aktiver mit lokalen Unternehmen zu kooperieren. Man beabsichtigte durch die Dezentralisierung und die Kompetenzorientierung eine bessere Passung zwischen (lokaler) Wirtschaft und den Qualifikationen von Arbeitnehmer/-innen (ETF 2017e, 6 f.; 2017c, 11; Melnyk 2021, 116).

2014 erklärte ein neues Hochschulbildungsgesetz eine neue Struktur des postsekundären Bildungsraums für rechtsgültig. Bis dato hatte der Hochschulsektor vier Qualifikationsniveaustufen aufgewiesen, denen Institutionen aufgrund bestimmter Eigenschaften zugeordnet waren. Alle höheren technischen und beruflichen Lehranstalten gehörten zu den Stufen I und II. Auf Stufe III waren jene Einrichtungen angesiedelt, die keine eigene Forschung durchführten und keine Doktortitel vergaben. Universitäten, Akademien, manche Institute und Konservatorien bildeten Stufe IV, da sie sowohl eigene Forschung tätigten als auch Doktortitel verliehen (Želudenko/Sabitowa 2015, 863). Die zwei- bis dreijährige Ausbildung zum Junior-Spezialisten bzw. zur Junior-Spezialistin gehörte nach dem neuen Gesetz nun nicht mehr zur Hochschulbildung bzw. den Qualifikationsniveaus I und II, sondern zählt nun zur beruflichen Bildung. Stattdessen führte man einen Junior-Bachelorgrad ein. Den Junior-Spezialistenabschluss gibt es nur noch, bis der Jahrgang, der 2019 zugelassen wurde, ihn abgeschlossen hat (Del Carpio et al. 2017, 90; ENIC Ukraine o. J.a; o. J.d; 2019). Post-sekundäre Berufskollegs wechselten bezüglich ihres Status vom Hochschulsektor zur beruflichen Bildung über und sollten ab 2018 regionaler Verwaltung unterstellt werden (ETF 2017d, 5). Man strich überdies sukzessive den im Vergleich zum Master anwendungsorientierteren hochschulischen Spezialistenabschluss (Makogon/Orekhova 2007, 6) aus dem Bildungsprogramm und ersetzte ihn durch den Masterabschluss (ENIC Ukraine 2019). Der erste von zwei Doktorgraden, der Kandidat der Wissenschaft („Candidate of Science“), wurde ebenfalls an internationale Standards angeglichen und heißt nun „PhD“ (ENIC Ukraine o. J.a). Außerdem beschloss man die Errichtung einer Nationalen Agentur für die Sicherung der Qualität der Hochschulbildung (Kooperation international 2012; 2020b) und die Akkreditierung von Bildungsprogrammen, anstatt wie zuvor die Hochschulen zu akkreditieren (Kooperation international 2012). Mit dem Hochschulgesetz von 2014 gewährte man den Hochschulen mehr Autonomie, integrierte die zuvor stark getrennten Gebiete der Forschung und Lehre und öffnete sich stärker der Internationalisierung. Im Zuge der Autonomieerweiterung übertrug man den Hochschulen das Recht, ihre Rektor/-innen selbst zu wählen, und erweiterte die Studiengestaltungsoptionen (Härtel 2017).

Neues Schlagwort in der ukrainischen Bildungspolitik ist aktuell die „Neue Ukrainische Schule“. Darunter versteht man das Konzept eines neuen Schulsystems, vorgegeben durch ein neues Rahmenbildungsgesetz aus dem Jahr 2017Footnote 4. Es soll stufenweise in der Realität Form annehmen. Laut Plan sollte 2018 die Grundschule umgestellt werden, 2022 kommt die mittlere Grundallgemeinbildung an die Reihe, also die Sekundarstufe I, 2027 schließlich die Sekundarstufe II (allgemeine „vollständige“ Mittelschulbildung) als spezialisierte Sekundarbildung, in der man unterschiedliche Profile wählen kann. Diese drei Schularten bilden zusammen das neue, verpflichtende und auf zwölf Jahre ausgeweitete Mittelschulsystem. Nach der vierjährigen Grundschule schließt eine fünfjährige grundlegende Allgemeinbildung an, bevor sich die letzten drei Jahre bis zum Abschluss der „vollständigen“ Sekundarschule in Fachrichtungen gabeln. Zuvor erstreckte sich die Oberstufe über zwei Jahre; nun soll die dreijährige Form eine Anpassung an die gängige internationale Praxis vollziehen. Eine Spezialisierung in der Oberstufe war auch vor der Reform möglich, aber in Zukunft soll den Schüler/-innen mehr Flexibilität bei der Fächerwahl gewährt werden (ETF 2017c, 3 f.; 2019b, 3, 7; Friedman/Trines 2019; Kooperation international 2020b). Neu ist die Eröffnung beruflicher Lyzeen – neben den schon vorhandenen allgemeinbildenden Lyzeen. Somit können sich Schüler/-innen am Ende der Sekundarstufe I unter anderem für einen allgemeinbildenden oder beruflichen Weg außerhalb der klassischen beruflichen Bildung entscheiden. Während die allgemeinbildenden Lyzeen für eine weiterführende hochschulische Bildung vorbereiten, werden die beruflichen sowohl für den direkten Arbeitsmarkteinstieg als auch ein anschließendes Studium konzipiert (Friedman/Trines 2019). Außerhalb bzw. oberhalb der Sekundarschule stehen unter anderem die berufliche Bildung, die vorhochschulische berufliche Bildung und die Hochschulbildung zur Verfügung (ETF 2019b, 7; Kooperation international 2020b). Besonderes Augenmerk liegt auf der Förderung von Haltungen und Werten der Absolvent/-innen der Neuen Ukrainischen Schule (ETF 2017d, 5). Für die Hochschulen stehen eine bessere Einbindung Studierender in die Hochschulverwaltung, Änderungen in finanziellen Belangen, größere akademische Autonomie und die Begrenzung der Amtszeiten von Rektor/-innen auf der Agenda. Man reduziert den Workload für Dozierende und Studierende, geht entschlossener gegen Plagiate vor und setzt Anreize für die Universitäten, Studierende nach Leistungsfähigkeit zuzulassen (Friedman/Trines 2019).

Neuerliche Überlegungen, die berufliche Bildung zu stärken, führten 2017/18 zur Einführung eines dualen Systems nach dem Vorbild Deutschlands. Kern des ukrainischen dualen Systems ist die Dualität der Lernorte. Zentrale Wünsche dabei sind es, die berufliche Bildung besser an die Bedarfe der Wirtschaft anzupassen, die Unternehmen mehr in die Berufsausbildung zu involvieren, flexiblere und modernere Berufsausbildungen anbieten zu können sowie Theorie und Praxis besser zu verknüpfen (MES 2017–2019c; Melnyk 2021, 116 f.). Der Praxisanteil in der neuen dualen Ausbildung beträgt 60–70 %, der theoretische Unterricht macht 20–30 % aus. Es ist geplant, die Ausbildung modular in Blöcke aufzuteilen und auf theoretische Einheiten zur Konsolidierung des Gelernten Praxisphasen folgen zu lassen. Nach einer als erfolgreich bewerteten Testphase stiegen zum Schuljahr 2017/18 in insgesamt 25 Regionen 49 berufliche Einrichtungen, die für 54 Arbeiterberufe ausbilden, und über 300 Arbeitgeber/-innen ein. Im September 2018 beteiligten sich bereits 198 Berufsschulen und über 800 Arbeitgeber/-innen an der dualen Ausbildung von rund 7 100 Auszubildenden in 114 Berufen (Regierungsportal Ukraine o. J.; MES 2017–2019c; Kooperation international 2020b).

Auch in die berufliche Lehrerbildung wird investiert, indem Fortbildungen verbindlich werden und mehr Praxiselemente in die Lehrpläne eingebunden werden (ETF 2017c, 12; Radkevych et al. 2018, 133 ff.).

Aktuell wird ein Entwurf für ein neues Berufsbildungsgesetz überprüft (ETF 2020, 2), der bislang nur auf Ukrainisch vorliegt. Darin enthalten sind laut ETF folgende Punkte: Dezentralisierung der beruflichen Bildung, Verteilung der Finanzierung auf mehrere Kanäle unter Einbezug der Arbeitgeber/-innen, Modernisierung und bessere Anpassung an Arbeitsmarktbedarfe, Errichtung von Praxiszentren und die Etablierung von Partnerschaften zwischen privaten und öffentlichen Einrichtungen (ETF 2017c, 3). In der Diskussion befindet sich außerdem ein ETF-Entwurf zur Einrichtung von beruflichen Exzellenzzentren (ETF 2020, 3).

Autor/-innen, die über die Ukraine schreiben, sind sich einig, dass der Transformationsprozess noch nicht abgeschlossen ist (Koshmanova/Ravchyna 2008, 137; Kutsyuruba 2011, 288; Zinser 2015, 686). Als problematisch erweisen sich unter anderem die erheblichen Unterschiede der Bildungsqualität und -optionen in städtischen und ländlichen Regionen (Želudenko/Sabitowa 2015, 854). Kutsyuruba befragte Lehrpersonen, wie sie den Umwandlungsprozess wahrgenommen hätten, und machte auf Basis ihrer Antworten folgende Phasen aus: Der Beginn der Transformation im Bildungssystem war charakterisiert durch Instabilität, fehlende Grundlagen, Ziel- und Richtungslosigkeit sowie wechselnde Bedingungen. Es schloss sich eine Periode an, die bei ihm unter dem Begriff „Demokratisierung der Schule“ läuft und von einer entschiedenen Ablehnung der sowjetischen Bildungsideologie geprägt war. Sie mündete in einen Perspektivwechsel, der neue Ziele in den Blick nahm. Resultat waren eine größere wahrgenommene Freiheit und Flexibilität, sowohl was die Gesinnung als auch die Auswahl von Lehrmaterialien und Lehrmethoden anbelangte. Mitte der 1990er Jahre beobachteten befragte Lehrer/-innen eine als paradox empfundene Hinwendung zu strengerer Überwachung und Kontrolle von Anordnungen sowie eine überbordende Bürokratie inklusive extensivem „Papierkram“, den die Lehrkräfte bewältigen mussten. Insgesamt schätzen sie die Reformen als zu schlecht vorbereitet und überstürzt ein. Als einflussreichste Reformen nannten die Teilnehmer/-innen der Befragung die Einführung der ukrainischen Sprache als Unterrichtssprache, die Etablierung von Eliteschulen und Schulen mit speziellen Profilen, den Wechsel zu einem Zwölf-Jahres-Schulsystem, die Änderung der Benotungsskala und -prozeduren und die Einführung neuer Curricula und Studienprogramme (Kutsyuruba 2011, 298 f.).

Den Status quo des Aufbaus des ukrainischen Bildungswesens und der Beurteilung des Reformstandes umreißen die folgenden Absätze, beginnend mit einer Gesamtübersicht und Anmerkungen zur Sekundarschulbildung über die berufliche Bildung bis hin zur Hochschulbildung. Es ist zu beachten, dass das ukrainische Bildungsministerium nach wie vor häufig formale Änderungen vornimmt, sodass Informationen schnell veralten.

Überblick über das ukrainische Bildungswesen. Insgesamt teilt sich das ukrainische Schulsystem laut der noch bis 2027 umzusetzenden Reform wie folgt auf: Vorschulbildung (für Kinder im Alter von einem bis sechs Jahren), vier Jahre Grundschulbildung („elementary education“, Klasse 1 bis 4), fünf Jahre mittlere Grundallgemeinbildung („basic education“, Klasse 5 bis 9), drei Jahre allgemeine „vollständige“ Mittelschulbildung („high school education“, Klasse 10 bis 12), hinzu kommen die unterschiedlichen Zweige der Berufsbildung und Hochschulbildung (Kononenko/Holowinsky 2001, 225; Hellwig/Lipenkowa 2007, 815; Fimyar 2008, 578; Kooperation international 2012; Želudenko/Sabitowa 2015, 858; Friedman/Trines 2019; Kooperation international 2020b). Abbildung 4.1 bietet eine Übersicht, die auch die entsprechenden Abschlüsse verzeichnet.

Abbildung 4.1
figure 1

Das Bildungssystem der Ukraine (Stufen und Abschlüsse). (modifizierte Darstellung in Anlehnung an Melnyk 2020, 2, ergänzt mit Informationen aus ENIC Ukraine 2019, mit freundlicher Genehmigung von Oksana Melnyk)

Sekundarstufe. Gymnasien gehören zu den Qualifizierungsstufen II und III, also zur Sekundarstufe I und II, und verfügen über profilbildende Fachrichtungen. Lyzeen befinden sich auf Qualifikationsstufe III (= Sekundarstufe II), bisweilen ab Klasse 8 auch II, und besitzen ein „ausgeprägtes Bildungsprofil“; sie vermitteln dabei allgemeine Bildung unter wissenschaftlichen und praktischen Aspekten sowie vorberufliche Bildungselemente. Sowohl an Gymnasien als auch an Lyzeen sind Eingangstests zu bestehen. Kollegia sind Lehranstalten der beiden Sekundarstufen mit einer Konzentration auf philologische, philosophische und/oder kulturelle und ästhetische Fächer. Folgende Profile stehen zur Auswahl: Geisteswissenschaften, Geisteswissenschaften und Sozialwissenschaften, Geisteswissenschaften und Naturwissenschaften. Die spezialisierten Schulen, die es zum Teil schon zu Sowjetzeiten gab, beginnen bereits ab der ersten Klasse und bilden ihre Schüler/-innen zu „Spezialist/-innen“ eines bestimmten Faches aus. Während die Strukturen der spezialisierten Schulen grundsätzlich mit jenen der Gesamtschulen übereinstimmen, weist die Lehre zusätzlich vertiefende Aspekte in einem oder mehreren Fächern auf. Alle vier Schultypen bedienen die Zielgruppe der talentierten Kinder und Jugendlichen und ermöglichten ihnen eine Spezialisierung auf den Gebieten, in denen ihre besondere Begabung auftritt (Hellwig/Lipenkowa 2007, 815; Kooperation international 2012; Želudenko/Sabitowa 2015, 858, 861 f.). Der gewöhnliche Weg ist der der allgemeinen Gesamtschule.

Nach der neunten Klasse steht die Entscheidung an, entweder eine berufliche Schule zu besuchen oder an der allgemeinen Sekundarschule zu bleiben (Zinser 2015, 687). Hierbei können neben der allgemeinbildenden Schule entweder „niedrigere“ berufliche Ausbildungsgänge gewählt werden oder solche an „höheren“ beruflichen Schulen (Kogan et al. 2012, 70). Zur „höheren“ Bildung gehörte bis zum Bildungsgesetz 2017 der Junior-Spezialistenabschluss im post-sekundären Bildungssektor; der nächsthöhere Abschluss war der Bachelor als Basis-Hochschulabschluss, gefolgt von Spezialist/-in bzw. Master als vollwertige Hochschulabschlüsse (Makogon/Orekhova 2007, 4; EACEA 2012, 3). Die letzten Junior-Spezialist/-innen erhielten 2019 ihre Zulassung; in Zukunft wird dieser Abschluss gestrichen (ENIC Ukraine 2019; s. oben). Die aktuellen Abschlüsse werden nachfolgend erläutert.

Berufliche Bildung. Das ukrainische Berufsschulwesen besteht aus zahlreichen unterschiedlichen Einrichtungen und Schularten, deren Anzahlen von Radkevych et al. einem ukrainischen Dokument des Bildungsministeriums aus dem Jahr 2018 entnommen wurden: 73 Berufsschulen, 163 berufliche Hochschulen, 85 berufliche Ausbildungszentren, 338 berufliche Lyzeen, drei Berufskollegs, 21 berufliche Institute als Abteilungen von Hochschulen, 69 berufliche Ausbildungszentren in Strafvollzugseinrichtungen und 22 Einrichtungen anderer Form (2017, 6 f.; Radkevych et al. 2018, 129; ETF 2019b, 6). Zur beruflichen Bildung wird auch die berufliche Fort- und Weiterbildung gerechnet (Suprun et al. 2012, 19; IVET NAPS 2017, 3; Radkevych et al. 2018, 128).

Im Laufe der Transformationsprozesse benannte man einige berufliche Schulen in Kollegs um und gestand ihnen das Recht zu, den Junior-Spezialisten- sowie den Bachelorabschluss zu verleihen. Damit versuchte man, berufliche Bildungsgänge aufzuwerten. Im Gegensatz zur vormaligen Praxis entspricht der Typ oder Name einer beruflichen Institution nicht unbedingt einem bestimmten Bildungsniveau der angebotenen Bildungsgänge. Entscheidend für die Qualität und Qualifikationsstufen sind der Inhalt der Programme und die Abschlusszertifikate, sodass eine Einrichtung Abschlüsse auf mehreren Stufen vergeben kann (Raimondos-Møller 2009, 15).

An manchen Punkten widersprechen sich die verfügbaren Quellen hinsichtlich des Aufbaus der beruflichen Bildung in der Ukraine, was meist mit der Frage nach der Zugehörigkeit bestimmter beruflicher Bildungseinrichtungen zu einem bestimmten Bildungssektor zusammenhängt. Hier stimmen Gesetz und Realität nicht zwingendermaßen überein (ETF 2017c, 3), was auch sonst für existierende Pläne und Konzepte für das Bildungswesen gilt (Hellwig/Lipenkowa 2007, 823 f.). Die Angaben über die Dauer beruflicher Ausbildungen variieren ebenfalls, aber nur geringfügig. Zudem beziehen sich die Quellen auf unterschiedliche Zeitpunkte und die zahlreichen Reformen bringen laufend Änderungen mit sich. Die folgenden Absätze versuchen, das aktuelle Gesicht und die aktuelle Zuordnung von beruflichen Abschlüssen als plausible Essenz in Einklang mit obigen Erläuterungen widerzugeben, die aus einem Vergleich der nachfolgend in Klammer angegebenen Quellen (ENIC Ukraine o. J.g; Hellwig/Lipenkowa 2007, 819; Suprun et al. 2012, 14; NOICHE 2013b, 6, 9; Želudenko/Sabitowa 2015, 862; Zinser 2015, 692; Radkevych et al. 2018, 129; Deißinger/Melnyk 2019, 9; Friedman/Trines 2019; Kooperation international 2019; 2020b) stammen.

Berufsbezogene Bildung findet nach den Reformen in der Ukraine in der Sekundarstufe II und in der post-sekundären Bildung bzw. im sogenannten Vorhochschulbereich auf drei Stufen statt. Es werden Berufsausbildungen in Präsenzform, als Fernunterricht und sowohl in Teil- als auch in Vollzeit angeboten. An Berufsschulen, spezialisierten technischen Berufsschulen sowie Bildungs- und Produktionszentren wird das Zertifikat Qualifizierte/-r Arbeiter/-in (Stufe I) vergeben. Je nach Vorbildung variiert die Dauer der Berufsausbildung.

Auf der untersten Stufe besteht die Möglichkeit, ohne einen formalen Schulabschluss erlangt zu haben, in einen beruflichen Ausbildungskurs einzutreten. An dieser Stelle variieren die Arten der beruflichen Bildung stark und können aus Kurzzeitkursen oder Ausbildungen mit einer Dauer von einer Woche bzw. einem Monat bis zu sechs Monaten bzw. einem Jahr (hier sind die Literaturangaben uneinheitlich) bestehen, wobei spezifische praktische Fähigkeiten im Mittelpunkt des Unterrichts stehen. Hier geht es primär um die möglichst rasche Vermittlung praktischer Fertigkeiten. Am Ende solcher Programme erfolgt ein Test der beruflichen Kompetenzen.

Auf der zweiten Stufe stehen Berufsbildungsprogramme für diejenigen, die mindestens über eine abgeschlossene Grundmittelbildung, also Sekundarstufe I, verfügen. In einem Jahr bzw. eineinhalb Jahren bis drei Jahren erfolgt die Berufsausbildung, die ebenfalls ein Diplom namens Qualifizierte/-r Arbeiter/-in vergibt. Hier können zusätzliche allgemeine Bildungselemente integriert werden, sodass gleichzeitig mit der beruflichen Ausbildung die Hochschulreife abgelegt werden kann. Wer schon in deren Besitz ist, kann die allgemeinbildenden Teile aussparen und die Berufsausbildung früher beenden.

Die postsekundäre bzw. vorhochschulische Berufsbildung als dritte Stufe der beruflichen Bildung beinhaltet spezialisierte Einrichtungen wie Kollegs („colleges“) und Technika („technical schools“), die mit Fachhochschulen vergleichbar sind. Diese Lehrstätten vergeben entweder das Diplom Junior-Spezialist/-in (= „unvollständige“ Hochschulbildung) oder neuerdings auch Junior-Bachelor. Manche Kollegs können zudem einen Bachelor vergeben. Für den Bereich der „höheren“ beruflichen Bildung ist die Hochschulreife Voraussetzung. Auf einen Abschluss als Qualifizierte/-r Arbeiter/-in kann man bei Zulassung bis 2019 einen Junior-Spezialistenabschluss aufsetzen und gleichzeitig die Hochschulreife erwerben, wobei sich in diesem Fall die Ausbildungsdauer auf drei bis vier Jahre statt zwei bis drei Jahre verlängert. Bis zum Junior-Bachelor dauert es in der Regel zwei, in manchen Fällen auch drei bis vier Jahre. Falls ein weiterführendes Studium angeschlossen wird, besteht die Option, sich bereits absolvierte Ausbildungsteile anrechnen zu lassen.

Überdies gibt es berufliche Ausbildungszentren, die sich vielfältigen Aufgaben widmen, unter anderem der Umschulung sowie der Verbesserung der Fähigkeiten und Qualifikationen von Junior-Spezialist/-innen und angestellten Arbeiter/-innen. Sie kümmern sich außerdem um Menschen, deren Jobs neue Technologien beinhalten, sodass neue Kompetenzen erforderlich sind. Absolvent/-innen allgemeinbildender Schulen können an manchen der Zentren, je nach Akkreditierung, berufliche Fertigkeiten erwerben; einige bilden auch Junior-Spezialist/-innen aus (Shcherbak et al. 2002, 22).

Die Arbeitslosenquote unter Berufsschulabgänger/-innen ist 50 % geringer als diejenige unter den Abiturient/-innen der allgemeinbildenden Sekundarschule. Berufsschulabgänger/-innen dürfen ihre Berufsausbildungsjahre bei Arbeitgeber/-innen als Berufserfahrung angeben (Suprun et al. 2012, 14; Zinser 2015, 692). Für Abiturient/-innen, die die „vollständige“ Mittelschulbildung abgeschlossen haben, existiert die Option, eine Berufsausbildung in nur einem Jahr zu absolvieren und so ein Berufsausbildungszertifikat zu erlangen. Von solchen Schüler/-innen, meist zwischen 18 und 22 Jahren alt, werden moderate Schulgebühren verlangt (Zinser 2015, 692). Private Anbieter/-innen beruflicher Bildungsgänge konzentrieren sich auf den Weiterbildungssektor, sodass die meisten Einrichtungen der beruflichen Erstausbildung vom Staat betrieben werden (Del Carpio et al. 2017, 93).

Klassischerweise unterrichtet eine berufliche Schule in der Ukraine schwerpunktmäßig eine berufliche Fachrichtung, zum Beispiel im Bereich der Hotels und Gaststätten mit Berufen in Gastronomie, Tourismus und Hotellerie. Zusätzlich bietet sie allgemeinere Fachgebiete wie Betriebswirtschaftslehre oder Computerlehre an. Während einer Tageshälfte befassen sich die Schüler/-innen mit der Ausbildung im Beruf, die andere Hälfte gehört der allgemeinen Sekundarschulbildung mit Fächern wie Mathematik, Naturwissenschaften, Sprachen, außerdem der sozialen oder kulturellen Betätigung und dem Sport, der als wichtiges Fach gilt, das in den Stundenplänen der beruflichen Schulen in allen Klassen vier Mal pro Woche vorkommt (Zinser 2015, 687, 694). Berufliche Schulen sind in der Ukraine auch in der Weiterbildung engagiert, indem sie kurze, modular organisierte Kurse geben, wie zum Beispiel in Schweißtechnik oder Computeranwendungen. Die Teilnehmer/-innen solcher Kurse machen rund ein Viertel der gesamten Schülerschaft der beruflichen Schulen aus (Zinser 2015, 696).

Grundsätzlich ist intendiert, dass die beruflichen Schulen in einem gewissen Rahmen auch die lokalen Gegebenheiten berücksichtigen. So unterrichtet man zum Beispiel in einer Stadt, die über viele alte Gebäude verfügt, Gebäuderestauration oder bietet in der Nähe des Schwarzen Meeres Tauchkurse an. Überdies berücksichtigt man bei der beruflichen Ausrichtung der Schulen die lokale Wirtschaft und setzt entsprechende Schwerpunkte. Manche Berufsschulen nutzen die entsprechende gesetzliche Regelung für eigene Schülerfirmen, die Produkte und Dienstleistungen verkaufen, um sich selbst als Schule besser finanzieren zu können und den Schüler/-innen praktische Lerngelegenheiten anzubieten (Zinser 2015, 692 f.; s. oben).

Über die berufliche Bildung wird gesagt, sie sei nach wie vor sehr ähnlich organisiert wie zur Sowjetzeit, vor allem was die dominante staatliche Steuerung anbelange (Cherkes 2010; Zinser 2015, 693; Melnyk 2021, 114118). Es gab zu wenig Unterstützung bei der Entwicklung neuer Lehrpläne, sowohl für ältere Berufe in den Bereichen Bau und Transport als auch für neue Berufe und Spezialisierungen. Durch den Verlust an praktischen Ausbildungsoptionen innerhalb von Betrieben erfolgte eine stärkere theoretische Ausrichtung der beruflichen Bildung, die nun hauptsächlich in Schulen stattfinden muss (Zinser 2015, 688). Zahlreiche berufliche Schulen wurden bereits zwischen 1930 und 1960 eröffnet. Was an Ausstattung an den Schulen vorhanden ist, entspricht häufig nicht dem gegenwärtigen Stand in der Industrie bzw. Wirtschaft (Zinser 2015, 691; Del Carpio et al. 2017, 91; Friedman/Trines 2019). Zwar berichtet Zinser hinsichtlich der von ihm besuchten Schulen, an denen er Befragungen durchführte, von engen Beziehungen der Schulen zur lokalen Wirtschaft – so bringen Berufsschulen beispielsweise Schüler/-innen in den Sommerferien und für Teilzeitjobs in Unternehmen unter. Allerdings ist unsicher, ob diese Betätigungen wirklich der Ausbildung der Schüler/-innen dienen oder nicht vielmehr einem Beschäftigungsverhältnis ähneln, bei dem es darum geht, bestimmte Aufgaben für die Firmen zu erledigen (Zinser 2015, 692). Insgesamt mangelt es der beruflichen Bildung an Engagement des privaten Sektors, auch was die Curriculaentwicklung anbelangt (Del Carpio et al. 2017, 88).

In der Zeit zwischen 1991 und 2018 musste ein massiver Einbruch der Anzahl an beruflichen Schulen und ihrer Schüler/-innen verzeichnet werden (Kavtseniuk et al. 2015, 49 f.; Friedman/Trines 2019; Melnyk 2021, 115). Betrug die Anzahl der beruflichen Schulen 1991 noch 1 251, so waren es 2013 noch 968. Spätere Zahlen exkludieren die Krim sowie besetzte Gebiete in der Ostukraine und geben für das Jahr 2018 736 Schulen an, wobei ein anhaltender Abfall der Zahlen zu registrieren ist. Hinsichtlich der Schülerzahlen werden für das Jahr 1991 648 400 angegeben. Bis zum Jahr 2013 sank diese Zahl auf 391 200. Danach fehlen wieder die Zahlen der Krim, wobei sich der ohnehin anhaltende Abwärtstrend fortsetzt, sodass 2018 mit 255 000 die niedrigste Anzahl an Schüler/-innen beruflicher Schulen überhaupt seit 1991 vorzuweisen ist (SSC 1998–2019b). Zu bedenken ist hierbei, dass die Ukraine sich einer sinkenden Bevölkerungszahl gegenübersieht, die unter anderem mit der Abwanderung von Ukrainer/-innen im erwerbstätigen Alter in Zusammenhang steht und mit einem relativ hohen Anteil an Bürger/-innen über 60 Jahre einhergeht (ETF 2019b, 4). Hinzu kommen das geringe Prestige der beruflichen Bildung und die Landflucht (Friedman/Trines 2019). Ein Grund für die Schließung von Berufsschulen lag darin, dass der Staat nicht genug Geld zur Finanzierung beruflicher Schulen bereitstellte (Nychkalo 2015, 146). Ferner waren die Kommunen nicht in der Lage, die Finanzlast, die ihnen 2014 im Rahmen der Dezentralisierung übertragen worden war, zu stemmen (ETF 2017e, 6). Auch wenn eine Dezentralisierung als dringend angebracht eingeschätzt wird, so war sie bislang nicht erfolgreich, da sich die unternommenen Versuche als fragmentarisch und schlecht durchdacht erwiesen (Del Carpio et al. 2017, 88; ETF 2017d, 7; Melnyk 2021, 116). So wird beispielsweise die Ad-hoc-Natur der Reformen, was die Koordination zwischen Regierung und anderen Stakeholdern angeht, moniert, zudem das Fehlen einer übergreifenden, gut austarierten Strategie und ein Mangel an Budgets zur Finanzierung der Änderungen. Der regulative Rahmen wird als unzureichend eingestuft (Suprun et al. 2012, 9; Del Carpio et al. 2017, 88; ETF 2017c, 3; 2017d, 6). Wenngleich das Hochschulbildungsgesetz aus dem Jahr 2014 die zuvor dem Hochschulsektor angehörigen Berufskollegs dem post-sekundären bzw. vorhochschulischen Sektor zuweist, schlägt diese Regelung in der Realität nicht durch, da starke Lobbys den Eingliederungsprozess verlangsamen. Somit finden die Reformen des beruflichen Schulbereichs in diesen Einrichtungen nicht statt, wodurch die Ganzheitlichkeit der Reformimplementierung verhindert wird (ETF 2017c, 3).

Im Sinne der beruflichen Bildung sieht Zinser die Bemühungen um die Entwicklung eines Nationalen Qualifikationsrahmens kritisch, da nicht sicher ist, ob die im Rahmen dieses Prozesses auserkorenen Prioritäten auch genug Unterstützung erfahren werden. Insofern könnte es passieren, dass die Ukraine diese Entwicklung zu früh mitmacht, bevor die Menschen, die in der beruflichen Bildung tätig sind, bereit sind, ihre bisherigen Praktiken zu verändern (Zinser 2015, 697).

Das Prestige von Arbeiterberufen ist in der Ukraine gering (Suprun et al. 2012, 9; IVET NAPS 2017, 15). Entsprechend gestaltet sich die öffentliche Wahrnehmung der beruflichen Bildung auf der Sekundarstufe als negativ. Sie gilt als Notnagel für die schlechtesten Schüler/-innen (Del Carpio et al. 2017, 92). Daher steht man vor der Herausforderung, die berufliche Bildung von einem System zur Unterstützung sozial Schwacher in ein System umzuwandeln, das der Wirtschaft zuträglich ist (ETF 2017d, 10). Es wird die Notwendigkeit gesehen, die Wertschätzung der beruflichen Bildung und der Arbeiterberufe zu erhöhen, um mehr Schüler/-innen für Berufsausbildungen zu gewinnen (Zinser 2015, 693, 696). Dies ist auch Bestandteil von bildungspolitischen Strategiepapieren bzw. Programmen des Staats. Teil davon ist die Einführung von Leistungswettbewerben für Berufsschüler/-innen (Preise sind Stipendien) und die Wiederbelebung der Berufsberatung in der Sekundarstufe II. Materielle Anreize wurden bereits geschaffen, indem Berufsschüler/-innen Stipendien gewährt werden. Ein erster Arbeitsplatz im gelernten Beruf wird mittlerweile auf Basis von bi- und multilateralen Verträgen garantiert. Zusätzlich werden bedarfsgerecht Umschulungen durchgeführt und seit 2011 finden Ausstellungen und Karrieremessen statt (Suprun et al. 2012, 10, 15).

Als dringlichste Anliegen des Berufsbildungssystems tauchen in der Literatur außer der Anhebung des Stellenwerts der beruflichen Bildung immer wieder folgende auf: die Unterfinanzierung, die Rückständigkeit der Unterrichtsmaterialien und der Ausstattung der beruflichen Schulen, die mangelnde Bereitschaft der Arbeitgeber/-innen, sich zu beteiligen, und die mangelnde Passung zwischen beruflicher Bildung und Bedarfen des Arbeitsmarkts bzw. große Schwierigkeiten bei der Prognose der Bedarfe (Shevchenko 2008, o. S.; Suprun et al. 2012, 9, 13 f., 28; Del Carpio et al. 2017, 16; Radkevych et al. 2018, 132 ff.). Prytomanov et al. fassen als essentielle Ansatzpunkte zur Verbesserung der Situation wie folgt zusammen:

The search for a balance between the purposes of the state, the capabilities of vocational technical educational institutions, and the interest of employers in providing the labour market with qualified personnel remain the urgent issues. What is required to resolve these issues is a modernization of the educational system, systematic forecasts of demand for occupations and specializations, the enhancement of organizational forms, and increased financing of the public system of vocational technical educational institutions. (Prytomanov et al. 2018, 249)

Hochschulbildung. Ukrainische Hochschulen bieten zwei Arten von Bildung an: zum einen akademische Studiengänge an Universitäten, Akademien und Instituten, zum anderen angewandte Studien, in erster Linie an bestimmten Kollegs („colleges“) oder Technika und gelegentlich auch an Universitäten, Akademien oder Instituten (Zimmermann/Schwajka 2018, 17; ETF 2019b, 6; s. zur früheren Form des Hochschulsektors Hellwig/Lipenkowa 2007, 816; NOICHE 2013b, 8). Dies liegt unter anderem daran, dass bisweilen Kollegs oder Institutionen der beruflichen Sekundarschulbildung als Abteilungen an Hochschulen angegliedert sind. Da also manche Hochschulen sowohl berufsbezogene als auch akademische Studienprogramme offerieren, bleibt die Unterscheidung zwischen beruflicher und akademischer Hochschulbildung oft unklar (NOICHE 2013b, 4, 8).

Als Universität gilt in der Ukraine eine Hochschule, die ein Multiprofil aufweist und ein breites Spektrum „der humanitären, wirtschaftlichen, naturwissenschaftlichen und anderen Wissenschaften betreibt und zum leitenden wissenschaftlichen und methodischen Zentrum gehört“ (Kooperation international 2012). Solche Universitäten zählen zu den klassischen. Daneben existieren fachspezifische Universitäten. Dabei gibt es jeweils für klassische und profilbildende Universitäten feste Vorgaben, wie viele Bildungszweige und Forschungsrichtungen sie jeweils abdecken müssen (Kooperation international 2012; 2020b). Zu den Fachuniversitäten gehören beispielsweise Wirtschaftsuniversitäten und Technische Universitäten (Kooperation international 2012), Agraruniversitäten, Medizinische Hochschulen, Luft- und Raumfahrtuniversitäten, Universitäten für Schiffsbau und solche für Eisenbahnwesen (Zimmermann/Schwajka 2018, 14). Sie müssen mindestens vier Studiengebiete abdecken und Doktorprogramme in mindestens acht Forschungsrichtungen anbieten (ENIC o. J.b; Friedman/Trines 2019). In zunehmendem Maße verbreitern sie ihr Studienangebot um beliebte Studiengänge wie Jura und Informatik, um mehr Studierende anzuziehen und damit mehr Geld einzunehmen (Zimmermann/ Schwajka 2018, 14). Universitäten verfügen über das Promotions- und Habilitationsrecht (Zimmermann/Schwajka 2018, 17). Eine Akademie ist eine Hochschuleinrichtung,

die die Hochschulbildung für eine bestimmte Qualifikation in einem bestimmten Bereich von Wissenschaft, Produktion, Bildung, Kultur und Kunst anbietet, die Grundlagen- und angewandte Forschungen betreibt und zum leitenden wissenschaftlichen und methodischen Zentrum im Bereich ihrer Tätigkeit gehört und über ein entsprechendes Niveau des Personals und der materiellen und technischen Versorgung verfügt. Obligatorisch für eine Akademie ist die Ausbildung in mindestens 2 Bildungsbranchen und die Ausbildung von promovierten und habilitieren Doktoren der Wissenschaften in mindestens zwei wissenschaftlichen Fachrichtungen (mit Ausnahme der Bildungseinrichtungen mit besonderen Studienbedingungen). (Kooperation international 2012)

Institute hingegen können entweder Struktureinheiten von Universitäten oder Akademien sein oder eigenständige Einrichtungen (EACEA 2012, 5; Kooperation international 2012). Sie unterhalten Studiengänge „in einem bestimmten Bereich der Wissenschaft, Bildung, Kultur oder Produktion“ (Kooperation international 2012) und forschen in grundständigen und angewandten Wissenschaften (EACEA 2012, 5). Manche Autoren zählen überdies diejenigen Kollegs zur Hochschulbildung, die in einer bestimmten Fachrichtung bis zum Bachelorabschluss oder einem zweijährigen Junior-Bachelorabschluss ausbilden. Ähnliches gilt für Technika (Fachschulen), insofern sie ihre Programme weiterentwickeln, sodass dort Bachelor-Abschlüsse realisiert werden können. Alle, die „nur“ zweijährige Bildungsgänge im Programm belassen, werden zum Sekundarbereich gerechnet (Zimmermann/Schwajka 2018, 17; Friedman/Trines 2019). Konservatorien für künstlerische Berufe, insbesondere musische, ergänzen den Hochschulsektor (EACEA 2012, 5; Friedman/Trines 2019).

Bezüglich der Hochschulstatistiken ergibt sich folgendes Bild: 1990/91 existierten 149 Universitäten, Akademien und Institute im tertiären Bildungssektor. Im akademischen Jahr 2008/09 erreichte der seit der Unabhängigkeit stetige Anstieg seinen Höhepunkt und die Zahl kletterte auf 353. Danach kam es zu einem leichten Rückgang. Für das erste Studienjahr unter Ausschluss der Krim und besetzter Gebiete in der Ostukraine, 2014/15, werden 277 Hochschuleinrichtungen aufgeführt. 2018/19 registrierte man 282 Institutionen, wobei die Zahlen seit 2015/16 stabil im Bereich zwischen 280 und 290 blieben (SSC 1998–2019a). Mit der Krim-Annexion und den andauernden militärischen Konflikten in der Ostukraine büßte man an Hochschulkapazitäten ein (Kooperation international 2020b). 143 Hochschuleinrichtungen befanden sich in den betroffenen Gebieten und nur wenige schafften den Umzug in sichere Gefilde (Friedman/Trines 2019). Allgemein wird die Anzahl an Hochschulen und Studienplätzen in der Ukraine im internationalen Vergleich und in Relation zur Bevölkerung als sehr hoch eingeschätzt (Gorobets 2008, 97 f.; Härtel 2017; Sovsun 2017, 6). Mit Erlangung der staatlichen Unabhängigkeit der Ukraine setzte ein Trend zur Eröffnung von privaten Hochschulen sowie „wenig kontrollierte[r] Filialen staatlicher Hochschulen“ ein, deren Anzahl bei circa 77 liegt (Zimmermann/Schwajka 2018, 16).

Hochschulabschlüsse nach aktueller Legislatur bestehen in Junior-Bachelor, Bachelor, Master und verschiedenen Doktorgraden, wobei eine gesonderte Aufteilung für die Übergangszeit ausgearbeitet wurde (ENIC Ukraine o. J.a; Friedman/Trines 2019). Bis zum Bachelorabschluss sind vier Jahre vorgesehen, ein Masterabschluss dauert zwei bis vier Semester (Zimmermann/Schwajka 2018, 21). Mit Übergabe des hochschulischen Abschlusszertifikats erhalten die Absolvent/-innen zugleich sowohl einen Nachweis ihres Bildungsniveaus als auch eine Berechtigung, in einem bestimmten beruflichen Feld tätig zu werden („an educational certificate and a professional licence“) (EACEA 2012, 3 f.).

Am Erfolg der Reformbemühungen im Hochschulsektor herrschen Zweifel. Einerseits reagierten Hochschulen nur zögerlich auf die neuen Anweisungen und verfolgten konfligierende Eigeninteressen. Andererseits waren die ministerialen Vorgaben nicht realistisch, was einzelne Ziele anbelangt, sodass sie revidiert werden mussten (Zimmermann/Schwajka 2018, 11). Durch die Simultaneität zahlreicher Reformen ergab sich die Notwendigkeit, diese in Einzelteile aufzuteilen und partiell anzugehen, was ihrer Durchschlagskraft und Ganzheitlichkeit schadete, wobei letztere ohnehin aus strategisch-konzeptioneller Sicht nicht gegeben war (Härtel 2017).

Probleme bereitete die Errichtung der Nationalen Agentur für Qualitätssicherung, verantwortlich für die Akkreditierung neuer Studiengänge. Sie sollte aus 25 gewählten Mitgliedern aus Hochschulen, Akademien, Arbeitgeberverbänden und studentischen Selbstverwaltungen bestehen. Lange Zeit ließ die erforderliche Bestätigung der abgesandten Vertreter/-innen durch das ukrainische Parlament auf sich warten. Hinzu kamen Rücktritte und die Entfernung von Repräsentant/-innen aufgrund von Plagiatsvorwürfen. Ungeklärt blieb die Aufgabenverteilung zwischen der neuen Agentur und dem Bildungsministerium. Somit konnte die Agentur über Jahre hinweg ihre Arbeit nicht aufnehmen (Sovsun 2017, 10; Zimmermann/Schwajka 2018, 12). Schließlich wählte eine international bestückte Auswahlkommission Ende 2018 mittels eines „neuen transparenten Auswahlverfahrens“ 22 Mitglieder aus, wobei das Ministerkabinett darüber entschied, wer den Vorsitz übernehmen sollte (Kooperation international 2019).

Kostrobiy und Rashkevych kommen zu dem Schluss, dass keine echten Schritte zur Qualitätssicherung der Hochschulen gemacht worden sind (Kostrobiy/Rashkevych 2017, 20).

Filiatreau moniert, die Anpassung an den Bologna-Prozess sei eine rein mechanische, äußere Anpassung, ohne eine entsprechende Neuausrichtung der inneren Werte und institutionellen Kultur der Hochschulen (Filiatreau 2011, 54 ff.).

Noch hinkt die Ukraine bei der faktischen Implementierung des ECTS und der Kompetenz- und Outcome-Orientierung der Studienprogramme hinterher (Kostrobiy/Rashkevych 2017, 19).

Alles in allem sieht man den lange nachwirkenden Einfluss der Sowjetzeit kritisch, der in vielen strukturellen, rechtlichen und institutionellen Merkmalen überdauert (Fimyar 2008, 572 f.). Die neue Autonomie der Hochschulen hat zunächst in einigen Fällen zur Bestätigung alteingesessener „Machthaber/-innen“ geführt, da langjährige Mitarbeiter/-innen bei einer gescheiterten Wiederwahl unangenehme persönliche Konsequenzen in Form von Beschneidungen erarbeiteter Vorrechte zu befürchten schienen (Härtel 2017). So wird konstatiert, dass die akademische Autonomie ein Traum geblieben sei (Kostrobiy/Rashkevych 2017, 20). Die weitverbreitete Korruption steht der substantiellen Verbesserung der Situation im Hochschulsektor durch Reformen im Weg (Osipian 2017, 241). Jedoch scheinen die neuen Gesetze seit 2014 deutliche Fortschritte auf den Weg zu bringen (Kurbatov 2017, 36; Gresham/Ambasz 2019, 12) – Härtel bezeichnet die neuen Hochschulzugangsregelungen per externem, unabhängigem Testverfahren, das zur Bekämpfung der Korruption beim Zugang zum Tertiärsektor installiert wurde, als „so etwas wie ein[en] Paradigmenwechsel“ (Härtel 2017). Die Beschneidung der rigiden Vorschriften hinsichtlich der Aktivitäten von Bildungseinrichtungen hin zu mehr Freiheiten, die Modernisierung ihrer Finanzierung und Ausweitung ihrer Autonomie stellen vielversprechende Lösungsansätze dar, falls es gelingt, sie in der Bildungswirklichkeit praktisch durchzusetzen und die dabei noch bestehenden Probleme zu bewältigen (Holovko 2017).

4.2 Vergleich des realtypischen Zusammenhangs zwischen Meritokratie und beruflicher Bildung in der unabhängigen Ukraine mit seinen idealtypischen Ausprägungen

4.2.1 Einleitende Bemerkungen und allgemeine Vorgehensweise bei der Realtypuserstellung

Bildungsbasierte Meritokratie betrifft im Kern die Ausgestaltung der Beziehung zwischen Sozialstruktur und Bildungssystem eines Landes unter Berücksichtigung des Einflusses des Beschäftigungssektors. Laut Anweiler und Steier kennzeichnen ex-sowjetische Staaten bestimmte „Bildungstraditionen, Relikte der staatssozialistischen Ära sowie neue Orientierungen“ (Anweiler/Steier 2009, 259). Bąk hebt hervor, dass der Ausgangspunkt für die Transformation das traditionelle historische Sowjetmodell war, was beispielsweise in der Hochschulbildung einen großen Einfluss auf die Art der getätigten Modifikationen hatte (Bąk 2014, 62). Vor diesem Hintergrund muss die nachfolgende Erarbeitung realtypischer Aspekte und Entwicklungen des Zusammenhangs zwischen Meritokratie und beruflicher Bildung in der autonomen Ukraine gedacht werden. Wenngleich die Sowjetunion nicht als bildungsbasierte Meritokratie anzusehen ist, so waren doch einige ihrer Merkmale dort vorhanden bzw. entfalteten sich über die Jahrzehnte (s. hierzu Abschnitt 4.1.2.6). Eine genaue Analyse dieser Thematik ist nicht vordergründig Gegenstand der vorliegenden Arbeit, der es um die aktuelle Situation in der unabhängigen Ukraine geht. Vorläufige historische Prozesse werden gleichwohl einbezogen, da die Beschreibung der aktuellen Phase des Realtypus auf einen kontextuellen Vorspann angewiesen ist, der jeweils bereitgestellt wird.

Der Abgleich des Realtypus mit dem Idealtypus erfolgt grundsätzlich als Gegenüberstellung des ukrainischen Status quo mit der zweiten idealtypischen Phase des Zusammenhangs zwischen Meritokratie und beruflicher Bildung. Zum einen wandte sich die Ukraine erst „nachträglich“ dem meritokratischen Prinzip zu, also chronologisch gesehen während der zweiten idealtypischen Phase, und zum anderen war dort realtypisch seit der Unabhängigkeit eine Bildungsexpansion auf Kosten der beruflichen Bildung zu beobachten, wie sie kennzeichnend für die zweite idealtypische Phase ist, deren Überschrift „Bildungsexpansion und Marginalisierung beruflicher Bildung“ lautet. Bestimmte Eigenschaften aus der ersten oder dritten Phase des Idealtypus werden bei der realtypischen Analyse eingeschlossen, wo dies erforderlich ist – es ist davon auszugehen, dass die Phasen sich bezüglich einzelner Aspekte überschneiden können. Dies gilt speziell für einen Staat wie die Ukraine, der aus einer gleichheitsorientierten Gesellschaft erwuchs und somit bereits vor der zweiten Phase entsprechende Elemente aufgewiesen haben dürfte, die im Idealtypus erst in Phase 2 auftauchen, in der Anstrengungen zur Förderung der Chancengleichheit unternommen werden.

Durch die Einführung der freien Marktwirtschaft geriet das Gleichheitsideal in post-sowjetischen Staaten schnell ins Wanken und wandelte sich in eine breite und relativ markante Akzeptanz sozialer Ungleichheit (Kelley/Zagorski 2004, 323). Gleiche Chancen beim Zugang zur Bildung und die Nutzung von Bildungsoptionen sind in der Ukraine seit der Unabhängigkeit aktuelle Themen (Želudenko/Sabitowa 2015, 866). Als Richtschnur der Bildungspolitik geben Kremen und Nikolajenko unter anderem folgende Aspekte an:

  • Schaffung eines gleichberechtigten Zugangs zur Hochschulbildung,

  • Ausbau des Fort-/Weiterbildungssektors und des lebenslangen Lernens,

  • Förderung der ukrainischen Sprache,

  • Entwicklung einer Pädagogischen Psychologie,

  • Vermarktlichung von Bildungsangeboten (Kremen/Nikolajenko 2006, 20 f.).

Die ukrainische Verfassung stattet die Staatsangehörigen mit dem Recht auf freien und gleichen Zugang zur Sekundarschule und zur beruflichen bzw. hochschulische Bildung aus (ETF 2009, 56). Es besteht Schulpflicht für die „vollständige“ Sekundarschule. Der Hochschulzugang basiert auf dem Wettbewerbsprinzip (Banaszak 2014, 7). Konkret garantieren die neu formulierten Gesetze der unabhängigen Ukraine allen Studienbewerber/-innen das Recht auf ein kostenloses Studium, sofern sie sich im Wettbewerb gegen die anderen durchsetzen können (Klein 2018, 117), in anderen Worten „[m]erit-based access to higher education for all Ukrainian citizens“ (Kremen/Nikolajenko 2006, 19). Es wird eine Sichtweise eingenommen, die Bildung einerseits als Mittel zur individuellen Potenzialentfaltung begreift und sie andererseits in ihrer funktionalen Bedeutung für den Fortbestand der Gesellschaft würdigt (vgl. Banaszak 2014, 8).

Als basale Prinzipien, an die sich das ukrainische Bildungswesen anlehnen soll, gibt das Bildungsgesetz von 1991 Humanismus, Demokratie, nationale Identität und gegenseitigen Respekt zwischen Nationen und Menschen an (Banaszak 2014, 8). In der Bildungslandschaft zeigt sich eine Leistungs- und Wettbewerbsorientierung am Zugang zur „höheren“ Bildung, zudem wird „Bildung für alle“ proklamiert, sodass die beiden meritokratischen Pole der Elitenbildung bzw. Differenzierung und der (Chancen-)Gleichheit vorhanden sind (s. hierzu Abbildung 3.8; vgl. Želudenko/Sabitowa 2015, 855). Grundsätzlich ist Semeniuk zufolge bekannt, dass post-sowjetische Länder in den letzten 20 Jahren an der Idee der Bildung als Rettungsanker des meritokratischen Ideals festhielten. Gerade in der Ukraine ist eine anhaltende Betonung von Bildung als Mittel auf dem Weg zu einer gerechten und gleichen Gesellschaft zu beobachten (Semeniuk 2014, 3). Inwiefern sich die Hinwendung zur bildungsbasierten Meritokratie strukturell und funktional in der Ukraine äußert, soll anhand der folgenden Abschnitte eruiert werden. Dass sich dabei Gemeinsamkeiten und Unterschiede finden werden, liegt auf der Hand: Wie gesehen, befindet sich die Ukraine im Transformationsmodus und muss bestimmte strukturelle und gesellschaftliche Elemente noch ausformen und einen eigenen Weg finden, Vergangenheit und Zukunft in der Gegenwart zu vereinen. Daher ist nicht anzunehmen, dass schon konsistente, klar ausgeprägte Normen und Strukturmerkmale etabliert wurden. Dennoch sollte es möglich sein, Tendenzen und zumindest rudimentär Eigenschaften, die im Wachsen begriffen sind, auszumachen. Gerade die Offenheit des Transformationsprozesses und die damit verbundene „Weichheit“ bzw. relative Formbarkeit von Strukturen macht es sinnvoll, Wirkungen und Empfehlungen für die Ukraine und ihre berufliche Bildung zu ermitteln, bevor sie sich zum Beispiel in meritokratischen Sackgassen festfährt.

Zuerst erfolgt eine literatur- und dokumentenbasierte Erarbeitung und Beschreibung des ukrainischen Realtypus. Hierbei werden neben der verfügbaren wissenschaftlichen Literatur im engeren Sinne primär gut recherchierte Berichte und Materialien von internationalen Organisationen, wie beispielsweise UNESCO, OECD, ETF und anderen, oder von Ministerien, zugehörigen Instituten oder Regierungsportalen sowie übersetzte Gesetzestexte herangezogen. Vorhandene Informationslücken, bedingt durch das Fehlen an englisch- oder deutschsprachiger Literatur zum Thema, werden mithilfe von halbstandardisierten Gruppeninterviews ukrainischer Expert/-innen geschlossen, wobei die Interviews Diskussionselemente enthalten. Eine genauere Erläuterung des Vorgehens bei den Expertenbefragungen ist im nachfolgenden Abschnitt zu finden. Vor der Durchführung der Interviews wurde der Realtypus im Vergleich zum Idealtypus mit den verfügbaren Quellen erstellt und nachträglich gezielt mithilfe der Expertenangaben ergänzt.

4.2.2 Vorgehen bei den ergänzenden Expertenbefragungen

4.2.2.1 Kategorien von Expertenbefragungen

In der Literatur gibt es verschiedene Kategorisierungen von Expertenbefragungen. Folgt man der Einteilung bei Bogner und Menz, so ist ein Interview, das „auf die Teilhabe an exklusivem Expertenwissen orientiert“ ist, das spontan kommuniziert werden kann, als systematisierende Expertenbefragung einzuordnen (Bogner/Menz 2009, 64 f.). Lamnek und Krell bezeichnen diese Art der Befragung als „informatorisches Interview“ (Lamnek/Krell 2016, 316).

Nach Hildebrandt lassen sich bei Expertenbefragungen eine politikwissenschaftliche und eine wissenssoziologische Herangehensweise unterscheiden, wobei die politikwissenschaftliche zum Teil auch in der Soziologie eingesetzt wird. Gemäß der politikwissenschaftlichen Tradition werden Experteninterviews zur Gewinnung unzugänglicher, aber direkt kommunizierbarer Informationen verwendet. Bei der wissenssoziologischen Vorgehensweise stehen die Expert/-innen als solche im Mittelpunkt, nicht die Informationen, und eine ergänzende Analyse von anderen Dokumenten und Materialien ist nicht vorgesehen (Hildebrandt 2015, 241 f.).

Das angewandte Procedere der vorliegenden Arbeit wird in Abhängigkeit vom Forschungsinteresse konzeptioniert, wobei Werkzeuge unterschiedlicher Methoden vereint werden (vgl. Bogner/Menz 2009, 61 f.). Ziel ist es, systematisch an Informationen über „‚objektive‘ Tatbestände“ zu gelangen (Bogner/Menz 2009, 65), über die keine Forschungsliteratur in Englisch oder Deutsch vorliegt. Es wird davon ausgegangen, dass bestimmte Expert/-innen, die mit der ukrainischen Bildungslandschaft bzw. der ukrainischen Wirtschaft, insbesondere der Personalwirtschaft, vertraut sind, über die gesuchten Informationen verfügen. Daher ist nach der Einteilung bei Bogner und Menz auf eine systematisierende Expertenbefragung zurückzugreifen, die auf Informationsteilhabe ausgerichtet ist. Im Sinne unseres Erkenntnisinteresses stehen nicht die Expert/-innen selbst im Mittelpunkt, sondern die unzugänglichen Informationen, die durch sie zugänglich gemacht werden können. Diese Informationen sind als Ergänzung zu einer Analyse anderer Dokumente, insbesondere von Literatur, vorgesehen. Somit folgt unsere Vorgehensweise, legt man die Unterscheidung nach Hildebrandt zugrunde, der politikwissenschaftlichen Tradition.

4.2.2.2 Arten von Gruppenbefragungen von Expert/-innen und ihre Vorteile im Vergleich zu Einzelbefragungen

Expert/-innen lassen sich generell einzeln oder in Gruppen befragen. Bei Gruppenbefragungen unterscheidet man bisweilen zwischen Gruppeninterviews und Gruppendiskussionen, zum Teil werden diese beiden Begriffe auch synonym verwendet. Bei Lamnek und Krell findet sich eine Definition des Begriffs der Gruppendiskussion als Synonym zu einem Gruppeninterview, die aus der Kritik an Einzelinterviewverfahren entstanden ist (Lamnek/Krell 2016, 384): „Die Gruppendiskussion ist ein Gespräch mehrerer Teilnehmer zu einem Thema, das der Diskussionsleiter benennt, und dient dazu, Informationen zu sammeln“ (Lamnek/Krell 2016, 384). Spöhring differenziert zwischen Gruppeninterviews und Gruppendiskussionen: Kennzeichen von Gruppeninterviews ist es demnach, dass ein Interviewer bzw. eine Interviewerin einer Gruppe entlang eines vorformulierten Fragenbogens Fragen stellt, die diese daraufhin beantwortet (ohne Diskussion). Beim Gruppeninterview interessiert im Gegensatz zu anderen Formen der Gruppendiskussionsverfahren nur das Ergebnis, nicht der Gruppenprozess (Spöhring 1995, 213; vgl. auch Misoch 2015, 151–154, 160 f.). Bei klassischen Gruppendiskussionen dienen die Teilnehmer/-innen sowohl als Informant/-innen als auch als Versuchspersonen, deren Interaktion analysiert wird (Spöhring 1995, 213 ff.). Eine besondere Herangehensweise ist das Gruppen-Delphi-Verfahren, bei dem die Ergebnisfindung im Vordergrund steht, wobei dafür das Instrument der Diskussion eingesetzt wird. Ziel ist es, einen Konsens zu finden. Hierfür diskutieren Expertengruppen parallel über ein vorgegebenes Thema und versuchen, sich auf eine Meinung zu einigen. Sollte ein Konsens nicht möglich sein und abweichende Urteile bestehen bleiben, werden die strittigen Punkte benannt und im Optimalfall auch begründet. Unterscheidet sich die Meinung einzelner Teilnehmer/-innen signifikant vom Mittelwert aller Meinungen, werden die entsprechenden Aspekte im Plenum mit allen teilnehmenden Expertengruppen nochmals aufgegriffen und diskutiert, um einen Gesamtkonsens zu erreichen (Niederberger/Renn 2018, 27 f.).

Im Vergleich zum Einzelinterview wird nach Spöhring in Gruppendiskussionen ein breiteres Meinungsspektrum erfasst. Es wird eine „freundlichere, entspanntere Atmosphäre“ geschaffen, die weniger der „Verhörsituation“ einer Einzelbefragung gleicht und laut Spöhring „eine größere Nähe zur alltäglichen Gesprächssituation“ herstellt (Spöhring 1995, 215). Gruppendiskussionen bringen „detailliertere und gründlicher durchdachte Äußerungen“ hervor und geben die Möglichkeit zum Widerspruch. Insgesamt liefern sie „mit geringerem Aufwand mehr Material“ (Spöhring 1995, 216). Ähnlich sieht dies Misoch, die die Zeiteffizienz von Gruppeninterviews im Vergleich zu Einzelinterviews betont und weiter anmerkt, „dass sich die Befragten gegenseitig ergänzen, korrigieren, zum Erzählen und Detaillieren anregen und durch die gemeinsame Erzählbasis weniger inhaltlich redundante Beiträge hervorbringen, als dies z. B. bei mehreren durchgeführten Einzelinterviews der Fall wäre“ (Misoch 2015, 160). Ein Gruppengespräch hat den Vorteil, dass es durch das Hören der Antworten der anderen dazu anregt, sich vertieft Gedanken zu machen (Niederberger/Renn 2018, 27) und dafür mehr Zeit lässt, als es bei einem Einzelinterview der Fall wäre. Mehrere Expert/-innen verfügen über mehr Expertenwissen als eine Person alleine, das heißt, dass aggregierte Antworten einer Gruppe validere Aussagen treffen als die Mehrheit von getrennt befragten Expert/-innen. Wenn Expert/-innen nicht getrennt voneinander Fragen beantworten, sondern über die Antworten ins Gespräch kommen und versuchen, einen Konsens zu erzielen, entstehen Synergieeffekte, die die Datenqualität anheben (Parentè/Anderson-Parentè 1987, 140 ff.; vgl. Aichholzer 2009, 279 f.). Der große Vorteil ist hierbei das Aufeinandertreffen verschiedener Expertenmeinungen, die zusammen unter Einbezug von Argumenten und Ansichten der anderen Expert/-innen versuchen, einen gemeinsamen Nenner zu finden. Liegen unterschiedliche Meinungen vor, erhebt das Gruppe-Delphi-Verfahren die Urteilsbegründungen und erhöht dadurch die Qualität und Breite der Ergebnisse (vgl. Niederberger/Renn 2018, 7 f.).

Als Nachteile von Gruppendiskussionen im Vergleich zum Einzelinterview nennt Spöhring unter anderem die eingeschränkte bzw. fehlende Möglichkeit, auf Einzelne bezogene oder quantitative Auswertungen vorzunehmen, und den hohen Aufwand bei der Erstellung und Auswertung der Wortprotokolle. Weiter wird mehr Kooperationsbereitschaft der Teilnehmer/-innen verlangt (Spöhring 1995, 216). Auch besteht die Gefahr, dass, ähnlich wie bei schriftlichen Befragungen mit offenen Fragen, die Antworten kurz gehalten werden, weil die Gruppen ihre Ergebnisse selbst schriftlich dokumentieren (vgl. Gläser/Laudel 2010, 154). Bei Delphi-Befragungen besteht das Risiko der Konformität anstelle eines echten Konsenses (Aichholzer 2009, 280).

Der empirische Teil der vorliegenden Arbeit verfolgt nicht den Zweck, ein Forschungsfeld umfassend zu erschließen, sondern jenen, vorhandene und relativ konkrete Informationslücken auszufüllen. Gesucht wird ein Verfahren, mit dessen Hilfe möglichst hochwertige, präzise und verlässliche Antworten gefunden werden können, wobei der Aufwand im Verhältnis zum Zweck stehen muss. Wie wir gesehen haben, sind Gruppenverfahren sowohl, was die Qualität der zu erwartenden Antworten, als auch, was forschungsökonomische Gesichtspunkte anbelangt, sinnvoll. Auf diese Weise lassen sich mit relativ wenig Aufwand relativ viele Expert/-innen befragen, wobei im Vergleich zu Einzelinterviews hochwertigere Ergebnisse zu erwarten sind. Gruppenprozesse und Analysen von Interaktionen Teilnehmender sind für unser Erkenntnisinteresse irrelevant, weil es uns um konkrete Informationen geht. Insofern handelt sich bei unserer Erhebung eher um Gruppeninterviews „rein thematisch-inhaltlicher Natur“ (Misoch 2015, 161). Dennoch sollen während der Gruppenerhebung Diskussionen zugelassen werden, um die Ergebnisqualität zu optimieren, allerdings ohne den Diskussionsprozess als solchen auszuwerten.

In Anlehnung an Gruppen-Delphi-Verfahren, jedoch für unsere Zwecke stark vereinfacht, wird ein Gruppeninterview mit Diskussionselementen bzw. gemeinsamer Antwortfindung gewählt. Im vorliegenden Fall ist ein Konsens weniger wichtig im Vergleich zu Fragestellungen, bei denen die Delphi-Methode im Normalfall eingesetzt wird, wie zum Beispiel zur Zukunftsforschung (vgl. Häder 2009, 21 f.). Allerdings verspricht die Dynamik des Aufeinandertreffens von Expertenmeinungen und ihre Diskussion Hinweise auf die Faktizität der Ergebnisse. Deshalb werden die Teilnehmer/-innen gebeten, die Ergebnisse vor der gemeinsamen Niederschrift in Form eines Ergebnisprotokolls zu diskutieren und abweichende Meinungen oder Urteile mit Begründung zu notieren.

Im Sinne des Forschungsinteresses des empirischen Teils der vorliegenden Arbeit ist es nicht notwendig, quantitative oder auf Individuen bezogene Auswertungen durchzuführen, da es nicht um Anzahlen von Antworten o. Ä. oder Expert/-innen als solche geht, sondern um informative Inhalte. Auf das aufwändige Erstellen von Wortprotokollen kann bei Verfahren, die auf einen Konsens abzielen, verzichtet werden, weil der Untersuchungsgegenstand nicht in Meinungen und Diskussionsabläufen besteht (s. Abschnitt 4.2.2.7). Um der Gefahr, dass die von den Gruppen selbst protokollierten Antworten kurz gehalten werden, entgegenzuwirken, bietet es sich an, mehrere Gruppen zu befragen. Dies eröffnet die Möglichkeit, durch gegenseitige Ergänzung zu ausführlicheren Antworten zu gelangen, sollte dies erforderlich sein. Vorausgesetzt, kurze Antworten sind präzise, so kann die Kürze durchaus auch als Vorteil angesehen werden, der die Auswertung erleichtert und irrelevante Informationen ausschließt. Um das Risiko der Konformität anstelle eines echten Konsenses zu minimieren, ist bei der Gruppenzusammenstellung darauf zu achten, dass die Anwesenheit von Personen verschiedener Hierarchiestufen (vgl. Lamnek/Krell 2016, 407) vermieden wird.

4.2.2.3 Auswahl der zu befragenden Expert/-innen und Gruppenzusammensetzung

In qualitativen Studien wie der vorliegenden steht nicht, wie bei quantitativen, die statistische Repräsentativität der Stichprobe im Fokus, sondern die „Relevanz der untersuchten Subjekte für das Thema“ (Mayer 2013, 39; vgl. auch Flick 2017, 260; GIZ 2018, 103). Qualitative Studien unterscheiden sich in der Expertenauswahl je nach Forschungsinteresse. Während sozialwissenschaftliche Studien die Existenz verschiedener Arten von Expertenwissen und -status bei der Generierung ihres Samplings in die Überlegungen einbeziehen, gehen politikwissenschaftliche Studien pragmatischer vor (Hildebrandt 2015, 242 f.). Sie rücken nicht die Subjekte selbst in den Vordergrund, sondern nutzen sie als Informant/-innen mit Wissen über die Forschungsobjekte (Bogner/Menz 2009, 65). Für die Stichprobenwahl ist also die Relevanz des Wissens der Subjekte über das Forschungsobjekt entscheidend. Als gängigen Indikator hierfür ziehen Forscher/-innen, so Pfadenhauer, häufig den professionellen, zertifizierten Status einer Person heran, wobei es auch Expert/-innen geben kann, die ihre Expertise non-formal erworben haben. Letztere sind gleichwohl in der Regel schwer auffindbar bzw. identifizierbar (Pfadenhauer 2009, 108 ff.). Für die Gewinnung „objektiven“ Faktenwissens wird es als ausreichend angesehen, die Stichprobe auf formal gebildete Personen, und damit ausgewiesene Expert/-innen, die im Themenfeld des Forschungsinteresses aktiv sind, einzugrenzen. Es werden hierfür mehrere Individuen kollektiver Akteur/-innen befragt, die unterschiedliche Perspektiven repräsentieren (Hildebrandt 2015, 243). Vorausgesetzt, die Expert/-innen stimmen zu, können bzw. sollten aus Transparenzgründen ihre Namen als Beleg angegeben werden (Hildebrandt 2015, 250).

Bei Gruppenerhebungen gilt es Lamnek und Krell nach als probate Strategie, „natürliche“ Gruppen zu befragen (Lamnek/Krell 2016, 407, 410 f.). Sie sind meist recht homogen, sodass die Teilnehmer/-innen gemeinsame Anknüpfungspunkte haben. Dadurch sind „tiefer gehende Analysen“ möglich und „Binnendifferenzierungen können herausgearbeitet werden“ (Misoch 2015, 138). Damit wird dem größeren Potenzial von Gruppeninterviews mit Gruppen, die bezüglich Sozialstatus und Bildungshintergrund homogen und nicht heterogen zusammengesetzt sind, Rechnung getragen (Merton et al. 1990, 137 f.; Misoch 2015, 161).

In der Literatur variieren die Angaben optimale Gruppengrößen für Gruppendiskussionen stark (Lamnek/Krell 2016, 408). Für die deutlich aufwändigeren Gruppen-Delphis, bei denen intensive Diskussionen möglichst mit einem Konsens enden, nennen Niederberger und Renn drei bis sechs Personen pro Gruppe (Niederberger/Renn 2018, 35).

Wie oben bereits erläutert, dienen die Expert/-innen in der vorliegenden Studie als Informationsquellen, die ihr spezifisches, der Forscherin unzugängliches Wissen zur Verfügung zu stellen (Bogner/Menz 2009, 65). Demgemäß stehen nicht die Subjekte, sondern ihr Wissen im Zentrum, sodass wir uns an der politikwissenschaftlichen Vorgehensweise orientieren, die von Hildebrandt vorgeschlagen wird. Das heißt, dass die Expert/-innen nach ihrer formalen Bildung und ihrer Aktivität im Interessenfeld ausgewählt werden.

Da der Verfasserin Expertenteams bekannt sind, ist es naheliegend, sich an diese als solche zu wenden. Konkret werden Projektteams angefragt, die ihr aus verschiedenen EU-Kapazitätsaufbauprojekten direkt oder indirekt bekannt sind. Die Studie orientiert sich so an „natürlichen“ Gruppen mit einer „natürlichen“ Gruppengröße sowie der Verfügbarkeit der Teilnehmer/-innen. Mit der geplanten Stichprobe sollen die Sichtweisen der Politik, der Wissenschaft, von Akteur/-innen im Bildungsprozess und Repräsentant/-innen der Wirtschaft abgedeckt werden. Im Zuge der Erhebung wird die Zustimmung zur Veröffentlichung der Namen der befragten Institutionen und der Namen der Expert/-innen im Anhang der vorliegenden Arbeit eingeholt.

4.2.2.4 Ausgestaltung des Ablaufs der Gruppendiskussionen und entsprechender Unterlagen

Der Ablauf von Interviews kann grundsätzlich mehr oder weniger vorgegeben sein. Es kann sowohl mit als auch ohne Leitfaden bzw. Fragebogen gearbeitet werden. Fragebögen können halb standardisiert oder standardisiert sein. Außerdem kann ohne Fragebogen interviewt werden. Standardisierte Fragebögen sind stark strukturiert und werden in der quantitativen Forschung eingesetzt (Gläser/Laudel 2010, 41 f.). Sie enthalten überwiegend geschlossene Fragen mit festen Antwortvorgaben (Reinecke 2019, 720 f.). Halbstrukturierte Fragebögen, wie sie bei qualitativen Leitfadeninterviews eingesetzt werden (Bortz/Döring 2015, 711), enthalten vorformulierte, offene Fragen, die konkrete Informationen erfragen (Gläser/Laudel 2010, 41). Bei narrativen Interviews wird nur ein Erzählanstoß gegeben (Bortz/Döring 2015, 711).

Leitfadeninterviews strukturieren Interviewprozesse und machen erfragte Informationen vergleichbar (Bortz/Döring 2015, 711), wobei der Fragebogen sicherstellt, dass alle benötigten Informationen erfragt werden (Mayer 2013, 37). Narrative Interviews haben den Vorteil, dass die Teilnehmer/-innen tiefergehende Informationen preisgeben, die in verschiedene Richtungen gehen können und nicht in ein vorgefertigtes Schema passen müssen (Bortz/Döring 2015, 711).

Da in unserem Falle nichtvorliegende Informationen abgefragt werden sollen, wird der Fragebogen entlang der Prinzipien erstellt, die bei halbstandardisierten Leitfäden beachtet werden müssen.

Die Fragen sind so zu formulieren, dass ihr Inhalt „zweifelsfrei verständlich“ (Barth 1998, 2) ist, wobei die „Gebote“ nach Porst (2000) zu beachten sind:

  1. 1.

    Du sollst einfache, unzweideutige Begriffe verwenden, die von allen Befragten in gleicher Weise verstanden werden!

  2. 2.

    Du sollst lange und komplexe Fragen vermeiden!

  3. 3.

    Du sollst hypothetische Fragen vermeiden!

  4. 4.

    Du sollst doppelte Stimuli und Verneinungen vermeiden!

  5. 5.

    Du sollst Unterstellungen und suggestive Fragen vermeiden!

  6. 6.

    Du sollst Fragen vermeiden, die auf Informationen abzielen, über die viele Befragte mutmaßlich nicht verfügen!

  7. 7.

    Du sollst Fragen mit eindeutigem zeitlichen Bezug verwenden!

  8. 8.

    Du sollst Antwortkategorien verwenden, die erschöpfend und disjunkt (überschneidungsfrei) sind!

  9. 9.

    Du sollst sicherstellen, daß der Kontext einer Frage sich nicht auf deren Beantwortung auswirkt!

  10. 10.

    Du sollst unklare Begriffe definieren! (Porst 2000, o. S.; vgl. auch Porst 2019, 831–840)

Sie sollten ferner unter Ausschluss von Redundanzen in „homogene Themenbereiche“ unterteilt werden (Bortz/Döring 2015, 254). Bei einer Übertragung in andere Sprachen ist darauf zu achten, dass a) nicht etwa Übersetzungsfehler ein richtiges Verständnis der Fragen beeinträchtigen und b) jede/-r Teilnehmer/-in die Fragen schriftlich vorliegen hat, um sie selbst nachlesen zu können (vgl. Bortz/Döring 2015, 253). Es wird empfohlen, zu Beginn der Gruppendiskussion eine Einführung zu geben (vgl. zum Beispiel Niederberger/Renn 2018, 34) und nach Beendigung ein Gedächtnisprotokoll zu verfassen, in dem Eindrücke zum Verlauf des Gesprächs und zur Atmosphäre geschildert werden (Gläser/Laudel 2010, 192 f.; Ott 2015, 210). Im Vorfeld sollte mithilfe einer Pilotierung eine Optimierung des Fragebogens und der weiteren Unterlagen stattfinden (vgl. Bortz/Döring 2015, 355 f.).

Als bester Weg werden gemeinhin Gruppenbefragungen in Präsenzform angesehen. Es können jedoch problemlos auch Online-Konferenzen gewählt werden. Dies birgt allerdings das Risiko, dass technische Probleme auftreten (Misoch 2015, 179–184).

Im vorliegenden Fall wurde den Gruppen nahegelegt, die Erhebung in Präsenzform durchzuführen, wobei die Möglichkeit einer Online-Schaltung ausdrücklich zugelassen wurde. Auch wenn sie nicht als Königsweg gilt, ist sie doch meist als unproblematisch anzusehen. Zudem war aufgrund der zeitlichen Parallelität der Erhebungen mit der Corona-Pandemie im Sommer/Herbst 2020 unklar, inwiefern Präsenzdiskussionen überhaupt durchführbar wären.

In Bezug auf die Durchführung der Gruppeninterviews mit diskursiven Elementen im vorliegenden Fall findet die Ergebnisermittlung entlang eines halbstandardisierten Fragebogens mündlich statt.

Die Fragen für unsere Erhebungen stammen aus Notizen, die während der Beschreibung des ukrainischen Realtypus an den entsprechenden Stellen im Text eingefügt wurden, wo nicht ausreichend verlässliche englisch- oder deutschsprachige Quellen verfügbar waren. Sie wurden in Themenbereiche untergliedert, wobei versucht wurde, Redundanzen zu vermeiden. Die oben zitierten Gebote nach Porst wurden bei der Erstellung des Fragbogens berücksichtigt.

Durch die Halbstrukturiertheit der Fragebögen ist die Offenheit der Interviewsituation im Vergleich zu Leitfadeninterviews bewusst und inhaltsadäquat eingeschränkt. Die Erhebungsleiter/-innen bekommen die Möglichkeit, im Vorfeld die Fragen durchzugehen und auf Verständlichkeit zu prüfen. Bei Bedarf können entstehende Verständnisfragen im Vorfeld geklärt werden. Sollte es Nachfragen von Seiten der Projektleitung geben, zum Beispiel, wenn notierte Ergebnisse unklar formuliert sind oder sich aus dem Inhalt weitere Fragen ergeben, können diese im Nachhinein mit den Erhebungsleiter/-innen schriftlich oder per Online-Schaltung erörtert werden.

Nicht alle befragten Gruppen erhalten dieselben Fragebögen. Bei Fragen, zu denen mehrere Perspektiven denkbar sind und die innerhalb der Expertise aller liegen, werden auch alle befragt. Bei Fragen, die nicht die Expertise einer Gruppe betreffen, gibt es keinen Anlass, ihnen diese auch zu stellen (vgl. Porst 2000, o. S.). Daher werden die einzelnen Fragen in Abhängigkeit der Expertise der jeweiligen Teams in den jeweiligen Fragebogen aufgenommen oder ausgelassen.

Da die Erhebungsleiter/-innen Englisch (und nicht Deutsch) sprechen, werden die Unterlagen auf Englisch verfasst. Um zu gewährleisten, dass auch den Teilnehmer/-innen Fragebögen vorliegen, die sie verstehen, erfolgt zusätzlich eine Übertragung ins Ukrainische.

Überdies wird schriftlich ein Ablauf fixiert, dem die Erhebungsleiter/-innen folgen. Die Anweisungen dafür, was während der Erhebung zu beachten ist, orientieren sich an Misoch (2015, 162 f.). Auch wird ein Formular für ein Gedächtnisprotokoll erstellt, das auf den Ausführungen von Gläser und Laudel (2010, 192 f.) beruht. Die Erhebungsleiter/-innen werden angehalten, dieses direkt im Anschluss an die Erhebung auszufüllen, wenn die Erinnerungen noch frisch sind. Zudem wird eine Einführung formuliert, die die Erhebungsleiter/-in zu Beginn der Gruppendiskussion verlesen.

Für die Übersetzung des Fragebogens wurde zunächst ein Online-Übersetzungsdienst genutzt. Eine mit der Materie vertraute wissenschaftliche Mitarbeiterin aus der Ukraine, die in Deutschland arbeitet und über berufliche Lehrerbildung in der Ukraine promoviert hat, wurde mit der Anpassung der Übersetzung betraut. Anschließend überprüften weitere ukrainische Muttersprachler/-innen in Gestalt von Student/-innen, die in Deutschland studieren, im Rahmen der Pilotierung die ukrainische Übersetzung. Im Anschluss daran befasste sich die wissenschaftliche Mitarbeiterin mit den Anmerkungen der Studierenden und überarbeitete die Übersetzung erneut.

An der Pilotierung nahm eine Gruppe von drei ukrainischen Studierenden teil, von denen eine Studentin die Rolle der Erhebungsleiterin einnahm. Sie beantworteten den Fragebogen sowie Fragen zum Ablauf und den Erhebungsunterlagen, füllten ein Gedächtnisprotokoll aus und stoppten die benötigte Zeit. Zusätzlich beantwortete ein einzelner Student den Fragebogen und Fragen zum Ablauf separat. Aufgrund dessen fanden Anpassungen statt, bevor die Unterlagen für die Haupterhebung verschickt wurden. Insbesondere wurde aufgrund der großen gemessenen Zeitdauer eine Aufteilung der Fragen vorgenommen. So erhielten die an der Hauptuntersuchung teilnehmenden Gruppen je einen als wichtiger deklarierten Frageteil mit der Bitte, diesen in jedem Fall zu bearbeiten, und einen zusätzlichen Teil mit der Bitte, ihn in Abhängigkeit von den zeitlichen Ressourcen zusätzlich zu diskutieren und auszufüllen, wenn möglich. Es wurde darauf geachtet, die Fragen des als wichtig ausgewiesenen Teils so zu verteilen, dass zu jeder Frage mindestens zwei Gruppen eine Antwort geben.

4.2.2.5 Umgang mit der Sprachbarriere und Auswahl von Erhebungsleiter/-innen

Als Ideal qualitativer Forschung gelten Interviews in der Muttersprache, denn „[die] Ausführungen der Interviewten sollten möglichst nicht durch (fremd-)sprachliche Restriktionen beschränkt werden“ (Bogner et al. 2014, 44 f.). In der Literatur wird für Studien, bei denen ein Übersetzungsvorgang notwendig ist, keine allgemeingültige Methode empfohlen. Vielmehr wird nahegelegt, die Vorgehensweise mit dem Forschungsinteresse abzustimmen (Bogner et al. 2014, 47; Lamnek/Krell 2016, 682–686). Viele ukrainische Expert/-innen haben keine Deutsch- oder Englischkenntnisse, die für eine Befragung in diesen Sprachen genügen würden. Um nicht ausschließlich auf das Wissen englisch- oder deutschkundiger Expert/-innen angewiesen zu sein, ist eine Vorgehensweise zu suchen, die es erlaubt, eingedenk dieser Aspekte auf die Expertise ukrainischsprachiger Expert/-innen zuzugreifen, mit denen mangels Sprachkenntnissen nicht direkt kommuniziert werden kann.

In Abhängigkeit von der Strukturiertheit und Art der Befragung kommen Erhebungsleiter/-innen bzw. Interviewenden unterschiedliche Aufgaben und Rollen zu. Eine Übersicht findet sich bei Bogner und Menz (2009, 88 f.).

Bei einem Leitfadeninterview muss nicht strikt nach einer zuvor festgelegten Reihenfolge vorgegangen werden; der Interviewer bzw. die Interviewerin agiert flexibel und kann Nachfragen stellen (Mayer 2013, 37). Bei Leitfadeninterviews mit Expert/-innen übernimmt der Leitfaden eine stärkere steuernde Funktion als bei anderen Leitfadeninterviews (Flick 1998, 109 f.; Mayer 2013, 38; vgl. auch Meuser/Nagel 1991, 448).

Ein adäquates Verfahren für die vorliegende Studie mit ukrainischen Expert/-innen, die häufig nicht über gute Englisch- oder Deutschkenntnisse verfügen, ist ein Gruppeninterview bzw. eine Gruppendiskussion in der Muttersprache, wobei ein englischkundiges Mitglied als Erhebungsleiter/-in, Übersetzer/-in der Ergebnisse und Verbindungsperson zur Projektleitung eingesetzt wird. Aufgrund fehlender Ukrainisch-Kenntnisse ist es nicht möglich, dass die Forschungsleiterin selbst die Erhebungen durchführt. Durch den Einsatz der ukrainischen Interviewer/-innen wird die zeitaufwändige und kostenintensive Zuhilfenahme von Dolmetscher/-innen vermieden, die erfahrungsgemäß in der Ukraine leicht zu Verzerrungen führen kann – durch Missverständnisse oder falsche Übersetzungen, Störungen durch häufiges Nachfragen und infolgedessen atmosphärische Beeinträchtigungen und Ablenkung.

Die Befragungen werden folglich durch externe Erhebungsleiter/-innen (= Interviewer/-innen) angeleitet, die Ukrainisch und Englisch oder Deutsch sprechen und so die Ergebnisse protokollieren und anschließend übersetzen können. Für diese Aufgabe benötigt es Personen, die sowohl mit den Befragungsinhalten vertraut sind als auch jeweils mit den Gruppenmitgliedern und der Forscherin über eine gemeinsame Sprache verfügen (vgl. Pfadenhauer 2009, 111; Bogner et al. 2014, 45 f.). Sie erhalten vorab eine Einweisung hinsichtlich ihrer Aufgaben (vgl. zum Beispiel Mey/Mruck 2020, 328).

Die zu ermittelnden Informationen stehen in unserem Falle vor der Erhebung recht konkret fest und sind dazu gedacht, Lücken zu füllen, nicht etwa zur explorativen Erkundung eines mehr oder weniger unbekannten Forschungsgebiets (vgl. Bogner/Menz 2009, 65; s. Abschnitt 4.2.2.1). Deshalb besteht kein Grund, die vorgegebene Reihenfolge des Fragebogens nicht einzuhalten, sodass die Erhebungsleiter/-innen, die als Moderator/-innen fungieren, dazu angehalten werden, die vorgegebene Reihenfolge der thematisch sortierten Fragen zu befolgen.

Der Erhebungsleiter bzw. die Erhebungsleiterin hat die Rolle eines Komplizen bzw. einer Komplizin der Befragten und zugleich eines Co-Experten bzw. einer Co-Expertin, charakterisiert durch einen geteilten normativen Hintergrund mit den Teilnehmer/-innen bzw. gleichartige Fachkompetenz – beides ausgewiesen angemessene Rollen von Interviewenden für systematisierende Interviews (vgl. Bogner/Menz 2009, 88 f.). Er bzw. sie wird dazu aufgefordert, sich auf die Moderation und das Festhalten der Ergebnisse zu konzentrieren, um die Qualität der Diskussionen und des Aufschriebs zu sichern. Für den Fall, dass außer dem Erhebungsleiter bzw. der Erhebungsleiterin nur zwei bis drei Personen anwesend sind, erhält der Erhebungsleiter bzw. die Erhebungsleiterin die Anweisung, sich als gesprächsführender Moderator bzw. gesprächsführende Moderatorin zurückzunehmen und soweit möglich an der Diskussion zu beteiligen, sodass sich die Erhebung mehr dem Charakter einer Kleingruppendiskussion, wie sie zum Beispiel als Teil von Gruppen-Delphis während Expertenworkshops stattfinden (Niederberger/Renn 2018, 35, Schritt 5), annähert.

4.2.2.6 Vergütung der Expert/-innen und Erhebungsleiter/-innen

Laut Bortz und Döring sind „Bezahlungen […] nur zu rechtfertigen, wenn die Untersuchung zeitlich sehr aufwendig ist oder wenn Personen nur gegen Bezahlung für eine Teilnahme an der Untersuchung zu gewinnen sind“ (Bortz/Döring 2015, 44). Demnach soll die Teilnahme nicht „erkauft“ werden, zum Beispiel, wenn jemand aus finanziellen Gründen dazu gezwungen ist, einer Teilnahme zuzustimmen, sondern auf Freiwilligkeit beruhen. Zudem besteht das Risiko, dass Teilnehmer/-innen Antworten geben, von denen sie vermuten, dass sie von der Untersuchungsleitung erwünscht sind (Bortz/Döring 2006, 44).

Die Pilotierung (s. Abschnitt 4.2.2.4) ergab einen zu erwartenden Zeitaufwand für die reine Gruppendiskussion von circa zwei bis vier Stunden, je nach Gruppe und Anzahl der Fragen (s. hierzu Abschnitt 4.2.2.4). Um den Teams als ganzen einen Anreiz zur Teilnahme und sorgfältigen Bearbeitung des umfangreichen Fragebogens zu bieten, wird bei der vorliegenden Untersuchung eine Vergütung bezahlt. Hierbei ist die Vergütung der Erhebungsleiter/-innen aufgrund des Mehraufwandes höher als die der Teilnehmer/-innen. Neben dem Umfang des Fragebogens sprechen weitere Argumente dafür, Vergütungen zu bezahlen. In der Ukraine ist das Lohnniveau im Allgemeinen und spezifisch im Bildungssektor niedrig (vgl. zum Beispiel Astrov et al. 2019, 6, 15). Berufstätige, darunter auch Professor/-innen, arbeiten häufig in mehr als einem Job bzw. verfügen über weitere Verdienstquellen, um ihren Existenz bestreiten und einen gewissen Lebensstandard aufrecht erhalten zu können (vgl. zum Beispiel Zimmermann 2017, 9, 16). Sie sind also in der Regel vielbeschäftigt, aber nicht akut in ihrer Existenz bedroht. Nach Misoch darf eine Teilnahme an einer qualitativen Interviewstudie unter anderem keine ökonomischen Nachteile für Teilnehmende nach sich ziehen (Misoch 2015, 21). Angesichts des zeitlichen Investments ist unter diesen Umständen eine finanzielle Belohnung aus ethischen Gründen angezeigt. Die bezahlte Vergütung ist zu gering, als dass man von einem „Erkaufen“ der Teilnahme sprechen könnte. Außerdem wird durch die Vergütung vermieden, dass die Projektleitung Teil des ukrainischen Systems der Gefälligkeiten wird – Ukrainer/-innen könnten in eine Teilnahme ohne Entlohnung deshalb einwilligen, weil sie das Gefühl haben, jemandem noch etwas schuldig zu sein, oder um sich für die Zukunft einen Gefallen zu sichern (vgl. Fink et al. 2009, 117 f.; Onoshchenko/Williams 2014). Die oben angesprochene Gefahr der erwünschten Antworten wird für den vorliegenden Fragebogen als eher gering eingeschätzt – auch wenn sie nicht komplett ausgeschlossen werden kann – weil konkrete Informationen und überprüfbare Fakten eingeholt und die Namen der Expert/-innen mit ihrem Einverständnis genannt werden können. Somit ist nachvollziehbar, welche Gruppe mit welchen Teilnehmer/-innen welche Antworten angegeben hat. Die Informationen, welche die Teilnehmer/-innen über das Erkenntnisinteresse der Studie erhalten, sind eher allgemein und oberflächlich formuliert und lassen kaum Rückschlüsse auf eventuell erwünschte Antworten zu. Zudem stammen die Fragen aus unterschiedlichen Bereichen und sind schwerlich miteinander in Zusammenhang zu bringen. Es wurde in Rücksprache mit der universitären Finanzabteilung eine Vergütungshöhe von 10 € pro Stunde festgelegt, die sich an üblichen Vergütungen, die im Rahmen von wissenschaftlichen Studien an Teilnehmer/-innen ausbezahlt werden. Die Teilnehmer/-innen erhalten eine Teilnahmebestätigung.

4.2.2.7 Dokumentation der Gruppendiskussionen und ihrer Ergebnisse

Für Experteninterviews wird zur Dokumentation in sozialwissenschaftlichen Methodenhandbüchern üblicherweise die Tonaufzeichnung empfohlen. Hauptgrund ist die Schwierigkeit, dass der Gesprächsleiter bzw. die Gesprächsleiterin Fragen stellen und zugleich zuhören, Antworten notieren und mitdenken muss. Zudem können nachträglich angefertigte Gedächtnisprotokolle der Diskussion Verfälschungen und Verzerrungen bedingen (Thomas 1993, 94; Gläser/Laudel 2010, 157 f.; Hildebrandt 2015, 249). Wie Hildebrandt im Gegensatz dazu ausführt, sind Transkripte bei der Erhebung sachdienlicher Informationen, die „keine Rekonstruktion von Sinngehalten anstrebt“, nicht erforderlich (Hildebrandt 2015, 250).

In unserem Fall gibt der Fragebogen die Themen und Gesprächsgegenstände konkret vor, sodass einzelne Aspekte nicht wie bei offenen Interviewformen nachträglich kategorisiert und codiert werden müssen. Dies wäre, davon abgesehen, eingedenk der sprachlichen Herausforderungen nur mithilfe von übersetzten Transkripten möglich, bei denen eine gewisse Ungenauigkeit nicht zu verhindern wäre. Da es für unser Erkenntnisinteresse keine Rolle spielt, wer welche Antwort gegeben hat, sondern das Ziel in einer reinen Informationsgewinnung besteht, ist es nicht nötig, Antworten einzelnen Personen zuordnen zu können. Um die vorhandenen Informationslücken schließen zu können, sind konkrete Informationen gefragt; Diskurse oder Gruppenprozesse als solche müssen dafür nicht analysiert werden. Somit werden die Daten der Gruppenbefragungen in Anlehnung an Hildebrandt (2015, 249) als Ergebnisprotokolle der jeweiligen Teams festgehalten, in denen der Gruppenkonsens und gegebenenfalls begründete unterschiedliche Einschätzungen wiedergegeben werden. Hierzu macht sich der Erhebungsleiter bzw. die Erhebungsleiterin in Absprache mit der Gruppe während der Erhebung Notizen, die er bzw. sie anschließend ausformuliert und gegebenenfalls übersetzt. Dadurch minimiert sich der Aufwand bei der Erfassung und Auswertung, ohne die Ergebnisqualität negativ zu beeinflussen. Die Verfügbarkeit einer englischen Übersetzung der Fragen unterstützt bei der Übersetzung der notierten Ergebnisse vom Ukrainischen ins Englische, falls diese auf Ukrainisch verfasst wurden. Da der Interviewer bzw. die Interviewerin Fachkompetenz und die nötige Sprachkompetenzen besitzt, wird er bzw. sie gebeten, die Übersetzung selbst anzufertigen.

4.2.2.8 Auswertung der Ergebnisse

Aufgrund des qualitativen Charakters der Erhebung, die zugleich einen relativ hohen Strukturierungsgrad des Fragebogens aufweist, entfallen Auswertungsmethoden, die die Daten vorstrukturieren. Die Daten werden bereits Themenkomplexen und Fragen zugeordnet erfragt und protokolliert. Sie sind nicht dazu gedacht, Hypothesen zu prüfen oder Thesen nachzuweisen (vgl. zum Beispiel Bortz/Döring 2015, 30 f.), oder, wie bei anderen qualitativen Analysen oft der Fall, um das „Überindividuell-Gemeinsame herauszuarbeiten“, das in eher unstrukturierten Transkripten vorliegt (Meuser/Nagel 2009, 472; Mayer 2013, 47) und einzelne Aspekte erst kategorisieren muss (vgl. zum Beispiel Mayring 2015; Mühlfeld et al. 1981). Es geht vielmehr um möglichst umfassende Informationen zu vorgegebenen Aspekten. Laut Hildebrandt gilt für die Auswertung von Experteninterviews, die sich an der politikwissenschaftlichen Tradition orientierten, die Maxime: „Je größer die Anzahl der Interviews ist, desto systematischer muss die Auswertung der Informationen erfolgen“ (Hildebrandt 2015, 253), zum Beispiel in Form von Tabellen (Schmid 1995, 321; Hildebrandt 2015, 253). Hildebrandt zufolge sind bei Befragungen der politikwissenschaftlichen Tradition Interviewprotokolle zu erstellen, denen sachdienliche Informationen entnommen werden, die „an den entsprechenden Stellen in die Arbeit“ eingefügt werden (Hildebrandt 2015, 253).

Die vorliegende Untersuchung folgt, wie bereits erläutert (s. Abschnitt 4.2.2.1), der politikwissenschaftlichen Tradition. Um eventuelle Widersprüche und ergänzende Informationen der Expertengruppen erfassen zu können, wird im vorliegenden Fall eine Übersichtstabelle erstellt, in der farbliche Markierungen Gegensätze, Ergänzungen und Bestätigungen verdeutlichen (s. Anhang 4). So können bei der Aufnahme von Informationen in den Fließtext, das heißt die aus der Literatur und Dokumenten gewonnene Beschreibung des ukrainischen Realtypus, die gewonnenen Informationen transparenter und strukturierter dargestellt werden, sodass eine selektive, willkürliche Vorgehensart ausgeschlossen wird.

4.2.2.9 Tatsächlicher Studienablauf und Limitationen

Wie geplant, fand an einer der Hochschuleinrichtungen eine Gruppendiskussion mit einem Projektteam als „natürlicher“ Gruppe statt. Erhebungsleiter/-in war ein Mitglied des Projektteams mit ausreichenden Englischkenntnissen. Er bzw. sie verfügt aufgrund der Teilnahme an Projekten zur Förderung der ukrainischen beruflichen Lehrerbildung über Einsichten in das Fachgebiet der Befragung, wobei die Expertise der anderen Teilnehmer/-innen aufgrund ihrer Forschungsaktivitäten als höher einzuschätzen ist. Die Gruppe bestand aus vier Teilnehmer/-innen, nicht gerechnet der Erhebungsleiter bzw. die Erhebungsleiterin. Anwesend waren sowohl Expert/-innen des Bereiches der beruflichen Bildung als auch für das Personalmanagement ukrainischer Unternehmen.

Aus einer anderen Institution des Hochschulsektors kamen Bedenken bezüglich der Konformität von Antworten, sollte das Projektteam befragt werden. Aus diesem Grund wurde dort eine Gruppe mit Angehörigen ähnlicher Hierarchiestufen aus verschiedenen Institutionen zusammengestellt, ergänzt durch Verwaltungsmitarbeitende, um entsprechende Expertise hinsichtlich Fragen, die die Zulassung von Studierenden thematisierten, zu gewährleisten. Erhebungsleiterin war eine Assoziierte Professorin für Internationale Wirtschaftswissenschaften mit sehr guten Englischkenntnissen. Insgesamt waren außer der Erhebungsleiterin sieben Teilnehmer/-innen anwesend.

Das Projektteam einer weiteren Hochschuleinrichtung stand nicht für eine Erhebung zur Verfügung. Ersatzweise nahmen vier andere Mitarbeitende dieser Institution, Expert/-innen der ukrainischen beruflichen Bildung, an der Erhebung teil. Erhebungsleiter/-in war ein/-e Pädagogikprofessor/-in einer Akademie.

Vertreter/-innen des Wirtschaftssektors führten ebenfalls eine Gruppendiskussion durch. Sie wurde in eine reguläre Sitzung integriert.

Aufgrund von Personalfluktuation und Krankheit konnte die geplante Erhebung mit Angehörigen des Bildungsministeriums nicht durchgeführt werden.

Die Namen sowie Qualifikationen und Funktionen der einzelnen Teilnehmer/-innen, Erhebungsleiter/-innen und der zugehörigen Institutionen liegen der Verfasserin vor. Aus datenschutzrechtlichen Gründen werden sie in der vorliegenden Publikationsversion nicht namentlich genannt.

Bis auf eine Gruppendiskussion fanden alle in Präsenzform statt. Die andere Diskussion wurde mittels einer Online-Konferenz abgehalten.

Die Erhebungsleiter/-innen machten teilweise von der Möglichkeit Gebrauch, per E-Mail vorab Fragen zu stellen. Rückfragen der Projektleiterin, die im Nachgang der Erhebungen bei der Auswertung der Ergebnisse entstanden, wurden per E-Mail an die entsprechenden Erhebungsleiter/-innen geschickt und von ihnen beantwortet. Dies wurde in der Auswertungstabelle in Anhang 4 entsprechend dokumentiert. Alle Gruppen bearbeiteten sowohl den als wichtiger deklarierten Teil als auch den zusätzlichen Frageteil. Eine Expertengruppe äußerte den Wunsch nach Teilnahmebestätigungen. Im Sinne der Gleichbehandlung wurde allen Erhebungsleiter/-innen eine elektronische Vorlage zur Ausstellung von Bestätigungen über die Teilnahme an der vorliegenden Studie als Expert/-in zur Verfügung gestellt. Aufgrund der von den Erhebungsleiter/-innen ausgefüllten Gedächtnisprotokolle zum Diskussionsablauf, zur Gesprächsatmosphäre und zu etwaigen Störungen bestehen diesbezüglich keine Bedenken, aus denen sich Limitationen der Ergebnisse ergeben könnten. Jedoch kann nicht überprüft werden, ob die Angaben korrekt sind.

Limitationen bestehen hinsichtlich folgender Aspekte: Wie Bogner darlegt, stellen Übersetzungen stets Interpretationen dar und sind nicht immer vollständig verlässlich (Bogner et al. 2014, 46). Bei Interviews, die auf einen Informationsgewinn abzielen, wird der verfälschende Einfluss von Übersetzungen als weniger gravierend beurteilt als bei Interviews, die Sinngehalte zu rekonstruieren versuchen (Bogner et al. 2014, 47). Nichtsdestoweniger kann nicht ausgeschlossen werden, dass die Ergebnisse unserer Gruppendiskussionen gewisse Unschärfen aufgrund der Übersetzung aufweisen. Dieses Risiko wurde abzumildern versucht, indem Nachfragemöglichkeiten vor und nach der Erhebung geschaffen und genutzt wurden. Zudem enthielt der verschickte Fragebogen alle Fragen auf Englisch und Ukrainisch.

In wenigen Fällen kam es zu Überschneidungen der Antworten. Grund war, dass der Inhalt von Antworten unerwartet war und sich dadurch in seltenen Fällen Fragen inhaltlich überlappten.

Es kam vor, dass Antworten sehr kurz gehalten wurden. Dieser negative Effekt konnte durch Nachfragen und Ergänzungen durch ausführlichere Antworten anderer Gruppen eingeschränkt werden.

Aufgrund der Zahlung einer Vergütung sind Verzerrungen in der Stichprobe möglich, jedoch nur bei den nicht natürlichen Gruppen. Es konnte gleichwohl anhand der Qualifikationsniveaus und Funktionen der Teilnehmer/-innen sichergestellt werden, dass sie ausgewiesene Expert/-innen in für die Interviews relevanten Feldern waren. Auch die Antworten könnten im Sinne von „erwünschten“ Antworten verzerrt sein. Es lässt sich aber annehmen, dass bei Fragen nach Fakten und Details die als erwünscht wahrgenommene Antwort stets die ist, die Frage richtig zu beantworten. Zudem war den Teilnehmer/-innen nur sehr wenig über das Erkenntnisinteresse der Studie bekannt. Die beiden letztgenannten Punkte dürften auch das Risiko der Entstehung von Testleiter-Artefakten begrenzt haben.

Umständehalber musste auf die Perspektive des ukrainischen Bildungsministeriums verzichtet werden. Da es jedoch nicht um die Ermittlung und den Vergleich von Ansichten ging, sondern um spezifische Informationen über Sachverhalte, und zu jeder Frage mindestens zwei Gruppen Antworten lieferten, wird dies nicht als gravierend eingeschätzt.

Die Ergebnisse der Expertenbefragungen wurden unter Angabe der in Anhang 4 aufgeschlüsselten Codes an entsprechenden Stellen in den Fließtext eingefügt, wo sie gesuchte bzw. relevante Informationen liefern konnten.

4.2.3 Vergleich

Der Idealtypus beschreibt in Phase 2 unter der Rubrik „Strukturen des Bildungssystems“ den Prozess der Förderung von Chancengleichheit, ausgelöst durch die klare Trennung von Bildungsgängen unterschiedlicher hierarchischer Prestigestufen sowie eine scharfe Selektion, die zu Benachteiligungen und Druck „von unten“ geführt haben. Im Folgenden orientieren wir uns beim Vergleich des ukrainischen Realtypus an der Reihenfolge der einzelnen Tabellenspalten im Idealtypus (s. Tabelle 3.2) und an den unter Phase 2 eingruppierten Charakteristika. An Punkten, die eher Phase 1 oder 3 oder gar keine der Phasen betreffen, wird explizit darauf hingewiesen. Manche Einzelerscheinungen werden wiederholt genannt, da sie in Zusammenhang mit mehreren Überschriften aus der Idealtypustabelle stehen.

4.2.3.1 Strukturen des Bildungssystems

A. :

Förderung von Chancengleichheit

Als ersten Punkt in Phase 2 (Spalte „Strukturen des Bildungssystems“) nennt der Idealtypus die Förderung von Chancengleichheit, die sich in mehreren Unterpunkten äußert. Diese werden nun realtypisch überprüft und zum Teil zusammengefasst präsentiert. Während im Idealtypus die Förderung von Chancengleichheit im Mittelpunkt steht, konzentriert man sich im ukrainischen Realtypus eher auf die Förderung des Leistungsprinzips und die Differenzierung durch transparente Selektion.

A.1:

Kostenlose Bildung und Förderung von leistungsstarken Schüler/-innen bzw. Studierenden mit finanzschwachen Eltern.

In der Sowjetunion war der Schulbesuch kostenfrei (Markuševič 1970, 381). Seit 1956 wurden keine Studiengebühren mehr erhoben (Anweiler/Meyer 1979a, 50). Staatliche Stipendien standen für Schüler/-innen bzw. Studierende von Berufsschulen, Oberschulen sowie Fach- und Hochschulen zur Verfügung (Markuševič 1970, 381).

Ukrainische Staatsbürger/-innen haben ein Grundrecht auf kostenlose Bildung bis zum Abschluss der Sekundarstufe II bzw. einer Berufsausbildung, also dem Ende der Schulpflicht. Das Recht auf ein kostenfreies Studium bekommen jene, die sich im Wettbewerb um die Plätze durchsetzen können (Penter 2000, 1225; ETF 2009, 56; Banaszak 2014, 7; Klein 2018, 117). Aufgrund der begrenzten finanziellen Mittel ist der Staat nicht in der Lage, die Studiengebühren für alle abzuschaffen, was durchaus diskutiert wurde (Penter 2000, 1225). Für den Besuch der zugangsbeschränkten Elitesekundarschulen müssen Gebühren entrichtet werden (Hellwig/Lipenkowa 2007, 815). Talentierte Schüler/-innen sind berechtigt, finanzielle Unterstützung hierfür vom Staat zu beziehen, zum Beispiel in Form von Stipendien (Hellwig/Lipenkowa 2007, 815). Generell stellt der Staat nach den Bedingungen eines Beschlusses des Ministerkabinetts aus dem Jahr 2003 ermäßigte Bildungskredite zur Verfügung (Kooperation international 2012), sodass auch finanzschwächere Familien die Chance haben, ihren Kinder gebührenpflichtige Bildungsgänge und/oder einen Umzug in Städte mit entsprechenden Bildungseinrichtungen zu ermöglichen. Bei der Hochschulzulassung finden unter anderem soziale Kriterien Berücksichtigung (Zimmermann/Schwajka 2018, 23; s. hierzu auch Abschnitt 4.2.3.1 C), wodurch Nachteilen, die durch die soziale Herkunft verursacht werden, entgegengewirkt werden kann. Dies bestätigen die befragten Expert/-innen. Sozial Benachteiligte haben demnach die Möglichkeit, Quotenbudgetplätze zu erhalten, die nicht von ihrer Schulleistung abhängig sind: „Socially vulnerable entrants are paid a social fellowship that does not depend on the level of academic achievement“ (121D; s. ähnlich auch 121K; 121N). Leistungsstarke Abiturient/-innen bekommen einen vom Staat finanzierten Studienplatz. Die Kontingente an staatlich finanzierten Studienplätzen sind ein weitergeführtes Erbe der Sowjetzeit (s. Abschnitt 4.1.2.6). Bei der Verteilung dieser Plätze wird jedoch aktuell mehr Wert auf transparente, großteils leistungsbasierte Verfahren gelegt. Das entsprechende Prozedere wird unten erläutert.

Wie im Idealtypus in der zweiten Phase ist auch in der Ukraine Bildung grundsätzlich kostenlos. Jedoch gilt dies für die Hochschulen nur eingeschränkt, weil nur ein Teil der Studienplätze staatlich finanzierte Budgetstudienplätze sind. Talentschulen im Sekundarbereich sind, anders als im Idealtypus, gebührenpflichtig. Jedoch nimmt im Idealtypus die Bedeutung von Privatschulen zu, mit denen diese Einrichtungen, ob privat oder nicht, ihrer Funktion nach verglichen werden können.

Die Unterstützung finanzschwacher Schüler/-innen kann für die Ukraine bestätigt werden. Allerdings ist diese Unterstützung im Unterschied zum Idealtypus nicht leistungsabhängig. Die Förderung besonders leistungsstarker Schüler/-innen bezieht sich auf alle Abiturient/-innen – sie erhalten generell Budgetstudienplätze.

A.2:

Zunächst Öffnung des Gymnasiums und höherer Bildung im Tertiärbereich, dann Entschärfung der Selektion durch eine einheitliche Sekundarstufe.

Die Sowjetunion verfügte schon früh über eine einheitliche Sekundarbildung, die sich erst nach Sekundarstufe I in unterschiedliche Zweige teilte (s. Abschnitt 4.1.2.5; Noelke/Müller 2011, 16). Zumindest ideologisch besaßen alle Arten und Typen von Sekundarbildung dieselbe Wertigkeit (Roberts et al. 2000, 127). Die Sekundarstufe II war einerseits nach Berufen unterteilt und sehr diversifiziert, andererseits bereitete hauptsächlich die allgemeine „vollständige“ Mittelschule auf ein Hochschulstudium vor (Noelke/Müller 2011, 16 f.). Es gab freilich neben dem Hauptweg der allgemeinen „vollständigen“ Mittelschule auch in der beruflichen Bildung Optionen, die Hochschulreife zu erlangen, war es doch seit den 1970er Jahren das politische Ziel, dass möglichst alle Schüler/-innen dieses Zertifikat erwarben (Schmidt 1973, 394 f.). Gleichwohl erhielten nur wenige Abiturient/-innen, die studieren wollten, einen Studienplatz (Braun/Glowka 1975, 43). Unter Gorbatschow gewannen Universitäten an Bedeutung und bildeten mehr Studierende aus (Savelyev et al. 1990, 27). In der UkrSSR war die Studierendenquote im Vergleich zu anderen Sowjetrepubliken recht hoch und betrug 1990 knapp 50 % (Smolentseva 2012, 2, unter Rückgriff auf nicht näher spezifizierte Daten von Weltbank und UNESCO).

In den 1990er Jahren setzte die Ukraine ein Programm auf, das die Eckpunkte für das Bildungssystem der unabhängigen Ukraine festlegte. Es enthielt unter anderem die Bestimmung, dem Bildungsbedürfnis aller ohne Ansehen der ethnischen Herkunft zu begegnen. Es folgten mehrere Bildungsgesetze (Kremen/Nikolajenko 2006, 18; Abschnitt 4.1.3). Teil der ukrainischen Bildungspolitik war es, das allgemeine Bildungsniveau anzuheben und die Aussichten auf die Erlangung einer Hochschulbildung bzw. post-sekundären Bildung zu verbessern sowie Darlehen für Studierende verfügbar zu machen (Kremen/Nikolajenko 2006, 19). Das erhöhte Angebot ging mit einer erhöhten Nachfrage einher und mündete in eine Bildungsexpansion zu Lasten der beruflichen Bildung.

Aus der UdSSR-Zeit übernahm man das Gesamtschulkonzept mit einer zweigeteilten Sekundarstufe, die in der Ukraine nach elf bzw. später zwölf Jahren mit der allgemeinen Hochschulreife endet. In der Ukraine steht sie allen Schüler/-innen, unabhängig von ihrer Leistungsfähigkeit, offen (Hellwig/Lipenkowa 2007, 815). In der Sowjetunion durften nur die besten Schüler/-innen bis zur Hochschulreife an der allgemeinen Einheitsschule weiterlernen. Sie besaßen mit dem Abschlusszertifikat über die Absolvierung der „vollständigen“ Mittelschule die besten Aussichten auf einen Studienplatz (Titma/Saar 1995, 40). In der Ukraine etablierten sich hingegen nach der Unabhängigkeit oben beschriebene Sekundarschulen unterschiedlicher Form für besonders talentierte bzw. leistungsfähige Schüler/-innen, deren Curricula anspruchsvoller als die der Gesamtschule sind. Sie verlangen Schulgebühren und unterliegen Zugangsbeschränkungen (Hellwig/Lipenkowa 2007, 815; Abschnitt 4.1.3). Auch wenn die Gesamtschule die reguläre Schulform der Sekundarstufe I darstellt, besteht schon vor dem Übergang zur Sekundarstufe II eine Wahlmöglichkeit, die den Besuch von Schulen zur Förderung besonders leistungsfähiger Schüler/-innen einschließt, da manche der Begabtenschulen schon vor der Oberstufe beginnen (Kooperation international 2012).

Seit Beginn der 1990er Jahre sprossen zahlreiche Hochschuleinrichtungen aus dem Boden, nachdem das zuvor durch starre Regeln unterdrückte kreative Potenzial sich nun entfalten konnte (Rumyantseva/Logvynenko 2018, 429). Sie bestanden in fortan zulässigen privaten Hochschulen und Filialen schon existierender staatlicher Hochschulen (Zimmermann/Schwajka 2018, 16). Hinzu kamen die neu als Hochschulen gewerteten Institutionen des post-sekundären Sektors (Kogan 2008, 22; Rumyantseva/Logvynenko 2018, 414). Die erhöhten Zahlen an Studienplätzen trafen auf die während der Sowjetzeit in weiten Teilen unbefriedigte Nachfrage nach Hochschulbildung. Wie Kremen und Nikolajenko aufzeigen, spiegeln die Entwicklungen hinsichtlich der angebotenen Disziplinen der neuen Hochschulen die in den 1990er Jahren vorhandene Disbalance zwischen den belegten Fächern der Hochschulabsolvent/-innen und den Marktbedürfnissen wider: Zu vielen Ingenieur/-innen standen zu wenige Anwält/-innen, Ökonom/-innen, Soziolog/-innen, Psycholog/-innen und Manager/-innen gegenüber (Kremen/Nikolajenko 2006, 18). Man verzeichnete eine Abnahme technischer Hochschulen im Vergleich zu Sowjetzeiten, während auf Sozialwissenschaften spezialisierte Hochschulen dermaßen zunahmen, dass heute ein Überangebot herrscht (Rumyantseva/Logvynenko 2018, 429). Dieses Überangebot ist keine auf dieses Feld beschränkte Erscheinung, sondern auch eine allgemeine Entwicklung. Aktuell ist es ein Anliegen der Regierung, die Hochschulzahl einzudämmen (Rumyantseva/Logvynenko 2018, 430; Zimmermann/Schwajka 2018, 16).

Wie im Idealtypus hat also in der Ukraine eine Öffnung stattgefunden, die es allen Schüler/-innen erlaubt, die Hochschulreife abzulegen. Die Aufteilung in spezialisierte Talentschulen in der Sekundarstufe II stellt einen Unterschied zum Idealtypus dar, bei dem grundsätzlich eine einheitliche Sekundarbildung existiert, wobei leistungsschwächeren Schüler/-innen, die in der Einheitsschule überfordert sind, die Möglichkeit eingeräumt wird, ein berufliches Abitur zu machen (oder anstelle des Abiturs eine Berufsausbildung zu absolvieren, was in der Ukraine auch eine Option darstellt). Spezialisierung ist folglich in der Ukraine ein Mittel, sich positiv abzuheben, im idealtypischen Verlauf wird sie eher eingeebnet und gilt als Merkmal der Bildung für Leistungsschwächere.

Die Tendenz wies, was die Talentschulen der Sekundarbildung anbelangt, nach dem Ende der UdSSR in der Ukraine Richtung Etablierung von mehr Differenzen, womit sie meritokratische Entwicklungen aus Phase 1 „nachholte“. Andererseits kam es zu einer Öffnung der Oberstufe und der Hochschulen, die den Vorgängen in der idealtypischen Phase 2 entspricht.

A.3:

Implementierung einheitlicher Curricula im allgemeinen Bildungswesen (auch, um Vergleichbarkeit von erbrachter Leistung herzustellen).

Das Bildungssystem, das die Ukraine zu Beginn der Unabhängigkeit erbte, verfügte bereits über einheitliche Curricula im allgemeinen Bildungswesen (vgl. zum Beispiel Holowinsky 1995, 205). Grund dafür war jedoch nicht die Vergleichbarkeit von Leistung, sondern das Ideal, jedem die gleiche Bildung angedeihen zu lassen. Die Politik versuchte nach Noelke und Müller, Bildungsungleichheiten zu vermeiden, und vereinheitlichte deswegen die Sekundarstufe I. Die Sekundarstufe II war hingegen, nach angestrebten Berufen sortiert, ausgesprochen diversifiziert (Noelke/Müller 2011, 16 f.). In eingeschränktem Rahmen gab es in der Sekundarstufe II während der Sowjetunion auch im allgemeinbildenden Bereich Spezialisierungs- bzw. Wahlmöglichkeiten (Pennar et al. 1971, 101; Braun/Glowka 1975, 44 f.; Anweiler et al. 1976, 7 f.).

Die junge unabhängige Ukraine war vor die Aufgabe gestellt, neue, für das veränderte System der Gesellschaft angemessene Curricula und Lehrmedien aufzusetzen. Laut Želudenko und Sabitowa legte das Bildungsministerium hierbei weiterhin Wert auf die Einheitlichkeit der Inhalte (Želudenko/Sabitowa 2015, 855). Unabhängig von Talenten und Begabungen oder den Schulleistungen sind alle ukrainischen Kinder berechtigt, die Gesamtschule zu besuchen (Hellwig/Lipenkowa 2007, 815). Diese verfügt über einheitliche Curricula, die das Bildungsministerium erstellt (Österman 2009, 9; NOICHE 2013b, 5). Sie umfassen sowohl Pflichtfächer als auch Wahlfächer, über die die einzelnen Lehranstalten abhängig von individuellen Schülerbedürfnissen und -interessen entscheiden (ENIC Ukraine o. J.e; Hellwig/Lipenkowa 2007, 814; Österman 2009, 9). In den Sekundarschulen für Begabte müssen ebenfalls die vom Ministerium definierten Lehrstoffe abgedeckt werden, jedoch geht der Unterricht über die staatlichen Vorgaben hinaus (Želudenko/Sabitowa 2015, 861).

Die Einheitlichkeit der Curricula der ukrainischen Sekundarschule steht in der Tradition der sowjetischen Praxis. Letztere resultiert aus dem Gleichheitsideal und der damit verbundenen Förderung von Chancengleichheit im Sinne des Abbaus von Bildungsungleichheiten. Es kann insofern der unabhängigen Ukraine nicht unterstellt werden, dass die Motivation der Einheitlichkeit, wie im Idealtypus, aus der Gewährleistung der Vergleichbarkeit von Leistung resultierte. Es ist jedoch nicht auszuschließen, dass die so gewonnene Vergleichbarkeit von Leistung ein Argument zur Beibehaltung dieser Praxis war. Dagegen spricht die relativ hohe Stratifizierung aufgrund von Spezialisierungsmöglichkeiten, die bereits in der Sekundarstufe II vorzufinden ist (s. zum letzten Punkt Kogan et al. 2012, 70; Abschnitt 4.2.3.1 A.2)

A.4:

Schaffung formaler Durchlässigkeit zwischen beruflicher und allgemeiner Bildung

Das Bildungssystem der UdSSR erwies sich auf formaler Ebene als durchlässig. Berufliche Bildungsgänge der mittleren Fachbildung und zum Teil der beruflich-technischen Bildung führten in die Hochschulbildung. Lediglich zwei Wege mündeten „nur“ in den Beruf, die ein- bis zweijährigen mittleren Berufsausbildungen nach der „unvollständigen“ Mittelschulbildung und die ein- bis zwölfmonatigen Anlernausbildungen. Auch Bildungsgänge mit doppelqualifizierendem Abschluss waren vorhanden (vgl. IdW 2011–2020a). Hintergrund der Durchlässigkeit waren politische Intentionen, die sich Mitte/Ende der 1960er Jahre durchsetzten, das allgemeine Bildungsniveau der Jugend bis zur Hochschulreife anzuheben. Als Grundlage hierfür sollten sowohl berufliche als auch allgemeinbildende Bildungsgänge dienen, wobei die allgemeine „vollständige“ Mittelschule am besten auf die Zugangstests der Hochschulen vorbereitete (Braun/Glowka 1975, 43–46). Es war aber nicht so, dass aus einer scharfen Trennung beruflicher und allgemeiner Bildung heraus Durchlässigkeit angestrebt wurde. Vielmehr sollte eine neuerliche Trennung der unter Chruschtschow vermischten beruflichen und allgemeinen Bildung in der Mittelschule erreicht werden, indem man den fast ausschließlich allgemeinbildenden Charakter der Mittelschule wiederherstellte. Um auch über den beruflichen Weg Chancen auf einen Studienplatz zu gewähren, blieb eine Vermischung beider Teile dort vorhanden, wo Doppelqualifikationen möglich waren (vgl. Braun/Glowka 1975, 41–46). Die Einführung der beruflich-technischen Schulen, an denen neben einer Berufsausbildung die Hochschulreife erlangt werden konnte, war durchaus ein Versuch, mehr Chancengleichheit herzustellen (Anweiler et al. 1976, 14 f.). Gleichzeitig sollten nach politischem Willen mehr junge Menschen „frühzeitig auf Arbeiterberufe hin orientiert werden, unter gleichzeitiger Befriedigung ihrer gehobenen Bildungsaspirationen“ (Anweiler et al. 1976, 15). Durch die Doppelqualifikation an den beruflich-technischen Schulen gewann die berufliche Bildung eine neue Bedeutung, wurden doch die bis dahin existierenden beruflich-technischen Schulen ohne Doppelabschluss häufig eher als Restschule verstanden (Anweiler et al. 1976, 14 f.). Eine scharfe Selektion wurde durch den hohen Grad an Durchlässigkeit vermieden.

Das ukrainische Bildungssystem kann formal ebenfalls als durchlässig bezeichnet werden: Im Bildungsgesetz von 2017 wird die Durchlässigkeit zwischen beruflicher und allgemeiner Bildung weitreichend sichergestellt:

A person who has received a professional (vocational) education of an appropriate level may continue his/her education on following levels of education, including a shortened training program, in cases and in accordance with the procedure established by law. (IVET NAPS 2017, 9)

Demnach können auch schon absolvierte Teile der beruflichen Bildung unter bestimmten Voraussetzungen in „höheren“ Bildungsgängen angerechnet werden.

Berufliche Schulen der Sekundarstufe können sowohl nach dem Abschluss der neunten Klasse als auch der elften bzw. zwölften Klasse der Mittelschule besucht werden. In den meisten Fällen sind es Absolvent/-innen der neunten Klasse, die an beruflichen Schulen weiterlernen. Es besteht die bereits mehrfach erwähnte Gelegenheit, an der beruflichen Schule neben einer Berufsausbildung zusätzlich die allgemeine Hochschulreife zu absolvieren (Hellwig/Lipenkowa 2007, 818), wie es auch schon in der UdSSR üblich war. Dadurch eröffnet sich Schüler/-innen, die zu leistungsschwach sind, um nach der abgeschlossenen „unvollständigen“ Mittelschule dort weiterzulernen, und die stattdessen berufliche Bildungsgänge besuchen, die Chance, über diesen Weg das Abitur zu erreichen. Wegen des Gesamtschulprinzips kann ohnehin nicht die Rede von einem selektiven Bildungswesen sein.

Die Systematik des ukrainischen Bildungswesens kann als Mischung aus historisch vererbten Prinzipien und Strukturen sowie einer Angleichung an EU-europäische (meritokratische) Konzeptionen interpretiert werden (vgl. Kooperation international 2012), die Durchlässigkeit und Anrechenbarkeit sowie Flexibilität von Lernwegen betonen (vgl. zum Beispiel Buhr et al. 2008; Wolter et al. 2014, 12). Es liegt insofern nicht eine notwendig gewordene Abmilderung einer vorhandenen scharfen Selektion durch eine Trennung beruflicher und allgemeiner Bildung vor, wie beim idealtypischen Verlauf, sondern eher eine generelle Hinwendung zu diesen Prinzipen. Im Endeffekt gleichen sich jedoch die Strukturen des Ideal- und Realtypus hinsichtlich der Durchlässigkeit zwischen beruflicher und allgemeiner Bildung.

A.5:

Einführung eines beruflichen Abiturs aufgrund der zunehmenden Bedeutung eines Abschlusses auf diesem Niveau

Ein berufliches Abitur als solches gibt es in der Ukraine nicht – und gab es aufgrund des Einheitsschulkonzepts auch in der Sowjetunion nicht. Ähnlich zu beruflichen Abituren in anderen Ländern sind die geplanten Bildungsgänge an den Berufslyzeen der Neuen Ukrainischen Schule, die ab 2027 starten sollen. Hier wird man den Abiturient/-innen zum einen das allgemeine akademische Kerncurriculum nahebringen und ihnen zum anderen Spezialisierungsoptionen in beruflichen Fachrichtungen eröffnen, wo allgemeine Lyzeen oder Gymnasien akademische Vertiefungen im Programm haben. Zumindest auf dem Papier qualifizieren die beruflichen Lyzeen zukünftig sowohl für den Arbeitsmarkt als auch für ein anschließendes Hochschulstudium (Friedman/Trines 2019; Bildungsgesetz der Ukraine 2017, Art. 12). Damit treten sie in Konkurrenz zur beruflichen Bildung und stellen eine allgemeinere Form der bereits vorhandenen doppelqualifizierenden Berufsbildungsgänge dar.

Laut ukrainischem Gesetz sollen sich die Schülerströme nach der Sekundarstufe I in berufliche und allgemeine aufteilen. Eine institutionelle Trennung der beiden Zweige ist nicht erforderlich. Man lässt offiziell das Recht auf ein Studium von der Wahl der Spezialisierung unberührt und garantiert Absolvent/-innen beruflicher Oberschulen oder anderer spezialisierter Sekundarprofile, ohne Einschränkungen die Bildungskarriere fortsetzen zu dürfen (Bildungsgesetz der Ukraine 2017, Art. 12, 7.). Weiterhin stellt nach der „unvollständigen“ Mittelschulbildung der Besuch unterschiedlicher Typen von Berufsschulen eine Alternative dar, an denen Berufsausbildungen mit oder ohne Hochschulreife erworben werden können (Hellwig/Lipenkowa 2007, 818; Abschnitt 4.1.3).

Ähnlich wie im Idealtypus forciert die Ukraine die Implementierung eines beruflichen Abiturs.

War im idealtypischen Verlauf das Ziel der Einführung des beruflichen Abiturs, mehr Schüler/-innen auf Abiturniveau zu bringen und die Selektion zu entschärfen, so ist in der Ukraine, deren Bildungswesen aus dem gleichheitsidealistischen Modell rührt, die Etablierung von beruflichen Lyzeen im Rahmen der Neuen Ukrainischen Schule ein Mittel, stärker zu differenzieren, zu selektieren und Leistungsunterschiede sichtbar werden zu lassen.

B.:

Verallgemeinerung der beruflichen Bildung aufgrund der neuen Berechtigungsfunktion

Die Frage nach der Verallgemeinerung der beruflichen Bildung hängt in der UdSSR stets mit der Frage nach beruflichen Inhalten in der allgemeinen Mittelschule (bzw. der Auslegung des Polytechnikbegriffs) zusammen, die je nach Phase allgemeine und berufsbildende oder nur allgemeine Inhalte behandelte: Nachdem unter Stalin der Arbeitsunterricht, zuvor Schlüsselbestandteil der Mittelschule, gänzlich aus dem Programm genommen wurde (Helmert 1994, 19–29), reaktivierte ihn Chruschtschow (Jenkner 1966, 138 f.). Infolge des Scheiterns der Bildungsreformen unter Chruschtschow setzte sich in der Politik die Meinung derer durch, die mehr Allgemeinbildung in die berufliche Bildung integrieren wollten (Abschnitt 4.1.2.4; Schmidt 1973, 385). Die beruflichen Anteile der allgemeinbildenden Gesamtschule strich man derweil zusammen (Abschnitt 4.1.2.4; Pennar et al. 1971, 45, 101), um sie in allgemeinerer Form auf Basis eines recht breiten Technikbegriffs als polytechnischen Unterricht Mitte der 1980er Jahre erneut auszuweiten (Bojanowski/Dedering 1991, 87, 114). Letztlich gelang es trotz aller Bemühungen, die Mittelschule zu „polytechnisieren“, nicht, an ihrem akademischen Charakter zu deuteln (Glowka 1986, 127). Insgesamt ist für das Bildungswesen der Sowjetunion über die Verallgemeinerung der allgemeinen Sekundarschule hinaus eine Verallgemeinerung der beruflichen Bildung zu verzeichnen, denn die berufliche Bildung übernahm in steigendem Maß eine Berechtigungsfunktion; das heißt, sie diente nicht nur der Berufsvorbereitung, sondern auch dem Abschluss der „vollständigen“ Sekundarschule (s. hierzu Abschnitt 4.1.2.5; vgl. Zajda 1979, 287).

Die nur begrenzt vorhandene Trennung zwischen beruflicher und allgemeiner Bildung mit Tendenz zur Verallgemeinerung zeigt sich im ukrainischen Bildungswesen bis heute. Die Sekundarstufe II erfüllt nach Hellwig und Lipenkova eine Brückenfunktion zwischen allgemeiner und beruflicher Bildung, hauptsächlich jedoch bereitet sie auf die Aufnahme eines Studiums im tertiären Bildungsbereich vor. Letzteres gilt in besonders hohem Maße für die Gymnasien, Lyzeen und je nach fachlichem Profil auch für die Gesamtschule. Um der beruflichen Vorbereitung willen umfassen die Sekundarschullehrpläne der Gesamtschulen das Fach Technologie sowie Werkstättenunterricht (Hellwig/Lipenkowa 2007, 815). Die Talentschulen konzentrieren sich auf die Vermittlung von wissenschaftlichen und theoretischen Inhalten sowie allgemeine kulturelle Bildung. Gymnasien verzichten bis auf den staatlich vorgegebenen „Technologieunterricht“ auf berufsvorbereitende Lehrphasen und vollzogen jüngst eine bemerkenswerte Hinwendung zur klassischen humanistischen Bildung mit Fächern wie Latein, Rhetorik und Logik. Lyzeen widmen sich der Allgemeinbildung, die wissenschaftliche und praktische Aspekte enthält, und gehen über die Anforderungen an den Einheitsschulen hinaus. Eine berufliche Orientierung findet je nach Wahl optional im Rahmen von Spezialisierungsmöglichkeiten mit Bezug zur zukünftigen Berufs- bzw. Studienwahl statt. Spezialisierten Sekundarschulen und Kollegia kommt zahlenmäßig eine marginale Bedeutung zu. Auch ihre Ausrichtung widmet sich der allgemeinen Bildung. An den Spezialschulen kann man ein bestimmtes Fach vertiefen, an Kollegia Profile wählen – entweder nur Geisteswissenschaften oder diese kombiniert mit Sozialwissenschaften oder Naturwissenschaften (Hellwig/Lipenkowa 2007, 817 f.; Abschnitt 4.1.3).

Folgende – kaum beruflich orientierte – Vertiefungsrichtungen und Fächer können in der Oberstufe als Spezialisierung gewählt werden:

  • Sozialwissenschaften und Geisteswissenschaften: Sprachen, Geschichte, Recht, Wirtschaftslehre, Rechtslehre („Law“ und „Jurisprudence“)

  • Naturwissenschaften: Physik, Mathematik, Biologie, Geografie, Medizin, Ökologie

  • Technologie: Computerlehre, Ingenieurwesen/Technik, Management, Agrartechnik

  • Angewandte und darstellende Künste: Musik, Kunst, Theaterlehre, Choreografie

  • Sport: Leichtathletik, Gymnastik, Schwimmen, Wandern (Fimyar 2008, 587).

Die noch zu implementierende Neue Ukrainische Schule sieht sowohl eine allgemeine, nicht spezialisierte Oberstufe als auch Spezialisierungsmöglichkeiten vor, je nachdem, ob die Jugendlichen bereits „spezialisierungswillig“ sind oder nicht (ENIC Ukraine o. J.f). Die ukrainische Regierung hat zehn Kernkompetenzen definiert, die alle Absolvent/-innen der Sekundarschule besitzen sollen. Sie umfassen die Bereiche Sprachen, Naturwissenschaften, digitale Kompetenzen, Lernkompetenzen, staatsbürgerliche und kulturelle Kompetenzen und unternehmerische Kompetenzen (ETF 2017c, 8). Der Fokus liegt also klar auf allgemeiner Bildung, im weiteren Sinne beruflich orientierte Fähigkeiten werden unterdessen eingeschlossen. Hervorgehoben wird überdies eine humanere Gestaltung des Bildungsprozesses und der beruflichen Vorbereitung (Finikov 2012; zit. in Kostrobiy/Rashkevych 2017, 17) im Vergleich zur Sowjetunion mit ihren rigiden Strukturen und engen Spezialisierungen.

Auf der untersten Stufe der beruflichen Bildung, deren Zweck im möglichst raschen Erlernen spezifischer Tätigkeiten besteht (Raimondos-Møller 2009, 16), liegt der Schwerpunkt, gerade in den sehr kurzen Kursen, auf angewandten, praxisorientierten Inhalten (s. Abschnitt 4.1.3).

Die berufliche Bildung wird in der Ukraine überwiegend als Sekundarschulbildung begriffen, die neben der tätigkeitsspezifischen Vorbereitung der Auszubildenden auch einen allgemeinbildenden Auftrag zu erledigen hat (Borisova et al. 2004, 29 f.; Zinser 2015, 693). Die doppelqualifizierenden Bildungsgänge bestehen aus zwei Teilen, der Berufsausbildung und der Hochschulreife:

The main difference is the content of the two curricula: while the students’ professional training is the same, the constituent of general education is added up to the high school (9–11 forms) curriculum which is logically based on the incomplete general education of the secondary school (5–9 years). (21N)

Diejenigen, die die Hochschulreife bereits erlangt haben, nehmen nur am Unterricht der Berufsausbildung teil, während die anderen per Zusatzunterricht zum Abitur geführt werden (21D; 21K; 21N). Es ist dabei üblich, eine Tageshälfte mit der Berufsausbildung und die andere mit allgemeinbildenden Inhalten der „vollständigen“ Sekundarschule zu verbringen (Zinser 2015, 687).

Die Berufsausbildung umfasst Fächer, die allgemeine berufsbezogene Theorie vermitteln, Werkstättenunterricht o. Ä. und Praktika in Unternehmen (21D). Laut Zinser setzen sich die Curricula der beruflichen Bildung ebenso aus akademischen Fächern wie aus Sport, Kunst und außerschulischen Aktivitäten zusammen. Man favorisiert prinzipiell ganzheitliche Lernansätze, die zum Beispiel soziales und kulturelles Engagement einschließen (Zinser 2015, 693). Letztere sind in Zusammenhang mit dem Anliegen der ukrainischen Regierung zu sehen, die Heranwachsenden zu Staatsbürger/-innen mit einer gut entwickelten ukrainischen Identität heranzuziehen (Hellwig/Lipenkowa 2007, 809; Suprun et al. 2012, 16 f.; Želudenko/Sabitowa 2015, 852).

1998 verfügte das Bildungsministerium folgende Aufteilung für berufliche Ausbildungen: 30 % Allgemeinbildung und 70 % Berufsbildung (Borisova et al. 2004, 29 f.). Nach den neuen Standards für berufliche Bildung ist folgendes Verhältnis vorgeschrieben: Addiert man theoretische berufsbezogene Inhalte und allgemeinbildende, so kommt man auf 40 % Theorie und 60 % praktische Berufsausbildung, also Berufspraxis in Werkstätten oder als Betriebspraktika (221D; 23D). Der allgemeinbildende Teil wird nur von denjenigen besucht, die parallel zum Abschluss als Qualifizierte/-r Arbeiter/-in die Hochschulreife ablegen. Dies geht aus Ausbildungsplänen hervor (vgl. auch Borisova et al. 2004, 30; 23D). Der allgemeinbildende Bereich lehnt sich stark an den der allgemeinbildenden Sekundarschule an und enthält als obligatorische Stoffgebiete Geisteswissenschaften und Mathematik sowie naturwissenschaftliche Fächer. Da Unternehmen häufig keine Praktikumsplätze anbieten können, verlagert sich der praktische Unterricht in die – überwiegend schlecht ausgestatteten – Werkstätten der Berufsschulen. Inwiefern die theoretischen berufsbezogenen Inhalte eine ausreichende Brücke zur Praxis herstellen, kann schwerlich festgestellt werden, da sich die einzelnen Bildungsgänge und Rahmenbedingungen beruflicher Schulen in der Ukraine zu stark unterscheiden (Borisova et al. 2004, 30 f.).

Laut Roberts et al. entwickelten sich die beruflichen Sekundarschulen aufgrund des Wegfalls der Verbindung zu den Betrieben nach der ukrainischen Unabhängigkeitserlangung faktisch zu allgemeinbildenden Schulen (Roberts et al. 2000, 129). Hernach kümmerte sich der Staat verstärkt um die berufliche Bildung und gründete beispielsweise die oben angesprochenen anwendungsorientierten Berufsbildungszentren (Radkevych et al. 2018, 135 f.). Diese schätzt Zinser als (kompensatorische) Intervention des Staates ein, um arbeitslosen Bürger/-innen Umschulungen zu ermöglichen und neue Laufbahnoptionen zu eröffnen (Zinser 2015, 696; vgl. auch Shcherbak et al. 2002, 22; ETF 2017d).

Aktuell werden Standards für die berufliche Bildung entwickelt, die sich vom Paradigma der Standardisierung der Inhalte verabschiedet haben und dem kompetenzbasierten Outcome-Ansatz folgen (IVET NAPS 2017, 13 f.). Die Standards für einige Berufe wurden bereits fertiggestellt (ETF 2019b, 7). Inwieweit die neuen Standards für die berufliche Bildung die dort etablierten Strukturen und Praktiken nachhaltig zu verändern vermögen, ist noch genauso offen, wie die Auswirkungen der neuen dualen Berufsausbildung (s. zur dualen Berufsausbildung MES 2017–2019c).

Letztlich stellt das Unterfangen einen Versuch dar, die berufliche Bildung besser an die Bedarfe des Arbeitsmarkts anzugleichen (IVET NAPS 2017, 13) und das ukrainische Bildungssystem kompatibel zu EU-europäischen Reglements weiterzuentwickeln. Da ein Bildungssystem, das den EU-europäischen Maßstäben entspricht, eine Voraussetzung für die von der Ukraine angestrebte Aufnahme in die EU darstellt, stehen hinter derartigen Bemühungen (auch) politische Motive. Es wird in der Literatur bemerkt, dass beträchtliche Diskrepanzen zwischen Papier und Praxis Normalität sind und man in erster Linie dafür sorgt, die Papiere anzupassen und dies auch als ausreichend ansieht (vgl. zum Beispiel Penter 2000; Zon 2001, 92; Hellwig/Lipenkowa 2007, 823; Filiatreau 2011, 54 ff.; ETF 2017c, 3; Zimmermann/Schwajka 2018, 11). Hinzu kommt, dass politische Reformen oft den Zeitplänen hinterherhinken und vor Hindernissen stehen, die durch mangelnde Koordinierung und Finanzen verursacht werden (Del Carpio et al. 2017, 91). Ergänzt werden diese Schwierigkeiten durch eine defizitäre Veränderungsbereitschaft sowohl der Bildungsadministration als auch der Lehrerschaft (Hellwig/Lipenkowa 2007, 823).

Im Zuge der Ausarbeitung der neuen Standards für die berufliche Bildung wurde die Anzahl an Berufen reduziert, indem man Berufe zusammenfasste (IVET NAPS 2017, 13). Insofern hat eine Verbreiterung einzelner Berufsbilder stattgefunden, die eine Reduktion des hohen Spezialisierungsgrades aus der Sowjetzeit impliziert. Begründet wurde dies mit der Berechtigungsfunktion der beruflichen Bildung und mit einer größeren Flexibilität von breiter ausgebildeten Arbeitnehmer/-innen, den Arbeitsmarktbedürfnissen entsprechen zu können (Borisova et al. 2004, 29).

Durch die Einführung der Beruflichen Lyzeen, die zur allgemeinen Hochschulreife führen, wird einer weiteren Verallgemeinerung der beruflichen Bildung Vorschub geleistet.

Eine Verallgemeinerung der beruflichen Bildung, wie im Idealtypus vorzufinden, kann auf Grundlage der für die Ukraine angestellten Analysen in gewissem Maße bestätigt werden. Was das Bildungswesen der Sowjetunion angeht, ist neben einer Verallgemeinerung der allgemeinen Sekundarschule eine Verallgemeinerung der beruflichen Bildung zu beobachten. Letztere wurde durch die Berechtigungsfunktion verursacht, die die berufliche Bildung, wie im Idealtypus, in steigendem Maß übernahm.

In der unabhängigen Ukraine hat hinsichtlich einer Verallgemeinerung der beruflichen Bildung unter anderem der Verlust der Beziehungen zwischen beruflichen Schulen und Betrieben eine Rolle gespielt. Momentan dominieren eindeutig die allgemeinbildenden Bildungsgänge das ukrainische Bildungswesen, die zwar einige wenige „berufliche“ Inhalte aufweisen, sich aber klar auf die Hochschulpropädeutik verlegt haben.

Die Berechtigungsfunktion trägt aktuell, anders als im Idealtypus, nicht zur Verallgemeinerung der beruflichen Bildung bei, weil der Unterricht, über den der Abschluss der „vollständigen“ Sekundarschule erlangt wird, als Zusatzunterricht neben dem berufsbezogenen Unterricht stattfindet. Demnach hat die Berechtigungsfunktion keinen Einfluss auf den beruflichen Teil der doppelqualifizierenden Ausbildung. Bei letzterem hat sich das Verhältnis von theoretischen zu praktischen Ausbildungsteilen jüngst weiter zugunsten der Theorie verschoben.

C.:

Bildungssystem nach wie vor selektiv, aber Selektion verlagert sich nach hinten und wird zunehmend über Aufnahmeprüfungen der „höheren“ Schulen umgesetzt; Entstehung einer zunehmend ausdifferenzierten Hierarchie von Bildungseinrichtungen

Im ukrainischen Realtypus kann aus historischer Perspektive bedingt die Rede von einem selektiven Bildungssystem sein. Die Schüler/-innen lernten in der Sowjetunion seit der Einführung der Einheitsschule bis zum Ende der Sekundarstufe I gemeinsam, was eine Verschiebung der Selektion nach hinten zur Folge hatte. Anschließend verteilten sie sich auf unterschiedliche Bildungswege, die verschiedene Karrierechancen boten. Am schärfsten war die Selektion am Übergang zu den Hochschulen, die in Relation zur Nachfrage nur wenige Studienplätze offerierten, deren Distribution unter anderem von Aufnahmeprüfungen abhing. Als Selektionskriterium diente gleichwohl nicht ausschließlich die erbrachte Leistung (s. hierzu Abschnitt 4.1.2.4 bis 4.1.2.6; vgl. Glowka 1970, 772; Braun/Glowka 1975, 45 f.; Titma/Saar 1995, 40; Noelke/Müller 2011, 16). Die Aufnahmeprüfungen wurden an Hochschuleinrichtungen abgehalten und bestanden aus einem einheitlichen Wissenstest und einheitlichen Erwartungshorizonten. Außer den Aufnahmetestresultaten zog man Kriterien heran, die sich im Laufe der Zeit mehrfach änderten. Es handelte sich zum Beispiel um Schulabschlussnoten, soziale Aspekte (z. B. Zugehörigkeit zur Landarbeiterschaft oder Armeedienst), Praxiserfahrung, Moral und politisches Verhalten (Glowka 1986, 128). In den 1980er Jahren favorisierte man eindeutig akademisches Wissen und die intellektuelle Leistung als ausschlaggebende Faktoren für den Hochschulzugang (Glowka 1986, 135).

Eine Umsetzung der Selektion über Aufnahmeprüfungen „höherer“ Schulen hat in der unabhängigen Ukraine Fuß gefasst, zumindest was die Oberschulen anbelangt. Zudem wächst die Ausdifferenzierung der Hierarchie von Bildungseinrichtungen an. Im Folgenden werden die Selektionsmechanismen des ukrainischen Bildungswesens sukzessive für die Sekundarbildung und die Hochschulbildung aufgezeigt, bevor auf die Hierarchisierung von Bildungsinstitutionen eingegangen wird.

Die geltende Übergangsregelung von der Sekundarstufe I zur Sekundarstufe II fixiert, dass alle Schüler/-innen, die die Sekundarstufe I abgeschlossen haben, ihre Bildungslaufbahn in der Oberstufe weiterführen dürfen (Friedman/Trines 2019). Zunächst oblag die Auswahl der Schüler/-innen den weiterführenden Schulen selbst, die mittels Eingangsprüfungen eigenständig testeten und selbst definierten, welche Inhalte und Fähigkeiten geprüft wurden, dabei aber der Genehmigung durch die zuständige Bildungsbehörde unterlagen (Hellwig/Lipenkowa 2007, 817). Das aktuelle Bildungsgesetz schreibt hingegen externe, unabhängige „Bewertungen“ am Ende der Sekundarstufe I vor, die für die Einschreibung an weiterführenden Schulen verwendet werden können. Für die Beurteilung werden staatliche Institutionen der Exekutive von Bildung und Wissenschaft autorisiert (Bildungsgesetz der Ukraine 2017, Art. 47). Zusätzlich schreiben ukrainische Schüler/-innen am Ende der Sekundarstufe I zum Erhalt des Abschlusszertifikats ein staatliches Abschlussexamen (Friedman/Trines 2019). Nach neueren Plänen denkt die ukrainische Regierung darüber nach, nach der Sekundarstufe I zentrale Tests (anstelle von individuellen Aufnahmeprüfungen der Schulen bzw. externen „Bewertungen“) anzusetzen, deren Ergebnisse darüber bestimmen, welche Schüler/-innen auf der allgemeinbildenden Mittelschule weiterlernen und welche in die berufliche Bildung übergeleitet werden (Zimmermann/Schwajka 2018, 23). Gemäß Želudenko und Sabitowa hat das Bildungsministerium Details wie die Prüfungsfächer schon bekanntgegeben (Želudenko/Sabitowa 2015, 864). Wie unsere Interviewpartner/-innen angaben, handelt es sich dabei um Fächer mit Ukraine-Bezug und Mathematik, die in einem unabhängigen Verfahren („State Final Certification“), gesteuert durch das Bildungsministerium, an den Schulen durchgeführt werden sollen. Aufgrund der Auswirkungen der Corona-Pandemie wurde die Implementierung auf das Jahr 2021 verschoben. Überdies existieren Pläne, im Rahmen der Neuen Ukrainischen Schule auch nach der vierjährigen Grundschule eine Entscheidung für eine weiterführende Schule auf Basis eines Leistungswettbewerbs zu treffen, anstatt die Schüler/-innen einfach ihrer Schule bleiben zu lassen: „Plans New Ukrainian School: Decision about school after 4th grade based on abilities and desires on a competitive basis (instead of just staying at current school)“ (11D).

Faktisch erfolgt am Übergang in Sekundarstufe II eine Klassifizierung der Schülerschaft nach ihrer Leistungsfähigkeit. Die Quote für Teilnahme der Schüler/-innen an der Sekundarstufe II geben das ETF und die UNESCO für das Jahr 2014 mit nahezu 93 % an (UNESCO Institute of Statistics 2013–2020e; ETF 2017e, 11); 2011 waren rund 82 % zu verzeichnen (ETF 2017e, 11). Von den Oberstufen- bzw. Oberschüler/-innen befanden sich seit 2011 sehr konstante rund 30 % in beruflichen Bildungsgängen (UNESCO Institute of Statistics 2013–2020f; ETF 2017b, 3). Eine andere Quelle beziffert das Verhältnis der Anzahl Schüler/-innen, die im Schuljahr 2010/11 in die berufliche Bildung eintraten, zur Anzahl derer, die sich der „höheren“ Bildung zuwandten, auf 1:6 (Suprun et al. 2012, 15). Da die berufliche Bildung an sich in der Ukraine keine hohe Wertschätzung genießt, ist anzunehmen, dass die geplanten beruflichen Lyzeen jene Schüler/-innen aufnehmen werden, die in den akademischen Fächern nicht zu den leistungsstärksten gehören, und eventuell auch Schüler/-innen abziehen, die ansonsten „lediglich“ eine Berufsausbildung anstreben würden.

Im akademischen Jahr 2001/2002 führte man eine neue Bewertungsskala für die Sekundarschule ein. Eine zwölfstufige Punkteskala mit Punkten von ein bis zwölf, die in vier Stufen gebündelt werden, ersetzt seither die zuvor gültige Skala mit ganzen Noten von zwei bis fünf (ENIC o. J.c; Fimyar 2008, 578, 585; Österman 2009, 10; Friedman/Trines 2019). Durch die Ausweitung der Notenskala entstehen differenziertere Leistungsbeurteilungen.

Voraussetzung für ein Studium im Hochschulsektor ist das Abschlusszertifikat der Sekundarstufe II und das erfolgreiche Abschneiden bei der zentralen externen Prüfung (Froumin et al. 2014, 213). Zunächst blieb man in der Ukraine bei der Praxis aus der Sowjetunion, die beinhaltete, dass die Schulen zu zentral vorgegebenen Themen selbst Abiturprüfungen abnahmen und bewerteten (West/Crighton 1999, 271 f.; Fimyar 2008, 578). Eine neue Regelung, ursprünglich 1999 lanciert, enthielt die Vorgabe, dass die Abiturient/-innen an einem bestimmten Tag am nächstgelegenen Testzentrum ihre Abiturprüfungen in Form von standardisierten Tests abzulegen hatten, wobei ihre Namen durch Codes ersetzt und die Prüfungsabgaben sonach anonymisiert wurden. Bis zur nationalen Durchsetzung der Reform dauerte es schließlich noch einige Jahre (Fimyar 2008, 578). Im Brennpunkt standen die Ziele, die vorherrschende Korruption beim Wettbewerb um Studienplätze zu bekämpfen, mehr Fairness und Transparenz bei der Prüfungsabnahme zu gewährleisten und Chancengleichheit zu fördern (Fimyar 2008, 578; Toropova 2012, 123). Das heißt letztlich nichts anderes, als Elemente zu eliminieren, die das Leistungsprinzip untergraben.

Mithilfe des EIT („External Independent Testing“), der 2008 implementiert und 2015 nachgebessert wurde, und der damit in Zusammenhang stehenden Mechanismen gelang es, die bestehenden Probleme weitgehend zu beheben. Zwischen 2008 und 2015 nutzten die Bewerber/-innen zunächst noch vorhandene Schlupflöcher, die es unter anderem erlaubten, den Test zu umgehen. Mit den Änderungen von 2015 sorgte man für mehr Transparenz beim Verfahren der Studienplatzzuteilung, was den Raum für illegale Praktiken schmälerte (Sovsun 2017, 12). Die Tendenz, zentrale, externe, unabhängige Tests am Übergang von der Sekundarstufe II zur Hochschule oder auch an anderen Stellen des Bildungswesens einzusetzen, ist in mittel- und osteuropäischen Ländern weit verbreitet und kein rein ukrainisches Bestreben (Steier 2006, 564).

Die Ergebnisse des EIT werden mit der Durchschnittsnote der Hochschulreife kombiniert, indem nach einem festgelegten Verfahren eine Gesamtpunktzahl errechnet wird, die über die Zulassung entscheidet (ENIC Ukraine o. J.c). Nach Zimmermann und Schwajka spielen auch soziale Kriterien bei der Ermittlung des Abschneidens eine Rolle (Zimmermann/Schwajka 2018, 23). Dies bestätigen die befragten Expert/-innen. Sozial Benachteiligte haben demnach die Möglichkeit, Quotenbudgetplätze zu erhalten, die nicht von ihrer Schulleistung abhängig sind (121D; 121K; 121N; s. oben). Es handelt sich hierbei beispielsweise um Waisen, Menschen mit Behinderung oder Kinder von Soldat/-innen (122D; 122K; 122N). Bei der Berechnung des Punktwertes beim EIT erhalten Jugendliche aus ländlichen Gebieten oder aus der Region der Hochschule, für die sie sich bewerben, über einen Koeffizienten zusätzliche Punkte (122D; 122K). Die Quotenregelung für sozial Benachteiligte wird seit einigen Jahren kritisiert. Es mehren sich die Stimmen, die sich dafür einsetzen, nur nach Leistung zuzulassen und sozial Benachteiligte auf andere Weise zu unterstützen, zum Beispiel durch Stipendien oder andere finanzielle Hilfen:

The issue of granting or cancelling benefits for admission to higher education has been actively discussed for several years. Many people are inclined to think that the state should help socially unprotected entrants in other ways – for example, by providing certain scholarships, the right to free meals, and so on. There is an opinion that the competition for higher education should be held on equal terms for all participants and only the level of knowledge can be considered as the criterion for enrolment in education at the expense of the state budget. (121D)

Über die Anzahl an verfügbaren Studienplätzen pro Fach je Hochschule entscheidet, wie in der Sowjetunion, der Staat. Generell richtete sich die zur Verfügung gestellte Zahl an Studienplätzen in der UdSSR nach den erwarteten Bedarfen der Industrie (Froumin et al. 2014, 213), nicht nach Bildungsaspirationen der Bevölkerung. In der unabhängigen Ukraine geschieht dies auf Basis von Prognosen über Bedarfe, die anhand von Absolvent/-innenzahlen ermittelt werden (Sovsun 2017, 12). Circa die Hälfte der Studienplätze für Bachelorstudierende sind für Bewerber/-innen reserviert, die vom Staat mit Stipendien gefördert werden; beim Master sind es 20 % der Bachelorabsolvent/-innen. Die Stipendien umfassen ein kostenloses Studium, freien Zugang zu Bibliotheken, Computern und anderen hochschulinternen Angeboten sowie die Unterbringung in Campus-Wohnheimen und einen finanziellen Zuschuss. Ein Recht auf diese Art der Unterstützung erwerben sich diejenigen, die bei den standardisierten Prüfungen nach dem Abitur die Mindestpunktzahl erreicht haben, die für jede Hochschule festgelegt wurde. Es konnte in der Vergangenheit durchaus passieren, dass Budgetplätze nicht vollständig genutzt wurden, wenn Qualifikation und Interesse der Studienbewerber/-innen dies nicht zuließen. Alle nicht staatlich finanzierten Studienplätze gehen an zahlungspflichtige Bewerber/-innen. Somit stehen Hochschulen unter dem Vorbehalt der Selbstfinanzierung auch denjenigen offen, die bei der Aufnahmeprüfung nicht besonders gut abgeschnitten haben (Hellwig/Lipenkowa 2007, 816; ETF 2009, 56; Zinser 2015, 694; Zimmermann/Schwajka 2018, 14 f.). Je nach Hochschule und Studienfach entrichten zahlende Studierende rund 300 bis 1500 € Studiengebühren pro StudienjahrFootnote 5 (Zimmermann/Schwajka 2018, 15). Für private Hochschulen stellt der Staat keine Stipendiaten-Studienplätze zur Verfügung (Zimmermann/Schwajka 2018, 16).

Seit 2016 richten sich die Planzahlen des Bildungsministeriums für die staatlich finanzierten Budgetstudienplätze in hohem Maße danach, wie viele der besten Bewerber/-innen sich an welcher Universität bewerben. Das heißt, je stärker die Bewerber/-innen für einen bestimmten Studiengang an einer bestimmten Universität sind, desto mehr Budgetplätze bekommt sie zugesprochen (Sovsun 2017, 12). Dadurch können schwach belegte Studiengänge ihre Finanzierung einbüßen und beliebte Studiengänge profitieren (vgl. Zimmermann/Schwajka 2018, 14). Die Hochschulen sind demnach gezwungen, dafür zu sorgen, dass sich möglichst viele gute Abiturient/-innen bei ihnen bewerben, indem sie beispielsweise ihre Studienprogramme attraktiv gestalten. Im Gegensatz zum Vergabesystem, das im Voraus fixierte Anzahlen von staatlich finanzierten Studienplätzen pro Studiengang und Institution vorsah, reduziert das neue System die Abhängigkeit der Hochschulen von der Beziehung des Bildungsministers bzw. der Bildungsministerin zum Hochschulrektor bzw. der Hochschulrektorin (Sovsun 2017, 12). Es ist zu erwarten, dass es besser gelingt, die zur Verfügung gestellten Budgetstudienplätze zu füllen. Einige Fachrichtungen setzen laut Kooperation international des BMBF zusätzlich Aufnahmetests ein (Kooperation international 2012). Für die Zulassung zu einem Masterstudium in Jura und Sozialwissenschaften als Disziplinen, bei denen großer Andrang herrscht, ist man mittlerweile ebenfalls dazu übergegangen eine zentrale, externe Prüfung abzunehmen (Zimmermann/Schwajka 2018, 23).

Nach Angaben der befragten Expertengruppen kann der Wettbewerb um Studienplätze an prestigereichen Hochschulen bei den staatlich finanzierten Budgetplätzen sehr hoch sein (34D; 34K). Grund dafür ist die begrenzte Studienplatzanzahl in den prestigereichsten Fachrichtungen (34D). Bei den Studienplätzen für Privatzahler/-innen herrscht in der Regel wenig Wettbewerb (34D; 34K), und wenn, dann nur an den prestigereichsten Universitäten (34D). Selbst dort kann es passieren, dass solche Studienplätze frei bleiben (34D).

Hinsichtlich der Hierarchisierung von Bildungsgängen ist für den Bereich der Sekundarstufe II sowohl von Wettbewerb um Absolvent/-innen der „unvollständigen“ Sekundarbildung als auch von Hierarchien von Sekundarschulen (35N; 35D) die Rede. Dabei gibt es keinen bestimmten Wettbewerb: „There is no special competition“ (35K). Dennoch ist die Rede von expliziten Bemühungen, Schüler/-innen zu rekrutieren: „There is a competition concerning recruitment“ (35D). Prestigehierarchien und intensiver Wettbewerb sind dabei regionale bzw. städtische Phänomene, die sich auf dem Land nicht vorfinden lassen. Die Sekundarschulen in den Städten gelten als die besten (35D, 35K, 35N). Jedes Jahr wird ein Ranking von Sekundarschulen veröffentlicht (35K). Als Indikator für die Qualität einer Sekundarschule gilt das Abschneiden ihrer Absolvent/-innen im EIT (35N).

Auch im Hochschulsektor werden Hierarchien von Bildungseinrichtungen gebildet. Die nach gesetzlichem Willen seit 2014 aufgebaute Nationale Agentur für die Qualitätssicherung der Hochschulbildung hat unter anderem die Aufgabe, sämtliche Studiengänge auf Basis von Mindeststandards zu akkreditieren, wobei die Ergebnisse der Überprüfung veröffentlicht werden (Kooperation international 2012). Die Veröffentlichung enthält die Kriterien „akkreditiert“, „nicht akkreditiert“ (31D; 31N) und „akkreditiert unter Auflagen“ (31D). Die genauen Punktwerte, die erreicht wurden, werden laut einer Expertengruppe nur den jeweiligen Hochschulen selbst mitgeteilt (31N). Die Antwort einer anderen Gruppe legt nahe, dass sie ebenfalls veröffentlicht werden, sodass Rankings auf dieser Basis möglich sind (31K).

Manchen Universitäten gelingt es, sich abzuheben, indem sie für ausgezeichnete Forschung den Status einer Nationalen Universität bzw. Akademie erlangen (Kooperation international 2012), was aktuell bei 120 Einrichtungen der Fall ist (Zimmermann/Schwajka 2018, 16; Kooperation international 2020b). Dieser Titel wird seit 1994 verliehen (NAES 2017, 46). Er diente den traditionellen Volluniversitäten als Mittel, sich als Flaggschiffe des tertiären Sektors zu behaupten, nachdem immer mehr spezialisierte Universitäten ihr Disziplinenportfolio erweiterten, um ihren Universitätsstatus auch unter der neuen gesetzlichen Regulierung der unabhängigen Ukraine behalten zu können (Hladchenko 2016, 380). Nationale Universitäten verfügen sowohl über größere Autonomie als staatliche Universitäten und über volle staatliche Finanzierung, während staatlichen Universitäten nur teilweise staatliche Finanzierung gewährt wird (Blomqvist/Kowalewska 2009, 13 f.). Da mit den genannten 120 Nationalen Universitäten bereits eine recht hohe Zahl an Einrichtungen über diesen Titel verfügte, der als Ausweis der Zugehörigkeit zur Bildungselite gedacht war, konnten sich die zugrunde liegenden Intentionen einer vertikalen Differenzierung nur beschränkt etablieren (NAES 2017, 46). Folgerichtig führte man 2009 eine neue, „höhere“ Kategorie ein: Mittlerweile tragen 14 Nationale Universitäten zusätzlich den Titel „Forschungsuniversität“ (Kooperation international 2012; NAES 2017, 46; Zimmermann/Schwajka 2018, 16), wodurch sie aus der Elite der Nationalen Universitäten herausragen. Mit der Auszeichnung als „Forschungsuniversität“ geht ein Recht auf Selbstverwaltung einher (NAES 2017, 46).

Es existieren unterschiedliche Medien, die Rankings von Bildungseinrichtungen des post-sekundären und tertiären Bildungsbereichs publizieren, zum Beispiel die Website osvita.ua. Hier fasst man Daten aus drei Rankings zusammen, der TOP 200 Ukraine (erstellt durch das UNESCO-Büro der Ukraine), Compass und Webometrics, die jeweils unterschiedliche Kriterien anwenden. Die Universitäten unterteilt man in vier Kategorien: beste klassische Universitäten, beste private Institutionen, beste Einrichtungen in Kiew, beste regionale Hochschulen. Da die für Rankings verantwortlichen Institutionen allesamt unabhängigen Charakter haben, ist das Vertrauen in ihre Ergebnisse trotz der unterschiedlichen Verfahrensweisen und Kriterien gegeben. Grundsätzlich wächst Bedarf an Rankings und sie haben bereits heute einen nicht zu unterschätzenden Einfluss in der akademischen Szene und auf dem Arbeitsmarkt. Eltern und Bewerber/-innen tendieren immer mehr dazu, sie in ihre Bildungsentscheidungen einzubeziehen. Auch in den Medien nehmen Diskussionen um die Qualität von Hochschulen wachsenden Raum ein (Kvit 2015, 70–74; vgl. auch IOM 2013, 30).

Die befragten Expertengruppen bekräftigen die Existenz einer Hierarchie der Hochschulen (32D; 32K; 32N). Der Platz einer Hochschule in Rankings beeinflusst insgesamt die Karrieremöglichkeiten nach Meinung der befragten Expert/-innen nicht so sehr, es sei denn, es handelt sich um Hochschulen, die einen Platz unter den Top 5 bis 7 des Landes einnehmen: „Place of HEI in ranking does not significantly affect career opportunities of graduates. Exception: TOP 5–7 HEIs of the country that are relevant for career“ (32D). Existierende Prestigehierarchien von Hochschulen sind eher subjektiv (32D) bzw. informell, da sie von Unternehmen erstellt werden (32K). Die Hochschulhierarchie spielt vor allem dann eine Rolle, wenn Personalchefs weniger auf die Berufserfahrung schauen und dafür stärker auf die Hochschule, an der ein/-e Bewerber/-in graduiert hat, achten:

It exists, especially in those cases when the head of the institution where the specialist is hired does not highlight the work experience, but emphasises the higher education institution the applicant graduated from. (32N)

Der Nationale Qualifikationsrahmen führt die allgemeine Sekundarstufe I auf Bildungsniveaustufe 2 und die profilierte Sekundarschulbildung der Sekundarstufe II auf Bildungsniveaustufe 3. In der beruflichen Bildung finden sich Entsprechungen: Die erste Stufe der beruflichen Bildung befindet sich auf Bildungsniveaustufe 2, also ebenbürtig wie die allgemeinbildende Sekundarstufe I; die zweite Stufe der beruflichen Bildung rangiert auf Bildungsniveaustufe 3, ebenso wie die allgemeine, profilbildende Sekundarstufe II. Das heißt, dass die Hochschulreife und eine mittelwertige Facharbeiterausbildung gleich gewichtet werden. Mit einer „höheren“ beruflichen Ausbildung erreicht man Bildungsniveaustufe 4 und eine Berufsausbildung im Bereich der vorhochschulischen Bildung, die auch als integrierter Bildungsgang mit profilbildender allgemeiner Sekundarschulbildung absolviert werden kann, gehört zu Bildungsniveaustufe 5. Ein Junior-Bachelor nimmt Bildungsniveaustufe 6 ein, ein Bachelor Stufe 7 und ein Master Stufe 8 (vgl. MES 2017–2019b; ENIC 2019). Damit erfährt die berufliche Bildung rein formal eine hohe Wertigkeit. Die Teilnehmer/-innenzahlen sprechen währenddessen eine andere Sprache, wie wir oben gesehen haben. Festhalten muss man ebenfalls, dass der Abschluss Junior-Spezialist/-in immer ein „niedrigerer“ Hochschulabschluss als andere darstellte bzw. jetzt als vorhochschulischer Abschluss „minderwertig“ bleibt und damit eine Abgrenzung zu „höherwertigen“ allgemeineren Hochschulabschlüssen gewahrt wird. Ähnliches gilt für den Junior-Bachelor.

Der Trend weist in der Ukraine in Richtung Verschärfung der Selektion, was einer Verstärkung des meritokratischen Prinzips gleichkommt und im Idealtypus Kennzeichen der ersten Phase ist. Besonderes Augenmerk legt die Bildungspolitik auf die Schaffung von mehr Transparenz und Objektivität der Selektionsinstrumente. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass sich die Sekundarstufe des ukrainischen Bildungssystems durchaus als selektiv erweist, wobei „höhere“ Schulen sich durch Aufnahmetests von der Einheitsschule absetzen. Es herrscht Konkurrenz und jedes Jahr wird ein Ranking von Sekundarschulen veröffentlicht. Allerdings befindet sich die Ausdifferenzierung der Oberschulhierarchie wohl noch am Anfang: Da der Zugang zu den Hochschulen recht offen ist, muss man nicht um jeden Preis eine der Talentschulen besuchen, um gute Aussichten auf eine erfolgreiche Berufskarriere zu haben. Nach der Sekundarstufe I werden schlechtere Schüler/-innen in die berufliche Bildung übergeleitet, in der die Hochschulreife abgelegt werden kann. Berufliche Lyzeen sind bereits geplant. Es findet also an der Schwelle zur Sekundarstufe II eine Aufteilung in berufliche und allgemeine Bildung statt, die jener des Idealtypus gleicht, bei der ein berufliches Abitur eher leistungsschwache Schüler/-innen zur Hochschulreife führt, während das allgemeine Abitur für die stärkeren Schüler/-innen vorgesehen ist.

Für den Hochschulzugang ist das Leistungsprinzip maßgeblich, jedoch kombiniert mit finanziellen Aspekten. Dies muss unter dem Gesichtspunkt betrachtet werden, dass der ukrainische Staat finanziell nicht gerade gut ausgestattet ist und aus diesem Grund nur in begrenztem Rahmen Budgetstudienplätze anbieten kann (vgl. ETF 2009, 56). Zahlende Studierende werden zugelassen, um Finanzen für die Hochschulen zu sichern (Shevchenko 2008, o. S.; Hladchenko 2016, 381). Somit ist es als Sicherung des Leistungsprinzips anzusehen, dass der Staat jährlich das Maximum an Studierenden, die jenseits der staatlich finanzierten Budgetplätze zugelassen werden dürfen, vorgibt (vgl. ETF 2009, 56).

Eine in den Hochschulbereich hineinverlagerte Selektion findet in der Ukraine kaum statt, worauf die niedrigen Abbruchquoten schließen lassen. Durch die existierenden finanziellen Herausforderungen der Hochschulen besteht ein Anreiz, mit schlechteren Studierenden bei der Leistungsbewertung großzügig umzugehen und sie nicht auszusieben, sondern als Zahlende zu behalten (Zimmermann/Schwajka 2018, 22). Dies ist ein deutlicher Unterschied zum idealtypischen Bild.

Eine Hierarchie der Hochschulen ist durchaus vorhanden und über die Titel der Nationalen Universität und der Forschungsuniversität offiziell sanktioniert. In unterschiedlichen Medien veröffentlichte Rankings erfahren steigende Bedeutung und deuten darauf hin, dass eine weitere Ausdifferenzierung der Hochschulhierarchie erfolgen wird. Die neuen Regelungen für die Selektion an der Schwelle zur Hochschule könnten in Zukunft die Entstehung einer weiter ausdifferenzierten Prestigehierarchie von Studienfächern und Hochschuleinrichtungen befeuern, weil sich die Studienplatzanzahl des Folgejahrs an den Zulauf im Vorjahr anlehnt und dadurch die prestigereichen Fächer und Hochschulen weiter gestärkt werden (vgl. Zimmermann/Schwajka 2018, 14). Somit ist diesbezüglich eine wachsende Angleichung an den Idealtypus zu erwarten. Bei überlaufenen Studiengängen ist es bereits üblich, zusätzliche Aufnahmeprüfungen anzusetzen, was dem Prestige dieser Disziplinen und der Hierarchisierung von Bildungsgängen zuträglich ist.

Bei Bildungsentscheidungen von Seiten der Studierenden wird das Prestige der Hochschule immer wichtiger; auf die Karrierechancen wirkt es sich nur teilweise aus. Damit nähert sich der ukrainische Realtypus in diesen beiden Punkten tendenziell an die idealtypische Ausprägung an.

D.:

Zugang zur beruflichen Bildung mit schlechten Noten möglich

Im sowjetischen Bildungssystem verblieben üblicherweise die besseren Schüler/-innen in der allgemeinen Mittelschule, während die schlechteren nach der Sekundarstufe I in die berufliche Bildung oder direkt in den Arbeitsmarkt wechselten (s. Abschnitt 4.1.2.4).

Nach ukrainischem Recht dient der Abschluss der Sekundarstufe I als Voraussetzung zum Eintritt in die berufliche Bildung. Zudem dürfen sozial Benachteiligte ohne einen solchen Abschluss an der beruflichen Bildung teilnehmen und erhalten finanzielle Unterstützung vom Staat. Schüler/-innen, die einen Beruf von einer Liste, die das Bildungsministerium herausgibt, erlernen möchten, dürfen ebenfalls ohne Sekundaschulabschluss eintreten (IVET NAPS 2017, 5 f.; Melnyk 2021, 115).

Damit entspricht der ukrainische Realtypus hinsichtlich dieses Aspekts dem Idealtypus, weil die berufliche Bildung leistungsschwachen Schüler/-innen offensteht. Die Kehrseite davon ist, dass hierdurch der Negativselektion die Tür aufgesperrt wird.

E.:

Zunahme der Bedeutung privater Bildungseinrichtungen

Für die Ukraine kann eine Zunahme der Bedeutung privater Bildungseinrichtungen bestätigt werden, seit ein Gesetz deren Existenz billigt – in erster Linie im tertiären Sektor.

Bereits 1991 wurde ein Gesetz erlassen, das die Gründung privater Hochschuleinrichtungen erlaubte (Hladchenko 2016, 380) – für Rumyantseva und Logvynenko die radikalste Veränderung im ukrainischen Hochschulwesen im Zeitraum von der Unabhängigkeit bis zum Eingang der 2000er Jahre (Rumyantseva/Logvynenko 2018, 413). Daraufhin waren zahlreiche Eröffnungen privater Hochschulen zu verzeichnen, die auf die neuen Marktbedürfnisse reagierten und primär Jurist/-innen, Manager/-innen und Ökonom/-innen ausbildeten (Klein 2018, 117; Rumyantseva/Logvynenko 2018, 413; Zimmermann/Schwajka 2018, 16). Die ersten privaten Hochschulen wurden 1994/95 zugelassen (Klein 2018, 117). Nur wenige davon erfreuen sich staatlicher Anerkennung und sind berechtigt, Bildungstitel auszustellen (Želudenko/Sabitowa 2015, 863). Ihre Qualität wird nicht besonders hoch eingeschätzt, auch nicht von Arbeitgeber/-innen. Sowohl, was die Qualität der Infrastruktur anbelangt, als auch in Bezug auf die Qualität und Entlohnung des Personals und die Höhe der Studiengebühren rangieren sie unterhalb der staatlichen Hochschulen (ETF 2009, 64 f.). Sie kommen wohl am ehesten für leistungsschwächere Schüler/-innen infrage, denen der Zutritt zu den besseren staatlichen Hochschulen verwehrt geblieben ist und deren Eltern dort keinen Gebührenstudienplatz finanzieren können.

Želudenko und Sabitowa beziffern die Anzahl privater Hochschulen auf rund 200 (Želudenko/Sabitowa 2015, 863). Gemäß Hladchenko waren 2015/16 91 private Hochschulen gegenüber 197 öffentlichen zu verzeichnen. 2012/13 studierten rund 1 825 000 Studierende an öffentlichen und knapp 187 000 an privaten Hochschulen (Hladchenko 2016, 381). Nach anderer Quelle befanden sich 2013 21 % der ukrainischen Hochschulen unter privater Trägerschaft, 2015/16 waren 130 000 Studierende an 162 Privathochschulen eingeschrieben (SSC 2016; zit. in Rumyantseva/Logvynenko 2018, 413). In diesem Jahr teilt der ukrainische Statistikdienst eine Gesamtzahl der Studierenden von 1 375 200 mit, ausschließlich beruflicher Hochschulinstitutionen (SSC 1998–2019a), womit circa 10 % der eingeschriebenen Studierendenschaft private Einrichtungen besuchten.

Auch außerhalb des Hochschulsektors nahmen private Bildungseinrichtungen nach 1991 ihre Tätigkeit auf (Österman 2009, 9). Für sie gelten ebenfalls Auflagen, wenn sie das Recht erwerben möchten, anerkannte Bildungstitel zu vergeben. Dies heißt konkret, dass sie die staatlichen Anforderungen an die allgemeine Sekundarschulbildung erfüllen müssen. Es eröffneten sowohl private Grundschulen als auch Sekundarschulen. Meist handelt es sich bei Privatschulen jenseits des Hochschulsektors um Gymnasien oder Lyzeen, also Eliteschulen (Holowinsky 1995, 206 f.; Hellwig/Lipenkowa 2007, 814; Želudenko/Sabitowa 2015, 857, 866). Nur wenige Familien können es sich leisten, ihre Kinder auf diese Schulen zu schicken, die in der Regel weit besser ausgestattet sind als staatliche Schulen, was Personal und technisches Equipment angeht (Želudenko/Sabitowa 2015, 866). Im Statistischen Jahrbuch der Ukraine für das Jahr 2017 bzw. das Schuljahr 2017/18 stehen fast 200 privaten Sekundarschulen annähernd 16 000 öffentliche gegenüber. In den privaten Sekundarschulen wurden etwa 27 500 Schüler/-innen unterrichtet, an öffentlichen hingegen rund 3,8 Millionen (SSC 2018, 120). Damit lag der Anteil der Schüler/-innen an privaten Lehranstalten bei weniger als 1 %.

Zahlreiche ukrainische Schüler/-innen nehmen private Nachhilfe bzw. Zusatzunterricht in Anspruch, um ihre Chancen zu verbessern, in den Prüfungen am Ende der Oberstufe gut abzuschneiden und an einer angesehenen Hochschule zugelassen zu werden. Dies gilt insbesondere für Schüler/-innen mit einem Familienhintergrund, der durch gut ausgebildete Eltern mit „höheren“ Berufspositionen und guter finanzieller Ausstattung charakterisiert ist (Długosz 2016).

Die Zunahme der privaten Bildungsinstitutionen war zunächst eine Folge ihrer Legalisierung. Im Laufe der Zeit kann primär für den Hochschulsektor eine wichtige Rolle der privaten Einrichtungen festgestellt werden. Zu Beginn übernahmen sie eine wichtige Funktion, indem sie für die neuen Bedarfe der Wirtschaft ausbildeten, die aus den neuen Gegebenheiten der neu eingeführten Marktwirtschaft entstanden und auf die sich die etablierten staatlichen Hochschulen langsamer einstellten. Aktuell herrscht ein Überangebot an Graduierten eben dieser Disziplinen (vgl. zum Beispiel Rumyantseva/Logvynenko 2018, 429), sodass ihre Funktion mittlerweile der idealtypischen Funktion privater Bildungseinrichtungen entspricht, nämlich leistungsschwächere Schüler/-innen aufzunehmen und ihnen einen Hochschulabschluss zu ermöglichen. Allerdings fehlen in der Ukraine im Gegensatz zur idealtypischen Ausprägung Privathochschulen, denen es gelingt, sich ein größeres Prestige zu erarbeiten als die staatlichen Einrichtungen. Dies ist in geringem zahlenmäßigen Umfang lediglich bei privaten Sekundarschulen der Fall. Wie im idealtypischen Verlauf nutzen kapitalstarke, bildungsnahe Familien ihre Finanzkraft zur Förderung der Bildungskarrieren ihres Nachwuchses durch Nachhilfestunden.

F.:

Ausdifferenzierung des post-sekundären bzw. tertiären Sektors

Einige der kennzeichnenden Eigenschaften der Diversität von Bildungseinrichtungen und Bildungsgängen des ukrainischen Bildungswesens (und auch anderer mittel- und osteuropäischer Staaten) stammen noch aus UdSSR-Zeiten. So bestimmt die Gesamtschulform die reguläre Sekundarstufe I, während sich die Sekundarstufe II in zahlreiche Äste aufgabelt und als hochstratifiziert bezeichnet werden kann (Kogan et al. 2012, 70). Damit fand die Diversifizierung schon relativ früh statt. Entscheidender Unterschied zur Sowjetunion ist aktuell, dass damals die Verästelung unter anderem Folge der Anwendung des qualifikatorischen Prinzips war, das horizontal hinsichtlich spezifischer Berufsvorbereitung differenzierte (vgl. Noelke/Müller 2011, 16 f., 24, 27), auch wenn bereits in den 1970er Jahren eine vertikale Differenzierung in gewissem Maße vorhanden war (Braun/Glowka 1975, 45 f.; vgl. auch Anweiler et al. 1976, 8). Die heutige Verzweigung der Sekundarstufe II ist in der Ukraine großteils der Begabtenförderung vorbehalten, wie wir oben gesehen haben, und dient damit eher der Differenzierung nach Leistungsfähigkeit. Aus ihr ergibt sich eine vertikale Rangfolge der Arten von Lehranstalten auf dieser Ebene, indem sich die Talentschulen von den regulären absetzen. Hier wird weniger die berufsorientierte, qualifikatorische Logik eingesetzt, sondern eher die meritokratische. Dies gilt insbesondere, da die berufliche Bildung, die in der Regel fachlich differenziert, insgesamt eine untergeordnete Rolle spielt. Die European Training Foundation spricht klar von elitären, nach unten abgrenzenden Intentionen, einer frühen Selektion und staatlicher Elitenförderung:

Since independence, new forms of secondary education institutions (gymnasium, lyceum, collegium, etc.) have appeared, in which the focus on elitism is explicitly spelled out and admission to which is based on entrance examinations. Early selection examinations exacerbate social inequalities and exclusion, magnifying the effects of socioeconomic status on learning outcomes. […] Both, comprehensive and elite upper secondary schools are financed via state funds, but financial allocations are higher for elite schools. (ETF 2009, 62)

Alles in allem verfügt die Ukraine im internationalen Vergleich über eine in Relation zur Bevölkerungszahl sehr hohe Anzahl an Hochschulen (Shevchenko 2008, o. S.). Feststeht, dass die Diversifizierung des Hochschulsektors eine Entwicklung darstellt, die in den meisten ost- und mitteleuropäischen Staaten der ehemaligen Sowjetunion stattgefunden hat. Gründe waren die Neuerrichtung von praktischer orientierten Hochschulen und die strukturelle Umgestaltung, bei der bestimmte Institutionen aufgewertet wurden, indem man sie höher einstufte (Kogan 2008, 22; vgl. auch Kogan 2012, 701). Überdies gab es in der Sowjetunion traditionell auf bestimmte Disziplinen spezialisierte Hochschulinstitutionen, die ein sehr enges Studienportfolio anboten. Daher war bereits eine recht große Zahl an Hochschuleinrichtungen vorhanden, als die Ukraine in die Unabhängigkeit aufbrach (Zimmermann 2017, 15). Mit dem Hochschulbildungsgesetz aus dem Jahr 2002 erhielten berufliche spezialisierte Sekundarschulen Hochschulstatus (auf den damaligen unteren Hochschulniveaus I und II), sodass eine Vermischung von akademischer und beruflicher Bildung zu verzeichnen war. Neben einer dadurch abgebildeten horizontalen Differenzierung entstand eine vertikale Status- und Prestigehierarchie der Hochschulen, die insgesamt vier verschiedene Qualifikationsniveaus bediente. Die nicht nur formale, sondern auch real höhere Wertschätzung der Hochschuleinrichtungen auf den höchsten Qualifikationsstufen III und IV lässt sich unter anderem an den Studierendenzahlen dieser Institutionen ablesen, die jene der Lehranstalten der Hochschulniveaus I und II weit überflügelten, obwohl weitaus mehr Hochschuleinrichtungen auf den unteren Ebenen vorhanden waren. Die Diversifizierung des Hochschulsektors betraf nicht nur die Anzahl und Niveaustufen der Institutionen, sondern auch die Anzahl und Niveaus der Bildungstitel (Rumyantseva/Logvynenko 2018, 414 f.). Korrekturen bzw. Anpassungen an EU-europäische Standards aus der jüngeren Vergangenheit (Rumyantseva/Logvynenko 2018, 429) mündeten in eine neuerliche Trennung beruflicher und akademischer Bildungsgänge, indem die „höheren“ beruflichen Schulen in den neuen „vorhochschulischen“ Sektor platziert wurden, wodurch allgemeiner bzw. akademischer Bildung ausdrücklich ein formal höherer Status eingeräumt wurde (s. hierzu Abschnitt 4.1.3). Den von der Sowjetunion übernommenen Spezialist/-innen-Titel strich man aus dem Programm, dafür nahm man den Junior-Bachelor auf (Del Carpio et al. 2017, 90).

Die befragten Expertengruppen geben verschiedene Aspekte wieder, was die Bedeutung des vorhochschulischen Bereichs anbelangt. Er übernimmt eine wichtige Funktion bei der Berufs- und Karriereplanung (361K), bildet eine Brücke zwischen der beruflichen Bildung und dem Hochschulsektor (361N) und bietet den Lernenden die Möglichkeit, berufliche Fachrichtungen kennenzulernen und eventuell nach Abschluss noch ein Studium anzuhängen (361K). Bestimmte Berufe erfordern keinen Hochschulabschluss und für solche Berufe kann der Vorhochschulsektor eine wichtige Rolle zwischen Berufsbildung und Hochschulbildung einnehmen (361N). Aktuell sind in diesem Segment noch einige Änderungen im Gange. Die Akzeptanz bei den Arbeitgeber/-innen ist begrenzt, da viele die vorhochschulische Bildung als redundanten Bildungssektor ansehen (361D). Während eine Expertengruppe überzeugt ist, dass der Stoff im vorhochschulischen Sektor nicht schwierig zu lernen sei (362N), schätzt eine andere ihn als schwierig, aber zu bewältigen ein (362K). Eine differenziertere Sicht bietet diesbezüglich die dritte Gruppe an. Sie bezeichnet den Inhalt grundsätzlich als breit gefächert. Wie schwierig der Stoff sei, hänge demnach von der Vorbildung ab (362D). Unter den emsigen Schüler/-innen nimmt die Beliebtheit des vorhochschulischen Bereichs zu, da Eltern davon ausgehen, dass er eine bessere Sekundarbildung und berufliche Bildung vermittle als schlecht angesehene allgemeine Sekundarschulen. Sie wählen Bildungsgänge des vorhochschulischen Sektors, um die Hochschulreife zu erlangen:

Due to the emergence of professional disciplines, the level of interest in learning among diligent students usually increases. Quite a large number of young students and their parents believe that pre-university education institutions provide better secondary and vocational education than low-ranking general secondary schools. Therefore, in order to obtain a complete secondary education, they prefer institutions of professional pre-university education. (362D)

Alle Expertengruppen sind sich einig darin, dass der vorhochschulische Bereich mit tätigkeitsbezogenen Inhalten aus der Wirtschaft verbunden ist (363D; 363K; 363N). Dies wird damit begründet, dass Absolvent/-innen fähig gemacht würden, in ihrer beruflichen Fachrichtung zu arbeiten (363K). Gleichzeitig wird die theoretische Basis für ein anschließendes Studium gelegt (363N). Diese Option wählen zahlreiche Studierende vorhochschulischer Bildungsgänge. Sie sehen letztere als Durchgangsstation:

For ambitious graduates the education does not end in the professional pre-university institutions. A significant part of graduates of professional pre-university institutions enter higher education institutions for further bachelor's and master's degrees […]. (363D)

Ein anschließendes Studium wird als notwendig erachtet, sollte jemand Karriere machen wollen (363K).

Es ist schwierig, die Motivation hinter den einzelnen Bildungsreformen der letzten beiden Jahrzehnte zu bestimmen, da unterschiedliche Interessenlagen, Werthaltungen und politische Bestrebungen eine Gemengelage ergeben, worin die einzelnen Bestandteile schwerlich zu erkennen bzw. trennen sind. Folgende Aspekte lassen sich hinsichtlich des Vergleichs zwischen Real- und Idealtypus festhalten: Im Zuge der post-sowjetischen Bildungsexpansion nach der Lockerung der Zugangsbeschränkungen zu den Hochschulen entstanden in der Ukraine reichlich neue Bildungseinrichtungen unterschiedlicher Bildungsniveaus. Sie füllten nicht nur den Zwischenraum zwischen der Eliten- und der Massenbildung, wie im Idealtypus, sondern schufen in der Sekundarstufe II auch neue Elitenschulen, die im Idealtypus zeitlich bereits früher vorhanden waren. Dadurch holte die Ukraine gleichzeitig eine meritokratische Entwicklung nach und trieb ihren Fortschritt parallel zum idealtypischen Verlauf voran. Die idealtypische Implementierung technischer Schulen zwischen der Sekundar- und der Hochschulbildung ist mit der Einführung der mittleren beruflich-technischen Schulen mit Doppelabschluss in der Stabilisierungsphase des sowjetischen Bildungssystems vergleichbar. Die Schulzeit bis zum Abitur war damals kürzer als in Westeuropa und ein Studieneintritt erfolgte früher. In der UkrSSR dauerte die Sekundarschulzeit nach Fimyar bis zum Abschluss der zehnten Klasse im Alter von 16 Jahren (Fimyar 2008, 578). Daher übernahmen diese Schulen eine ähnliche Funktion wie die idealtypischen technischen Schulen des post-sekundären Bereichs (s. hierzu Abschnitt 4.1.2.4). Durch die Aufwertung eines Teils der beruflichen Schulen zu Hochschulinstitutionen fand eine neuerliche Diversifizierung statt, die ebenfalls jener der Gründung technischer, post-sekundärer Schulen im Idealtypus ähnelt. Diese Einrichtungen gehörten eine Zeit lang zum Hochschulsektor, aktuell zum „vorhochschulischen“ Sektor, der prinzipiell dem post-sekundären entspricht, wodurch rückwirkend eine stärkere Trennung zwischen beruflicher und allgemeiner bzw. akademischer Bildung mit klarer hierarchischer Zuordnung umgesetzt wurde. Die Einführung der „vorhochschulischen“ Bildung kann ebenfalls mit der idealtypischen Implementierung technischer Schulen zwischen der Sekundar- und der Hochschulbildung verglichen werden. Da in der Ukraine Mathematik und auch Physik als sehr wichtig angesehen werden (11D; 13D; 13K; 13N; 371D; 372D), lässt sich die Vermutung äußern, dass auch hier der Technik eine ähnliche Bedeutung zukommt wie im Idealtypus, wo der Technikbegriff kompatibel mit der allgemeinen Leistungsfähigkeitsdefinition ist, die in erster Linie abstrakte, wissenschaftsorientierte Leistung würdigt. Als Spezifikum des ukrainischen Realtypus lässt sich anführen, dass sich abzeichnet, dass der „vorhochschulische“ Bereich mit anderen Schulen in Konkurrenz tritt, die die Hochschulreife vermitteln, also mit den eigentlich weiter unten angesiedelten Sekundarschulen.

Im Hochschulbereich sind angesichts der überbordenden Diversität und Anzahl an Hochschulen seit einigen Jahren durch die Teilnahme am Bologna-Prozess und die Pläne zur Neuen Ukrainischen Schule Bemühungen um die Einebnung von Differenzen zu beobachten. Sie soll durch eine Angleichung an EU-Standards, eine generelle Standardisierung und eine Reduktion der Hochschulzahl durch Maßnahmen der Regierung realisiert werden (vgl. zum Beispiel Küchler et al. 2011, 5; Kooperation inter-national 2012; 2020b).

G.:

Strukturen des Bildungssystems aus Phase 3 (Spalte 1):

Einige Strukturmerkmale des ukrainischen Bildungssystems ähneln bereits solchen, die idealtypisch unter der Phase 3 vermerkt sind. So existierte, wie bereits oben erwähnt, mit dem Junior-Spezialisten bzw. der Junior-Spezialistin schon lange ein „höherer“ beruflich orientierter Abschluss, der mit einem Fachhochschulabschluss vergleichbar ist (vgl. ENIC Ukraine 2019). Planmäßig sollen laut ENIC Ukraine die letzten Junior-Spezialist/-innen 2019 zugelassen werden (ENIC Ukraine 2019). Im Anschluss gehört dieser Abschluss nicht mehr zum Hochschulzyklus. Neu eingeführt wird im Rahmen der Umsetzung der Pläne zur Neuen Ukrainischen Schule ein Junior-Bachelor, der auf der ersten Qualifikationsstufe der Hochschulbildung, unterhalb des Bachelors, angesiedelt ist (Del Carpio et al. 2017, 90; ENIC Ukraine 2019) und sich in der Namensgebung an genuin allgemeineren, akademischen Bildungsabschlüssen orientiert. In diesen Entwicklungszusammenhang gehört auch die Streichung des hochschulischen Spezialistenabschlusses, der verglichen mit dem Master anwendungsorientierter ausgerichtet war (Makogon/Orekhova 2007, 6).

Im Gegensatz zum Idealtypus verläuft dieser Prozess in der Ukraine also in umgekehrter Richtung. Die Zuordnung von Abschlüssen wurde in der Ukraine nach sowjetischem Vorbild anders gehandhabt, sodass berufliche und allgemeine sowie akademische Bildung stärker vermischt wurden. Die Ukraine verfügte mit dem Junior-Spezialisten bzw. der Junior-Spezialistin und dem Spezialisten bzw. der Spezialistin (Gesetz über die Hochschulbildung der Ukraine, 2002, Abschnitt 2, Artikel 6) schon seit 2002 über hochschulische berufliche Abschlüsse. Genau genommen existierten vergleichbare Bildungsgänge bedeutend länger, denn diese Abschlüsse beruhten auf der traditionellen Logik der sowjetischen Hierarchie der Bildungseinrichtungen. Weil in der unabhängigen Ukraine im Unterschied zur UdSSR einzelne Bildungsinstitutionen unterschiedliche Abschlüsse verleihen dürfen, entstand ein Bedarf an solchen Titeln (vgl. Raimondos-Møller 2009, 15). Während der Junior-Spezialistenabschluss durch den Junior-Bachelorabschluss ersetzt wird, geht der Spezialistenabschluss im Masterabschluss auf. Inwiefern der Junior-Bachelor als Qualifizierungsstufe vor dem Bachelor mehr berufspraktisch oder allgemein ausgerichtet wird, hängt von den einzelnen Anbieter/-innen ab, die berechtigt sind, über das Ausmaß beider Arten von Bildung innerhalb der Studiengänge selbst zu bestimmen (ENIC Ukraine o. J.a; 2019).

Diese Entwicklung ist in Zusammenhang mit der Teilnahme am Bologna-Prozess und der damit verbundenen Angleichung an den Europäischen Bildungsraum zu sehen. Im idealtypischen Ablauf wird im Unterschied dazu die berufliche Bildung nach oben erweitert, indem neue Abschlüsse, die es zuvor nicht gab, entwickelt werden. In der Ukraine separiert man aktuell stärker als zuvor zwischen beruflicher und allgemeiner bzw. akademischer Bildung, verzichtet aber nicht auf Anschlüsse der beruflichen Bildung an die allgemeine bzw. akademische. Zudem erfolgte eine Umbenennung bestimmter beruflicher Bildungseinrichtungen und man gewährte ihnen das Recht, Hochschulabschlüsse zu vergeben, um eine höhere Qualität der Bildungsgänge zu signalisieren (Raimondos-Møller 2009, 15), wodurch eine formale und namentliche Gleichstellung mit Hochschulabschlüssen anderer Hochschulen erfolgte.

Der Selbstschutz von „höheren“ allgemeinbildenden Schulen durch Zulassungsprüfungen, wie er im Idealtypus stattfindet, ist in der Ukraine auf Oberstufenniveau präsent. Im tertiären akademischen Bereich entfällt dieses Vorgehen aufgrund der Abhängigkeit der Bildungsinstitutionen von zahlenden Studierenden und hohen Studierendenzahlen (s. oben Abschnitt über Selektivität). Besonders begehrte Masterstudiengänge setzen bei der Zulassung zentrale unabhängige Tests ein (s. hierzu Abschnitt 4.2.3.1 C) und können ihren Status wahren, obwohl in manchen dieser Bereiche längst eine Überproduktion herrscht, insbesondere, was Jura und Ökonomie betrifft (s. hierzu Abschnitt 4.2.3.2 D). Als Endergebnis entstehen in der Ukraine Strukturen, die sich in Richtung der idealtypischen Ausprägung bewegen.

Aufgrund des Mangels an ausreichend qualifizierten und kompetenten Spezialist/-innen entwickelte sich der Trend, dass Unternehmen eigene Trainingszentren aufbauen und ihr Personal selbst ausbilden. Alleine in der Metallurgiebranche verfügen 80 Betriebe zusammen über mittlerweile 16 Ausbildungszentren (Akademien und Institute), an denen für über 450 Berufe ausgebildet wird. In erster Linie werden individuelle, praxisbezogene Ausbildungsprogramme durchgeführt (Prytomanov et al. 2018, 241). Hellwig und Lipenkova bezeichnen es als reguläre Praxis, dass Firmen in der Ukraine ihr Angestellten am Arbeitsplatz ausbilden (Training on the Job), teilweise ergänzt durch individuell zugeschnittene Lehreinheiten privater Anbieter/-innen. Hinzu kommen Angebote westlicher Institutionen und Organisationen (Hellwig/Lipenkowa 2007, 809). Dies entspricht idealtypischen Tendenzen der dritten Phase.

Zur Förderung der beruflichen Bildung gehört im ukrainischen Realtypus die Einführung des dualen Systems. Es bleibt abzuwarten, ob es sich als Möglichkeit für im allgemeinen Schulbereich Leistungsschwächere entwickelt, einen Bildungstitel zu erlangen, oder als echte Alternative für leistungsstärkere Schüler/-innen. Das geringe Ansehen der beruflichen Bildung im Allgemeinen macht Letzteres unwahrscheinlich. Wenn die neuen bzw. verbesserten Programme, wie das duale System, keinen Zulauf erfahren, wird es der beruflichen Bildung weiterhin an Relevanz fehlen (vgl. zum Beispiel Melnyk 2020, 12; Friedman/Trines 2019). Nach der langen Zeit der Vernachlässigung der beruflichen Bildung und der Fokussierung auf ihre soziale Funktion scheinen die Schritte zur Steigerung der Attraktivität der beruflichen Bildung (s. hierzu Abschnitt 4.1.3) reichlich spät zu kommen.

4.2.3.2 Funktionen der beruflichen und allgemeinen bzw. akademischen Bildung

A. :

Relativ enge, aber allgemeine Definition guter Leistung; allgemeine Bildung als maßgeblich für allgemeine Leistungsfähigkeit; allgemeine Bildung übernimmt Selektionsfunktion; allgemeine Leistungsfähigkeit als maßgeblich für Zugang zur „höheren“ Bildung

Hinsichtlich der ukrainischen Leistungsdefinition wurden die befragten Expert/-innen gebeten, ihre Einschätzungen abzugeben. Sie machen kaum einen Unterschied zwischen kulturell wertgeschätzten Arten von Wissen und im Bildungssystem wichtigen Fächern. Eine der befragten Expertengruppen unterstreicht die Interdisziplinarität als in der ukrainischen Kultur von großer Wichtigkeit und Wertigkeit (371D). Die beiden anderen Expertengruppen heben die Bedeutung „humanistischer“ Fächer hervor (zum Beispiel Ukrainisch und Fremdsprachen, Geschichte, Philosophie, Sozialwissenschaften, Kulturwissenschaften, Religionswissenschaft, Psychologie) (371K; 371N; 372D; 372K), gerade auch im Rahmen der „Humanisierung“ technischer und naturwissenschaftlicher Studien (371K). Auch Themen des alltäglichen Lebens („empirical knowledge“, 372D) und körperliches Training sind wichtig (371K). Historisch und kulturell werden herausragende Leistungen in Mathematik und Physik besonders geachtet: „Historically and culturally, in Ukraine the idea of special achievements in physics and mathematics is the most significant“ (371D). „Humanitäre“ und „wissenschaftliche“ Komponenten werden nach ihrer Wertigkeit im Bildungssystem als ebenbürtig verstanden: „Both types of knowledge (humanitarian and scientific components) are equally important“ (372N). Letztlich hängt die Bedeutung von bestimmten Arten von Wissen bzw. Fächern von der Spezialisierungsrichtung ab (371K) und davon, inwiefern der vermittelte Inhalt die berufliche Kompetenz steigert (372N). Gefragt nach dem traditionellen ukrainischen Bildungsideal geben die befragten Expert/-innen an, dass die erlangten Kompetenzen und die erreichte Position übereinstimmen (41D; 41K) und eine gute Balance zwischen praktischen Fertigkeiten und theoretischem Wissen gegeben sein muss (41D; 41K). Im kulturellen Gedächtnis ist „wahre“ Bildung praktische Bildung, was mit der ukrainischen Geschichte begründet wird, die dazu geführt hat, dass praktisch orientierte Fachrichtungen die Hauptkomponenten der Wirtschaft ausmachen: „Cultural sense of citizens: real education is practical education (due to historical formation of Ukrainian state which led to development of practical oriented specialties as main components of economy)“ (41D). Aktuell verstehen die Bürger/-innen nach Aussage einer Expertengruppe mehr und mehr, wie wichtig lebenslanges Lernen ist, inklusive praktischem Wissen, allgemeinem theoretischem Wissen und Management-Wissen (41D). Junge Menschen erwarten vom Bildungssystem, auf das Berufsleben vorbereitet zu werden:

The younger generation focus on the practical experience of the professional training, as a rule they become disappointed by the educational system in the third year of study and this leads to their reluctance to continue training to receive Bachelor’s or Master’s degree. (41N)

Die Aussagen der Expert/-innen deuten darauf hin, dass die Fähigkeit, gesteckte Ziele zu erreichen, in der ukrainischen Kultur als entscheidend begriffen wird und einen überragenden Stellenwert besitzt (vgl. 42D; 42K; 42N). Als leistungsfähig werden Individuen angesehen, die in der Lage sind, ihre Aufgaben im Beruf zu erfüllen: „In addition to the physical diploma, the specialist must demonstrate the necessary knowledge, skills and abilities in accordance with the job responsibilities“ (44K; vgl. auch 44D). Hierfür werden folgende Fähigkeiten als entscheiden angegeben: Planungskompetenz und Organisationsfähigkeit (44D; 44N); Flexibilität und Kreativität, um Lösungswege zu finden (44N).

Wie in anderen post-sowjetischen Ländern bewegte man sich in der Ukraine aus historischer Perspektive im Bildungssystem weg von der beruflichen Bildung und hin zur Allgemeinbildung. Die Gründe hierfür sind vielfältig: Gesellschaftlich erfährt berufliche Bildung nicht dieselbe Anerkennung wie allgemeine Bildung; die seit der UdSSR-Zeit übliche enge Spezialisierung verlor an wirtschaftlicher Relevanz und man folgte dem Trend, sich auf Schlüsselkompetenzen zu konzentrieren, während anhaltende Unsicherheit über zukünftige Arbeitsmarktbedarfe herrscht (Farla 2000, 19). Bildung wird in erster Linie anerkannt, wenn sie akademischer Natur ist (GIZ 2018, 69). Die Geringschätzung beruflicher Sekundarbildung stammt noch aus der Zeit der Sowjetunion, sodass die Umwandlung von beruflichen Schulen in quasi-allgemeinbildende Schulen nach dem Verlust der Verbindungen der beruflichen Bildungseinrichtungen zur Wirtschaft bei Schülerschaft, Elternschaft und Regierung kaum auf Widerstand stieß (Roberts et al. 2000, 129).

Betrachtet man die Curricula ukrainischer Gesamtschulen, so fällt auf, dass in ukrainischsprachigen Schulen circa die Hälfte der Fächer auf den Komplex Sprache (Ukrainisch, Muttersprachunterricht, Fremdsprachen), Literatur, Geschichte und Geographie entfällt sowie bei anderssprachigen Schulen mehr als die Hälfte. Diese Fächer dienen der Nationsbildung durch Schulbildung, die in der Ukraine seit der Unabhängigkeit großen Stellenwert besitzt (Janmaat 2008, 1, 9 f.). Dies spiegelt sich ebenfalls in der Bestimmung der Fächer wider, in denen die Schüler/-innen in der staatlichen Abschlussprüfung der Sekundarschule getestet werden: Ukrainische Sprache und Literatur, Ukrainische Geschichte (allgemeinbildendes Profil ohne Spezialisierung) oder ein Hauptfach (spezialisierte Profile) plus ein Fach aus dem obligatorischen Bereich nach Wahl des Schülers bzw. der Schülerin. Der EIT testet die Abiturient/-innen in einem oder mehreren Fächern, die für die Einschreibung an einer Hochschule in einem bestimmten Studiengang verlangt werden. Die Ergebnisse des EIT werden als Aufnahmeprüfungsresultate gewertet (ENIC Ukraine o. J.c; Friedman/Trines 2019). Im Rahmen eines obligatorischen Fächerkanons setzt sich diese Art der Bildung an den Hochschulen fort. Man ersetzte den in der UdSSR für die Vermittlung der Sowjet-Ideologie reservierten Fächerblock durch geistes- und sozialwissenschaftliche Disziplinen. Ein Teil dieses Blocks, namentlich Geschichte der Ukraine, Business-Ukrainisch sowie Ukrainische und fremde Kulturen, setzt die nationsbildende Erziehung fort (Janmaat 2008, 15; vgl. auch Tomiak 2006, 36; Braun et al. 2019, 247).

Die Studienprogramme der Hochschulen entstammen den Federn von Funktionär/-innen der Universitätsverwaltungen und unterliegen kaum dem Einfluss von Arbeitgeber/-innen. Lediglich die Hälfte der Curricula, die im Endeffekt der Ausbildung von Spezialist/-innen für den Arbeitsmarkt dienen, sind Kurse, die dem gewählten Studienfach entsprechen. Allgemeine Disziplinen füllen die andere Hälfte (Bastedo et al. 2009, 15). Sie besteht aus dem oben erwähnten verpflichtenden Fächerblock, der neben den Disziplinen der ukrainischen Nationsbildung Philosophie, Prinzipien der Psychologie und der Pädagogik, Theologie und Politikwissenschaften, Soziologie, Rechtsprinzipien, Prinzipien des Verfassungsrechts, eine Fremdsprache sowie Sport enthält (Janmaat 2008, 15).

In der Ukraine zählt dem Sprachgebrauch nach auch der Hochschulsektor zur beruflichen Bildung. Dies lässt sich auch daran ablesen, dass ein Hochschulabschluss, wie Kremen und Nikolajenko erklären, eine zweifache Funktion hat. Erstens zertifiziert er das Bildungsniveau und zweitens dient er als Ausweis einer beruflichen Qualifikation. Auf dem Papier sind Hochschulabschlüsse an die Bedarfe der nationalen und internationalen Arbeitsmärkte angepasst (Kremen/Nikolajenko 2006, 26). Hochschulbildung wird im ukrainischen Hochschulbildungsgesetz von 2017 unter anderem als eine Kombination aus systematisiertem Wissen und praktischen Fähigkeiten definiert (MES 2017–2019a). Dementgegen lag in der Wirklichkeit der Fokus bislang eindeutig auf der Theorie, wie oben schon angedeutet. So monieren nicht nur Student/-innen, sondern auch Arbeitgeber/-innen die Praxisferne der Hochschulen (Del Carpio et al. 2017, 17; Zimmermann 2017, 11). Man spricht von einer Überbetonung von Faktenwissen im ukrainischen Bildungswesen (Zon 2001, 79; Hellwig/Lipenkowa 2007, 822). Hochschuldidaktisch favorisiert man Lehrmethoden, die den Studierenden als passiven Lernern Wissen vermitteln, wobei Faktenwissen und „richtige Antworten“ gefragt sind (Bastedo et al. 2009, 16; Toropova 2012, 123 f.; vgl. auch Sovsun 2017, 6). Eine gängige Praxis für die Feststellung des Lernerfolgs während des Studiums besteht darin, Mitschriebe von Vorlesungen zu bewerten (Sovsun 2017, 6). Es geht im Kern der Hochschulbildung um Wissenserwerb, der losgelöst von gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Realitäten erfolgt (ETF 2017c, 4). Laut ETF bringt das ukrainische Bildungssystem keine praktischen Fähigkeiten bei den Absolvent/-innen hervor: „The Ukrainian educational system is biased towards humanities and so is unable to satisfy the increasing needs of the labour market in terms of engineers and other technical specialists“ (ETF 2009, 64). Gorobets bestätigt den Mangel an Praxisorientierung, ausdrücklich auch in angewandten Fächern wie Volks- und Betriebswirtschaft, dem eine tiefgehende theoretische Ausbildung gegenübersteht, die vom sowjetischen Bildungssystem geerbt wurde (Gorobets 2008, 98; vgl. auch Filiatreau 2011, 51 f.). Lehrveranstaltungen mit Titeln, die sie als praxisnah erscheinen lassen, sind in der Wirklichkeit häufig theoretisch (vgl. zum Beispiel Hertsyuk et al. 2018, 191).

Weitere Bestandteile der Hochschulbildung sind laut Hochschulbildungsgesetz 2017:

ways of thinking, professional, world-view and civic qualities, moral and ethical values, other competencies acquired in a higher education institution (research institution) in a relevant subject area towards a particular qualification at higher education levels which, in terms of their complexity, are higher than the level of complete general secondary education. (MES 2017–2019a)

Für die Ukraine kann aufgrund der recht großen Diversifizierung der Sekundarstufe II eine relativ große Offenheit für spezifische Leistungsfähigkeit konstatiert werden. Ganz bewusst können sich Schüler/-innen im Hinblick auf die Karriereplanung bereits in der Oberstufe vertieftes Wissen in bestimmten Fächern aneignen und sich so gezielt auf die Hochschulaufnahmeprüfungen vorbereiten, bei denen die fakultativen Prüfungsfächer vom gewählten Studienfach abhängen. Der UNESCO zufolge haben Gymnasiasten bei den EIT bessere Erfolgschancen als andere Teilnehmer/-innen (UNESCO 2008, o. S.). Wer eine der Talentschulen besucht, hat ebenfalls mehr Chancen, einen sehr guten EIT abzuliefern. Insbesondere gilt dies für die Mathematik, die für nachgefragte Studiengänge getestet wird und als eines der schwersten EIT-Fächer bekannt ist (Gresham/Ambasz 2019, 8 f.).

Die Spezialisierungsrichtung zählt aber nur bedingt: Bei der Zulassung reichen Bewerber/-innen ihre Dokumente für sehr unterschiedliche Studiengänge ein (41N). Arbeitgeber/-innen testen oft selbst die Kompetenzen der Bewerber/-innen und verlassen sich nicht auf Bildungszertifikate (43D; 43K; 44D; 310K). Sie setzen auf Praxiserfahrung, nicht auf Noten der Hochschulzertifikate (310D; 310N, 310K). Letztlich ist vor allem wichtig, überhaupt ein Hochschulzertifikat zu besitzen.

Im Vergleich zu den idealtypischen Ausprägungen ergibt sich für die Ukraine folgendes Bild: Der ukrainische Realtypus ist wie der Idealtypus von einer allgemeinen Definition von guter Leistung gekennzeichnet, was sich in recht allgemeinen Curricula und eher allgemein orientierten Prüfungsfächern äußert und auf Faktenwissen basiert. Spezifisch ist für die Ukraine die Betonung von Fächern und Inhalten zur Ausbildung einer nationalen Identität und die relative Offenheit für die vertiefte Beschäftigung mit bestimmten Fächern, was eine gewisse Breite bzw. Flexibilität der Leistungsdefinition bewirkt. Es sind wie im Idealtypus hauptsächlich allgemeine bzw. akademische Bildungszertifikate, die in der Ukraine den vom Bildungssystem ausgestellten Ausweis der Leistungsfähigkeit von Individuen darstellen. Gründe dafür sind, dass die berufliche Bildung als Bildung für sozial benachteiligte Gruppen verstanden wird (vgl. zum Beispiel Suprun et al. 2012, 18) und Studienprogramme durch die verpflichtenden Fächerblöcke und die Betonung der „Humanität“ von Bildung viel Allgemeinbildung beinhalten und theorielastig sind. Somit ist Leistungsfähigkeit vor allem allgemeine Leistungsfähigkeit, die sich in der Fähigkeit äußert, Wissen widerzugeben. Jedoch gelten Bildungszertifikate, anders als im Idealtypus, in der Gesellschaft nur bedingt als Nachweise der allgemeinen Leistungsfähigkeit und nicht als Nachweis der beruflichen Leistungsfähigkeit, die davon unterschieden wird (vgl. 43D; 43K; 43N; 382D; 310K).

Aufgrund der Verallgemeinerung der Sekundarschulen (s. Abschnitt 4.2.3.1 B) übernimmt die allgemeine Bildung die Selektionsfunktion, insofern das Bildungswesen dieser in der Ukraine überhaupt gerecht wird, denn wie gesehen wird an den Hochschulen selbst kaum selektiert und circa 80 % der Abgänger/-innen der Sekundarschulen erhalten einen Studienplatz (Libanova et al. 2013, 40). Damit steigt der Druck auf die jungen Erwachsenen, als Voraussetzung für eine gute Karriere einen Hochschulabschluss zu erzielen (vgl. Libanova et al. 2013, 38). Bei der Auswahl der Studierenden spielt Allgemeinbildung, insbesondere „Ukrainebildung“ und Mathematik, die dominierende Rolle.

Das Bildungssystem spiegelt nur in Teilen die kulturelle Definition von Leistungsfähigkeit in der Ukraine wider, wie sie die Expertengruppen umschreiben. Sie beinhaltet demnach einen klaren Praxisbezug und unterstreicht eine Ausgewogenheit zwischen Theorie und Praxis. Lebensnahe Aspekte spielen eine wichtige Rolle, die auch im Hochschulgesetz sichtbar werden. Allerdings muss darauf hingewiesen werden, dass aus den Antworten der Expert/-innen nicht immer hervorgeht, was eigene Meinungen der Expert/-innen sind (und nicht unbedingt kulturelle Werthaltungen) und wie reflektiert sie dieses Thema hinsichtlich dessen betrachten, inwiefern sich Papiere und Realität unterscheiden.

Wichtiger als Leistung scheint die Fähigkeit zu sein, Ziele zu erreichen. Hervorgehoben wird außerdem, dass erlangte Kompetenzen mit erreichten Positionen in Einklang stehen sollten.

B.:

Selektionsfunktion gewinnt an Bedeutung und verdrängt Qualifikationsfunktion

Durch die Art der Bildungsplanung in der UdSSR, die abhängig von den prognostizierten Bedarfen am Arbeitsmarkt der Planwirtschaft durchgeführt wurde (Feiler 2014, 15), kam der Qualifikationsfunktion große Bedeutung zu. Es wurde für bestimmte Arbeitsplätze ausgebildet, sowohl hinsichtlich der inhaltlichen als auch der zahlenmäßigen Dimension. Die Selektionsfunktion nahm mit der schleichenden Hinwendung zum Leistungsprinzip und den wachsenden Bildungsaspirationen der Jugend zu. Dies ging, wie in Abschnitt 4.2.3.1 B erklärt, mit der Verallgemeinerung der Mittelschule zur Stärkung ihrer studienvorbereitenden Funktion und der Schaffung von Spezialisierungsoptionen einher, die eine Abweichung vom Gleichheitsprinzip bedeutete.

In der unabhängigen Ukraine hat das Bildungssystem seine berufsqualifizierende Funktion weitgehend verloren. Zum einen durchlaufen nur wenige Schüler/-innen die berufliche Bildung (Farla 2000, 22; SSC 2018, 124; Abbildung 4.4) – und diese sind in aller Regel nicht gerade als leistungsstark und motiviert einzustufen (Farla 2000, 24 f.). Zum anderen hat das Bildungssystem den Bezug zur Beschäftigungswelt verloren (vgl. zum Beispiel Kogan 2008, 62). Die Ursachen hierfür sind vielfältig. Sowohl in der Hochschulbildung als auch in der beruflichen Bildung mangelt es an Aktualität der vermittelten Inhalte und an moderner Ausstattung, um Kompetenzen für die Bedarfe am Arbeitsmarkt auszubilden (Hellwig/Lipenkowa 2007, 824; Shevchenko 2008, o. S.; Zinser 2015, 691; Del Carpio et al. 2017, 91; Sovsun 2017, 6; Friedman/Trines 2019). Die Verbindungen zu Unternehmen, früher eine Stärke des sowjetischen Bildungssystems, büßte man zu Beginn der Unabhängigkeit mit dem Übergang zur privatisierten Marktwirtschaft ein (Roberts et al. 2000, 129; Zinser 2015, 688). Hochschulen erfahren im Gegensatz zur beruflichen Bildung viel Zuspruch (SSC 2018, 117, 124, 129; Abbildung 4.3; Abbildung 4.4). Sie konzentrieren sich in der Lehre jedoch auf allgemeine, theoretische Inhalte und sind nicht in der Lage, die benötigten Kompetenzen hervorzubringen, auch nicht in dem Namen nach anwendungsorientierten Studiengängen. Dem kulturellen Bildungsverständnis nach sollten Theorie und Praxis jedoch sehr wohl ausgewogen sein und besitzt das Bildungssystem prinzipiell die Aufgabe, für Berufe vorzubereiten (s. hierzu Abschnitt 4.2.3.2 A).

Das Bildungssystem des ukrainischen Realtypus verfügt wie der Idealtypus nicht über eine funktionierende Qualifizierung für das Beschäftigungswesen, weder in der beruflichen noch in der akademischen Bildung. Es gibt hierfür unterschiedliche Gründe, die nicht alle auf die Ausübung der Selektionsfunktion zurückzuführen sind.

Wie wir oben gezeigt haben, ist eine gewisse Selektivität im ukrainischen Bildungssystem vorhanden, die jedoch dadurch korrumpiert wird, dass Finanzkraft mangelnde Leistungsstärke kompensieren kann. Deswegen erweist sich die Selektionsfunktion im ukrainischen Bildungssystem als weniger dominant als bei der idealtypischen Form. Nichtsdestoweniger wird, wie im Idealtypus und wie im vorigen Abschnitt gesehen, auf Grundlage allgemeiner Fächer und Inhalte selektiert.

C.:

Bildungszertifikate übernehmen Signalfunktion, indem sie die (kognitive) Leistungsfähigkeit anzeigen

Von großer Wertigkeit ist in der ukrainischen Gesellschaft der Besitz von Bildungstiteln, der mehr gewürdigt wird als das tatsächliche Wissen oder die Qualität der Kompetenzen einer Person (Gorobets 2008, 98; Filiatreau 2011, 52). Größten Zulauf erfahren bestimmte Studienfächer wie Jura, in denen bis zu 80 % der Studierenden Gebühren bezahlen, wohingegen in Studiengängen wie Ingenieurwesen oder Naturwissenschaften staatlich finanzierte Budgetplätze unbesetzt bleiben, weil andere Fächer prestigereicher sind (Sovsun 2017, 6). Viele junge Menschen in der ukrainischen Gesellschaft glauben daran, dass sich in einer Marktwirtschaft „höhere“ Bildungszertifikate langfristig lohnen und wichtig sind, um einen guten Arbeitsplatz zu erhalten (Roberts et al. 2000, 130, 135).

Da Studien in der Ukraine, wie gezeigt, recht allgemein ausgerichtet sind und nur wenig praxisorientierte Elementen integrieren, ist es in der Ukraine wie im Idealtypus die kognitive Leistungsfähigkeit, die zertifiziert wird. Insbesondere kommt es auf die Fähigkeit der Wissensreproduktion an. Für einen guten Hochschulabschluss müssen die Studierenden laut der befragten Expert/-innen Informationskompetenz (45D; 45N), digitale Kompetenz (49D), die Fähigkeit, selbstständig zu lernen (45D, 45N), Durchhaltevermögen (45D), die Fähigkeit, sich selbst zu managen und zu organisieren (45D, 45K), ein gewisses Intelligenzniveau (45K), Lernmotivation (45K) und Kommunikationskompetenzen (45K) an den Tag legen.

Inoffiziell herrschen gängige Verhaltensweisen vor, die dieses Prinzip umgehen und Alternativen eröffnen, um Bildungstitel zuerkannt zu bekommen. Zahlreiche Autor/-innen berichten über Korruption, Plagiate und Betrugsversuche, ganz besonders beim Zugang zum tertiären Sektor und im Hochschulwesen, ohne dass ein Unrechtsbewusstsein vorhanden wäre (Fimyar 2008, 573; Filiatreau 2011, 53; Härtel 2017; Osipian 2017, 241; Sovsun 2017, 6; Klein 2018; Zimmermann/Schwajka 2018, 22 f.; Gresham/Ambasz 2019, 7). Dieses Vorgehen wird dadurch begünstigt, dass Bildungstitel als außerordentlich wichtig erachtet werden und damit ein starker Anreiz geschaffen wird, solche zu erlangen, egal wie. Auf Seiten der Lehrenden sind Finanzspritzen angesichts der niedrigen Gehälter (Želudenko/Sabitowa 2015, 854) willkommen (vgl. Härtel 2017). Ähnliches gilt für Bildungseinrichtungen, speziell Hochschulen, die keinen Anlass haben, leistungsschwächere Studierende auszusieben, solange diese ihre Studiengebühren bezahlen (Zimmermann/Schwajka 2018, 22).

Die eigentliche Signalfunktion von Bildungszertifikaten, die sie attraktiv macht, hat in der jüngeren Vergangenheit an Wirkung eingebüßt (Shevchenko 2008, o. S.). Dies liegt einerseits an der verbreiteten Bestechung und dem Plagiarismus (Satsyk 2017, 42), andererseits an der Inflation des Werts von Hochschulzertifikaten (Długosz 2016, 174; vgl. auch 41N) durch die mangelnde Selektion. Allerdings vermochten es manche Universitäten, sich einen besonders guten Ruf zu verschaffen, der sich in Vorteilen ihrer Absolvent/-innen am Arbeitsmarkt in der Realität bemerkbar macht (33K). Arbeitgeber/-innen setzen zwar, wie bereits ausgeführt, für eine Vielzahl an Stellen Hochschulzertifikate voraus (s. Abschnitt 4.2.3.4 A), führen jedoch häufig zusätzlich eigen Fähigkeitstest durch (382D; 310K).

Wie im Idealtypus sind im ukrainischen Realtypus Bildungszertifikate als Bestätigung der Leistungsfähigkeit wichtig und man verspricht sich von einem Hochschulabschluss bessere Karrierechancen als ohne. Realtypisch wird die Signalfunktion durch korrupte Praktiken und die hohe Anzahl an Inhaber/-innen von Hochschulzertifikaten, unter anderem aufgrund des großen Angebots an Studienplätzen und der eingeschränkten Selektion, begrenzt. Durch die wachsende Ausdifferenzierung der Hochschulhierarchie gewinnt sie wieder an Aussagekraft und nähert sich dem Idealtypus an.

D.:

Funktionalisierung des Bildungssystems für individuelle Karrieren; berufliche Bildung als unattraktive Bildung der Leistungsschwachen (Versuch der Schüler/-innen, sie zu vermeiden); Negativselektion; kompensatorische Funktion

Es gibt einige Hinweise auf eine Funktionalisierung des ukrainischen Bildungssystems für individuelle Karrieren, nachdem man in Bezug auf die Sowjetzeit eher von einer Funktionalisierung zugunsten der Wirtschaft sprechen muss. Wie im Idealtypus verkommt die berufliche Bildung auch im ukrainischen Realtypus zur Bildung der Leistungsschwachen, die einer Negativselektion unterliegt und der eine ausgleichende Auffangfunktion zukommt. Für das Jahr 1989 geben Søndergaard et al. den Anteil der Sekundarschüler/-innen in beruflichen Bildungsgängen für Zentral- und Osteuropa mit durchschnittlich über 70 % an, wobei die meisten dieser Programme keinen Anschluss an „höhere“ Bildungsgänge umfassten (Søndergaard et al. 2012, 64).

Entgegen mancher Vorhersage verblieben die Jugendlichen in der unabhängigen Ukraine möglichst lange im Schulwesen und wechselten nicht möglichst früh in den Beschäftigungssektor, um Geld zu verdienen (Roberts et al. 2000, 130; SSC 2018, 117; Abbildung 4.3). Die unter ukrainischen Jugendlichen weit verbreiteten Versuche, sich mithilfe von privatem Zusatzunterricht eine bessere Chance auf gute Ergebnisse beim EIT zu verschaffen, um einen Studienplatz an einer Universität mit gutem Ruf zu bekommen (Długosz 2016), bestätigen die Funktionalisierung von Bildung für individuelle Karrierezwecke. Ein Hochschulabschluss wird unter Jugendlichen als Basis für einen gut bezahlten Job, eine gute Berufskarriere und einen gehobenen sozialen Status angesehen, was für viele von ihnen den Hauptgrund darstellt, zu studieren (Libanova et al. 2013, 40; Fedorenko 2017, 203 f.).

Die berufliche Bildung geriet angesichts der Öffnung der Hochschulen aus dem Fokus der Heranwachsenden. Laut dem ukrainischen Bildungsministerium ist eine Ursache „the determination of young people (and parents of upper-form pupils) to get higher education, very often, regardless of its quality“ und „the low status of VET in contrast to a diploma of a higher education institution“ (MES 2017–2019c). Das heißt, dass akademische Abschlüsse als karriereförderlich angesehen werden, berufliche nicht. Sichkar und Ermsone bezeichnen das Image der beruflichen Bildung in der Öffentlichkeit als generell negativ, sodass berufliche Schulen letzter Zufluchtsort für die schwächsten Schüler/-innen seien (Sichkar/Ermsone 2019, 51). Infolgedessen kam es zu einem Mangel an Facharbeiter/-innen und einem Akademikerüberschuss, der zu höheren Arbeitslosigkeitszahlen bei Inhaber/-innen von Hochschulzertifikaten als bei Inhaber/-innen „niedrigerer“ Abschlüsse geführt hat (Feiler 2014, 24 f.). Für die Perspektiven, die die berufliche Bildung angesichts der aktuellen wirtschaftlichen Gegebenheiten bieten kann, fehlt es nach wie vor an Verständnis (MES 2017–2019c). Selbst innerhalb der beruflichen Bildung streben die meisten Schüler/-innen nach der Hochschulreife: 2017 lag die Anzahl der abgeschlossenen Berufsausbildungen mit parallelem Erwerb des Zertifikats der „vollständigen“ Mittelschulbildung bei 53 600, die Anzahl derer ohne Hochschulreife bei 6 000 (SSC 2018, 124). Laut einer älteren Quelle ist es rund die Hälfte (Suprun et al. 2012, 24). Die letzte verfügbare Statistik über die Rate der Abschlüsse der Sekundarstufe II einer Jahreskohorte gibt für die Ukraine für das Jahr 2013 95,29 % an (UNESCO Institute of Statistics 2013–2020a; vgl. auch ETF 2017d, 5). Die Tatsache, dass eine relative hohe Anzahl an Arbeiter/-innen an beruflichen Ausbildungen teilnahm, spricht für eine kompensatorische Funktion der beruflichen Bildung, um Mängel am Arbeitsmarkt auszugleichen: Dem Staatlichen Statistikdienst der Ukraine zufolge legten 2017 etwa 19 800 Arbeiter/-innen eine Berufsausbildung ab, 3 400 erlangten eine „höhere“ Qualifikation („upgrading“) (SSC 2018, 124). Laut Zinser sind etwa ein Viertel der Gesamtzahl der Berufsschüler/-innen Teilnehmer/-innen an Kurzzeitkursen, in denen spezifische Tätigkeiten gelehrt werden (Zinser 2015, 696).

Studiengänge der ersten beiden akademischen Stufen finden weitaus weniger Anklang als die „höheren“ Niveaus III und IV (SSC 2018, 127, 129; Abbildung 4.4). Vorhochschulische Bildungsgänge werden als Vorbereitung für ein Hochschulstudium genutzt (363D). Bachelorabschlüsse versteht man als Grundhochschulbildung, der in aller Regel eine Fortsetzung des Studiums folgt, um einen „vollständigen“ Hochschulabschluss zu erreichen (Bruun et al. 2009, 23). Es werden bei der Studienwahl eindeutige Fächerpräferenzen verfolgt (Bruun et al. 2009, 21; ETF 2009, 52; 2019b, 10), wobei Studierende in den meisten Fällen nicht unbedingt damit rechnen, später in einem ihrer Disziplin entsprechenden Beruf zu arbeiten (Morynets 2006; zit. in Bastedo et al. 2009, 13), was oft auch zutrifft (Coupé/Vakhitova 2013, 27). Auf der einen Seite herrscht nicht gedeckter Bedarf an IT-Spezialist/-innen, leitenden Verkäufer/-innen, Ingenieur/-innen, Buchhalter/-innen, Ärzt/-innen und Facharbeiter/-innen, auf der anderen steht eine Überproduktion von Ökonom/-innen und Anwält/-innen (Coupé/Vakhitova 2013, 27; vgl. auch ETF 2009, 64). Das Studienprogramm der Universitäten richtet sich nach der Nachfrage von Bewerberseite, nicht nach dem Arbeitsmarkt; die Nachfrage richtet sich nach der Popularität von Studiengängen bzw. danach, in welchem Feld sich die Studienbewerber/-innen hohe Löhne versprechen, nicht nach der Anzahl der benötigten Stellen (Coupé/Vakhitova 2013, 27; Kupets 2015, 31). Auch nach Ansicht der befragten Expert/-innen hängt die Nachfrage nach einzelnen Studiengängen zuvörderst von den Aussichten auf eine Arbeitsstelle und einen guten Lohn ab, die sie bieten (381D; 381K; 381N). Fedorenko zufolge bewirbt sich die ukrainische Jugend auf die Studiengänge, die den kürzesten Weg zu materiellem Wohlstand versprechen (Fedorenko 2017, 202). Auch Pohorila bestätigt, dass Hochschulbildung instrumentalisiert wurde, weil man eine substanzielle Rendite antizipierte (Pohorila 2011, 82). Diese Aspekte sind als Indiz für dafür zu werten, dass es primär darum geht, ein bestimmtes Bildungsniveau bzw. einen Hochschulabschluss in einer bestimmten Disziplin zu erreichen und dadurch die Karriere- und Erwerbsaussichten zu verbessern, nicht um persönliche Interessen und Neigungen oder qualifikatorische Bedarfe der Wirtschaft.

Unterdessen steht den hohen Akademisierungsquoten eine rudimentäre Bedeutung der beruflichen Bildung gegenüber, die „kaum soziale Anerkennung genießt“ (Härtel 2017). In der Sekundarbildung lag der prozentuale Anteil der Auszubildenden 2011 bei 8,8 % und 2014 bei 9,0 % der Gesamtzahl an Schüler/-innen dieses Bereichs (ETF 2017e, 11). Die Berufsbildung übernimmt die Funktion, sozial Benachteiligte aufzufangen, die auch ohne Mittelschulabschluss eine Berufsausbildung beginnen dürfen und dafür staatliche Unterstützung erhalten (Kooperation international 2012; Suprun et al. 2012, 18; Želudenko/Sabitowa 2015, 862; ETF 2017c, 6; IVET NAPS 2017, 3 ff.; Radkevych et al. 2018, 131 f.). Zudem ist sie die Notlösung für Schüler/-innen, die wenig Erfolg in der Sekundarschule vorweisen können (Del Carpio et al. 2017, 92).

Es ist in der ukrainischen Realität wie im Idealtypus eine klare Funktionalisierung des Bildungssystems für individuelle Karrieren zu erkennen. Beispielsweise ist das Vorgehen bei der Studienwahl ein Indiz hierfür, denn beliebt sind Fächer, die gute Berufs- und Gehaltsaussichten bieten. Die berufliche Bildung in der Ukraine unterliegt einer Negativselektion und übernimmt eine kompensatorische Funktion, indem sie als Auffangbecken dient und bereits berufstätige Arbeiter/-innen ausbildet, was an die idealtypische Situation erinnert.

E.:

Berufliche Bildungsgänge, so es sie noch gibt, werden von Berechtigungsfunktion dominiert

Berufliche Bildungsgänge existieren in der Ukraine durchaus, wenngleich die meisten Jugendlichen akademische Werdegänge anstreben und berufliche Bildung eher als Bildung für sozial Benachteiligte verstanden wird.

Die Statistik zeigt aus funktionaler Sicht eine klare Berechtigungsorientierung der beruflichen Bildung. Laut ukrainischem Bundesamt für Statistik lag 2017 die Anzahl der abgeschlossenen Berufsausbildungen mit parallelem Erwerb des Zertifikats der „vollständigen“ Mittelschulbildung bei 53 600, die Anzahl derer ohne Hochschulreife bei 6 000 (SSC 2018, 124; s. hierzu auch Abschnitt 4.2.3.2 D). Allerdings gelingt nur rund 7 % der Übergang an eine Hochschule (Radkevych et al. 2018, 130; Melnyk 2021, 115), nach anderen Zahlen einem Drittel (ETF 2009, 48 f.; vgl. auch ETF 2017d, 5), obwohl es formal außer dem erfolgreichen Durchlaufen eines Interviewprozesses keine Barrieren gibt und ein Einstieg ins zweite Studienjahr möglich ist (ETF 2017c, 7). Grund dafür dürfte die Inadäquatheit der Vorbereitung hinsichtlich des akademischem Wissens bzw. der akademischen Fähigkeiten, die berufliche Schulen hervorbringen, sein (Korzh 2014, 69).

Es lässt sich nicht sagen, dass die berufliche Bildung in der Ukraine inhaltlich von ihrer Berechtigungsfunktion dominiert wird, weil der beruflich orientierte Teil der beruflichen Bildung separat vom berechtigenden Teil gehandhabt wird (vgl. 21D; 21K; 21N). Zählt man den vorhochschulischen Bildungsbereich zur beruflichen Bildung, ist auf funktionaler Ebene die Tendenz, diese als Durchlaufstation zu einem Studium zu nutzen, offensichtlich (362D; 363D). Dadurch lässt sich auch erklären, dass sie inhaltlich zunehmend theoretischer ausgerichtet wird (vgl. 363D; 363N).

Es existieren zudem Kurzzeitberufsausbildungen, die keine Berechtigungsfunktion haben und sich auf berufliche Inhalte konzentrieren.

Inhaltlich dominiert die Berechtigungsfunktion die ukrainische berufliche Bildung auf der Sekundarstufe, im Unterschied zum Idealtypus, nicht. Funktional wird sie sehr wohl dafür genutzt, die Hochschulreife zu erlangen. Rechnet man die vorhochschulische Bildung zur beruflichen Bildung, so ist inhaltlich eine Theoretisierung zu beobachten, die mit ihrer Berechtigungsfunktion einhergehen könnte. Funktional wird sowohl die berufliche Bildung auf Sekundarniveau als auch die vorhochschulische Bildung häufig als Durchgangsstation zu einem Studium begriffen.

F.:

Funktionen der beruflichen und allgemeinen bzw. akademischen Bildung aus Phase 3 (Spalte 2):

Einige Funktionen der beruflichen und der allgemeinen bzw. akademischen Bildung des ukrainischen Realtypus erinnern an solche aus der dritten idealtypischen Phase. Zum Teil wurden sie oben bei der Analyse der realtypischen Funktionen schon angesprochen. Nun soll noch der Bezug zur dritten idealtypischen Phase hergestellt werden.

Die Auswirkungen der Änderungen in der Ukraine hinsichtlich beruflicher akademischer Abschlüsse, also die Substituierung des Juniorspezialistenabschlusses durch den Junior-Bachelorabschluss und die Abschaffung des Spezialistenabschlusses, müssen noch abgewartet werden. Die Abschaffung der genuin beruflichen Hochschulabschlüsse ist eine Entwicklung, die gegenläufig zu der des Idealtypus ist.

Die Berechtigungsfunktion der beruflichen Sekundarbildung wird durch oben genannte Zahlen unterstrichen, die nachweisen, dass der Großteil der Berufsschüler/-innen eine Doppelqualifikation erwirbt. Bei der Ausbildung der Leistungsschwächsten dominiert wie im Idealtypus die Qualifikationsfunktion, insofern man über die Berufsausbildung ohne Doppelabschluss bzw. die Kurzzeitkurse spricht.

Dass berufliche Bildung in der Ukraine wie im Idealtypus in der dritten Phase in gewissem Sinne als schlechtere Allgemeinbildung fungiert, trifft auf die doppelqualifizierenden Berufsausbildungsgänge zu. Da es im Masterbereich eine Aufteilung in die beiden Zweige „Educational and professional program“ und „Educational and scientific program“ gibt, kann diese Tendenz auch für den Hochschulbereich bestätigt werden, wobei abzuwarten bleibt, wie die reale Ausgestaltung Form annehmen wird. Sowohl der neue Junior-Bachelor als auch der Bachelor werden auf dem Papier als „Educational and professional program“ ausgewiesen (vgl. ENIC Ukraine 2019). Einschränkend muss hinzugefügt werden, dass recht viele junge Menschen und ihre Eltern die Bildung im Vorhochschulbereich im Vergleich zu weniger gut angesehenen allgemeinen Sekundarschulen als bessere Alternative einschätzen (362D).

Im Idealtypus kommt in der dritten Phase hinzu, dass der Fort- und Weiterbildungssektor Teile der Abdeckung der Qualifizierung auf Berufsschulniveau übernimmt. Da es dem ukrainischen Bildungssystem aus verschiedenen Gründen nicht gelingt, ausreichende Kompetenzen für das Beschäftigungswesen zu vermitteln, steigt auch im Realtypus die Bedeutung dieses Sektors. Wie Kremen und Nikolajenko aufzeigen, nimmt der Ausbau des Weiterbildungssektors in der Ukraine einen wichtigen Platz in der ukrainischen Bildungspolitik ein (Kremen/Nikolajenko 2006, 21 f., 47). Berufliche Schulen versorgen beispielsweise, wie bereits erwähnt, Unternehmen mit modularen Kursangeboten, in denen beispielsweise Schweißtechnik oder Computeranwendungen unterrichtet werden (Zinser 2015, 696). Gemäß Hellwig und Lipenkova hatten der Mangel an Praxisphasen in der beruflichen Bildung und das Defizit der Förderung von Fähigkeiten, die in der Wirtschaft benötigt werden, zur Folge, dass die Anlernung im Betrieb zur Regel geworden ist (Hellwig/Lipenkowa 2007, 809; vgl. auch 54I; 54K). Zum Teil bieten akademisch ausgebildete Trainer/-innen individuell zugeschnittene Fortbildungen für bestimmte Wirtschaftszweige an (Hellwig/Lipenkowa 2007, 809). Weiterbildung ist theoretisch zur beruflichen Weiterentwicklung gedacht. In der Praxis sind vor allem die vermittelten Qualifikationen einschließlich des Hochschulzugangs von Bedeutung, wodurch auch hier die Berechtigungsfunktion in den Vordergrund tritt. Hierbei soll eine starke Praxisorientierung stattfinden, die aufwiegt, was das Bildungssystem zuvor vernachlässigt hat. Es ist aber nichtsdestoweniger die Rede davon, dass es schwerfällt, vom traditionellen akademischen Ansatz abzuweichen (vgl. Hellwig/Lipenkowa 2007, 821 f.). Statistisch gesehen hat sich die Anzahl der Menschen in Umschulungen oder Fort- und Weiterbildungen im Zeitraum von 2001 bis 2015 kontinuierlich von 158 000 auf 320 000 gesteigert (MEDT 2015, 29) und damit fast verdoppelt.

4.2.3.3 Steuerung des Bildungssystems

A. :

Zentralistische Steuerung des Bildungssystems, um möglichst gleiche Bedingungen und objektive Selektion zu ermöglichen; Forcierung der Ausrichtung auf allgemeine Leistungsfähigkeit zu Ungunsten der Fachlichkeit; dadurch Schmälerung des Einflusses der Unternehmen (und Kammern); Kriterien zur Bewertung von Leistung werden staatlich geregelt

Die plangesteuerte Wirtschaft der UdSSR, auf deren Bedarfe das Bildungssystem abgestimmt wurde, hinterließ der Ukraine ein zentralistisch verwaltetes Bildungssystem. Dieses nutzte die Regierung, um über die vermittelten Inhalte zu bestimmen und politisch sowie idealistisch motivierte Haltungen zu erzeugen. Bezüglich der beruflichen Bildung ergibt sich ein anderes Bild. Hier engagierten sich Søndergaard et al. zufolge die Betriebe, die freilich staatlich waren, in der Curriculaentwicklung und der praktischen Ausbildung der Schüler/-innen (Søndergaard et al. 2012, 65). In abgewandelter Form überdauert das traditionelle zentralistische Steuerungsmodell in der Ukraine bis heute und erschwert die Beteiligung von anderen Akteur/-innen. Anders als zu Sowjetzeiten üben Unternehmen wenig Einfluss auf die berufliche Bildung aus.

Prinzipiell unterliegt die Steuerung des gesamten Bildungswesens dem Ministerium für Bildung und Wissenschaft in Kiew (Želudenko/Sabitowa 2015, 854 f.; Friedman/Trines 2019; Kooperation international 2019). Das Bildungsministerium als zentraler Akteur bei der Verwaltung des Bildungswesens in der Ukraine führt Analysen durch und prognostiziert zukünftige Entwicklungen, reguliert das Netzwerk der staatlichen Lehranstalten und sorgt für das normative und legale Fundament, auf dem diese agieren. Das Aufsetzen von Bildungsstandards und einzuhaltenden Anforderungen des Bildungssystems sind ebenso Aufgabe des Bildungsministeriums wie das Erstellen von inhaltlichen Vorgaben, Bildungsplänen und -programmen. Es legt Bildungsniveaus und Zulassungsbedingungen fest und organisiert und überwacht die Erstellung von Lehrmaterialien (UNESCO 2011, o. S.).

In den einzelnen regionalen Verwaltungseinheiten sind staatliche Gebietsadministrationen für das Management des Bildungswesens verantwortlich (UNESCO 2011, o. S.; Kooperation inter-national 2012). Landesbezirke beziehungsweise Städte verfügen über Bildungsabteilungen; Gemeinderäte über Wissenschaftskommissionen (Kooperation international 2012). Gremien, denen ein/-e Rektor/-in oder ein/-e Direktor/-in vorsteht, leiten die Bildungseinrichtungen vor Ort. Sie setzen die jeweils gültigen Statuten der Institutionen um, so diese vom Bildungsministerium gebilligt wurden (UNESCO 2011, o. S.).

Monospezialisierte Hochschulen unterstehen oftmals Fachministerien, so zum Beispiel Agraruniversitäten dem Landwirtschaftsministerium oder Medizinhochschulen dem Gesundheitsministerium (Kooperation international 2019).

In der Ukraine unterrichten alle Schulen, auch Privatschulen, nach Vorgabe eines detaillierten zentralen Bildungsplans des Bildungsministeriums. Regelmäßig findet ein Wettbewerb statt, in dessen Rahmen das Ministerium neue Schulbücher auswählt, die im Anschluss Review-, Test- und Überarbeitungsphasen durchlaufen, bevor sie freigegeben werden (Popson 2001, 328; Janmaat 2008, 10, 18). Das Ministerium empfiehlt daraufhin Bücher, die als Haupt- bzw. Ergänzungstexte eingesetzt werden sollten (Popson 2001, 328). Hochschulen haben derweil ein Mehr an Autonomie erlangt und dürfen beispielsweise im obligatorischen geistes- und sozialwissenschaftlichen Fächerblock selbst über die Lehrinhalte bestimmen (Janmaat 2008, 18). Ferner dürfen sie innerhalb von Studiendisziplinen unter eigener inhaltlicher Verantwortung Vertiefungsrichtungen implementieren (Zimmermann/Schwajka 2018, 12).

Es erfolgt in der Ukraine eine staatliche Regulierung der Leistungsmessung. Beispielsweise legen ukrainische Schüler/-innen am Ende der drei Schulstufen (Grundschule, Sekundarstufe I und II) staatliche Abschlussprüfungen ab, die Pflichtaufgaben einschließen, die das Ministerium verabschiedet (Kooperation international 2012). Für die Durchführung des EIT, dessen Ergebnisse relevant für die Hochschulzulassung sind, ist das Bildungsministerium zuständig (EACEA 2012, 6), das politisch eine Priorität auf die Förderung des gleichen Zugangs zu hochwertiger Bildung gelegt und die Unabhängigkeit dieses Tests forciert hat (Želudenko/Sabitowa 2015, 855). Um staatlich anerkannt Bildungstitel und -abschlüsse verleihen zu dürfen, benötigen Lehranstalten eine Akkreditierung von der Staatlichen Akkreditierungskommission des Bildungsministeriums bzw., sobald eingerichtet und handlungsfähig, von der Nationalen Agentur für die Sicherung der Qualität der Hochschulbildung (Friedman/Trines 2019). Die von der Akkreditierungskommission angewandten Verfahren können nicht als transparent und rechenschaftspflichtig gewertet werden, sind sie doch Gegenstand von Erpressungsversuchen, Bestechung und Wettbewerbskontrolle (Hallak/Poisson 2007, 115; Filiatreau 2011, 52). Deshalb hat man aktuell die Nationale Agentur für Qualitätssicherung der Hochschulen ins Leben gerufen, die neuerdings die Akkreditierung im tertiären Sektor übernimmt und deren Zusammensetzung Stakeholder, die nicht Angehörige des Bildungsministeriums sind, inkludiert (vgl. Sovsun 2017, 10; Zimmermann/Schwajka 2018, 12; Kooperation international 2019).

Die Anstrengungen zur Unterstützung einer fairen Leistungsbeurteilung sind Ausdruck einer Ausrichtung am Leistungsprinzip. Diese wird vom Staat zudem durch die Ausrichtung nationaler Leistungswettbewerbe für Schüler/-innen gefördert, bei denen sie sich in verschiedenen Fächern duellieren (Hellwig/Lipenkowa 2007, 814; vgl. auch Regelung des Bildungsministeriums Nr. 1099 vom 22.9.2011).

Der private Sektor wurde bei der Bildungssteuerung bis vor Kurzem weitgehend ausgeklammert (Taranow 2007, 174; Del Carpio et al. 2017, 88; Prytomanov et al. 2018, 252). Durch das ausbleibende Engagement der Arbeitgeber/-innen in der Curriculaentwicklung der Hochschulen sind diese nicht relevant für den Arbeitsmarkt (Bastedo et al. 2009). Als Hauptursachen der vorhandenen defizitären Kooperation zwischen Hochschulen und Unternehmer/-innen werden das niedrige Qualifikationsniveau in führenden Unternehmen, Desinteresse von Hochschulen und mangelhafte Rechtsnormen genannt (OECD 2000; zit. in Taranow 2007, 175). Angesichts ihres schlechten Rufes und ihrer geringen Qualität haben Arbeitgeber/-innen überdies kaum Interesse, sich in der beruflichen Bildung einzubringen (Prytomanov et al. 2018, 243). Generell stellen sie nur wenige Praktikumsplätze zur Verfügung, obwohl Praktika grundsätzlich Teil der Curricula des Bildungssystems sind (Feiler 2014, 8, 43, 46).

Andererseits beklagen sich Arbeitgeber/-innen allenthalben über das Defizit an praktischen Kompetenzen sowohl der Hochschulabsolvent/-innen als auch der Berufsschulabgänger/-innen (Feiler 2014, 7). Prytomanov et al. zufolge richten sich Studienprogramme auf die Zunahme der intellektuellen und geistigen Kapazität aus. Bestrebungen, die Hochschulbildung mehr an die Arbeitsmarktbedarfe anzupassen, treffen dort auf ernsthaften Widerstand (Prytomanov et al. 2018, 253 f.).

Bemühungen, Stakeholder ins Boot zu holen, werden unten bei den Steuerungsmerkmalen der dritten Phase beschrieben. Sie können nach Del Carpio et al. noch nicht als erfolgreich verbucht werden, unter anderem wegen der Unterfinanzierung von Programmen und mangelnder technischer Kapazität beteiligter Stakeholder (Del Carpio et al. 2017, 89). Auch wenn Stakeholder mittlerweile bei der Erarbeitung des Nationalen Qualifikationsrahmens, der Curricula für die berufliche Bildung und nationalen beruflichen Standards involviert und über Praktika und betriebliche Ausbildungen zunehmend beteiligt sind, beurteilen sie die Ausbildung der Arbeitskräfte für die ukrainische Wirtschaft klar als Top-down-Prozess, der Stakeholdern wenig Raum lässt und ihnen kaum Mechanismen für Rückmeldungen zur Verfügung stellt (Del Carpio et al. 2017, 83, 91; Friedman/Trines 2019; Sichkar/Ermsone 2019, 52).

Körperschaften üben in den meisten zentral- und osteuropäischen Ländern einen schwachen Einfluss aus (Noelke/Müller 2011, 12). Kammern spielen bei der Steuerung der (beruflichen) Bildung in der Ukraine keine große Rolle. In der Literatur zur Steuerung des ukrainischen Bildungswesens kommen sie in aller Regel gar nicht vor. Hellwig und Lipenkowa berichten lediglich davon, dass die Industrie- und Handelskammern von internationalen Beratungsagenturen dazu ermuntert werden, sich im Bereich der Qualitätssicherung der beruflichen Bildung einzubringen, die von verschiedenen Anbieter/-innen durchgeführt wird (Hellwig/Lipenkowa 2007, 823). Ihre Ziele beschränken sich zum Beispiel im Falle der Industrie- und Handelskammer darauf, günstige Bedingungen für unternehmerische Akteur/-innen zu schaffen, die Entwicklung der wissenschaftlichen, technologischen und Handelsbeziehungen zwischen ukrainischen Wirtschaftsakteur/-innen und ausländischen Partner/-innen zu unterstützen und im In- und Ausland als Fürsprecher/-innen für die Belange der Kammermitglieder aufzutreten (Enterprise Europe Network 2020).

Gewerkschaften haben in der Ukraine einen schweren Stand und konnten sich unter demokratischeren Bedingungen angesichts ihres sowjetischen Erbes, das eine Vormundschaft der Partei beinhaltet, bislang nicht entscheidend von alten Gepflogenheiten lösen und unabhängigen Einfluss nehmen (Kubicek 2002; Koch-Laugwitz/Meshcheryakova 2013). Für Arbeitgeberverbände gilt Analoges (Kubicek 2002, 615 f.; Pauge 2006, 36). Es ist dennoch eine wachsende Einbindung der Sozialpartner/-innen in bildungspolitische und curriculare Fragen auf dem Weg (ETF 2017d, 9 f., 13; Prytomanov et al. 2018, 250 ff.; Radkevych et al. 2018).

Zwar sind seit 1991 zahlreiche Bildungsreformen zu verzeichnen, das grundsätzliche Management von Bildung und ihre Finanzierung haben sich jedoch nicht durchschlagend geändert (MEDT 2015, 36). Dass sich die traditionelle zentralistische Steuerung in der Ukraine bis heute gehalten hat, ist zumindest teilweise Folge einer Uminterpretation ihrer Sinnhaftigkeit bzw. Funktionen. In Bezug auf die Curricula ist sie Ausdruck des Anliegens, nationsbildende Inhalte und ein bestimmtes Narrativ der ukrainischen Geschichte im Bewusstsein der Jugend zu verankern (Popson 2001, 237 ff.; vgl. Janmaat 2008, 9, 18). Da Arbeitgeber/-innen und andere Stakeholder bei der Curriculaentwicklung kaum zu Wort kommen und nur wenig in die Bildungssteuerung eingebunden sind, haben die meisten Bildungsgänge einen allgemeinen, theoretischen Charakter. Mit Blick auf die zentralen Prüfungen hat es sich das Bildungsministerium zur Aufgabe gemacht, Prozesse transparenter zu gestalten und illegale Praktiken zu eliminieren. Es werden Vorkehrungen getroffen, die Legitimität von Leistungsmessungen durch zentrale Leistungstests zu sichern und karriererelevante Prüfungen möglichst transparent zu gestalten. Dies heißt nichts anderes, als dass alleine die Leistung zählen soll, die die Prüflinge erbringen, wobei sozialen Nachteilen bei der Hochschulzulassung entgegengewirkt wird (s. hierzu Abschnitt 4.2.3.1 C; vgl. Osipian 2015, 20). Aufgrund der vorherrschenden Korruption u. Ä. können die Bildungsverwaltung und der Lehrkörper nicht immer als vertrauenswürdig erachtet werden. Als Gegenmaßnahme wird beispielsweise die Nationale Agentur für Qualitätssicherung der Hochschulen gegründet, die letztlich dem Bildungsministerium Kompetenzen entzieht. Dies dient dem Ziel, dass alle die gleiche Chance auf hochwertige Bildung bekommen, zu der sie auf Hochschulniveau auf Basis eines Leistungswettbewerbs Zugang finden (ETF 2009, 56; vgl. zum Beispiel Banaszak 2014, 7). Historisch bedingt existiert im ukrainischen Realtypus eine Zuordnung von manchen Hochschuleinrichtungen, die sich auf jeweils eine bestimmte Fachrichtung einschränken, zu entsprechenden Fachministerien.

Wie im Idealtypus herrscht in der Ukraine eine stark zentralistische Steuerung vor, die dazu genutzt wird, im Bildungssystem Bedingungen zu schaffen, die eine möglichst objektive Selektion nach Leistung garantieren. Wie im Idealtypus werden Vorkehrungen getroffen, die Legitimität von Leistungsmessungen durch zentrale Leistungstests zu sichern und karriererelevante Prüfungen möglichst transparent zu gestalten. Da aufgrund der vorherrschenden Korruption u. Ä. die Bildungsverwaltung und der Lehrkörper nicht immer als vertrauenswürdig erachtet werden können, kommen im Realtypus teilweise andere Maßnahmen zum Einsatz als im Idealtypus; sie sind konkret auf die Bekämpfung illegaler Praktiken ausgerichtet.

In vielerlei Hinsicht ist im ukrainischen Realtypus wie im Idealtypus eine Fokussierung des Bildungssystems auf eher allgemeine bzw. theoretische Inhalte vorhanden. Eine Ursache hierfür ist der Rückzug von Arbeitgeber/-innen aus der Bildung nach dem Ende der Sowjetunion. Dass diese und andere Stakeholder aktuell ermutigt werden, sich stärker zu engagieren, ist eine gegenläufige Entwicklung des Realtypus im Vergleich zum Idealtypus. Dies lässt sich wiederum als Nachholen einer Entwicklung auslegen, da die UkrSSR durch die starke Kontrolle der Kommunistischen Partei in der Sowjetunion nie über in ihrer Wirkungsweise unabhängige und freie Sozialpartner verfügte.

Anders als im Idealtypus existiert im ukrainischen Realtypus historisch bedingt eine Zuordnung von manchen Hochschuleinrichtungen, die sich auf jeweils eine bestimmte Fachrichtung einschränken, zu entsprechenden Fachministerien.

B.:

Politik vernachlässigt berufliche Bildung, da nicht angesagt; evtl. Auslagerung der Zuständigkeit zum Arbeits-/Wirtschaftsministerium

Die Steuerung der beruflichen Bildung liegt in der Ukraine in der Verantwortung eines zentralen Exekutivorgans für Berufsbildung, das dem Bildungsministerium angehört und folgende Zuständigkeiten besitzt:

  • die Organisation der Implementierung der nationalen Berufsbildungspolitik;

  • die Ausarbeitung von Entwicklungsperspektiven und Gesetzesentwürfen;

  • die Führung des staatlichen Verzeichnisses von anerkannten Ausbildungsberufen;

  • Aufsicht über die staatlichen Berufsbildungsstandards, Rahmenlehrpläne und Bildungspläne der beruflichen Bildung;

  • die Erarbeitung sonstiger Regularien, die für ein funktionierendes Berufsbildungswesen benötigt werden;

  • die Aufsicht über Berufsbildungsinstitutionen (Gründung, Abwicklung, Lizenzierung, Genehmigung) (Želudenko/Sabitowa 2015, 856; vgl. auch IVET NAPS 2017, 10).

Flankiert wird das Exekutivorgan vom interdisziplinären Rat für berufliche Bildung, bestehend aus führenden Köpfen von Fachministerien, Parlamentsmitgliedern, Wissenschaftler/-innen und Vertreter/-innen der Arbeitgeberverbände. Ratspräsident/-in ist der Vize-Minister bzw. die Vize-Ministerin (Želudenko/Sabitowa 2015, 856). Für die regionale Verwaltung der Berufsbildung gibt es regionale Behörden; auf lokaler Ebene haben Schuldirektor/-innen, die vom Bildungsministerium angestellt werden, die Verantwortung für die Berufsschulen (Želudenko/Sabitowa 2015, 856). Überdies nimmt das Ministerium für Sozialpolitik in Form des zugehörigen arbeitspolitischen Staatlichen Beschäftigungsdienstes Aufgaben in der beruflichen Bildung wahr, in erster Linie im Fort- und Weiterbildungsbereich (ETF 2017d, 6; 2017c, 2), aber auch hinsichtlich betrieblicher Ausbildung (Training on the Job) und der Organisation der Ausarbeitung von Berufsstandards (IVET NAPS 2017, 10 f.; Radkevych et al. 2018, 130). Darüber hinaus betreibt es mehrere Berufsbildungseinrichtungen (ETF 2017d, 6; 2019b, 11). Dies überrascht nicht, wenn man die Funktionalisierung der ukrainischen Berufsbildung für soziale Zwecke (ETF 2017c, 6) bedenkt. Zumal in der Ukraine das Ministerium für Sozialpolitik mit der Arbeitsmarkt- und Beschäftigungspolitik beauftragt ist (IVET NAPS 2017, 10; Radkevych et al. 2018, 130; ETF 2019b, 11).

Wie im Hochschulsektor gibt es auch in der beruflichen Bildung Einrichtungen, die von Fachministerien betreut werden, zuvörderst durch das Agrarministerium (IVET NAPS 2017, 11; Radkevych et al. 2018, 130 f.). Das Ministerium für Wirtschaftsentwicklung und Handel ist unterdessen befugt, die staatlichen Aufträge an das Bildungssystem über die Qualifizierung bestimmter Facharbeiter/-innen zu lancieren (Radkevych et al. 2018, 130).

Seit der ukrainischen Unabhängigkeit bekam die berufliche Bildung nur wenig Aufmerksamkeit von den Regierungen. Wie Nychkalo aufzeigt, wurde kein Geld in berufliche Schulen investiert, sodass deren Ausstattung, noch aus der Zeit der Sowjetunion, kaum verbessert und modernisiert wurde und viele der Berufsschulen von der Bildfläche verschwanden (Nychkalo 2015, 146), während die Studierendenzahlen explodierten. Auch wenn Regierungsbehörden durchaus Anordnungen und Entscheidungen mit Blick auf die berufliche Bildung trafen, so blieb die Umsetzung oftmals auf der Strecke (Nychkalo 2015, 146). Suprun et al. fassen unter anderem folgende Herausforderungen des Berufsbildungssystems zusammen, in denen deren Vernachlässigung zum Ausdruck kommt: Arbeitgeber/-innen legen eine passive Haltung an den Tag, wenn es darum geht, die Probleme in der beruflichen Bildung zu lösen. Berufliche Schulen erhalten von Seiten des Staats und der Kommunen nur kleine finanzielle Budgets für die Entwicklung und Implementierung von Reformen. Der aktuelle gesetzliche Rahmen berücksichtigt die Ausbildung von Facharbeiter/-innen nur schwach (Suprun et al. 2012, 9).

Der ukrainische Realtypus entspricht am Punkt der Vernachlässigung beruflicher Bildung dem idealtypischen Fortgang. Während die berufliche Bildung zu Sowjetzeiten noch eine sehr wichtige Funktion ausübte, hat sie seit 1991 an Bedeutung eingebüßt, während der Hochschulsektor sich ausdifferenzierte, expandierte und bis heute den Großteil der Sekundarschulabsolvent/-innen anzieht. Erst seit 2015 verstärkt die ukrainische Regierung dem ETF zufolge ihre Bemühungen um den Berufsbildungssektor (ETF 2017c, 2; s. hierzu nächster Abschnitt), was vor dem Hintergrund des ausgeprägten Fachkräftemangels in der Ukraine auch dringend geboten erscheint.

Das Engagement des Ministeriums für Sozialpolitik im Fort- und Weiterbildungsbereich ist vergleichbar mit dem idealtypischen Phänomen der Übertragung der Befugnisse für die berufliche Bildung an das Wirtschafts- bzw. Arbeitsministerium.

C.:

Steuerung des Bildungssystems wie in Phase 3 (Spalte 3)

Die Förderung der beruflichen Bildung ist das hervorstechende Charakteristikum der dritten idealtypischen Phase. Anfänge davon sind aktuell in der realtypischen ukrainischen Bildungspolitik präsent, die gemäß Del Carpio et al. die Förderung der beruflichen Bildung allgemein und spezifisch der Fort- und Weiterbildung auf ihre Prioritätenliste gesetzt hat (Del Carpio et al. 2017, 88).

Idealtypisch sind Maßnahmen zur Dezentralisierung der Verwaltung der beruflichen Bildung bzw. des Fort- und Weiterbildungswesens. Eine solche hat im Realtypus in der Ukraine begonnen: Primär erfolgte eine Dezentralisierung der Finanzierung und damit der regionalen Entwicklung der beruflichen Bildung, indem den Kommunen bzw. Regionen die Finanzierung der Berufsbildung übertragen wurde. Da diese damit überfordert waren, kam es zu verspäteten Lohnzahlungen an die Lehrpersonen, falls sie überhaupt erfolgten, und die Regierung musste Finanzierungslücken stopfen (ETF 2017e, 6; Sichkar/Ermsone 2019, 35 f.). Man ist sich einig, dass eine Dezentralisierung notwendig ist, allerdings bislang noch nicht erfolgreich implementiert werden konnte (Radkevych 2014, 136; Del Carpio et al. 2017, 88; ETF 2017a; 2017b, o. S.; 2017d, 7; 2017c, 2). Anders als im Idealtypus ist eine berufliche Bildung als solche mit ihrem qualifikatorischen, umfassenden Charakter vorhanden.

Wie im Idealtypus werden Unternehmen zunehmend in die berufliche Bildung integriert, im Realtypus zum Beispiel über das angesprochene duale System und neue Formen der Partnerschaft, die unter anderem eine Beteiligung von Arbeitgebervertreter/-innen in der Berufsbildungspolitik vorsehen (ETF 2016, o. S.; 2017c, 10). Unternehmen bilden im Realtypus ihre Arbeitnehmer/-innen zum Teil selbst weiter (Del Carpio et al. 2017, 88), wie es auch der Idealtypus nahelegt. Sie sind dazu verpflichtet, ihren Angestellten mindestens alle fünf Jahre eine Fortbildung zu ermöglichen: „There are a few legal requirements that oblige employers to rise the qualifications of their employees (at least once per 5 years)“ (531I).

Ein weiteres Kennzeichen der dritten idealtypischen Phase ist die Integration von Praxiselementen in Lehrpläne. Als eine ähnliche Tendenz kann man den wachsenden Einbezug von Sozialpartner/-innen, die die praktische Seite betonen, im ukrainischen Realtypus interpretieren, beispielsweise durch die Mitarbeit in der Nationalen Qualitätssicherungsagentur und bei der Ausarbeitung von Berufsstandards und der damit einhergehenden Formulierung von Outcomes von Lernprozessen sowohl für die berufliche als auch die Hochschulbildung (Suprun et al. 2012, 20 f.; Prytomanov et al. 2018, 252 f.; Rumyantseva/Logvynenko 2018, 429). Verstärkte Praxisphasen für Studierende stehen ebenfalls auf der politischen Agenda (ETF 2017e, 8 f.).

D.:

Ergänzende relevante Merkmale, die im Realtypus, aber nicht im Idealtypus erscheinen

Seit einigen Jahren entwickelt die Ukraine Standards für die berufliche Bildung. Außerdem wurde ein Nationaler Qualifikationsrahmen (NQR) erarbeitet. Beides beinhaltet eine Hinwendung zum kompetenz- und outcome-orientierten Ansatz sowie eine Förderung der Anerkennung non-formal und informell erworbener Kompetenzen (Del Carpio et al. 2017, 89; IVET NAPS 2017, 14; ETF 2019b, 3, 7 f.). In Zusammenhang mit dem NQR entstanden Verfahren zur Bewertung der Qualität von Berufsbildungseinrichtungen, wobei Pläne existieren, zur Umsetzung der Anerkennungsprozesse Institutionen zur Qualitätssicherung der beruflichen Bildung ins Leben zu rufen (Suprun et al. 2012, 10).

4.2.3.4 Strukturen des Beschäftigungssystems und Beziehung zum Bildungssystem

A.:

Ausdifferenzierte Hierarchie im Unternehmen mit vielen Ebenen entsprechend der Bildungsniveaustufen; Unternehmen rekrutieren für höchste Posten diejenigen mit den höchsten Bildungsabschlüssen, für mittlere Posten diejenigen mit mittleren Abschlüssen; ein Abschluss der beruflichen Bildung genügt nur für die untersten Stufen. Zunehmend Vermeidung der Rekrutierung von Absolvent/-innen der beruflichen Bildung, da diese als leistungsschwach und/oder faul gelten

In der Sowjetunion waren durch die planwirtschaftliche Steuerung bestimmte Rahmenbedingungen und Ausformungen des Berufsalltags an den Arbeitsplatz geknüpft: Usus war es, so Kettner unter Rückgriff auf eine russische Quelle von Lapidus, dass Unternehmen über eine/-n Generaldirektor/-in verfügten, der/die grundsätzlich die Entscheidungen traf, während alle anderen Dienst nach Vorgabe von oben machten (Kettner 2009, 121). Die Löhne der Angestellten waren relativ gleich; es gab gesetzliche Verpflichtungen zur Arbeit und das große ideologische Ziel der Vollbeschäftigung. Der Arbeitsplatz versorgte materiell und sozial, war er doch nicht nur der Ort, der materielle Sicherheit gab, sondern auch ein Ort der Interaktion mit Kolleg/-innen und Freund/-innen. Arbeitnehmer/-innen hatten eine gewisse Macht, da die Betriebe auf sie angewiesen waren, sodass Disziplinprobleme auftraten (Barber 1986; Hanson 1986; Lane 1987; Ashwin 1999; Kiblitskaya 2000; Lo 2000, 119; Round et al. 2008, 150; Fink et al. 2009, 63 f.).

Bereits 1970 schreibt Glowka über die Sowjetunion,

daß der Aufstieg in angesehene gesellschaftliche Positionen in weitgehendem Maße nur noch durch eine entsprechende Ausbildung möglich wird, proletarische Herkunft also, Parteizugehörigkeit und Ergebenheit zum Regime oder auch die Bewährtheit als ‚Praktiker‘ nicht mehr wie früher zu Führungsrollen qualifizieren. (Glowka 1970, 772)

Der traditionelle Weg zum Universitätsstudium, der sich während der Sowjetzeit etablierte, führte über die allgemeinbildende Sekundarschule. Während die „höheren“ beruflichen Schulen für angesehenere Berufe in nicht-manuellen Tätigkeitsfeldern vorbereiteten, wie zum Beispiel technische oder Büroberufe, war die „niedere“ berufliche Bildung mit weniger prestigeträchtigen Berufen im Bereich manueller Tätigkeiten in Landwirtschaft und Industrie verbunden (Kogan et al. 2012, 70). Gleichwohl waren soziale Beziehungen zu Menschen in strategisch wichtigen Positionen bedeutend, um an Güter und Dienste zu gelangen (Onoshchenko/Williams 2014, 256). Hierdurch etablierten sich Praktiken, die bis heute im ukrainischen Beschäftigungsmarkt in abgewandelter Form ausgeführt werden (Onoshchenko/Williams 2014, 257 f.).

Unternehmen sind meist nach relativ starren Hierarchiemustern aufgebaut, die sich bei jüngeren und bei ausländischen Firmen etwas auflockern (Kettner 2009, 113). Insgesamt orientiert man sich noch stark an der sowjetischen Tradition, bei der es Angestellte aus Angst vor Fehlern vermeiden, selbst Entscheidungen zu treffen – und diese dem bzw. der obersten Vorgesetzten überlassen. Mehrere Personen in der Führungsebene kommen normalerweise nicht vor, damit keine Machtkonflikte entstehen. Der leitende Generaldirektor bzw. die leitende Generaldirektorin hat meist nicht die Fähigkeiten und das Detailwissen, um kompetente Entscheidungen treffen zu können. Viele Führungspersonen sind nicht in der Lage, mit statistischen Daten umzugehen. Somit verlassen sie sich auf ihre Intuition, ihr Empfinden und ihre eigene Ansicht (Kettner 2009, 121 f.). Für ihre Tätigkeiten erhalten die Angestellten Leitfäden, die angeben, wie die anfallenden Geschäftsangelegenheiten durchgeführt werden müssen. Ungeregelte Fälle werden von den Arbeitnehmer/-innen ganz selbstverständlich zu eigenen Gunsten und im eigenen Interesse ausgelegt (Kettner 2009, 116, 124). Regelungen für Beförderungen oder Leistungsbewertungen am Arbeitsplatz sind Fehlanzeige (Kettner 2009, 119). Nach Kettner hat jedoch ein langsames Umdenken hinsichtlich der Geschäftsführung eingesetzt, ausgelöst durch westliche Einflüsse (Kettner 2009, 122). Die aktuelle Situation wurde von den befragten Expert/-innen so beschrieben, dass durchaus je nach Unternehmensgröße mehrere Hierarchieebenen vorhanden sind (51I; 51K). Größere Firmen weisen etwa eine solche Hierarchie auf: Qualifizierte/-r Arbeiter/-in – Meister/-in (ohne signifikante Führungsfunktion) – Abteilungsleiter/-in (Führungsposition) – Stellvertretende/-r Direktor/-in – Geschäftsführer/-in:

If the company is relatively big (having a more or less structured way of management), the hierarchy could look like this (bottom – up way): Qualified Workers – masters (kind of employees who don’t have “significant level of management functions”) – heads of units (managerial position) – deputy director (sector or functional approach of identification) – boss. (52I)

Führungspositionen werden, auch auf der niedrigeren Führungsebene, in den meisten Fällen nur mit Hochschulzertifikatinhaber/-innen besetzt, wie es der NQF und berufliche Standards vorsehen (52I; 52K). Ab der Abteilungsleiterebene ist das Bildungsniveau relevant, unter anderem, weil die darunter angesiedelten Meister/-innen als berufsfachlich kompetenter gelten (52I). Die Unternehmen können selbst über Beförderungsprinzipien entscheiden, das heißt, es liegen keine gesetzlichen Regelungen vor (531K). Generell hängen die Karrierechancen unter anderem vom Niveau des Bildungsabschlusses ab. Vermehrt wenden Unternehmer/-innen leistungs- und wettbewerbsbasierte Verfahren an:

In many companies and organizations recently the competition approaches have been introduced, which means that call is announced, and all interested can present their CVs and motivation letters for analysis of a competent (mostly internal) commission. The winner takes the promotion. (531I)

Rein formal existiert in der Ukraine das Verständnis, dass Bildungsniveau und Entlohnung miteinander korrespondieren sollten. Dies zeigt sich zum Beispiel daran, dass der Erwerb des Zertifikats Qualifizierte/-r Arbeiter/-in bzw. Juniorspezialist/-in, so die Kooperation international des BMBF, mit der Eingruppierung in eine bestimmte Gehaltsklasse einhergeht (Kooperation international 2012). Auch im kulturellen Verständnis ist verankert, dass erlangte Kompetenzen und erreichte Position sich entsprechen sollten (41D). Hochschulzertifikate werden zugleich als Bildungsnachweis und als Lizenz verstanden, sich in einem bestimmten Feld professionell zu betätigen (Bąk 2014, 63). Der Nationale Qualifikationsrahmen beschreibt für jede Niveaustufe, welche Art von Tätigkeit der Inhaber bzw. die Inhaberin eines Bildungsabschlusses der entsprechenden Stufe ausführen können sollte, zum Beispiel „typische, unkomplizierte Tätigkeiten in typischen Situationen“ oder das Lösen „komplexer Spezialprobleme und praktischer Herausforderungen in bestimmten Bereichen“ (MES 2017–2019b). Es besteht ein klarer Bezug zur Berufspraxis in Wissenschaft und Wirtschaft. In einem gewissen Rahmen spiegelt dieser sich in der Entlohnung wider.

Menschen mit Masterabschluss stehen in der Ukraine heute deutlich besser da als jene ohne Schulabschluss der Sekundarstufe II – sie verdienen durchschnittlich etwa doppelt so viel. Diejenigen, die den „unvollständigen“ Mittelschulabschluss erworben haben, aber keine Hochschulreife, müssen sich mit Durchschnittslöhnen begnügen, die mit denen von Analphabet/-innen, Menschen ohne Elementarbildung oder mit lediglich einem Grundschulabschluss vergleichbar sind. Innerhalb einzelner Bildungsabschlussgruppen treten große Unterschiede auf, die sich durch sektorale und regionale Faktoren sowie schwache Gewerkschaften erklären lassen (ETF 2009, 65). Hochschulabsolvent/-innen schneiden mit Blick auf die Bildungsrendite besser ab als Auszubildende mit Abschluss einer beruflichen Sekundarschulausbildung (Gresham/Ambasz 2019, 7; vgl. auch Gorodnichenko/Sabirianova Peter 2005; ETF 2009, 72). Ein Masterabschluss erzielt eindeutig bessere Effekte auf den beruflichen Status als ein Bachelorabschluss und dieser wiederum bessere als ein Abschluss einer „höheren“ beruflichen Schule. Dabei rangiert letzterer deutlich über der Hochschulreife (Noelke et al. 2012, 711). Zugleich Ursache und Folge ist eine Überbewertung von Bildungsabschlüssen auf dem Arbeitsmarkt („credentialism“) (Gresham/Ambasz 2019, 7 f.).

Der Metallurgiesektor, der einen wichtigen Teil der ukrainischen Industrie darstellt, kann hinsichtlich des Bildungsniveaus der Angestellten und ihrer Fort- und Weiterbildung als exemplarisch für die ukrainische Industrie gelten (Prytomanov et al. 2018, 242). Hier stellen Unternehmen üblicherweise bevorzugt Hochschulabsolvent/-innen ein, auch für Facharbeiterstellen, die keine solche Qualifikation erfordern. Sie begründen dies damit, dass Absolvent/-innen der beruflichen Bildung nur für Arbeitsplätze im niedrigen Lohnsektor geeignet seien, die keine „hohe“ Qualifikation erforderten (Prytomanov et al. 2018, 239 f.). Libanova et al. bestätigen, dass Arbeitgeber/-innen regelmäßig Bewerber/-innen mit „höheren“ Zertifikaten denen mit „niedrigeren“ vorziehen, auch wenn die Arbeitsstellenanforderungen eine „höhere“ Qualifizierung nicht erfordern (Libanova et al. 2016, 50). Dies gilt selbst für relativ einfache Tätigkeiten (Round et al. 2008, 156 f.; Zimmermann 2017, 9). Daraus resultiert ein Verdrängungseffekt, bei dem Überqualifizierte diejenigen mit „niedrigerem“ Bildungsniveau in prekäre Beschäftigungsverhältnisse zwingen, auch wenn letztere prinzipiell besser für bestimmte Stellen ausgebildet sind (Shevchenko 2008, o. S.; ETF 2009, 70; Kupets 2015/16, 142; ETF 2017d, 4; 2017e, 8). Das Problem des „Crowding-out“ von Berufsschulabsolvent/-innen, die zur Gruppe der „niedriger“ Qualifizierten gehören, ist sicher in Zusammenhang mit der Negativselektion zu sehen, die in der beruflichen Bildung stattfindet.

Vergleicht man wie Søndergaard et al. Absolvent/-innen der allgemeinen Mittelschule mit Absolvent/-innen der beruflichen Sekundarbildung, so tun sich Berufsschulabsolvent/-innen leichter, eine Arbeitsstelle zu finden (Søndergaard et al. 2012, 63). Dies wird an anderer Stelle damit begründet, dass die Absolvent/-innen der allgemeinen „vollständigen“ Mittelschule ein Studium anstreben. Wenn sie im ersten Anlauf keinen Studienplatz ergattern, warten sie darauf, es im Folgejahr erneut versuchen zu können, und münden nicht in den Arbeitsmarkt ein (ETF 2009, 68). Hochschulzertifikatsinhaber/-innen bewältigen durchschnittlich signifikant schneller den Übergang in die Beschäftigung als Absolvent/-innen der „höheren“ beruflichen Schulen. Der berufliche Status von Absolvent/-innen allgemeiner und beruflicher Sekundarschulen ist geringer als der von Hochschulabsolvent/-innen, wobei Masterabsolvent/-innen in ihrem ersten Job einen signifikant „höheren“ beruflichen Status einnehmen als Bachelorabsolvent/-innen und diese als Absolvent/-innen „höherer“ beruflicher Schulen (Noelke et al. 2012, 711 f.).

Hochschulabsolvent/-innen haben dennoch in vielen Fällen Probleme, eine Arbeitsstelle zu finden, da sie aufgrund der mangelnden Praxisorientierung im Studium den Ansprüchen der Arbeitgeber/-innen oftmals nicht genügen. Ausnahme ist der IT-Bereich. In Feldern wie der Bildung sind die Gehälter alles andere als attraktiv. Generell ist das Phänomen der Überqualifizierung weitverbreitet (Kupets 2015/16; Zimmermann/Schwajka 2018, 22). Die Arbeitslosigkeit unter jungen Hochschulabsolvent/-innen ist angestiegen; 2013 waren 43,6 % der arbeitslosen jungen Menschen Hochschulabsolvent/-innen, 2015 betrug dieser Anteil 45,1 % (Libanova et al. 2016, 52 f. vgl. auch Gresham/Ambasz 2019, 6). Dies ist unter anderem durch die höheren absoluten Zahlen der Hochschulzertifikatsinhaber/-innen bedingt: Insgesamt betrug die Arbeitslosigkeit unter jungen Hochschulabsolvent/-innen 2015 8,4 % gegenüber 13,5 % bei jungen Menschen mit abgeschlossener Berufsausbildung, 20,7 % bei jungen Menschen mit „vollständiger“ Sekundarschulbildung und 19,4 % bei jungen Menschen mit maximal einem Abschluss der Sekundarstufe I (Libanova et al. 2016, 53). 37,2 % arbeiteten 2015 in Stellen, für die sie nicht qualifiziert waren; davon waren 31,7 % überqualifiziert (Libanova et al. 2016, 49; vgl. auch Coupé/Vakhitova 2013; ETF 2019b, 10).

Allgemein landet circa ein Viertel der Arbeitnehmer/-innen in der Schattenwirtschaft, wo sie informell arbeiten und tendenziell weniger verdienen (ETF 2009, 70; Del Carpio et al. 2017, 94 f.; ETF 2017e, 7 f.). Nach anderen Quellen sind es unter jungen Arbeitnehmer/-innen weit über 50 % (Libanova et al. 2016, 48; Sichkar/Ermsone 2019, 20). Das Risiko, keinen registrierten Job zu bekommen, ist für Absolvent/-innen der allgemeinen Sekundarschule und von kurzen beruflichen Bildungsgängen höher als für Absolvent/-innen der Universitäten und beruflichen Sekundarschulen (ETF 2009, 70; s. hierzu Abbildung 4.2).

Abbildung 4.2
figure 2

Art der Beschäftigung nach Bildungsniveau, in %. (Datenquelle: SSC, 2.15 2019, 104)

Neben einem offiziellen Arbeitsplatz haben Arbeitnehmer/-innen üblicherweise weitere Beschäftigungen inne, da die Löhne niedrig sind bzw. illegale Praktiken Arbeitsstellen unsicher machen und deshalb eine Risikostreuung für Arbeitnehmer/-innen als logische Konsequenz erscheint (Round et al. 2008, 160 f.).

Auch wenn der Erhalt einer Arbeitsstelle meist einen Hochschulabschluss voraussetzt, selbst für einfache Tätigkeiten, wird in der Ukraine im Allgemeinen nicht leistungsbasiert rekrutiert (Round/Williams/Rodgers 2008, 156 f.). In aller Regel erfolgen Einstellungen auf Basis von sozialen Beziehungen oder Gefallen, sodass die Arbeitsmärkte geschlossen sind und Arbeitgeber/-innen fast ausschließlich über soziale Netzwerke nach Mitarbeiter/-innen suchen (Onoshchenko/Williams 2013; Round et al. 2008, 152, 157; vgl. auch Clarke 2002, 179, 185). Ohne Verbindungen ist es kaum möglich, Zugang zu Jobs für Hochschulabsolvent/-innen zu finden (Onoshchenko/Williams 2013, 262; Salnykova 2018, 326). Außerdem sind Zahlungen, sowohl um eine Stelle zu bekommen als auch um sie zu behalten, an der Tagesordnung. Die wenigsten Arbeitnehmer/-innen sind durch Stellenanzeigen und direkte Bewerbungen an ihre Stelle gekommen (Round et al. 2008, 152, 157, 159). Junge Menschen fühlen sich als gute Staatsbürger/-innen, indem sie hart für gute Noten und einen Hochschulabschluss arbeiten. Beim Übergang in den Beschäftigungsmarkt „verschieben sich“ für sie plötzlich „die Torpfosten“, weil das Abschlusszertifikat nicht ausreicht und nur über Beziehungen oder illegale Praktiken eine Anstellung realisierbar ist (Round et al. 2008, 158). Sie werden aufgefordert, Bestechungsgelder zu bezahlen, in Probezeiten, nach denen sie grundlos entlassen werden, ausgenutzt und nicht oder nur teilweise offiziell bezahlt (Round et al. 2008, 157 ff.; Onoshchenko/Williams 2013, 262). Diese „Enthüllungen“ konterkarieren Einschätzungen wie jene von Fedorenko, nach denen privilegierte Positionen im Arbeitsmarkt durch das Bildungsniveau bestimmt werden (Fedorenko 2017, 201). Aus einer anderen Perspektive übertrifft der Einfluss von Verbindungen und Bestechung den von Zertifikaten von Universitäten (Korzh 2014, 69). Es ist bei jungen Arbeitssuchenden die Hauptstrategie, sich auf die Beziehungen des Familien- und Freundeskreises zu verlassen, um eine Arbeitsstelle zu finden (Libanova et al. 2016, 4; Sichkar/Ermsone 2019, 19). Nichtsdestoweniger lässt sich feststellen, dass das Bildungsniveau im Bereich der formalen Arbeit ein entscheidender Faktor ist – um eine Arbeitsstelle zu bekommen und hinsichtlich der Höhe der Entlohnung. Mit Ausnahme des informellen Sektors hat auch die Berufserfahrung einen größeren Einfluss auf die Lohnhöhe (Nezhyvenko/Adair 2017, 92). Dennoch berichten die befragten Expert/-innen von einer Zunahme wettbewerbsbasierter Verfahren bei der Vergabe von Arbeitsstellen bzw. über den Einsatz von Eignungstests (382D; 310K; 531I).

Durch die hohe Relevanz von nicht-leistungsbasierten Verhaltensweisen und Strategien bei der Rekrutierung und im Arbeitsleben unterscheidet sich die Ukraine von der idealtypischen Version der Lohnverteilung und Rekrutierung in Unternehmen. Die Unternehmenshierarchien scheinen sich den ausdifferenzierten Entscheidungshierarchien, die im Idealtypus auftreten, aktuell anzunähern. Wie im Idealtypus werden in der Ukraine für Führungspositionen nur Hochschulabsolvent/-innen eingestellt. Auch für Arbeitsstellen ohne leitenden Aufgaben rekrutiert man im ukrainischen Realtypus häufig Hochschulabsolvent/-innen, was als Folge der Marginalisierung beruflicher Bildung und der Akademikerschwemme angesehen werden kann. Selbst für einfache Tätigkeiten müssen junge Menschen ein Hochschulzertifikat vorweisen, wodurch wie im Idealtypus eine Verdrängung von Absolvent/-innen beruflicher Sekundarschulausbildungen stattfindet. Das Bildungsniveau wirkt sich wie im Idealtypus auch im Realtypus auf die Lohnhöhe und die Karrierechancen aus, stellt allerdings nicht den einzigen determinierenden Faktor dar (s. zum letzten Punkt Del Carpio et al. 2017, 50 ff.).

B.:

Mit Abnahme der Anzahl an Absolvent/-innen der beruflichen Bildung und Zunahme derer mit mindestens Abitur werden „billigere“ Arbeitskräfte für die Jobs des untersten Niveaus angeheuert

Für den Zeitraum von 1995 bis 1998 berichtet Farla von steigenden Jugendarbeitslosenzahlen im post-sowjetischen Raum, einschließlich der Ukraine. Er bringt sie mit der stark steigenden Dropout-Rate in der beruflichen Bildung in Zusammenhang. Ergebnis war die Entwicklung, dass zahlreiche junge Menschen auf den Arbeitsmarkt strömten, die keinerlei berufliche Qualifikation und Fähigkeiten besaßen. Unternehmen stellten lieber erfahrene, arbeitslose Arbeiter/-innen ein anstatt Absolvent/-innen des Berufsbildungssystems, da sie nicht die Erwartungen hatten, dass dieses die benötigten Kompetenzen vermitteln würde. Auf der anderen Seite entschieden sich schon damals mehr und mehr Jugendliche für den allgemeinbildenden Weg (Farla 2000, 7 f.).

Wie im letzten Abschnitt gezeigt, kommen Berufsschulabsolvent/-innen selbst für Berufe, die ihrem Qualifikationsniveau entsprechen, für Arbeitgeber/-innen nicht in Frage, sodass beispielsweise für einfache Sekretariatstätigkeiten ein Hochschulabschluss erforderlich ist (Zimmermann 2017, 9). Die Chancen von Absolvent/-innen öffentlicher Berufsschulen auf eine Arbeitsstelle scheinen mit 84 % Beschäftigten trotzdem gut zu sein. Allerdings sinkt diese Zahl nach einem halben Jahr Berufstätigkeit erheblich auf 62–72 % und nach drei Jahren auf geringe 25–30 % (Suprun et al. 2012, 24).

Berechnungen der Bildungsrendite, die das ETF unter Berufung auf den Staatlichen Statistikdienst der Ukraine für die Jahre 2003–2005 veröffentlichte, weisen darauf hin, dass unterhalb der Hochschulreife etwa gleiche Ergebnisse voraussehbar sind, unabhängig davon, ob jemand Analphabet/-in ist, keinen Schulabschluss hat oder zumindest die mittlere Reife (ETF 2009, 65).

Es ist ein starker Trend hin zu einer Jobpolarisierung auf Kosten von handwerklichen Berufen, Angestelltenberufen und Techniker/-innen zu beobachten. Die Zahl der in „höheren“, anspruchsvolleren Berufen Tätigen nimmt zu, ebenso wie Zahl derjenigen, die Jobs als Ungelernte oder als Angelernte im Dienstleistungs- und Verkaufssektor wahrnehmen (Kupets 2015/16, 142). Dies deutet darauf hin, dass ein Abschluss der beruflichen Bildung zunehmend hinfällig wird bzw. nicht lohnender ist, als direkt nach der Sekundarstufe I in den Arbeitsmarkt einzumünden.

Es ergeben sich folgende Lohnunterschiede nach Bildungsniveau, ausgedrückt in Prozent des mittleren Lohnes eines Universitätsabschlusses: Grundschulabgänger/-innen 74 %, Abgänger/-innen der „niedrigeren“ Berufsbildung 81 %, Abgänger/-innen der Sekundarschulberufsbildung 82 %, Absolvent/-innen von Kollegs 84 % und Abgänger/-innen der allgemeinbildenden Sekundarschule 59 % (ETF 2009, 72).

Wie in Abschnitt 4.2.3.4 A gezeigt, sind relativ gesehen weniger Berufsschulabsolvent/-innen arbeitslos als Menschen mit „niedrigerem“ Abschluss. Vergleicht man die Arbeitslosenzahlen der Jahre 2013 und 2015, so stellt man ein Sinken des Anteils derer mit höchstens der Mittleren Reife von 5,2 % auf 2,8 % fest, während der Anteil der Berufsschulabsolvent/-innen gestiegen ist (2013: 33,2 % und 2015 37,5 %). Den höchsten Anteil stellen die Hochschulabsolvent/-innen mit 43,6 % im Jahr 2013 und leicht angestiegenen 45,1 % im Jahr 2015 (Libanova et al. 2016, 53). Dieser Vergleich deutet darauf hin, dass Arbeitgeber/-innen zunehmend auf Kosten von Absolvent/-innen der beruflichen Bildung nicht berufliche Qualifizierte einstellen. Ein gegenläufiges Bild malen die Arbeitslosenzahlen des ETF. Bei einer Einteilung in drei Bildungsstufen (wenig/mittel/hoch gebildet) weisen sie eine deutliche Zunahme bei den wenig Gebildeten auf (2013: 6,8 %; 2017: 11,9 %; 2018: 13,0 %), die maximal über einen mittleren Bildungsabschluss verfügen. Parallel dazu sank der Anteil der Beschäftigten unter den wenig Gebildeten stark (2013: 30,0 %; 2017: 16,7 %; 2018: 15,5 %) (ETF 2019c, 15).

Dass, wie im Idealtypus, in der Ukraine von Arbeitgeber/-innen bevorzugt Menschen mit „niedrigerer“ oder keiner Qualifizierung eingestellt werden statt solche mit beruflichem Abschluss, um geringere Löhne zahlen zu können, kann angesichts der nicht eindeutigen Ergebnisse nicht vollauf bejaht werden. Es ist angesichts der hohen Zahl an Überqualifizierten, die Kupets für das Jahr 2013 mit knapp 40 % beziffert (Kupets 2015/16, 142), vielmehr anzunehmen, dass der Lohn für einfachere Tätigkeiten von der Arbeitsstelle und nicht von der Qualifikation abhängt.

C.:

Option des internen Aufstiegs ohne Abitur nicht mehr vorhanden, da genügend Abiturient/-innen für zu vergebende Führungspositionen verfügbar

Hinsichtlich Beförderungen ist bekannt, dass in der Ukraine Nepotismus auftritt, also Verwandte bevorzugt behandelt werden (Ignatowski et al. 2019, 304 f.). Nach van Zon stehen Intelligenz und außerordentliche Fähigkeiten Arbeitnehmer/-innen eher im Weg, als dass sie ihnen nützten, um aufzusteigen, da sich die Machthaber/-innen auf höheren Positionen von fähigen Mitarbeiter/-innen leicht bedroht fühlten. Das A und O sind auch hier die persönlichen Verbindungen zur Führungsetage (Zon 2001, 79). Befragungen ergaben übereinstimmend, dass die überwältigende Mehrheit an ukrainischen Arbeitnehmer/-innen in den letzten fünf Jahren vor der Befragung nicht befördert worden war. Viele von ihnen erwartete dies auch nicht im Jahr nach der Befragung. Manche befürchteten sogar eine Abwertung (Chernyshev 2005/06, 26). Nachdem schon für einfache Tätigkeiten ein Hochschulabschluss gefordert wird, können sich Berufsschulabsolvent/-innen und Abiturient/-innen kaum Hoffnungen auf einen Aufstieg in Führungspositionen machen, außer sie holen ihren Hochschulabschluss nach, beispielsweise per Fernunterricht (532I; 532K). Von der Möglichkeit des Fernstudiums wird von „Qualifizierten Arbeiter/-innen“, die an Führungspositionen gelangt sind, durchaus Gebrauch gemacht, damit sie ihre Posten behalten können: „In many cases, people who don’t have the HE diploma after obtaining of a managerial position get it via distant education“ (532I). Für Angestellte ohne Berufsausbildung und ohne Studium, die direkt nach der „vollständigen“ Sekundarschulbildung in den Arbeitsmarkt eingemündet sind, wird ein unternehmensinterner Aufstieg als sehr unwahrscheinlich eingeschätzt (533I; 533K).

Die idealtypische Funktion des Abiturs übernehmen im ukrainischen Realtypus die Hochschulzertifikate, das heißt, es braucht für einen Aufstieg den Abschluss eines Studiums. Dadurch ist der ukrainische Realtypus hier in gewissem Sinne extremer als der Idealtypus in Phase 2. Dies hängt mit der höheren Anzahl an Hochschulabsolvent/-innen zusammen, was mit der im Vergleich zum Idealtypus weniger scharfen Selektion zu begründen ist. Anders als im Idealtypus ist ein Aufstieg für Berufsschulabsolvent/-innen denkbar und nicht unwahrscheinlich, wenn sie ihren Hochschulabschluss nachholen. Sie sind aufgrund der Existenz der Doppelqualifikation der Berufsausbildung oftmals in Besitz der Hochschulreife (s. hierzu Abschnitt 4.1.3). Menschen, die ein Abitur, aber keine berufliche Bildung vorzuweisen haben, haben kaum Aussichten auf Beförderung.

D.:

Relativ lange Anlernphasen im Betrieb gewinnen an Bedeutung

Um das Defizit an verwertbaren Kompetenzen von Schulabgänger/-innen zu beheben, behelfen sich Unternehmen im ukrainischen Realtypus mit Anlernphasen oder Schulungen:

As a rule, employees are trained on the job, with some academics offering training to specific branches of industry on the basis of individually tailored curricula, for example in the banking sector. Numerous Western institutions and organizations are involved in training and continuing education. (Hellwig/Lipenkowa 2007, 809)

Laut den befragten Expert/-innen ist zu Beginn von Beschäftigungsverhältnissen eine Anlernphase üblich (54I; 54K), die meist circa zwei Wochen dauert (54I). Nach Meinung eines Experten bzw. einer Expertin kann das Einlernen bis zu drei Monate dauern, was der Dauer der gesetzlichen Probezeit entspricht (54I). Gemäß Prytomanov et al., die in ihrem Artikel exemplarisch den Metallurgiesektor behandeln, gehen Unternehmen dazu über, ihre Arbeitnehmer/-innen in Kurzzeitkursen in eigenen Trainingszentren zu schulen (Prytomanov et al. 2018, 241 f.; s. Abschnitt 4.2.3.1 G). Große Unternehmen verfügen über eigene Universitäten und haben begonnen, ausländische Spezialist/-innen zu rekrutieren (Bastedo et al. 2009, 13). Gleichzeitig ist es eine probate Strategie der Unternehmer/-innen, Überqualifizierte einzustellen, um Trainingskosten einzusparen (Kupets 2015, 31). Oftmals wird die erste Zeit einer Fachkraft ohne Berufserfahrung im Unternehmen als „Praktikum“ deklariert, sodass Lohnkosten eingespart werden können (Salo 2017, 98).

Somit gewinnen in der Ukraine Anlernphasen im Betrieb an Bedeutung – wie im idealtypischen Verlauf. Diese sind jedoch zeitlich meist auf die Probezeit oder die ersten zwei Wochen begrenzt und daher eher kürzer als im Idealtypus. Die Tendenz weist mit der Einrichtung betrieblicher Trainingszentren jedoch in Richtung der idealtypischen Ausprägung.

E.:

Das Wirtschaftssystem passt sich an das Bildungssystem an und organisiert Unternehmen so, dass Führungskräfte auf ihrer Ebene universell einsetzbar sind und keine ausführenden Tätigkeiten, für die fachliches Können vonnöten wäre, übernehmen

Nachdem das Bildungssystem in der UdSSR ursprünglich an den Bedarfen des Arbeitsmarktes orientiert war, tendierte die allgemeine Mittelschule immer mehr in Richtung Hochschulpropädeutik (s. Abschnitt 4.1.2). Die berufliche Bildung war auf spezifische Arbeitstätigkeiten ausgerichtet (Zinser 2015, 689).

In der Ukraine hat sich im Bildungssystem eine andere Leistungsdefinition als die der Wirtschaft durchgesetzt bzw. wird ein anderes Bildungsideal als das der Beschäftigungsfähigkeit angestrebt. Wie Bastedo et al. aufzeigen, reagierte die Regierung in der Vergangenheit auf die mangelnde Beschäftigungsfähigkeit nicht damit, die Hochschulcurricula anzupassen oder enger mit Arbeitgeber/-innen zusammenzuarbeiten, sondern veränderte die Arbeitsmarktregulierungen entsprechend dem Output der Hochschulen (Bastedo et al. 2009, 14).

Zahlreiche Arbeitgeber/-innen monieren nach wie vor fehlende praktische und aktuelle Kompetenzen der Abgänger/-innen der beruflichen Bildung sowie der Hochschulbildung bzw. ihre für die Bedarfe der Wirtschaft inadäquaten Fähigkeiten (vgl. zum Beispiel OECD EA 2015; Del Carpio et al. 2017, 81 f.).

Die Gewohnheit der Studierenden, nach detaillierten Studienplänen und deren engen Vorgaben zu arbeiten, die verschulte Lernkultur mit Unterricht in festen Klassenverbänden und die Einstellung, dass die Expertise des Lehrenden nicht infrage gestellt werden darf, wirken sich auf die Arbeitsweise in Firmen und die Beziehung zwischen Führungspersonen und Mitarbeiter/-innen aus (App/Scheurer 2017, 271), die kaum Raum für Entscheidungsfreiheit und Selbstständigkeit der Mitarbeiter/-innen lassen.

Ein Problem stellt die an das Sowjetsystem angelehnte Bildungsplanung dar, bei dem der Staat die Bedarfe plant und entsprechend Studienplätze zur Verfügung stellt. Anders als zur Sowjetzeit richten sich Sovsun zufolge die als Bedarf errechneten Plätze in der Ukraine seit 2016 nicht primär nach dem Arbeitsmarkt, sondern nach der Nachfrage von Seiten der Bewerber/-innen (Sovsun 2017, 12). Teilweise reagierte das Ministerium in der Vergangenheit auf entstehende Ungleichgewichte, indem es mehr Budgetstudienplätze in technischen Bereichen anbot, wo in der Wirtschaft dringend Arbeitnehmer/-innen gesucht wurden (Shevchenko 2008, o. S.). Allerdings wurden diese Kontingente aufgrund der einseitigen Fächerwahl der Studierenden nicht ausgeschöpft (Sovsun 2017, 6).

Offiziell versucht die Regierung, mittels Reformen einen neuen Kurs einzuschlagen und gerade auch die Hochschulbildung besser mit dem Arbeitsmarkt abzustimmen. In der Realität zweifelt man auf Arbeitgeberseite noch an deren Erfolg. Man ist unsicher, ob es sich durchsetzen lässt, neue Bildungsziele zu implementieren, die die bisherige Ausrichtung auf abstrakte Inhalte zur Förderung des Intellekts und der geistigen Fähigkeiten ersetzen und eine Neuausrichtung auf den Beschäftigungseintritt und die Wettbewerbsfähigkeit am Arbeitsmarkt bewirken (Prytomanov et al. 2018, 253 ff.).

Die oben erläuterten Maßnahmen von Unternehmerseite, mit eigenen Trainingsinstitutionen bzw. Anlernphasen auf Kompetenzdefizite zu reagieren, sind ein Zeichen der Anpassung des Wirtschaftssystems an das Bildungssystem.

Für Jobs im Firmenmanagement als Geschäftsführer/-in, Direktor/-in oder Abteilungsleiter/-in ist meist ein abgeschlossener Master in einer der Studienrichtungen Betriebs- oder Volkswirtschaft, Marketing, Finanzwesen, Ingenieurwesen oder Recht Voraussetzung, außerdem Berufserfahrung. Die geforderten „technischen“ Fähigkeiten betreffen solche wie Kenntnis der Region, des Marktes, der Industrie und Technologien, der Rechtsgrundlagen, im Personal- und Krisenmanagement, strategischer Planung, Budgetierung, Marketing und Verkauf. Hinzu kommen Fähigkeiten in den Bereichen Kommunikation und Management, analytische und strategische Denkfähigkeit, Entscheidungskompetenz, Problemlösekompetenz und sozioemotionale Kompetenz (Del Carpio et al. 2017, 134). Nach Muller und Safir sind für Führungsposten kaum spezifische technische Kompetenzen gefragt. Sie stellen eine Hinwendung zur Abfrage von Fähigkeiten bei Bewerber/-innen fest, nicht von Bildungsniveau oder Berufserfahrung wie bislang. Als möglichen Grund nennen sie die Tatsache, dass Hochschulbildung häufig kaum relevante Kompetenzen für den Arbeitsmarkt vermittelt oder eine schlechte Qualität aufweist (Muller/Safir 2019, 15, 31 f.).

Hinsichtlich der benötigten Kompetenzen von Führungskräften sind Generalisierungen im ukrainischen Fall aber nicht möglich (552I; 552K), weil es von der Position und ihren Spezifika, dem Beruf und dem Arbeitsmarkt abhängt, wie vorgegangen wird (552K). Von Führungskräften der oberen Managementebenen, bei denen es um allgemeine Führungsaufgaben geht, werden eher generalistische Fähigkeiten erwartet. Gleichwohl gibt es viele Führungsposten, die ein umfassendes Fachwissen erfordern (552I). Schlüsselkompetenzen werden als Vorteil angesehen (552K) bzw. als signifikant beurteilt (552I). Eine Expertengruppe tendiert dazu, Fachwissen als wichtiger einzuschätzen, wobei davon abgewichen werden könne (553K). Bei der Vergabe von Führungsposten suchen ukrainische Arbeitgeber/-innen eher nach kompetenten Spezialist/-innen mit Berufserfahrung als nach Generalist/-innen: „However, in the case of finding candidates for management positions, preference is usually given to highly competent specialists in the relevant field with experience“ (551I; vgl. auch 551K).

Hinsichtlich einer idealtypisch stattfindenden Anpassung des Wirtschaftssystems an das Bildungssystem kann eine solche auch für den ukrainischen Realtypus festgestellt werden. Dies wird zum einen darin sichtbar, dass die Regierung eher Arbeitsmarktregulierungen an das Bildungssystem anpasst, als das Bildungssystem stärker auf die Wirtschaft zuzuschneiden. Zum anderen reagieren erste Unternehmer/-innen aktuell auf die Kompetenzdefizite von Hochschulabgänger/-innen mit der Errichtung eigener Trainingszentren. Einschränkend muss hinzugefügt werden, dass Bemühungen laufen, dies zu ändern und das Bildungssystem so zu konzipieren, dass es der Wirtschaft besser gerecht wird.

Anders als im Idealtypus legen ukrainische Firmen bei der Auswahl von Führungskräften tendenziell mehr Wert auf Fachkenntnisse.

F.:

Strukturen des Beschäftigungssystems und Beziehung zum Bildungssystem wie in Phase 3 (Spalte 4)

Wie im Idealtypus in Phase 3 braucht man im ukrainischen Realtypus für einen hohen Führungsposten in der Regel einen Hochschulabschluss (Del Carpio et al. 2017). Dies gilt jedoch nicht nur für Führungspositionen, sondern auch schon für vergleichsweise einfache Tätigkeiten (Round et al. 2008, 156 f.; Zimmermann 2017, 9). Ein interner Aufstieg ist ohne Hochschulabschluss höchstens bis zur Ebene des Meisters bzw. der Meisterin möglich (532I; 532K; 533I).

Auch hinsichtlich des Facharbeitermangels entspricht die Ukraine dem Idealtypus in Phase 3. So arbeiten zahlreiche Ukrainer/-innen in Jobs, für die sie über- oder nicht qualifiziert sind (vgl. zum Beispiel Kupets 2015/16, 142; Zimmermann/Schwajka 2018, 22).

4.2.3.5 Folgen und Bezug zu wertlogischen Aspekten

A.:

Leistungsfähigkeit ist eng verbunden mit Bildungszertifikaten als Nachweis erbrachter Leistung; Bildungsabschlüsse bekommen übersteigerte, quasi-moralische, hohe symbolische Wertigkeit auf Grundlage des im Rahmen der Leistungssozialisation vermittelten Leistungsverständnisses

In der Ukraine ist der Bildungsabschluss einer Person ein Maßstab für ihren sozialen Status (Fedorenko 2017, 201). Es hat einen hohen kulturellen Stellenwert, ein solches Dokument zu besitzen (Filiatreau 2011, 52). Obwohl Hochschulen durch ihren Theoriefokus ihre Absolvent/-innen mit geringen praktischen Fähigkeiten verabschieden, werden offizielle Zertifikate am Arbeitsmarkt mehr geschätzt als wirkliches Können, das eigentlich im Job gefragt wäre (Gorobets 2008, 98). Damit erhalten Bildungstitel eine übersteigerte Wertigkeit. Ihre außerordentliche Bedeutung resultiert in „diploma mills“ mit niedrigen Qualitätsstandards und korrupten Praktiken bei der Diplomverleihung (Filiatreau 2011, 52; Osipian 2015; Härtel 2017). Dies wirkt wiederum negativ auf die reale Wertigkeit von Bildungszertifikaten und ihre Signalfunktion zurück (vgl. Shevchenko 2008, o. S.). Sie werden in der Konsequenz als Mindestvoraussetzung interpretiert, die für eine allgemeine Leistungsfähigkeit steht (vgl. Korzh 2014).

Weil es für den Erhalt einer Arbeitsstelle letztlich mehr auf Beziehungen und Schmiergelder ankommt als auf das Abschlusszeugnis, verkommt der ukrainische „credentialism“ zu einem ideologischen Mythos, bei dem die jungen Menschen eifrig im Wettbewerb um die Zertifikate mitkämpfen (vgl. Korzh 2014, 69). Im Rahmen der Leistungssozialisation entwickeln junge Ukrainer/-innen die Einstellung, dass Bildungstitel die Eintrittskarte zu gutem Einkommen, Karriereperspektiven und einem gehobenen sozialen Status sind – vor allem auch zu Positionen, an denen sich durch Korruption viel verdienen lässt (vgl. Libanova et al. 2013, 40; 381D; 381K; 381N; 382N; 571I; 572I). Dabei wird andererseits die Wertigkeit von Bildung als solcher anerkannt und betont – sieht doch die ukrainische Öffentlichkeit die Bildung in der Pflicht, kulturelle Werte zu vermitteln, vor allem angesichts des stattfindenden Werteverfalls und der Konsumorientierung (vgl. Libanova et al. 2013, 38 ff.).

Aufgrund der vorherrschenden illegalen Möglichkeiten, an gute Noten und Bildungsdiplome zu kommen, ist eine mögliche quasi-moralische Wertigkeit von Bildungszertifikaten in der ukrainischen Realität nur begrenzt denkbar. Laut den Aussagen der befragten Expertengruppen haben Bildungstitel in der Ukraine keine quasi-moralische Wertigkeit, weil die Moral eines Menschen nicht mit seinem Bildungsniveau verknüpft wird (42D; 42K; 42N). Sehr gute Leistungen in den am meisten geschätzten Fächern werden in der ukrainischen Kultur nicht als Indikator der allgemeinen menschlichen Fähigkeiten interpretiert (371D). Ebenso wenig dient das Ausmaß der Allgemeinbildung einer Person als Zeichen ihrer moralischen Qualitäten (42D; 42K; 42N).

Wie im Idealtypus besitzen Bildungszertifikate in der ukrainischen Wirklichkeit also eine überhöhte Wertigkeit. Dies zeigt sich beispielsweise an „diploma mills“ oder auch an den hohen Akademikerzahlen. Ähnlich wie im Idealtypus folgen junge Ukrainer/-innen der Maxime, dass möglichst hohe Bildung zu guten Karriere- und Verdienstperspektiven führt.

Die quasi-moralische Wertigkeit von Bildungszertifikaten, die im Idealtypus vorliegt, ist im ukrainischen Realtypus nicht vorzufinden. Hier wird der Besitz von bestimmten Bildungszertifikaten nicht mit moralischen Haltungen der Besitzer/-innen verbunden. Dies lässt sich logisch mit den illegalen Praktiken, die beim Erwerb von Zertifikaten häufig eingesetzt werden, begründen.

B.:

Abschluss-/Zugangsprüfungen werden entlang der kulturellen Definition von Leistung möglichst objektiv gestaltet; dadurch Ausschluss von Leistungsaspekten, die nicht objektiv bewertbar sind oder kulturell keine Wertigkeit besitzen; damit Bewegung weg vom Fachlichen und hin zur allgemeinen Leistungsfähigkeit als wertvoll und karriereentscheidend

Wie oben dargelegt (s. Abschnitt 4.1.2.6), war es das große Erziehungsziel der Sowjetunion, allseitig entwickelte Menschen heranzuziehen. Schon damals zeichnete sich eine verstärkte Öffnung der Gesellschaft in Richtung des Primats der Theorie und des intellektuellen Anspruchs ab. Leistungsbezogene Elemente wurden mit Stalin wieder salonfähig und setzten sich langfristig durch. Die unabhängige Ukraine stand vor der Aufgabe, eigene Bildungsziele zu formulieren, die den jungen Staat stützen könnten. Dies ging mit der Schwierigkeit einher, zwischen wertvoller Tradition, internalisierten, aber nicht unbedingt reflektierten, Werten aus der Zeit des Sozialismus und einer pauschalen Ablehnung alles „Sowjetischen“ hindurch einen fruchtbaren Weg einzuschlagen.

Gesetz und Strategie der Neuen Ukrainischen Schule befinden sich durchaus in Einklang mit der ukrainischen Tradition und Publikationen ukrainischer Verfasser/-innen über Bildung und Pädagogik. Seit der Unabhängigkeit wurde verstärkt die Persönlichkeit der Schüler/-innen in den Mittelpunkt gerückt (NAES 2017, 29; vgl. auch Kononenko/Holowinsky 2001, 228). Bis heute wird von pädagogischer Seite unterstrichen, dass es für die Wirtschaft entwickelte Persönlichkeiten braucht, die auf moralisch anerkannter Grundlage handeln und kulturell gebildet sind (IVET NAPS 2017, 51, 54). Als markante Schlagworte des aktuellen pädagogischen Diskurses lassen sich „Humanisierung“ und „Fundamentalisierung“ nennen (Braun 2021, 62), die mit der im Bildungsgesetz außerdem erwähnten Nations- und Staatsorientierung sowie Demokratisierung einhergehen (Kononenko/Holowinsky 2001, 228 ff.; s. unten).

Unter Rückbezug auf unterschiedliche Stimmen aus der Ukraine beschreiben Kononenko und Holowinsky die neue ukrainische Pädagogik. „Humanisierung“ steht in Zusammenhang mit der Abkehr von der Instrumentalisierung von Menschen, wie sie in der UkrSSR praktiziert wurde. Diese Abwendung beinhaltet eine neue Konzeption des Kollektivgedankens, der in der Sowjetunion dazu benutzt wurde, von Individuen die bedingungslose Unterordnung eigener Interessen unter jene der Gemeinschaft zu verlangen. Anstelle der „Verwertung“ von Menschen soll der Kern von Bildung in Entscheidungsfreiheit bestehen. Eingebettet in kulturelle und soziale Kontexte, sollen die Schüler/-innen Schritt für Schritt zur Verantwortlichkeit erzogen werden. Zu einer „humanisierten“ Bildung gehören überdies gegenseitiges Vertrauen und Respekt zwischen Lehrer/-innen und Schüler/-innen, wobei die Kultivierung der Selbstachtung der Schüler/-innen eine wichtige Aufgabe der Lehrpersonen ist. Unterstrichen wird in dem Zusammenhang der tolerante Umgang der Lehrkräfte mit Schülerfehlern. Auch soll die Gruppe nicht für das Verhalten eines Einzelnen zur Rechenschaft gezogen werden. Ideologische und politische Kontrolle des Schullebens und Gleichmacherei von Menschen werden abgelehnt (Kononenko/Holowinsky 2001, 229).

„Fundamentalisierung“ bedeutet, dass theoretische und sogenannte praktische Bildung verbunden werden. Verknüpfendes Element ist eine systematische und tiefe, also „fundamentale“, Wissensaneignung, die verschiedene Wissenschaften umfasst und integriert. Als theoretische Bildung versteht man dabei Regeln, die das Ergebnis von Analyse und Synthese sind. Praktische Bildung beinhaltet den Wissenstransfer, der zu leisten ist, wenn Wissen in Formeln oder Regeln oder Modellen angewendet wird (Braun 2021, 62; vgl. auch LSGR o. J.). Den Bildungssubjekten, die im Sinne der Humanisierung nun im Mittelpunkt des Bildungsprozesses stehen sollen, werden nach dem Fundamentalisierungsansatz Bildungsinhalte vermittelt, die sie befähigen, die Anforderungen, die der Bildungsprozess und die Gesellschaft an sie stellen, zu bewältigen (Vaskivska 2017, 48). Sie sind gekennzeichnet durch Integrität, Verallgemeinerung, eine universelle Natur und praktische Bedeutung (Vaskivska 2017, 49). Damit stehen Fundamentalisierung und Humanisierung in engem Zusammenhang, der überdies die ebenfalls vielzitierte Universalisierung einschließt (vgl. zum Beispiel Kulyk 2019).

Dies kommt auch in den Schlüssen von Braun zum Ausdruck, die sie nach einer Analyse ukrainischer Quellen (LSGR o. J.; Myshchyshyn 2008; Tkach 2018) zieht. Demnach steht nach ukrainischem Verständnis beim Bildungsvorgang im Zentrum, Lernende zu befähigen, ihr Leben in all seinen Facetten gestalten und leben zu können. Hierzu kombiniert man Bildung und Erziehung, indem man Wissensvermittlung und Persönlichkeitsentwicklung verbindet. Beschäftigungsfähigkeit ist das Resultat der „Fundierung“, also der Aneignung bestimmter Fundamente. Diese ertüchtigen den Menschen, die Herausforderungen des Lebens zu meistern, auch im Beruf, den Erhalt und Fortschritt der eigenen Kultur zu fördern und sich in seiner Individualität zu entfalten. Die „Fundierung“ ist charakterisiert durch ein tiefes und vernetztes Verstehen von Inhalten und Phänomenen. Dieses Verständnis beinhaltet, dass Wissenselemente miteinander verknüpft sind und Strukturen und Wesen von Phänomen und ihrer Einbettung begriffen werden. Es befähigt zu selbstständigem und flexiblem Denken und dem Finden kreativer Lösungen und effizienter Wege, wenn Individuen in ihrem Lebensalltag mit unterschiedlichen Situationen konfrontiert werden. Daher betont man ganzheitliches Lernen und eine möglichst umfassende Erschließung der Umwelt, die beispielsweise durch Schulung des Intellekts, der logischen Denkfähigkeit, der Reflexionsfähigkeit und der Prognosekompetenz erreicht werden sollen. Zudem fördert man Lernende darin, Handlungen zu verstehen und ihre Konsequenzen absehen zu können, sodass sie lernen, situationsspezifisch jeweils möglichst effiziente Handlungsalternativen zu wählen. Dabei geht man von der Annahme aus, dass bestimmte Disziplinen am besten dafür geeignet sind, die intendierte intensive wissenschaftliche und methodische Wissensaneignung hervorzurufen, die „fundamentale“ Bedeutung für den Erwerb beruflicher Kompetenzen hat (Braun 2021, 63).

Entsprechend setzt das ukrainische Bildungsgesetz seine Schwerpunkte und entsprechend gestalten sich die Curricula. Nach einer Blaupause aus dem Jahr 1992 ist das Ziel der Sekundarschule einerseits die Förderung der intellektuellen Entwicklung der Schüler/-innen, andererseits ihr gesellschaftlich-soziales Reifen (Holowinsky 1995, 214 f.). Laut ukrainischem Bildungsgesetz wird Bildung als Fundament der intellektuellen, kulturellen, geistigen, sozialen und wirtschaftlichen Entwicklung der Gesellschaft und des Staates verstanden. Als Ziele werden folgende ausgegeben:

  • die vollständige Entwicklung der menschlichen Persönlichkeit und der höchsten gesellschaftlichen Werte,

  • die Förderung von Talenten und mentalen sowie physischen Fähigkeiten,

  • die Formung hoher moralischer Qualitäten,

  • die Ausbildung von Bürger/-innen, die bewusste Entscheidungen im Sinne der Gesellschaft treffen können,

  • Förderung des intellektuellen, künstlerischen und kulturellen Potenzials der Bevölkerung,

  • Verbesserung des Bildungsniveaus der Bevölkerung,

  • Sicherung der Wirtschaft durch Bereitstellung qualifizierter Fachkräfte (Banaszak 2014, 8; Gesetz der Ukraine vom 23.5.1991, Über die Bildung, Nr. 1060–XII, angepasst am 23.5.2017, PräambelFootnote 6).

Die dabei angewandten Prinzipien sind Humanismus, Demokratie, Nationalbewusstsein und gegenseitiger Respekt zwischen Nationen und Menschen (Banaszak 2014, 8; Gesetz der Ukraine vom 23.5.1991, Über die Bildung, Nr. 1060–XII, angepasst am 23.5.2017, Präambel). Aus gesetzlicher Sicht wird der Bildung also eine relativ allgemeine und umfassende Funktion zugewiesen, die die Gesellschaft, die Persönlichkeit und die individuellen Talente sowie die Wirtschaft berücksichtigt. Dies steht in Einklang mit dem ukrainischen Bildungsverständnis, wie es oben ausgeführt wurde. Besonders zu unterstreichen ist das „Nationalbewusstsein“ im Sinne der Erziehung zum Patriotismus, nach Želudenko und Sabitowa das neue Rückgrat der ukrainischen Bildung (Želudenko/Sabitowa 2015, 852). Unter Demokratisierung fasst man Aspekte wie Personalisierung und Individualisierung von Bildung als Gegenrichtung zum sowjetischen Kollektivismus, verbunden mit Nations- und Staatsbildung. Diese finden sich in verschiedensten politischen Dokumenten über die ukrainische Bildung. Demgegenüber hält man an einer hierarchischen, zentralen Steuerung und Kontrolle von Bildung fest, die man für geeignet hält, um freie, unabhängige Individuen zu formen. Erwähnungen der Bezüge von Bildung zu anderen Gesellschaftsbereichen wie der Wirtschaft und eine Berücksichtigung dieser Bezüge kam lange zu kurz (Fimyar 2008, 579).

Das Augenmerk der Neuen Ukrainischen Schule gilt der Formung von Werten und Einstellungen, die durch eine Schwerpunktsetzung auf Schlüsselkompetenzen bewerkstelligt werden soll (ETF 2017e, 3; 2017d, 5). In dem Glauben, dass dies der Wirtschaft zuträglich ist (ETF 2017c, 4), wird hier also die erzieherische Komponente von Bildung betont. Für die Sekundarbildung der Neuen Ukrainischen Schule legte man dieser Devise folgend zehn Kernkompetenzzielbereiche fest:

  • Kommunikation in der Landessprache

  • Kommunikation in Fremdsprachen

  • Mathematische Fähigkeiten

  • Fähigkeiten in Wissenschaft und Technologien

  • Digitale Kompetenzen

  • Lern- und Anpassungsfähigkeit

  • Unternehmertum

  • Soziale und staatsbürgerliche Kompetenzen

  • Kulturelle und künstlerische Kompetenzen

  • Kenntnisse in den Feldern Umwelt und Gesundheit (ETF 2017c, 8).

Als unverzichtbar für das Erlernen von Schlüsselkompetenzen definiert man weiter folgende Fähigkeiten: Lesen, schriftliche und mündliche Ausdrucksfähigkeit, kritisches Denken, seine Meinung logisch artikulieren können, konstruktiver Umgang mit den eigenen Emotionen, Initiative, Kreativität, Problemlösefähigkeit, Beurteilung von Risiken und Entscheidungsfähigkeit, Teamfähigkeit (ETF 2017c, 8). Hier zeigt sich eine deutliche Hinwendung zur Beschäftigungsfähigkeit, die jedoch nicht konkret und tätigkeitsspezifisch wird, sondern auf die Herausbildung von breit ausgelegten Kernkompetenzen und Flexibilität setzt.

Traditionell misst man in mittel- und osteuropäischen Ländern einerseits guten Leistungen in den einzelnen Fächern eine große Bedeutung bei, andererseits hebt man die „erzieherische und bildende Funktion der Schule“ hervor. Konservative Stimmen fordern die „Vermittlung von sittlichen Werten und die Rückholung der Erziehung in die Schule“ (Steier 2006, 562). Inbegriffen ist hier die Ausformung einer Haltung der Wertschätzung gegenüber der Arbeit (Koblyk 2017, o. S.). Es ergibt sich hieraus die Frage nach der Priorität von Bildungszielen (Steier 2006, 562). Da sich die Ergebnisse einer solchen erziehungsfokussierten Bildung kaum messen und in testbasierte Kontexte übertragen lassen, entsteht ein Spannungsverhältnis zwischen den traditionellen Werten und der Leistungssozialisation. Das NAES spricht davon, eine Synthese zwischen einer egalitären und einer elitären Interpretation des Humanismus suchen zu müssen (NAES 2017, 59). Aufgrund dessen, dass die Sowjettradition idealistisch eindeutig die Gleichheit akzentuierte, diese aber realiter nicht umzusetzen vermochte und in vielen Bereichen den Menschen aus dem Blick verlor, bietet die Historie widersprüchliche Orientierungen an. Daher steht die unabhängige Ukraine vor der Herausforderung, soweit möglich losgelöst von der Prägung der Vergangenheit eigenen Werten zu folgen.

Laut Mitter findet der Diskurs um das Leistungsprinzip in Europa ohne Berücksichtigung des Gedankens der Bildung der Person als solcher statt (Mitter 2004, 636 f.; vgl. auch Steier 2006, 562 f.). Durch die Teilnahme der Ukraine am Bologna-Prozess zur Schaffung eines gemeinsamen Europäischen Bildungsraums und der politischen Hinwendung zur EU findet zumindest auf politischer Ebene und auch mittels EU-finanzierter Projekte eine Hinwendung zum EU-europäischen Leistungsdenken statt. Wie der Idealtypus zeigt, gibt es gleichwohl auch Möglichkeiten, beiden Seiten gerecht zu werden, indem man tätigkeitsbezogene Bildung ausklammert und allgemeine Fähigkeiten prüft. Dies lässt sich durch das Argument rechtfertigen, den Intellekt der Schüler/-innen als Grundlage moralisch erwünschten Verhaltens zu entwickeln. Durch die Betonung von Schlüsselkompetenzen durch die EU (als bedeutende Kompetenzen für den Arbeitsmarkt und die Beschäftigungsfähigkeit) und die Hervorhebung des erzieherischen Werts von Bildung (die ursprünglich nicht mit der Wirtschaft und der Verwertung menschlicher Arbeitskraft verbunden ist) von Seiten ukrainischer Pädagog/-innen verfügen die europäische Bildungspolitik und die ukrainische Bildungstradition über einen gemeinsamen Anknüpfungspunkt, über den sich verschiedene Interessen verbinden und argumentieren lassen. Darin enthalten sind auch die Interessen der Arbeitgeber/-innen, die Del Carpio et al. zufolge neben technischen, jobspezifischen Kompetenzen allgemeine Fähigkeiten wie Problemlösefähigkeit, Eigenständigkeit, Teamfähigkeit und professionelles Verhalten als erforderlich deklarieren (Del Carpio et al. 2017, 5). Außer erstgenannten Kompetenzen sind alle weiteren schwerlich messbar.

Das ukrainische Bildungsverständnis und die politischen Intentionen sowie gesetzlichen Anordnungen drücken sich in den Strukturen des Bildungssystems aus. Anhand der offiziellen Hierarchie der ukrainischen Bildungsniveaustufen lässt sich erkennen, dass je „höher“ das Bildungslevel ist, desto allgemeiner und abstrakter sind die Inhalte. Der intellektuelle Anspruch steigt von Stufe zu Stufe, ebenso die Relevanz von Theoriewissen und Kenntnissen wissenschaftlicher Methoden, während die Tätigkeitsspezifität abnimmt (Braun 2021, 61 f.; vgl. auch IdW 2011–2020b; NOICHE 2013a, 2, 9 f.; MES 2017–2019).

Der ukrainische Hochschulbereich zeichnet sich durch einen starken Theoriefokus aus (Gorobets 2008, 98; Filiatreau 2011, 51 f.), den Friedman und Trines als ungesunde Obsession bezeichnen: „Ukrainian society has an unhealthy obsession with theoretical university education at the expense of more employment-geared education and training“ (Friedman/Trines 2019). Darum erreicht das theoretische Wissen karriereentscheidenden Status, denn man besitzt nur mit einem Hochschulabschluss in der Tasche gute Chancen auf eine erfolgreiche berufliche Laufbahn.

Die stattfindende Objektivierung und Schaffung von Transparenz bei der Leistungsbeurteilung im ukrainischen Bildungssystem wird von der Politik argumentativ mit der anvisierten Humanisierung und Individualisierung von Bildung verwoben. Über die Bildungsgesetze von 1991 und 1999 sowie eine Resolution aus dem Jahr 2000 öffnete man den Weg für neue, zunächst nicht definitiv konkretisierte Bewertungskriterien und ein anderes, differenzierteres Notensystem. Letzteres besitzt einen anderen Grundtenor, der den Lernzuwachs anstatt der Anzahl der Fehler betont (Fimyar 2008, 583 ff.).

Gerade am in der Ukraine relevantesten Übergang von der Sekundarschule zur Hochschule hat man in den letzten Jahren mit der Einführung des unabhängigen Tests (EIT) versucht, eine objektive Leistungsbasierung zu erreichen. Es zeichnet sich eine besondere Relevanz von Fächern ab, die in Zusammenhang mit der ukrainischen Identitätsbildung und staatsbürgerlicher Erziehung stehen (vgl. Hellwig/Lipenkowa 2007, 809), da die Fächer Ukrainische Sprache und Literatur, in manchen Fällen auch Ukrainische Geschichte, obligatorische Teile der Prüfung darstellen (Friedman/Trines 2019). Zusätzlich ist Mathematik von hervorragender Bedeutung: Für die Aufnahme an einer Hochschule zählen die Durchschnittsnote des Abiturs und die Ergebnisse des EIT. Die staatliche Abschlussprüfung bezieht sich auf die ukrainische Sprache und Literatur; bei Schüler/-innen ohne Spezialprofil auch auf die ukrainische Geschichte, bei Schüler/-innen mit Spezialprofil auf das entsprechende Spezialhauptfach. Außerdem wird ein Fach aus dem Pflichtbereich gewählt. Fächer, die der EIT prüft, werden durch die Studienwahl vorgegeben, da sie abhängig von den Anforderungen der Hochschulen sind und deren Aufnahmeprüfungen ersetzen (ENIC Ukraine o. J.c; vgl. Friedman/Trines 2019). Populäre Studiengänge setzen meist gute Ergebnisse im Fach Mathematik voraus (Gresham/Ambasz 2019, 8 f.), sodass es besonders auf dieses Fach ankommt. Da, wie in der Liste in Abschnitt 4.2.3.1 B sichtbar, die allermeisten Spezialisierungsfächer der Allgemeinbildung zugerechnet werden können, werden an diesem Punkt Tätigkeitsspezifika oder berufsfachliche Inhalte so gut wie ausgeschlossen.

Mit der ukrainischen Unabhängigkeit von der Sowjetunion und der damit verbundenen Öffnung der Hochschulen vollzog man eine Abwendung von fachlichen, berufsbezogenen Tätigkeiten hin zu theoretischer Bildung und glich sich dadurch dem Idealtypus an. Der Theoriefokus hatte auch schon die Hochschulbildung der Sowjetunion dominiert, bekam nun aber neues Gewicht, da die Schülerströme in die Hochschulen und nicht in die berufliche Bildung flossen. Durch das Schwergewicht auf der Theorie an den Hochschulen sind die vorgelagerten Bildungsgänge gefordert, eine entsprechende theoretische Vorbereitung zu leisten. Besonderen Stellenwert hat die Ukraine-Bildung zur Förderung der nationalen Identität und des demokratischen Staatsbürgertums, die nicht tätigkeitsspezifisch oder berufsorientiert sind, was sich in den Curricula des gesamten Bildungswesens und in der Ausgestaltung der wichtigsten Prüfung der Bildungskarriere, des EIT, bemerkbar macht, der in erster Linie ukrainebezogene Inhalte prüft. Infolgedessen liegt hier eine Ähnlichkeit zum Idealtypus vor, bei dem Leistungsaspekte ausgeschlossen werden, die kulturell nicht geschätzt werden oder nicht objektiv messbar sind. Zu letzteren zählen Aspekte der Humanisierung und Fundamentalisierung. Im Gegensatz zum Idealtypus ist die allgemeine Leistungsfähigkeit formal etwas breiter gefächert und lässt mehr Spezialisierung zu, was sich in der Oberstufe und dem EIT zeigt, wenngleich diese in der Regel nicht berufsspezifisch angelegt ist. Dazu muss relativierend hinzugefügt werden, dass nach Aussage von Friedman und Trines in der Wirklichkeit nicht alle allgemeinen Sekundarschulen spezialisierte Profile anbieten und tendenziell viele Schüler/-innen allgemeine Abschlüsse machen (Friedman/Trines 2019).

C.:

Wertigkeit von Bildungszertifikaten abhängig vom Renommee der Bildungseinrichtung und des Bildungsgangs, die u. a. abhängig von der Selektivität beim Zugang sind bzw. von den Zahlen an Absolvent/-innen, die an die besten weiterführenden Einrichtungen oder Betriebe gelangen

In der Sekundarschulbildung sind es Aufnahmeprüfungen, die darüber entscheiden, wer sich an elitären Spezialschulen anmelden darf und wer nicht (ETF 2009, 62). Wer es schafft, hat bessere Chancen, im zentralen Test am Übergang zum tertiären Bildungssektor sehr gut abzuschneiden und sich in einem gefragten Studiengang an einer renommierten Universität einzuschreiben. Umgekehrt bestimmt sich, so eine der befragten Expertengruppen, das Prestige von Sekundarschulen daraus, wie ihre Absolvent/-innen beim EIT abschneiden (35N).

Die besten Hochschulen sind nicht etwa elitäre Privatschulen, sondern staatliche Nationale Universitäten. Es ist eine Art Prestigehierarchie von Hochschuleinrichtungen erkennbar, die jedoch im Vergleich zum Idealtypus wenig ausdifferenziert und erst auf dem Weg ist, an Bedeutung zuzulegen (s. hierzu Abschnitt 4.2.3.1 C). Abschlüsse bestimmter, prestigereicher Universitäten können Vorteile auf dem Arbeitsmarkt bedeuten (33K). Abschlüsse ausländischer Hochschulen spielen bei der Vergabe von Posten im öffentlichen Dienst oder bei international agierender Unternehmen eine Rolle (33N). Innerhalb der Studienfächer existiert ebenfalls eine Rangfolge, die sich aufgrund der Arbeitsmarktperspektiven, der erwarteten Vergütung (381D; 381K; 381N) und der sozialen Relevanz des entsprechenden Berufes bestimmt (381N). Allerdings stimmen die Erwartungen der Absolvent/-innen und die Realitäten am Arbeitsmarkt häufig nicht überein: „Most often, the idea of entrants when choosing the most prestigious specialty does not coincide with labour market realities“ (381D).

Mit der Einführung des EIT wurden die ursprünglichen Aufnahmeprüfungen an den Hochschulen ersetzt. Eine Ausnahme bilden die Aufnahmetests für prestigereichsten Studiengänge. Mit der neuen Regelung, die beinhaltet, dass die Anzahl an Bewerber/-innen über die bewilligte Zahl an Studienplätzen und dadurch über die finanzielle Ausstattung mitentscheidet, werden beliebte Studiengänge an bestimmten Hochschuleinrichtungen begünstigt (s. hierzu Abschnitt 4.2.3.1 C). Dies lässt erwarten, dass sie sich in ihrem Ansehen weiter von anderen absetzen.

Das Ansehen von Studiengängen bestimmt sich hauptsächlich aus den Lohn- und Karriereaussichten (s. hierzu Abschnitt 4.2.3.2 D). Daher herrscht um staatlich finanzierte Studienplätze solcher Studiengänge mehr Wettbewerb als bei anderen (s. hierzu Abschnitt 4.2.3.1 C), sodass die Anzahl der Bewerber/-innen als ein Indikator für das Prestige eines Studiengangs (an einer bestimmten Hochschule) gewertet werden kann.

Beim Zugang zu Hochschulen wird in der Ukraine eine scharfe Selektion verhindert, weil ein Teil der Studienplätze an zahlende Studierende geht, die nicht die leistungsstärksten sein müssen und auf deren Gelder die Hochschulen angewiesen sind (s. hierzu Abschnitt 4.2.3.1 A.1).

Da Korruption und illegale Praktiken in der Ukraine fester Bestandteil des Hochschulalltags sind, verlieren Hochschulzertifikate an individueller und gesellschaftlicher Wertigkeit (Satsyk 2017, 42). Auch wenn Bildungszertifikate in der Ukraine aufgrund ihres inflationären Aufkommens zusätzlich an Wertigkeit einbüßen (Długosz 2016, 174), hat eine Person ohne Hochschulabschluss schlechte Karriereaussichten.

Über eine Verbindung zwischen Absolvent/-innenzahlen und ihrem Werdegang in bestimmten Firmen ist nichts bekannt. Eine Expertengruppe beantwortet die Frage nach der Existenz einer Prestigehierarchie ukrainischer Unternehmen mit ja (571K). Eine andere Gruppe verneint diese Frage, fügt allerdings an, dass es innerhalb von Sektoren Rankings gebe. Diese basierten auf Arbeitnehmerinteressen wie Entlohnung und Sozialleistungen (571I). Verbindungen zwischen dem Bildungssektor und Unternehmen existieren im Rahmen von Vereinbarungen über Praktika (573I; 573K). In manchen Fällen erhalten Praktikant/-innen später eine Arbeitsstelle im Praktikumsunternehmen (573K). Über Verbindungen, über die regelmäßig Studierende derselben Bildungseinrichtung in prestigereichen Firmen unterkämen, wird nicht berichtet (573I; 573K).

Die Wertigkeit von Bildungszertifikaten ist in der Ukraine nur bedingt vom Ansehen der Bildungseinrichtung und des besuchten Bildungsgangs abhängig. Im Unterschied zum Idealtypus wird am Hochschulzugang weniger selektiert, was mit der geringeren Ausprägung der Hochschulhierarchie und damit verbunden der Wertigkeitshierarchie von Hochschulzertifikaten korrespondiert. Im Sekundarschulbereich kommt der ukrainische Realtypus dem Idealtypus in dem Phänomen nahe, dass sich das Prestige der Schulen aus der Anzahl der Schüler/-innen ergibt, die in renommierte Studiengänge einmünden. In der Ukraine bestimmt es sich aus dem Abschneiden der Schüler/-innen im EIT, das wiederum die Chancen auf prestigereiche Studiengänge festlegt. Durch die Zahlung von Bestechungsgeldern und den weit verbreiteten Plagiarismus im Bildungssystem büßen Bildungszertifikate an Wertigkeit ein. Hierin unterscheidet sich der ukrainische Realtypus vom Idealtypus, bei dem korrupte Praktiken verdeckter ablaufen und lediglich von Familien der höchsten Schichten eingesetzt werden. Ein weiterer Unterschied findet sich in der idealtypischen Verbindung von Bildungseinrichtungen und Firmen, bei der die Anzahl an Absolvent/-innen, die in bestimmte Betriebe gelangt, das Prestige der Bildungseinrichtung beeinflusst. Dieses Phänomen liegt in der Ukraine nicht vor.

D.:

Schüler/-innen strömen in allgemeinbildende Zweige und versuchen, einen möglichst aussichtsreichen Abschluss zu erlangen; berufliche Bildungsgänge verlieren Zulauf, werden marginalisiert und können auch völlig verschwinden und nur noch in Betrieben als fachlich-betriebsspezifische Anlernung stattfinden

Schon zu Sowjetzeiten erfolgte ein Ausbau des post-sekundären Sektors (Popovych/Levin-Stankevich 1992, 27). In der Ukraine stiegen die Studierendenzahlen seit 1980 enorm an (Gresham/Ambasz 2019, 5). In sämtlichen mittel- und osteuropäischen Transitionsländern entwickelte sich eine Bildungsexpansion zugunsten der Hochschulbildung. Sie brachte oft eine Diversifizierung im post-sekundären bzw. tertiären Sektor mit sich. In der Sekundarbildung wurden berufliche Bildungsgänge ohne Anschluss an die Hochschulen von den Lernenden zunehmend vermieden (Kogan 2008, 23; Kogan et al. 2012, 71 f.), wohingegen im Sozialismus noch eine starke Orientierung an der beruflichen Bildung den Ton angegeben hatte (Gebel/Noelke 2011, 30; Noelke/Müller 2011).

Die aufgrund des Bildungsabschlusses zu erwartenden Löhne stellen, wie bereits mehrfach erwähnt, einen wichtigen Teil der Studienmotivation junger Ukrainer/-innen dar (Fedorenko 2017, 203 ff.; Abschnitt 4.2.3.2 D), von denen die überwiegende Mehrzahl einen Hochschulabschluss anstrebt (ETF 2017d, 5). Ein beruflicher Bildungsabschluss unterhalb des Hochschulniveaus bietet kaum Aussichten auf eine gute Berufskarriere. Infolgedessen ist ein starker Trend hin zur tertiären Bildung und den eher allgemein gehaltenen Studiengängen, die dort angeboten werden, zu verzeichnen. Anhand von Abbildung 4.3 lässt sich der Verlauf der absoluten Studierendenzahlen ablesen. Auffällig ist der sprunghafte Anstieg der Zahlen nach 1995/96, also nach den ersten Unabhängigkeitsjahren und der Öffnung der Hochschulen. Seit dem Schuljahr 2010/11 fallen die absoluten Zahlenwerte der eingeschriebenen Studierenden. Eine nachvollziehbare Erklärung hierfür liefert die demografische Entwicklung der Bevölkerung, die zu sinkenden Studierendenzahlen geführt hat (SSC o. J.; Kooperation international 2019). Überdies treten von Jahr zu Jahr mehr junge Menschen ein Studium im Ausland an (Kettner 2009, 112; MEDT 2015, 36; Kooperation international 2019).

Abbildung 4.3
figure 3

Die Anzahl der Studierenden in der Ukraine nach Hochschulniveau im Zeitverlauf. (Datenquelle: SSC 2018, 117)

Abbildung 4.4 stellt den Verlauf der Anzahl der eingeschriebenen Lernenden sowohl in der beruflichen Bildung als auch an Hochschulen der vier Akkreditierungsniveaus dar. Die Zahlen der beruflichen Bildung und der unteren Akkreditierungsniveaus liegen nahezu gleichauf, während die „höheren“ Akkreditierungsniveaus deutlich darüber liegen. Zur Erinnerung: Seit dem akademischen Jahr 2016/17 gehören zum Beispiel Kollegs und Technika der ersten beiden Akkreditierungsstufen nicht mehr zur Hochschulbildung, was möglicherweise die sinkenden Zahlen in diesem Bereich erklärt.

Abbildung 4.4
figure 4

Die Anzahl der Lernenden in der beruflichen Bildung und der Bildung auf den Akkreditierungsniveaus I bis IV im Zeitverlauf. (Datenquelle: SSC 2018, 124, 127, 129)

Die Studierendenquote der Ukraine lag laut UNESCO im Zeitraum zwischen 2006 und 2014 relativ konstant bei rund 80 % (UNESCO Institute of Statistics; zit. in Zimmermann/Schwajka 2018, 20; vgl. auch DAAD 2018, 2). Die aktuellste bei der UNESCO verfügbare Angabe stammt aus dem Jahr 2014 und beträgt 82,67 % (UNESCO Institute of Statistics 2013–2020d).Footnote 7 Die World Bank nennt auch für das Studienjahr 2017/18 82 % (Gresham/Ambasz 2019, 5). International erreicht die Ukraine hinsichtlich des Bildungserfolgs ihrer Bevölkerung Spitzenwerte (s. Abbildung 1.1; ETF 2019c, 6). Laut Klein, der sich auf Zahlen des Staatlichen Statistikdienstes der Ukraine bezieht, verdreifachte sich die Zahl der Studierenden im Zeitraum zwischen 1992/93 und 2007/08 fast; die Zahl der Absolvent/-innen wuchs bis 2010/11 auf das nahezu Vierfache an (Klein 2018, 120).

Der Anteil an Schüler/-innen in der Sekundarstufe II, die an beruflichen Programmen teilnehmen, lag im Zeitraum von 2013 bis 2018 immer um die 30 %. Zum Vergleich: In Deutschland betrug dieser Anteil zwischen 2013 und 2017 stets zwischen 45 und 48 % (UNESCO Institute of Statistics 2013–2020c). Demgegenüber wird der Anteil Schüler/-innen in allgemeinbildenden Oberstufen in der Ukraine im selben Zeitraum mit relativ konstanten 69 % angegeben (UNESCO Institute of Statistics 2013–2020b). Gemäß einer anderen Berechnung, die sich auf Daten des Staatlichen Statistikdienstes der Ukraine stützt und eine extra Kategorie für Hochschulprogramme, die bereits nach der Sekundarstufe I beginnen, vorsieht, setzten 2014 15,7 % der Absolvent/-innen der Sekundarstufe I ihre Bildungslaufbahn in der beruflichen Bildung fort (MEDT 2015, 31). Eine weitere Quelle sagt aus, dass im Verhältnis auf jede/-n Schüler/-in, der bzw. die in die berufliche Bildung eintritt, sechs kommen, die ein Studium aufnehmen (Suprun et al. 2012, 15). Insgesamt lässt sich feststellen, dass in der Ukraine im internationalen Vergleich, auch mit anderen Transitionsländern, klar weniger Jugendliche den Weg in die berufliche Bildung einschlagen, von denen wiederum gemäß Expertenschätzungen rund ein Drittel anschließend ein Studium aufnimmt (ETF 2009, 48 f.; vgl. auch ETF 2017d, 5), wobei rund die Hälfte der Berufsschüler/-innen die Hochschulreife ablegt (Suprun et al. 2012, 24). Nach dem ukrainischen Bundesamt für Statistik waren es 2017 rund 90 %, die parallel zur Berufsausbildung die Hochschulreife ablegten (SSC 2018, 124). Wie in Abschnitt 4.1.3 dokumentiert, musste die Ukraine seit der Unabhängigkeit einen Einbruch der absoluten Zahlen der Berufsschüler/-innen und Berufsschulen verkraften, der auch im Lichte der rückläufigen Bevölkerungszahlen betrachtet werden muss.

Wie in Abschnitt 4.2.3.4 D ausführlicher erläutert, gewinnen in der Ukraine Anlernphasen im Betrieb an Bedeutung. Zudem haben erste Betriebe eigene Trainingszentren eröffnet.

Wie im Idealtypus verlor auch in der Ukraine die berufliche Bildung stark an Zulauf, während allgemeinbildende und akademische Bildungsgänge zulegten. Wohl unter anderem aufgrund ihrer sozialen Funktion besteht die berufliche Bildung aber nach wie vor, wenn auch in Relation zur UkrSSR in stark eingeschränktem Ausmaß. Tendenziell nimmt die vom Betrieb organisierte Ausbildung bzw. Anlernung ähnlich wie im Idealtypus zu.

E.:

Berufliche Bildung verliert ihren Eigenwert (ist als Bildungsart nur legitim, wenn Inhalte relativ allgemein sind), daher verliert Leistung in der beruflichen Bildung an Wertigkeit und somit büßen fachliche Inhalte großflächig die Anerkennung als Leistung in der Gesellschaft ein

Die Legitimität und Wertigkeit der beruflichen Bildung speist sich in der Ukraine zum einen aus ihrer sozialen Funktion (s. hierzu Abschnitt 4.1.3). Zum anderen schöpft sie diese aus ihrer Berechtigungsfunktion, die Schüler/-innen, die auf der allgemeinbildenden Sekundarschule aussortiert wurden, eine zweite Chance auf das Abitur eröffnet (s. hierzu Abschnitt 4.2.3.2 E). Damit sind es die allgemeinen Inhalte des Zusatzunterrichts der beruflichen Bildungsgänge, die diese Wertigkeit ausmachen. Fachliche Inhalte im Sinne von tätigkeitsspezifischen Inhalten spielen weiterhin eine Rolle, gelten sie doch als adäquate Bildung für Leistungsschwache. Bildung für Leistungsstärkere blendet berufsfachliche Inhalte weitgehend aus (s. hierzu Abschnitt 4.2.3.1 B).

Wie aus den Ausführungen bei Noelke und Müller hervorgeht, stellten die aus der Sowjetzeit eng spezialisiert geplanten Inhalte der beruflichen Bildung mit dem Eintritt in die freie Marktwirtschaft unter den neuen Bedingungen veränderter Arbeitsmarktbedarfe ein größeres Risiko dar als allgemeine, breiter angelegte Inhalte, die vermeintlich mehr Flexibilität am Arbeitsmarkt verliehen (vgl. Noelke/Müller 2011, 19). Gerade auch die allgemeine Sekundarschule durchlief, wie gesehen, in der UdSSR eine Verallgemeinerung, was langfristig das Ansehen allgemeiner Inhalte gegenüber berufsfachspezifischen stärkte, war diese Schulform doch der klassische Weg zur Hochschule (s. hierzu Abschnitt 4.2.3.1 B).

Der Wertverlust der beruflichen Bildung als berufsqualifizierende Bildung hängt auch mit der Rekrutierungsstrategie der Arbeitgeber/-innen zusammen, die Hochschulabsolvent/-innen den Vorrang geben (Libanova et al. 2016, 50) und so die Qualifizierungsfunktion der beruflichen Bildung negieren. Letzteres ist zum Teil Folge der Tatsache, dass sich die berufliche Bildung schwertut, sich an neue Technologien der Wirtschaft und die entstehenden neuen Bedarfe anzupassen (Hellwig/Lipenkowa 2007, 809; Suprun et al. 2012, 22; ETF 2017c; Prytomanov et al. 2018, 243; ETF 2019c, 6). Dies gilt allerdings auch für die Hochschulbildung (Feiler 2014, 7; Sovsun 2017, 6 f.) und ist unter anderem dadurch bedingt, dass die meisten Unternehmen sich nicht an der beruflichen Bildung beteiligen möchten (Noelke/Müller 2011, 19; Suprun et al. 2012, 9; Del Carpio et al. 2017, 82, 88) und der Staat sie lange zu sehr vernachlässigt hat (vgl. zum Beispiel Farla 2000, X; Suprun et al. 2012, 9).

Idealtypisch wie realtypisch ist eine Einbuße an Eigenwert auf Seiten der beruflichen Bildung zu verzeichnen, die realtypisch aber vielfältigere Ursachen hat. Auch eine Abnahme der Bedeutung auf Arbeitstätigkeiten orientierter Inhalte kann bestätigt werden. Dennoch verzichtet das Bildungssystem nicht auf berufsfachliche Inhalte, gelten sie doch als adäquate Bildung für Leistungsschwache, die in Rahmen der beruflichen Bildung existiert. Allerdings verliert die in der beruflichen Bildung erbrachte Leistung wie im Idealtypus an Wertigkeit, weil auf dem Arbeitsmarkt ein Hochschulzertifikat für sehr viele Arbeitsstellen die Mindestvoraussetzung darstellt (s. zum letzten Punkt Abschnitt 4.2.3.4 A).

F.:

Neigung und Interesse spielen kaum eine Rolle

Vor dem Hintergrund der Funktionalisierung von Bildung für persönliche Karrieren (s. Abschnitt 4.2.3.2 D) kommt es im ukrainischen Realtypus zu einem Verhalten, das eher wenig nach Neigung und Interesse fragt. Beleg dafür sind die einseitige Fächerwahl ukrainischer Studierender und die Ausgestaltung von Studiencurricula, die nur sehr wenige Wahlmöglichkeiten lässt. Über Erstere schreibt Shevchenko: „There’s an excess amount of lawyers, economists and managers at the labor market with simultaneous catastrophic shortage of engineers, chemists, representatives of other technical specialities“ (Shevchenko 2008, o. S.; vgl. auch Zimmermann/Schwajka 2018, 14, 24 f.). Auf der anderen Seite versucht die Politik, besondere Talente zu fördern, was in den Bildungsgesetzen immer wieder durchscheint und sich in die Linie der intendierten Individualisierung und Ablehnung eines missbräuchlichen Kollektivismus einfügt (Holowinsky 1995, 218; s. Abschnitt 4.2.3.5 B). Strukturell wurden in diesem Sinne die spezialisierten Oberstufen geschaffen (Hellwig/Lipenkowa 2007, 815; Kooperation international 2012; Želudenko/Sabitowa 2015, 858, 861 f.). Lockerungen bei den rigiden Curriculavorgaben sehen mittlerweile mehr Wahloptionen vor, die aber nach wie vor sehr gering sind, weil ein Großteil davon von den Hochschulen und nicht von den Studierenden selbst bestimmt wird (Janmaat 2008, 18 f.; Prytomanov et al. 2018, 247; Radkevych et al. 2018, 147 f.).

Im Vergleich zum Idealtypus berücksichtigt das ukrainische Bildungssystem Interessen und Neigungen durch die spezialisierten Sekundarschulen stärker. Bildungsentscheidungen am Übergang zu den Hochschulen richten sich realtypisch in vielen Fällen jedoch nach anderen Kriterien, sodass hier ähnliche Verhaltensweisen wie im Idealtypus auftreten, die eher zweckorientiert als neigungsorientiert vorgehen.

G.:

Status-, Leistungs- und Bildungsorientierung nehmen zu, da entsprechende Werthierarchien die Werthaltung der Gesellschaftsmitglieder bestimmen

1980 berichtete Zajda von einem Trend, der sich bis heute in der Ukraine fortsetzt:

Soviet students obviously equate tertiary training with white-collar occupations and, more specifically, with jobs of high social status and prestige. Blue-collar occupations are not as popular and because of this there is a chronic shortage of semi-skilled and skilled. (Zajda 1980, 4 f.)

Als Ursache der Zurückdrängung der beruflichen Bildung nennt das ukrainische Bildungsministerium an erster Stelle die Entschlossenheit der Jugendlichen, einen Hochschulabschluss zu erreichen, und die geringe Wertschätzung der beruflichen Bildung (MES 2017–2019c). Damit korrespondiert die abnehmende Achtung von Arbeiterberufen (Suprun et al. 2012, 9; vgl. auch Libanova et al. 2013, 31). Seit der ukrainischen Unabhängigkeit haben die Bildungs- und Statusaspirationen weiter zugenommen (Pohorila 2011, 83; Zinser 2015, 687, 697 f.). Dies betrifft sowohl die angestrebten Bildungsabschlüsse als auch die gewünschten Berufspositionen (Pohorila 2011, 83). Pohorila erklärt dies mit der weitverbreiteten Annahme, dass Bildung in Marktwirtschaften der Weg zu einem hohen Lebensstandard sei, insbesondere Abschlüsse in den Bereichen Finanzen, EDV und Betriebswirtschaft (Pohorila 2011, 82; vgl. auch Roberts et al. 2000, 130, 135). Treibende Kraft ist demnach die in der Ukraine relativ hohe Wertigkeit, die man dem Wohlstand zubilligt. Mit der Ablösung der Sowjetunion strömte ein unzensierter Informationsfluss auf die ukrainische Gesellschaft ein, darunter aggressive und irreführende Werbungen, die den westlichen Lebensstandard und materielle Werte anpriesen, ohne auf die negativen Folgen aufmerksam zu machen (Gorobets 2008, 99). Der Gegensatz der Lockungen und Versprechen der neuen Wirtschaftsform zum früheren Standard und der vorigen Lebensart scheint eine Überreaktion ausgelöst zu haben. Laut einer Befragung von Kutsyuruba nehmen einige ukrainische Lehrpersonen die ukrainische Gesellschaft als geldfixiert und materialistisch wahr, während zugleich ein „Zusammenbruch“ der alten sowjetischen Werte festgestellt wird (Kutsyuruba 2011, 300). Neben den materiellen Aussichten, die ein Studium bietet, haben ukrainische Studierende auch ein Interesse daran, ihre Fähigkeiten zu entwickeln. Der erwartete zukünftige Lohn und die Karriere stehen aber an erster Position, da die Selbstachtung an materiellen Wohlstand geknüpft wird (Fedorenko 2017, 203 f.). Dieser beinhaltet bei den meisten nicht, dass sie außerordentlichen Reichtum anstreben, sondern ein „vernünftiges“ Auskommen (Libanova et al. 2016, 31). Im Wettlauf um Bildungsabschlüsse steht beispielsweise bei benachteiligten Jugendlichen Bildung an oberster Stelle der Prioritätenliste, um eine Eintrittskarte für einen guten Platz im Beschäftigungsmarkt zu erwerben (Korzh 2014, 69). Dasselbe gilt für die meisten ukrainischen Studierenden – sie versuchen, einen möglichst prestigereichen Abschluss zu erreichen (Fedorenko 2017, 205). Das heißt, Bildung dient als Mittel, sich zu behaupten (ETF 2009, 51 f.). Diese Überzeugung nimmt bisweilen einen übersteigerten Charakter an, der sich darin äußert, dass junge Fachkräfte trotz mangelnder Berufserfahrung gelegentlich „ein gewisses Maß an Arroganz und Überheblichkeit“ in Bezug auf ihre Kompetenzen „an den Tag legen“ und „gleich zu Beginn ihres Arbeitslebens“ hohe Posten und Entlohnungen fordern (Salo 2017, 98).

Auch den befragten Expert/-innen zufolge ist die materielle Seite sehr wichtig (46D). Der materielle Wohlstand ist eine entscheidende Komponente des sozialen Status: „Social status in most cases depends on financial status“ (46N). Es zählt für den sozialen Status aber auch die Fähigkeit, Ziele zu erreichen – nach dem Motto: „I see the goal, I see no obstacles“ (46D; vgl. auch 42D; 42N). Die meisten Ziele stecken sich Ukrainer/-innen sowohl zur Verbesserung des Lebensstandards als auch zur Anhebung ihres sozialen Status (46D).

Offizielle Urkunden und Zertifikate, auch aus Fortbildungen und Trainings, haben kulturell ebenfalls einen großen Stellenwert (Fink et al. 2009, 85). Generell ist es ein kultureller Wert, im Besitz eines Bildungstitels zu sein, worauf auch die Existenz der oben erwähnten „diploma mills“ hindeutet (Gorobets 2008, 98; ETF 2009, 51 f.; Filiatreau 2011, 52). An diesem Punkt löst sich der Bildungstitel vom Bildungs- und Qualifizierungsgedanken bzw. vom Inhalt der Bildung. Überdies, so eine Untersuchung des ILO, nehmen ukrainische Jugendliche an, ihr zukünftiger Erfolg liege in ihren eigenen Händen und hänge von ihren eigenen Anstrengungen ab (Libanova et al. 2016, 33 f.).

Populär sind in der Ukraine Olympiaden, bei denen sich Schüler/-innen in unterschiedlichen Fächern messen, auch über die Landesgrenzen hinaus (Hellwig/Lipenkowa 2007, 814; UNESCO 2008, o. S.; Želudenko/Sabitowa 2015, 859). Dies lässt auf eine gewisse Leistungs- und Wettbewerbsorientierung schließen und trägt zu einer entsprechenden Sozialisierung bei. So stellte zum Beispiel Sittler in seiner Studie bei ukrainischen Studierenden hohe Werte bei Anstrengung und Wettbewerbsorientierung fest (Sittler 2008). Ukrainische Schüler/-innen betreiben nach Ansicht der befragten Expert/-innen einen hohen Lernaufwand (47D; 47K; 47N). Dies ist insbesondere den Anforderungen der Curricula (47D; 47N) und der Relevanz guter schulischer Leistungen für den weiteren (akademischen) Werdegang (47D; 47K) geschuldet. Letztlich hängt der Grad der Anstrengung der Schüler/-innen auch stark vom Einfluss ihrer Eltern ab (47D; 47N).

Hinsichtlich der Entlohnung nimmt im Gerechtigkeitsempfinden der Ukrainer/-innen in der Regel das Bedarfsprinzip den ersten Rang ein, das auch in der Sowjetunion ideell gesehen das dominierende Verteilungsprinzip war. Dies betrifft vor allen Dingen die Anzahl der zu versorgenden Kinder. In höheren Lohnbereichen verliert diese Einstellung zugunsten des meritokratischen Verdienstprinzips an Bedeutung. Der Bildungserfolg als gerechte Lohngrundlage wird kaum berücksichtigt; für die jüngere Generation ist die Leistung im Job deutlich wichtiger als für die ältere Generation (Gatskova 2013; Auspurg et al. 2013).

Es existiert in der ukrainischen Gesellschaft ein internalisiertes Denken in Hierarchien und Status. Stets sollte man sich des Ranges von Interaktionspartner/-innen bewusst sein, um sich ihnen mit der nötigen Ehrerbietung zu nähern, wenn man unter ihnen steht (Dereko 2017, 357).

Je höher man in der Hierarchie steht, desto mehr Befugnisse hat man und desto mehr Kompetenzen werden einem zugeschrieben, unabhängig davon, ob man diese tatsächlich besitzt. Zudem gehen mit einer höheren Position auch gewisse Privilegien einher: Gerade Statussymbolen in Form von Autos, Markenkleidung oder Handys kommt eine große Bedeutung zu und sie werden von den Mächtigen gern zur Schau gestellt. (Fink et al. 2009, 86; vgl. auch Konovalova 2012, 2)

Zusammenfassend ist im ukrainischen Realtypus eine große Ähnlichkeit zum Idealtypus festzuhalten, was die Zunahme der Status-, Leistungs- und Wettbewerbsorientierung anbelangt, die auf kulturellen Werthierarchien beruht. Spezifisch ist in der Ukraine die starke Orientierung an materiellen Werten und an Macht. Jedoch findet man in der Ukraine auch andere Einflüsse vor – beispielsweise erfährt das Bedarfsprinzip (noch) hohe Akzeptanz.

Der Glaube an Hierarchien und die Signifikanz von Rangordnungen im Alltag sind kongruent mit meritokratischen Mechanismen der vertikal einteilenden Kategorisierung und Zuordnung von Menschen, ihres Bildungserfolges und ihres Verdienstes. Sie gehen mit Beurteilungen einher, die wertzuweisenden Charakter haben und damit gesellschaftliche Anerkennungsgrade bestimmen (s. Abschnitt 3.2.3.3.1).

H.:

Hierarchien von Fächern, Bildungsinstitutionen und ggf. Betrieben differenzieren sich immer stärker aus und gewinnen an Bedeutung

Wichtig hinsichtlich der kulturellen Wertschätzung von Disziplinen ist Interdisziplinarität. Historisch und kulturell zählen vordergründig Leistungen in Mathematik und Physik (371D). Sowohl „humanitäre“ als auch wissenschaftliche Komponenten sind wesentlich (372N). Für technische und naturwissenschaftliche Bereiche wird entsprechend „Humanisierung“ von Bildung als wichtig erachtet, das heißt ihre Ergänzung durch Fächer wie Philosophie, Psychologie und Fremdsprachen (371K). Ähnlich hebt eine andere Expertengruppe die Bedeutung „humanistischer“ Fächer hervor (zum Beispiel Ukrainisch und Fremdsprachen, Geschichte, Philosophie, Sozialwissenschaften, Kulturwissenschaften und Religionswissenschaft) (371N). Im Fächerblock der Menschenbildung („humanities“) sind körperliches Training und Inhalte, die für den Alltag des Lebens Bedeutung haben, wichtig (371K; 372D). Das Bildungssystem belohnt gute Leistungen in Fächern mit Ukraine-Bezug, Mathematik und Fremdsprachen, insbesondere Englisch (372D; 372K). Da die EIT-Note in Mathematik für die Zulassung zu den meisten nachgefragten Studienfächern in die Berechnung einfließt und die Mathematikprüfung als besonders schwierig bekannt ist (Gresham/Ambasz 2019, 9), kann dieses Fach als vergleichsweise wichtig beurteilt werden (s. hierzu auch Abschnitt 4.2.3.5 B). Als Pflichtfächer im EIT sind überdies Ukrainische Sprache und Literatur, in manchen Fällen auch Ukrainische Geschichte von Bedeutung (Friedman/Trines 2019; s. hierzu auch Abschnitt 4.2.3.5 B).

Wie in Unterpunkt C des Abschnitts 4.2.3.1 ausgeführt, entwickelt sich aktuell eine ausdifferenziertere Hierarchie von Hochschuleinrichtungen. In der Sekundarstufe hat dieser Prozess in Form der Etablierung von Talentschulen Fahrt aufgenommen. Da Spezialschulen, insbesondere städtische, in der Regel besser auf den EIT vorbereiten als andere Sekundarschulen und für eine Aufnahme an einer solchen Schule Aufnahmeprüfungen bestanden werden müssen (Gresham/Ambasz 2019, 8 f.), sind sie in der Prestigeordnung der Sekundarschulen oben anzusiedeln.

Rankings von Betrieben sind jeweils nach Sektoren vorhanden (571I; 571K; 572I), wobei Verbindungen zum Bildungssystem quasi nur über Praktika der Lernenden bestehen (573I; 573K).

Studienfachpräferenzen sind durch bessere Verdiensterwartungen, Möglichkeiten am Arbeitsmarkt und Karrierechancen begründet (381D; 381K; 381N). Hinzu kommen Aussichten auf Macht und Öffentlichkeit (381K) sowie soziale Anerkennung (381N).

In der Ukraine zeigt sich wie im Idealtypus eine Tendenz der Ausdifferenzierung von Hierarchien von Bildungsinstitutionen, Betrieben und Fächern. Diese Entwicklung scheint jedoch noch recht am Anfang zu sein und ist erst in Ansätzen erkennbar.

I.:

Gute Schüler/-innen wählen Fächer, die sich in der Fächerhierarchie an der Spitze befinden

Studienbewerber/-innen besitzen insgesamt betrachtet eindeutige Präferenzen und versuchen, in prestigereichen Studiengängen unterzukommen (vgl. zum Beispiel Shevchenko 2008, o. S.; ETF 2009, 52; Kavtseniuk et al. 2015; Libanova et al. 2016, 24–31; Zimmermann/Schwajka 2018) bzw. meiden prestigearme Fächer, sodass beispielsweise in technischen Fächern ein Mangel an Bewerber/-innen und Absolvent/-innen herrscht (Shevchenko 2008, o. S.). Nicht ganz so gute Abiturient/-innen haben jedoch auch die Chance, für beliebte Fächer zugelassen zu werden, wenn sie ihr Studium selbst finanzieren (383K).

Laut der Expertenbefragung sorgt ein hohes Prestige eines Studienfachs für einen hohen Wettbewerb. Die angesehensten Programme haben zehn Bewerber/-innen auf sieben Plätze (383D). Laut einer Expertengruppe ist nicht der Studiengang entscheidend, sondern das Prestige der Universität (383N).

Vergleicht man die realtypischen Ausprägungen mit den idealtypischen, so lässt sich für beide konstatieren, dass Fächerpräferenzen existieren. Ein ukrainisches Spezifikum ist es, dass auch leistungsschwächere Bewerber/-innen die Chance auf Studienplätze in den beliebtesten Fächern haben, wenn sie ihr Studium selbst finanzieren.

J.:

Bildung passt sich an Betriebe an, die Generalist/-innen suchen, dadurch Festigung der Leistungsdefinition

Bemerkenswert ist der in der Ukraine stattfindende Trend elitärer Sekundarschulen hin zu klassisch-humanistischen Disziplinen (Hellwig/Lipenkowa 2007, 818) und damit einem klassisch-humanistischen Bildungsverständnis. Grundsätzlich findet eine Betonung „humanitärer“ Fächer und Inhalte statt (371K; 371N).

Für Führungsposten werden eher Spezialist/-innen gesucht (551I; 551K). Ihre Aufgaben können variieren und spezifischere Fähigkeiten oder allgemeinere Fähigkeiten erfordern, wobei Schlüsselkompetenzen vorteilhaft sind (552I; 552K). Eine Garantie dafür, dass der Abschluss eines bestimmten Studiengangs die besten Karrierechancen in der Berufswelt eröffnet, gibt es nicht: „There are no guarantees that passing one or another educational program (regardless of whether it is in an educational institution in Ukraine or abroad) will give the best chances for career advancement“ (56I). Masterabschlüsse werden jedoch von den Expert/-innen überwiegend als Abschlüsse beschrieben, die gute Aussichten auf Führungspositionen oder Beförderungen nach sich ziehen: „It can be seen that MBA programs in most cases provide an opportunity to obtain either a management visa or a career growth within the company“ („separate opinion“ 56I; vgl. auch 56K).

Die im Idealtypus vorzufindende sehr allgemeine Aufgabenbeschreibung von Führungspersonen, an die sich das Bildungssystem anpasst, ist in der Ukraine eher nicht vorhanden. Hier ist oftmals Fachwissen gefragt und keine derartige Anpassung des Bildungssystems sichtbar.

K.:

Zunehmende Zahlen an Schulabbrecher/-innen, die den einseitigen Anforderungen des Bildungssystems nicht genügen oder dem Leistungsdruck nicht standhalten

Die Verlierer/-innen der meritokratischen Prozesse in der Ukraine sind sozial Benachteiligte, denen nur die berufliche Bildung bleibt, die kaum Perspektiven bietet (vgl. Kogan et al. 2012; Korzh 2014), wobei sich angesichts der hohen Zahl an Hochschulgraduierten die Distanz zwischen diesen beiden Bildungsniveauebenen vergrößert.

Wie viele post-sowjetische Länder verfügte auch die Ukraine in den 1990er Jahren über eine hohe Quote an Schulabbrecher/-innen, vor allem in der Sekundarstufe II. 1997 lag sie bei 8,8 % (Farla 2000, 25). Zwischen 2013 und 2015 fiel die Zahl der Schulabbrecher/-innen, die die Schule vor dem Abschluss verließen, von 2,4 % auf 2,0 %. Ursachen waren Motivationsprobleme, der Wunsch, arbeiten zu gehen, wirtschaftliche Erwägungen oder Familiengründung. Mit guten 4 % der Abbrecher/-innen beendeten in diesem Zeitraum nur wenige ihre Schulbildung wegen nicht bestandener Prüfungen (Libanova et al. 2016, 26 ff.).

Im tertiären Bildungssektor werden geringe Abbrecherquoten vermeldet. Gründe werden unter anderem im existierenden finanziellen Anreiz gesehen, schwächere Studierende zu einem Studienabschluss zu führen und das vorgegebene zahlenmäßige Verhältnis von 18:1 Studierenden pro Dozent/-in einzuhalten, ohne Dozent/-innen entlassen zu müssen. Nicht zuletzt verhindern auch illegale Praktiken Erfolglosigkeit (Zimmermann/Schwajka 2018, 22).

Das ETF gibt die Zahl der jungen Menschen, die sich weder in Beschäftigungsverhältnissen noch in Ausbildung befinden (NEETs), als schwankend, aber generell auf relativ hohem Niveau an: 2012 waren es 17,1 %, 2016 18,3 % und 2017 16,5 % (ETF 2019b, 9). Auslöser der hohen Zahlen sind Aspekte wie das junge Alter, das es schwer macht, einen Arbeitsplatz zu finden, eine fehlende Passung zwischen den Fähigkeiten und den Erfordernissen am Arbeitsmarkt, ein fehlendes regionales Angebot an Arbeitsplätzen, Unwissen, wo und wie man Arbeit suchen kann, oder fehlgeschlagene Versuche, einen Job zu bekommen (Libanova et al. 2016, 60). Ausführungen des ETF implizieren einen Zusammenhang zwischen dem hohen Niveau der NEET-Zahlen und dem Verdrängungseffekt weniger gut ausgebildeter Jugendlicher sowie der defizitären Koordination zwischen Bildung und Arbeitsmarkt (ETF 2017d, 4). Wie oben gesehen betrifft letztere auch Hochschulzertifikatsinhaber/-innen (vgl. zum Beispiel Feiler 2014, 24 f.).

Im Unterschied zum Idealtypus brechen in der Ukraine nur wenige Lernende ihre Schulbildung ab, da der Leistungsdruck durch die Offenheit für unredliche Vorgehensweisen und die Abhängigkeit von Bildungseinrichtungen von Studiengebühren entschärft wird. Dass es relativ viele junge Menschen gibt, die keiner Berufstätigkeit nachgehen und an keiner Bildungsinstitution eingeschrieben sind, ist nur zum Teil eine Folge des Leistungsprinzips. Zum einen kämpfen diejenigen mit niedrigem Bildungsniveau mit einem Crowding-out-Effekt; zum anderen sind es die Gegebenheiten am Arbeitsmarkt und seine insgesamt mangelnde Abstimmung mit dem Bildungswesen, die es unter anderem auch Hochschulabsolvent/-innen nicht leicht machen, eine adäquate Arbeitsstelle zu finden.

L.:

Entstehung eines Facharbeitermangels und Einschränkung der Beschäftigungsfähigkeit von Absolvent/-innen des Bildungssystems; zunehmende Entkoppelung von Bildung und Bedarf am Arbeitsmarkt

Der ukrainische Arbeitsmarkt ist durch eine große Disbalance und Passungsprobleme gekennzeichnet, wie sie auch in anderen post-sowjetischen Ländern vorkommen. In den Jahren nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion änderte sich die Wirtschaftsstruktur und damit auch die Arbeitsmarktbedarfe. Der aufkommende Dienstleistungssektor und die neuen Technologien verlangten völlig andere Fähigkeiten der Arbeitnehmer/-innen als die alten Industrien und damit wurden die Kompetenzen zahlreicher Arbeiter/-innen der älteren Generation hinfällig (Feiler 2014, 6; Kupets 2015/16, 142). Gleichzeitig ergab sich für das Bildungssystem der Auftrag, andere Kompetenzen als bislang hervorzubringen.

Da die berufliche Bildung nicht aktualisiert wurde (Zinser 2015, 691; Del Carpio et al. 2017, 91; Friedman/Trines 2019) und die Schülerscharen an die Hochschulen strömten, die in Ausstattung, Inhalt und Lehrmethode ebenfalls einer Modernisierung bedurften (Hellwig/Lipenkowa 2007, 824; Del Carpio et al. 2017, 91; Friedman/Trines 2019), verschärfte sich das Qualifizierungsproblem und resultierte in einer Skills Gap von beträchtlichem Ausmaß (ETF 2017d, 4 f.; 2017e, 8). Kupets zufolge befinden sich 39,7 % der Angestellten zwischen 15 und 70 Jahren in Beschäftigungsverhältnissen, für die ihr Bildungsstand zu hoch ist (Kupets 2015/16). Dies geht mit einem Facharbeitermangel einher, der städtische und ländliche Regionen gleichermaßen betrifft (UNESCO 2008, 19; Suprun et al. 2012, 9; MES 2017–2019c). Aktuell benötigt der Beschäftigungsmarkt wegen der Gründung neuer Unternehmen wie Fabriken, Landwirtschaftsbetrieben und Unternehmen im Bereich von Dienstleistungen und Catering sowie der Initiierung von Projekten zur Verbesserung der Infrastruktur, in deren Rahmen neue Straßen und Verladeterminals gebaut werden, dringend qualifizierte Arbeiter/-innen. Mittlerweile ist die Geschäftswelt bereit, ihnen hohe Löhne zu zahlen, die auf demselben Niveau liegen wie die Löhne von Absolvent/-innen zweitklassiger Hochschulen (MES 2017–2019c).

Dennoch befinden sich die Zahlen der Studierenden und der Auszubildenden in der beruflichen Bildung in einem Missverhältnis. Hinzu kommt die Theorielastigkeit des Bildungswesens, zu der eine ungenügende praktische Ausbildung gehört, sodass sich Arbeitgeber/-innen über ein Defizit an praktischen Fähigkeiten, sowohl von Hochschulabsolvent/-innen als auch qualifizierten Arbeiter/-innen aus der beruflichen Bildung, beklagen (Feiler 2014, 6 f.; Rumyantseva/Logvynenko 2018, 425; Zimmermann/Schwajka 2018, 22).

Der im Idealtypus durch die wachsende Entkoppelung von Bildung und Wirtschaft sowie die Marginalisierung beruflicher Bildung ausgelöste Facharbeitermangel ist auch im Realtypus der Ukraine zu beobachten. Angesichts der historischen Spezifika ist anzumerken, dass diese Entwicklung durch weitere Faktoren begünstigt wurde, die vorhandene Qualifikationen und Qualifizierungsprozesse obsolet werden ließen. Dass in der Ukraine eine mangelnde Beschäftigungsfähigkeit durch eine Fokussierung auf kulturell anerkannte abstrakte, theoretische Inhalte in Erscheinung tritt, entspricht dem idealtypischen Verlauf. Auch bezüglich der nicht vorhandenen Attraktivität der beruflichen Bildung, gerade auch im Gegensatz zur akademischen Bildung, und den unter anderem dadurch bedingten Fachkräftemangel kommt die Ukraine in diesem Punkt nahe an den Idealtypus heran.

M.:

Ausdruck höchster Leistungsfähigkeit ist es, die Aufnahme an den besten Schulen zu schaffen; Doktortitel nicht von großer Bedeutung; Noten im Abschlusszeugnis von Elitehochschulen nicht relevant; bei Elitehochschulen mehr Praxisorientierung denkbar

Die oben beschriebene Förderung der Individualität und besonderer Talente setzt die Ukraine unter anderem mithilfe der Spezialschulen im Rahmen der Sekundarschulbildung um, die mittels Aufnahmeprüfungen selektieren. Die Einführung solcher Eliteschulen wurde, so Kutsyuruba, von Lehrpersonen als einschneidend erlebt (Kutsyuruba 2011, 298). Durch ihre Existenz geschieht eine Auslese der Besten, die sich vom „Durchschnitt“ abheben und durch den Besuch der Spezialschulen von ihm abgrenzen. Die Informationen der Expertengruppen zu Aufnahmeprüfungen von Spezialschulen stimmen letztlich darin überein, dass sowohl allgemein als auch in Bezug auf Spezialisierungen getestet wird. Einigkeit herrscht bei folgenden Fächern: Mathematik und eine Fremdsprache (in einem Fall konkret Englisch) (13D; 13K; 13N). Zwei Gruppen stimmen darin überein, dass auch Fächer mit Ukraine-Bezug getestet werden (13D; 13K). Hinzu kommen Fächer, die von der Spezialisierung der Schule abhängen (13D). Laut einer Gruppe ist der Fokus auf allgemeine Fähigkeiten gerichtet, wobei darunter auch die Fächer Biologie und Geographie fallen, die man auch als Spezialfächer eingruppieren könnte (13K) (– wie Physik, die in 13N genannt wird).

Die Hochschulzulassung ist das Thema, dem in den Medien am meisten Aufmerksamkeit geschenkt wird, wenn die Sprache auf Aspekte des Bildungswesens kommt. Dies macht Sinn, wenn man bedenkt, dass der Hochschuleintritt ein zukunftsweisendes Ereignis im Leben einer Person ist (Sovsun 2017, 11). Die Expertengruppen bestätigen die Existenz einer Hierarchie von Hochschuleinrichtungen, die karriererelevant für Absolvent/-innen sein kann (32D; 32K; 32N). Dies gilt vor allem für die TOP-5- bis TOP-7-Hochschulen (32D) und wenn Vorgesetzte nicht so sehr nach Berufserfahrung suchen, sondern darauf schauen, von welcher Hochschule ein Abschluss vorliegt (32N). Neben offiziellen Rankings existieren informelle, subjektive Hierarchien (32D; 32K). Wie eine Expertengruppe betont, ist es weniger wichtig, welchen Studiengang man studiert, wichtiger ist, an welcher Hochschule (383N). Ob Bildungszertifikate als Nachweis der Leistungsfähigkeit einer Person gelten, ist unter den Expertengruppen strittig. Während die einen den Bezug zur Wirtschaft herstellen und darauf hinweisen, dass ein guter Abschluss nicht bedeutet, dass jemand eine gute Arbeitsleistung erbringt (43D; 43K), sehen die anderen in Bildungszertifikaten Leistungsnachweise, weil das Bildungssystem die Fähigkeit systematisch zu denken fördert (43N).

Da in der Ukraine der Hochschulabschluss die Funktion übernommen hat, die im Idealtypus das Abitur innehat, ist ein Doktortitel realtypisch wichtiger und mit dem idealtypischen Hochschulabschluss vergleichbar. Zwischen 1990 und 2006 hat sich die Anzahl der vergebenen Doktortitel in der Ukraine um 250 % vervielfacht (Bastedo et al. 2009, 12). Bis 2011 stiegen die Zahlen der eingeschriebenen Doktorand/-innen (ISCED Level 8) bis auf ein Maximum von über 36 825, bevor ein Absinken einsetzte (die Anzahl der eingeschriebenen Studierenden geht seit 2009 zurück). 2018 wurden 27 080 eingeschriebene Doktorand/-innen verzeichnet (UNESCO Institute of Statistics 2000–2020; Zimmermann 2017, 17 f.).

Ambitionierte und leistungsstarke junge Ukrainer/-innen nehmen vermehrt eine Ausbildung im Ausland in Anspruch (Kettner 2009, 112; MEDT 2015, 36; Kooperation international 2019). Dementsprechend haben sich große Unternehmen darauf verlegt, Absolvent/-innen prestigereicher ausländischer Universitäten zu rekrutieren (Bastedo et al. 2009, 13).

Man unterschied ursprünglich zwischen zwei den beiden Doktortitelstufen Kandidat/-in der Wissenschaften und Doktor/-in der Wissenschaften, wobei letzterer höherwertig war (Zimmermann 2017, 15). Im Zuge der Reformpläne unter dem Rubrum der Neuen Ukrainischen Schule näherte man die Doktortitelsystematik internationalen Standards an und ersetzte den Kandidaten bzw. die Kandidatin der Wissenschaften durch einen „Doctor of Philosophy“ bzw. „Doctor of Arts“, während der Doktor bzw. die Doktorin der Wissenschaften als „Doctor of Science“ erhalten blieb (ENIC Ukraine 2019). Promotionsverfahren werden als intransparent und korruptions- sowie plagiatsanfällig eingeschätzt und bringen hohe monetäre Kosten mit sich (Zimmermann 2017, 16). Die befragten Expertengruppen sind sich darüber einig, dass die ukrainischen Doktortitel vordergründig im Bildungsbereich, insbesondere an Hochschulen, von großer Bedeutung sind, um bestimmte Führungsposten erreichen zu können (391D; 391K; 392D; 392N). Auch im öffentlichen Dienst und den Gebieten Medizin und Recht kann ein Doktortitel Vorteile verschaffen (391D; 392D; 392N). In der Wirtschaft ist ein Doktortitel keine formale Voraussetzung für bestimmte Posten (391D) und beeinflusst die Karriere nicht (392N). Es herrscht keine Einigkeit darüber, ob ein Doktortitel den sozialen Status beeinflusst, wobei sich zwei Gruppen dafür (391D; 391K) aussprechen und eine dagegen (391N). Letztere empfindet es als entscheidender für den sozialen Status, wo jemand arbeitet (391N). Die Expertengruppen stimmen darin überein, dass es relativ leicht ist, eine privat finanzierte Doktorandenstelle zu bekommen (393D; 393K; 393N). Bei Plätzen, die vom Staat finanziert werden, ist es schwieriger (393D; 393K; 393N).

Übereinstimmend geben die Expertengruppen an, dass die Noten des Abschlusszeugnisses einer Hochschule keine wichtige Rolle für Bewerbungen spielen (310D; 310K; 310N). Letztlich hängt dies aber von der einstellenden Person ab, wobei eher Tests durchgeführt werden, als auf die Noten zu achten (310K). Das wichtigste Kriterium bei der Einstellung ist die Berufserfahrung (310N). Unabhängig vom Prestige der Hochschule und vom Bildungsniveau ist es wichtig, überhaupt einen Hochschulabschluss zu haben. Dies genügt (310D).

Bei prestigereichen Universitäten ist die Praxisorientierung nicht signifikant höher als bei anderen (24D; 24K; 24N), weil die Curricula in weiten Teilen standardisiert und somit vorgegeben sind (24D; 24N). Unterschiede äußern sich in anderen Faktoren, wie zum Beispiel der Breite des Wahlpflichtangebots, der Ausstattung und anderen (24D; 24N). Klassische Universitäten unterrichten traditionell mehr nach dem Prinzip der „Fundamentalisierung“ (24K; s. Abschnitt 4.2.3.5 B.).

Da die Ausdifferenzierung der Hierarchien von Bildungsinstitutionen noch am Anfang steht, gibt es nur wenige Studienabschlüsse, die auf dem Arbeitsmarkt Vorteile gegenüber jenen anderer Universitäten bringen. Hinsichtlich der Bedeutung von Doktortiteln ergibt sich ein gemischtes Bild – in bestimmten Bereichen ist ein Doktortitel essentiell, in der Wirtschaft jedoch grundsätzlich, wie im Idealtypus, nicht. Inwiefern er den sozialen Status beeinflusst, lässt sich anhand der verfügbaren Informationen nicht zweifelsfrei klären. In der Ukraine spielen die Noten in Hochschulzeugnissen kaum eine Rolle – im Idealtypus ist dies vor allem bei Eliteschulen der Fall. Aufgrund der weitreichenden Standardisierung der Hochschulcurricula lässt sich nicht sagen, dass in der Ukraine wie im Idealtypus jene Hochschulen, die in der Hierarchie an der Spitze stehen, weniger praxisorientiert unterrichten würden als andere.

N.:

Entstehung von Netzwerken der Elite und Beziehungen von anerkannten Betrieben zu den besten Schulen; kaum Aufstiegsmöglichkeiten für Inhaber/-innen von Zertifikaten der beruflichen Bildung; Anreize und Tendenzen, dass vermögende Familien ihre finanziellen Möglichkeiten nutzen, um ihren Kindern auf illegalem Weg Zugang zu bestimmten Bildungsinstitutionen oder Bildungstiteln zu verschaffen, wenn sie nicht die erforderliche Leistung im Bildungssystem erbringen

In der Ukraine versucht man generell, Bildung als Mittel zur Statussicherung zu nutzen, und Eltern sind beispielsweise zu großen Teilen bereit, in privaten Nachhilfeunterricht zu investieren, um die Bildungschancen ihrer Kinder zu erhöhen (Długosz 2016). Aber auch Korruption und illegale Praktiken findet man in der Ukraine auf allen Ebenen von Bildung (OECD 2017).

Sie werden nicht nur von der Elite eingesetzt, sondern können als Usus angesehen werden, wobei die große Relevanz von Hochschulzertifikaten Anreiz für solche Verhaltensweisen bietet. Die Möglichkeit junger Menschen, bei eigener Finanzierung der Studiengebühren einen Studienplatz zu bekommen, ohne zu den besten Abiturient/-innen zu gehören, wird laut MEDT auch von Familien genutzt, die begrenzte finanzielle Mittel zur Verfügung haben (MEDT 2015, 33). Diese Option entschärft die Selektion und erschwert die Elitenreproduktion. Generell haben finanzstarke Familien aufgrund der Käuflichkeit von Staatsdiener/-innen und Bildungstiteln aber vielfältige Möglichkeiten, ihr Kapital illegal einzusetzen, um die Zukunft ihrer Kinder zu sichern.

Schon in der Sowjetunion war es an der Tagesordnung, Beziehungen zu nutzen, um zum Teil auch mit unlauteren Mitteln Zugang zu „höheren“ Bildungseinrichtungen zu bekommen (s. Abschnitt 4.1.2.6). Beziehungsnetzwerke spielen, wie gezeigt, in der heutigen Ukraine nach wie vor eine wichtige Rolle, vor allem auf dem Beschäftigungsmarkt.

Passend hierzu äußern Fink et al.:

Personen und persönliche Anliegen stehen […] traditionell über allem anderen, also über der Sache oder der Leistung. Ein Sprichwort lautet: ‚Man schätzt die Leute dafür, was sie sind, und nicht dafür, was sie tun.‘ (Fink et al. 2009, 63)

Berufsschulabsolvent/-innen haben prinzipiell Chancen, in Betrieben aufzusteigen, aber nur, wenn sie ihren Hochschulabschluss nachholen. Dies ist über Fernstudiengänge durchaus möglich (532I). Rein mit ihrem Abschluss als Qualifizierte Arbeiter/-innen bleibt ihnen der Zutritt zur Führungsetage jedoch verwehrt, weil ein Hochschulabschluss formale Voraussetzung dafür ist (532I; 532K).

Die Ukraine verfügt laut Expertenmeinung nicht über elitäre Netzwerke, zu denen Außenstehende keinen Zugang haben und über die jungen Menschen aus elitären Familien Jobs vermittelt werden (58I; 58K). Beziehungen zwischen prestigereichen Hochschulen und Unternehmen existieren nur im Rahmen von Praktikumsvereinbarungen (573I; 573K). Hierbei steht die Versorgung Studierender mit Praktikumsstellen im Vordergrund (573I).

Es ist davon auszugehen, dass der ukrainische Realtypus sich vom Idealtypus insofern unterscheidet, als dass die angesprochenen Werkzeuge nicht nur von der Elite eingesetzt werden, sondern prinzipiell jedem offenstehen, der über ein gewisses Budget verfügt. Ausmaß und Ursprung der in der Ukraine praktizierten illegalen Aktivitäten im Bildungsbereich können nicht ausschließlich eine Folge der Orientierung am meritokratischen Prinzip sein. Allerdings bietet letzteres Anreize, Leistungsstärke vorzuspiegeln und sich mit unlauteren Mitteln Vorteile zu verschaffen, die das Leistungsprinzip seinen Begünstigten verspricht.

O.:

Ergänzende relevante Merkmale, die im Realtypus, aber nicht im Idealtypus erscheinen

Dass es in vielen Fällen ein Hochschulzertifikat braucht, um einen einfachen Job zu bekommen, hängt neben dem beobachtbaren „credentialism“, also einem übertriebenen Streben nach Zertifikaten, auch mit einem „grade drift“ zusammen, das heißt einem Absinken des Anspruchsniveaus von Bildungsgängen und den dort vermittelten Qualifikationen, ausgelöst durch die Signifikanz von „höheren“ Zertifikaten (Kupets 2015, 5; vgl. auch Green et al. 2002, 795 f.).

Die Abnahme der Qualität von Bildungsgängen, ausgelöst durch den „Ansturm“ auf „höhere“ Bildungszertifikate, ist kein Aspekt, der im Idealtypus explizit in Erscheinung tritt, denn im idealtypischen Verlauf wird schärfer selektiert und durch die starke Ausdifferenzierung gibt es viele Qualitätsabstufungen hinsichtlich einzelner Bildungsgänge und -einrichtungen, die erhalten bleiben.

4.2.3.6 Zusammenfassung des Vergleichs

4.2.3.6.1 Realtypische Einzelerscheinungen nach den Beschreibungsdimensionen des Idealtypus

Um zu einer Zusammenfassung der Erkenntnisse darüber zu gelangen, inwiefern sich die idealtypischen wertlogischen und strukturellen Beschreibungsdimensionen der Beziehung zwischen Meritokratie und beruflicher Bildung mit Blick auf die Ukraine behaupten und identifizieren lassen, werden nun zusammenfassend entlang der Beschreibungsdimensionen des Idealtypus (s. Tabelle 3.2) die realtypischen Ausprägungen der Einzelerscheinungen beschrieben. Es wird auf die zweite Phase des Idealtypus zurückgegriffen. Sollten relevante Phänomene aus Phase 1 oder 3 im Realtypus auftreten, werden diese ergänzt und als solche gekennzeichnet. Der Fokus liegt zunächst auf den Gemeinsamkeiten. Abschnitt 4.2.3.6.2 fügt die Zusammenfassungen der einzelnen Beschreibungsdimensionen logisch zusammen und arbeitet übergreifend das „Meritokratische“ des Realtypus in Bezug zu seiner Geschichte heraus. Die Unterschiede zwischen Idealtypus und Realtypus werden in einem separaten Abschnitt kenntlich gemacht. Abschließend wird für Teil IV ein Fazit gezogen.

4.2.3.6.1.1 Strukturen des Bildungssystems

Grundsätzlich ist Bildung in der Ukraine allen zugänglich und kostenlos. Für sozial Benachteiligte zahlt der Staat Unterstützung. Insbesondere erhalten Abiturient/-innen, die bestimmte Sozialkriterien erfüllen, einen Budgetstudienplatz (s. hierzu Abschnitt 4.2.3.1 A.1).

Die Hochschulen wurden nach der Unabhängigkeitserlangung für die Masse geöffnet (s. hierzu Abschnitt 4.2.3.1 A.2).

Auf dem Weg zu den Hochschulen wählen die meisten Jugendlichen nach der einheitlichen Sekundarstufe I, die noch aus Zeiten der UkrSSR stammt (s. hierzu Abschnitt 4.1.2), den Weg in die Oberstufe der allgemeinen Sekundarschule. Nur die Leistungsschwächeren begeben sich in die berufliche Bildung (s. hierzu Abschnitt 4.2.3.1 C und 4.2.3.1 D). Auch hier ist es möglich, die Hochschulreife zu erlangen, sodass die nach der Sekundarstufe I aussortierten Schüler/-innen ebenfalls die Option haben, die „vollständige“ Sekundarschulbildung abzuschließen (s. hierzu Abschnitt 4.2.3.1 A.4 und 4.2.3.1 B).

Die Curricula der Sekundarschulbildung orientieren sich an den zentralen Vorgaben des Bildungsministeriums, die für alle gleich sind. Dies trifft sowohl für den allgemeinbildenden Zusatzunterricht an beruflichen Schulen, für die allgemeinen Sekundarschulen und für die Talentschulen mit spezialisierten Oberstufen zu. An diesem Punkt scheint der tradierte Gedanke der gleichen Bildung für alle durch (s. hierzu Abschnitt 4.2.3.1 A.3). Die Lehrpläne der Sekundarstufe I schließen berufsbezogene Inhalte, anders als in der Sowjetunion mit ihrer polytechnischen Bildung, fast völlig aus und haben einen Verallgemeinerungsprozess durchlaufen (s. hierzu Abschnitt 4.1.2 und 4.2.3.1 B). Berufsfachliches Wissen erlernt man fast ausschließlich in der beruflichen Bildung (s. hierzu Abschnitt 4.2.3.1 B, 4.2.3.5 A und B).

Besonders talentierte Jugendliche erhalten die Chance, sich auszuzeichnen und in den spezialisierten Oberstufen in Neigungsfächern vertiefte Bildung zu erhalten, die über den vorgegebenen Stoff hinausgeht (s. hierzu Abschnitt 4.2.3.1 A.3). Sie müssen allerdings Schulgeld bezahlen (s. hierzu Abschnitt 4.2.3.1 A.2).

Durch die Einheitlichkeit der Curricula in der Sekundarschulbildung schafft der Staat einerseits die Voraussetzungen, Leistungen vergleichbar zu machen. Andererseits eröffnet er Leistungsstärkeren die Chance, sich Vorteile zu verschaffen und diese auszuspielen, denn die Talentschulen der Oberstufe der Sekundarbildung bereiten besser auf den EIT vor, der bei der Verteilung der Budgetstudienplätze eine entscheidende Rolle spielt (s. hierzu Abschnitt 4.2.3.2 A).

Zwischen der beruflichen und der allgemeinen Bildung existieren Brücken. Ausgehend von einem Zertifikat der untersten Stufe der beruflichen Bildung, dem Abschluss Qualifizierte/-r Arbeiter/-in, können weitere Abschlüsse erreicht werden – Juniorspezialist/-in (nach dem älteren Bildungsgesetz) oder Junior-Bachelor (nach dem neuesten Bildungsgesetz, das erst noch umgesetzt werden muss). Parallel zu einer Berufsausbildung mit Abschluss Qualifizierte/-r Arbeiter/-in oder Junior-Spezialist/-in kann die Hochschulreife erworben werden (s. hierzu Abschnitt 4.1.3).

Zentraler Abschluss des ukrainischen Bildungswesens ist der Hochschulabschluss. Daher existieren viele Möglichkeiten, die Hochschulreife zu erlangen und Zugang zu einem Studium zu bekommen (s. hierzu Abschnitt 4.1.3). Ein neuer Weg wird aktuell mit dem beruflichen Abitur geschaffen (s. hierzu Abschnitt 4.2.3.1 A.5).

Der Staat nutzt die in der Sowjetunion etablierte zentrale Steuerung des Bildungswesens, um den Hochschulzugang objektiv und transparent zu gestalten. Hierzu wurde ein unabhängiger, zentraler Test eingeführt, der EIT, den Studienbewerber/-innen nach der Erlangung der Hochschulreife ablegen müssen (s. hierzu Abschnitt 4.2.3.1 A.1 und 4.2.3.1 C). In dieser Prüfung, die im ukrainischen Bildungssystem die entscheidendste Funktion übernimmt, werden keine beruflichen Inhalte abgefragt. Die „Spezialfächer“, in denen man sich je nach angestrebtem Studienfach prüfen lassen kann, sind allgemein ausgerichtet (s. hierzu Abschnitt 4.2.3.1 B und 4.2.3.5 H).

Auch nach der Sekundarstufe I ist zukünftig ein ähnlicher Test zu durchlaufen, auf dessen Grundlage die Zuteilung zur Oberstufe bzw. beruflichen Bildung erfolgt (s. hierzu Abschnitt 4.2.3.1 A.5). In der beruflichen Bildung werden auch Schüler/-innen mit schlechteren Noten aufgenommen (s. hierzu Abschnitt 4.2.3.1 D).

Es ist eine wachsende Ausdifferenzierung von Hierarchien im Bildungssystem, die eine genauere Einteilung von Leistungen und Leistungsträger/-innen erlauben, wahrnehmbar. Teil dieser Ausdifferenzierung sind die Talentschulen der Sekundarstufe II, die Zugangsprüfungen ansetzen, eine zunehmende Anzahl an Schularten im postsekundären bzw. prätertiären Sektor und Mechanismen, die es Hochschulen erlauben, sich von anderen abzusetzen und als besonders gut zu gelten (s. hierzu Abschnitt 4.2.3.1 C und 4.2.3.5 M).

Da Bildungszertifikate eine wichtiges und wertvolles Gut sind, wächst das Bildungsangebot auf verschiedenen Niveaustufen. Auch Privatschulen etablieren sich, seit sie im Rahmen der Unabhängigkeit legalisiert wurden. Im Sekundarschulbereich stellen sie sehr gut ausgestattete Eliteschulen dar. Den besseren Ruf haben im Hochschulbereich allerdings staatliche bzw. öffentliche Schulen. Private Anbieter kommen gerade für solche Familien infrage, deren Kinder in der Schule Schwierigkeiten haben und die die finanzielle Ausstattung haben, ihnen einen Privatschulbesuch zu finanzieren, damit sie ein bestimmtes Bildungsniveau erreichen können (s. hierzu Abschnitt 4.2.3.1 E).

Der unlängst eingeführte Junior-Bachelorabschluss, der den bisherigen Junior-Spezialistenabschluss ersetzt, richtet sich zumindest dem Namen nach an der Logik der allgemeinen bzw. akademischen Bildung aus. Der Spezialistenabschluss geht im Masterabschluss auf. Damit wird die ursprüngliche Verlängerung der beruflichen Bildung in die akademische Bildung hinein verändert. Dies lässt sich als eine Verallgemeinerung der beruflichen Bildung auslegen, die in Zusammenhang mit der Umsetzung der Bologna-Reformen steht (s. hierzu Abschnitt 4.2.3.1 G, 4.2.3.2 F und Idealtypus Phase 3).

Besonders angesehene Bildungseinrichtungen der Sekundarstufe II und Masterstudiengänge sind nur über spezielle Aufnahmeverfahren zugänglich und setzen sich so erfolgreich von anderen, inklusive der beruflichen Bildung, ab (s. hierzu Abschnitt 4.2.3.1 G und Idealtypus Phase 3).

4.2.3.6.1.2 Funktionen der beruflichen und allgemeinen bzw. akademischen Bildung

Die ukrainische Leistungsdefinition stellt Zielstrebigkeit und die Fähigkeit, gesteckte Ziele zu erreichen, in den Mittelpunkt und legt Wert auf Schlüsselkompetenzen. Wichtige Schlagwörter der ukrainischen Bildungstheorie sind Fundamentalisierung und Humanisierung, die mit Universalität einhergehen (s. hierzu Abschnitt 4.2.3.2 A; 4.2.3.5 B und G). Im Bildungssystem werden allgemeines Faktenwissen und theoretische Fähigkeiten belohnt. Curricula räumen Inhalten, die den Menschen bzw. die Menschlichkeit in den Mittelpunkt rücken, relativ großen Raum ein, gerade in Hochschulstudienplänen mit entsprechenden verpflichtenden Kursen (s. hierzu Abschnitt 4.2.3.2 A). Selektiert wird im allgemeinen Bildungssystem, wer dort „verliert“, dem bleibt die berufliche Bildung (s. hierzu Abschnitt 4.2.3.1 C). Dadurch sind die Leistungen im allgemeinen Bildungswesen und damit in allgemeineren Fächern selektionswirksam.

Aufgrund der Spezialisierungsmöglichkeiten in der Oberstufe sieht man von einer einseitigen Ausrichtung auf eine eng definierte allgemeine Leistungsfähigkeit ab. Dieser Effekt wird jedoch dadurch abgemildert, dass nicht nur die Spezialfächer, sondern vor allem Mathematik und Fächer mit Ukraine-Bezug im EIT eine tragende Rolle spielen (s. hierzu Abschnitt 4.2.3.5 H) und das Gros der Schüler/-innen sich in der Oberstufe realiter nicht spezialisiert (s. hierzu Abschnitt 4.2.3.5 B). Wer sich als besonders leistungsstark hervortun möchte, muss in Mathematik und Fächern mit Ukraine-Bezug gute Leistungen erbringen. Sie werden auch kulturell als wichtig erachtet – Mathematik aus Tradition und Fächer mit Ukraine-Bezug, weil sie als wesentlich dafür angesehen werden, eine ukrainische Identität zu schaffen und gute Staatsbürger/-innen zu formen, die sich ihrem Land verbunden fühlen (s. hierzu Abschnitt 4.2.3.5 B).

Im tertiären Sektor ist allgemeine Leistungsfähigkeit für einen erfolgreichen Abschluss wichtig. Wer ein Hochschulzertifikat besitzt, hat nachgewiesen, dass er bzw. sie über gewisse Schlüsselkompetenzen, wie sich selbst zu organisieren und Durchhaltevermögen zu zeigen, verfügt. Insbesondere, weil der soziale Status an den finanziellen Status geknüpft ist und weil Hochschulzertifikate bessere Karrierechancen bieten, können letztere zu einem „höheren“ sozialen Status führen als andere Zertifikate. Eine Garantie hierfür gibt es aber nicht, da auch die Leistung am Arbeitsplatz eine große Rolle spielt und es insgesamt einen Akademikerüberhang gibt (s. hierzu Abschnitt 4.2.3.2 C). Hinzugefügt werden muss, dass verbreitet illegale Praktiken eingesetzt werden, wenn es um die Vergabe von Hochschulzertifikaten geht (s. hierzu Abschnitt 4.2.3.5 C, K und N).

Eine Berufsausbildung gilt als Weg für Leistungsschwache bzw. sozial Schwache, die aufgefangen werden müssen. Wer kann, vermeidet es, dort zu landen. Resultat ist eine Negativselektion und dadurch ein schlechter Ruf der beruflichen Bildung (s. hierzu Abschnitt 4.2.3.2 D).

Durch die hohe Anzahl an Hochschulabschlussinhaber/-innen schneidet die berufliche Bildung mit ihren nichtakademischen Abschlüssen im Vergleich schlecht ab und kann nur mit minderwertigen Zertifikaten aufwarten. Wie in Abschnitt 4.2.3.2 D dargelegt, übernimmt der Hochschulsektor die Funktion, den individuellen Berufskarrieren der Teilnehmer/-innen zu dienen. Er signalisiert eine gewisse Leistungsfähigkeit, wobei die Signalwirkung durch das hohe Aufkommen an solchen Abschlüssen und ihre Käuflichkeit nur begrenzt gegeben ist.

Berufliche Bildung, egal welcher Stufe, ist unterhalb der akademischen Bildung angesiedelt und bietet schlechte Karriereaussichten (s. hierzu Abschnitt 4.2.3.4 A und Abbildung 4.1; vgl. ENIC Ukraine 2019). Um parallel zu einem beruflichen Abschluss die „vollständige“ Sekundarschulbildung abzuschließen, erhält man Zusatzunterricht, in dem die dafür vorgeschriebenen allgemeinbildenden Inhalte gelehrt werden (s. hierzu Abschnitt 4.2.3.1 B). Die berufliche Bildung gewinnt also an Wertigkeit, weil sie Berechtigungen für „höhere“ Bildungsgänge ermöglicht (s. hierzu Abschnitt 4.2.3.5 E). Diese Berechtigungen sind jedoch strikt vom Unterricht der eigentlichen beruflichen Bildung getrennt, sodass diese ihre Qualifikationsfunktion behält (s. hierzu Abschnitt 4.2.3.1 B). Allerdings ist diese angesichts der geringen Qualität beruflicher Bildungsgänge nur limitiert gegeben. Zudem benötigt man selbst für einfache Arbeitsstellen, wie in Abschnitt 4.2.3.4 B erläutert, einen Hochschulabschluss, um eingestellt zu werden.

4.2.3.6.1.3 Steuerung des Bildungssystems

In der Ukraine wird das Bildungssystem zentralistisch gesteuert (s. hierzu Abschnitt 4.2.3.3 A).

Die Vorgaben, denen Bildungseinrichtungen unterliegen, sind detailliert und lassen ihnen nur wenig Freiräume, sodass zum Beispiel hinsichtlich der Praxisorientierung von Studiengängen kaum Unterschiede festzustellen sind (s. hierzu Abschnitt 4.2.3.5 M). Die Politik versucht durch verschiedene Maßnahmen, wie zum Beispiel die erwähnte Einführung zentraler unabhängiger Leistungstests als Basis für Bildungsentscheidungen, das Leistungsprinzip zu fördern (s. hierzu Abschnitt 4.2.3.3 A). Durch formale Regelungen, die Berufspositionen mit Bildungsniveaus verbinden, wird dieses Vorgehen untermauert (s. hierzu Abschnitt 4.2.3.4 A).

Die Zuständigkeit für die berufliche Bildung obliegt dem Ministerium für Bildung und Forschung, wobei auch das Ministerium für Sozialpolitik, vor allem im Fort- und Weiterbildungsbereich, Aufgaben übernimmt (s. hierzu Abschnitt 4.2.3.3 A und B). Die geringe Qualität der beruflichen Bildung ist neben historisch bedingten Ursachen unter anderem eine Folge davon, dass sie lange Zeit von der Politik vernachlässigt wurde, die sich mehr um die angeseheneren Bildungsarten kümmerte. Auch Unternehmer/-innen machten sich nicht ausreichend für sie stark und passten lieber ihre Rekrutierungsstrategien an (s. hierzu Abschnitt 4.1.3; 4.2.3.4 A, B, C und 4.2.3.5 E; vgl. Prytomanov et al. 2018, 243).

Insgesamt zeigen Unternehmen nur wenig Interesse, sich in der auch in ihren Kreisen wenig angesehenen beruflichen Bildung zu engagieren. Politische Initiativen möchten dies momentan ändern. Nicht zuletzt stehen selbst für einfachere Tätigkeiten Hochschulzertifikatsinhaber/-innen zur Verfügung, die aufgrund der Negativselektion in die berufliche Bildung als leistungsfähiger angesehen werden als Qualifizierte Arbeiter/-innen, zumal, wenn letztere keine Hochschulreife besitzen. Auch die Kammern sind nicht in der Lage, an der Randständigkeit der beruflichen Bildung etwas zu ändern. Sie hatten auch in der Sowjetvergangenheit nur wenig Einfluss und waren keine unabhängigen Institutionen, woran sich seither wenig geändert hat (s. hierzu Abschnitt 4.1.3 und 4.2.3.3 A).

Aktuell versucht die ukrainische Regierung über ein duales System der beruflichen Bildung diese zu stärken und Unternehmen mehr in die Ausbildung einzubinden. Der Sektor der Fort- und Weiterbildung legt an Bedeutung zu. Seine Förderung wird auch von politischer Seite forciert (s. hierzu Abschnitt 4.2.3.1 G und Idealtypus Phase 3).

Durch die beginnende Dezentralisierung der beruflichen Bildung intendiert die Politik eine größere Beteiligung von Stakeholdern und eine Qualitätssteigerung. Dies hatte bisher noch keinen durchschlagenden Erfolg. Anfänge einer verstärkten Praxisorientierung des Bildungssystems sind sichtbar. Noch äußern sie sich mit Ausnahme des dualen Systems lediglich in Papieren mit Plänen und Agenden (s. hierzu Abschnitt 4.2.3.3 C und Idealtypus Phase 3).

4.2.3.6.1.4 Strukturen des Beschäftigungssystems und Beziehung zum Bildungssystem

Arbeitgeber/-innen passen sich an den Output des Bildungssystems an, indem sie Führungsposten nur an (reichlich verfügbare) Hochschulzertifikatsinhaber/-innen vergeben, was auch den Bildungsstandards und dem NQR entspricht (s. hierzu Abschnitt 4.2.3.4 A und Idealtypus Phase 3). Bildungszertifikate zeigen zu einem gewissen Grad die Leistungsfähigkeit ihrer Inhaber/-innen an. Wer „nur“ einen Abschluss als Qualifizierte/-r Arbeiter/-in vorweisen kann, hat kaum Aufstiegschancen in Unternehmen und kommt, wenn überhaupt, nur für einfache Tätigkeiten infrage (s. hierzu Abschnitt 4.2.3.4 F und 4.2.3.5 N). Holt ein/-e Qualifizierte/-r Arbeiter/-in den Hochschulabschluss nach, ist ein interner Aufstieg möglich. Für Abiturinhaber/-innen ohne Berufsausbildung ist ein interner Aufstieg nur in Ausnahmefällen zugänglich (s. hierzu Abschnitt 4.2.3.4 C).

In der Ukraine ist auch für Führungspositionen häufig fachspezifisches Wissen gefragt. Generell ist Berufserfahrung ein wichtiges Kriterium bei Einstellungsentscheidungen (s. hierzu Abschnitt 4.2.3.4 E). Da interne Mitarbeiter/-innen über betriebsspezifisches Wissen verfügen und man sie kennt, scheinen sie bei der Vergabe „höherer“ Posten durchaus eine echte Alternative zu externen Bewerber/-innen mit Hochschulabschluss darzustellen (s. hierzu Abschnitt 4.2.3.4 C).

Bei der Vergabe von Arbeitsstellen wird das Augenmerk nicht nur auf das Bildungsniveau von Bewerber/-innen gelegt – Beziehungsgeflechte und gegenseitige Gefallen sowie Schmiergelder sind hierbei ausgesprochen hoch einzuschätzende Faktoren (s. hierzu Abschnitt 4.2.3.5 A und N).

Weil das Bildungssystem in vielerlei Hinsicht die Beschäftigungsfähigkeit der Lernenden zu wenig in den Blick nimmt, gerade auch im Hochschulstudium, und die Qualität der beruflichen Bildung Defizite aufweist bzw. ihre Absolvent/-innen nicht unbedingt sehr leistungsfähig sind, mangelt es der ukrainischen Wirtschaft an Facharbeiter/-innen (s. hierzu Abschnitt 4.2.3.4 F und Idealtypus Phase 3).

Ukrainische Unternehmen beginnen, eigene Bildungszentren zu errichten und ihr Personal selbst auszubilden. Ein anderer Ansatz ist es, bei privaten Anbietern Trainings zu buchen, die das Anlernen am Arbeitsplatz ergänzen. Dies kann als eine Strategie gewertet werden, die Mängel des Bildungssystems zu beheben, das kaum beschäftigungsfähige Absolvent/-innen entlässt (s. hierzu Abschnitt 4.2.3.1 G und Idealtypus Phase 3).

4.2.3.6.1.5 Folgen und Bezug zur Wertlogik

Aufgrund der in der Ukraine verbreiteten (meritokratischen) Überzeugung, dass in kapitalistischen, demokratischen Ländern, wie es die unabhängige Ukraine sein möchte, möglichst hohe Bildungszertifikate die Eintrittskarte bzw. Vorbedingung für ein Leben im Wohlstand sind, strömen nach wie vor zahlreiche junge Menschen an die Hochschulen (s. hierzu Abschnitt 4.2.3.2 D und 4.2.3.5 G). Neigung und Interesse werden bei Bildungsentscheidungen meist Zwecküberlegungen untergeordnet, die sich auf die zukünftigen Karriereaussichten und Chancen auf Status, Macht und Wohlstand richten (s. hierzu Abschnitt 4.2.3.5 F und 4.2.3.2 D). Auf dem Weg in den tertiären Bildungssektor versucht man, die berufliche Bildung zu umgehen und präferiert allgemeinbildende Wege (s. hierzu Abschnitt 4.2.3.2 D).

Dass eine derart große Zahl an Akademiker/-innen überhaupt möglich ist, ist unter anderem eine Folge davon, dass nicht scharf selektiert wird und auch schlechtere Abiturient/-innen einen Studienplatz erhalten, wenn sie selbst für die Gebühren aufkommen (s. hierzu Abschnitt 4.2.3.1 A.1). Bildungszertifikate sind Zeichen des sozialen Status und für Ukrainer/-innen von großer Wichtigkeit (s. hierzu Abschnitt 4.2.3.5 A). Ukrainische Schüler/-innen stehen im Ruf, sehr leistungsbereit und strebsam zu sein, um einen Budgetstudienplatz zu erhalten (s. hierzu Abschnitt 4.2.3.5 G) – und damit Chancen auf einen hohen Status und Wohlstand. Die kaum vorhandene Wertschätzung der beruflichen Bildung speist sich demnach nicht aus der Qualifizierung für Berufe, sondern aus ihrer Berechtigungsfunktion (s. hierzu Abschnitt 4.2.3.5 E). Schulabbrecher/-innen gibt es in der Ukraine nur wenige, was unter anderem damit zusammenhängen dürfte, dass nicht sehr streng selektiert wird und Bildungstitel in einem beträchtlichen Maß käuflich o.ä. sind (s. hierzu Abschnitt 4.2.3.5 K). – Scheine für Hochschulkurse oder Prüfungsergebnisse können auch auf illegalem Weg erworben werden. Dies ist nicht nur ein Vorgehen finanzstarker Familien der Elite (s. hierzu Abschnitt 4.2.3.5 N). Insofern ist es nicht verwunderlich, dass Bildungszertifikate in der Ukraine nicht als Zeichen der Moral ihres Inhabers bzw. ihrer Inhaberin interpretiert werden (s. hierzu Abschnitt 4.2.3.5 A).

Die relativ einseitige Fächerwahl ukrainischer Studierender bzw. Studienbewerber/-innen unterstreicht die Existenz einer Fächerhierarchie (s. hierzu Abschnitt 4.2.3.5 I). Zudem ist eine Zunahme an Hierarchisierung zu verzeichnen, die sowohl Bildungsgänge als auch Bildungseinrichtungen betrifft und eine Folge einer verstärkten Leistungsorientierung ist (s. hierzu Abschnitt 4.2.3.5 H). Immer mehr junge Ukrainer/-innen streben einen Hochschulabschluss im Ausland an (s. hierzu Abschnitt 4.2.3.5 D). Gerade international operierende Unternehmen stellen Absolvent/-innen internationaler Studiengänge bevorzugt ein (s. hierzu Abschnitt 4.2.3.5 C), sollten sie sich überhaupt in der Ukraine bewerben. Somit kann man von einer internationalen Ausweitung der Hierarchie der Hochschulen sprechen, an deren Spitze ausländische Universitäten stehen.

Es hat eine inhaltliche Entkoppelung von Bildung und Arbeitsmarkt stattgefunden, die unter anderem der fehlenden Praxisorientierung der Hochschulen und der geringen Wertschätzung beruflicher Bildung geschuldet ist (s. hierzu Abschnitt 4.2.3.2 A und 4.2.3.5 M).

Die Noten im Hochschulzeugnis haben für den Arbeitsmarkt kaum Bedeutung. Dies gilt aber nicht nur für Zeugnisse der prestigereichsten Hochschulen, sondern generell (s. hierzu Abschnitt 4.2.3.5 M). Doktortitel sind in der Ukraine hauptsächlich im Bildungssektor bedeutend, in der Wirtschaft weniger (s. hierzu Abschnitt 4.2.3.5 M).

4.2.3.6.2 „Meritokratische“ Phänomene des ukrainischen Realtypus

Die große Signifikanz von Hochschulzertifikaten und die relativ gute Zugänglichkeit der Hochschulen können unter anderen als Auslöser einer ausgedehnten Bildungsexpansion und einer Verdrängung der beruflichen Bildung betrachtet werden. Bei Bildungsentscheidungen junger Menschen steht das Kalkül im Zentrum, ohne einen Hochschulabschluss keine guten Karriereperspektiven zu haben. Dieser (meritokratische) Glaube trat mit dem Wechsel zu einer kapitalistischen Gesellschaftsform auf und ließ die vormals etablierte Wertigkeit der beruflichen Bildung als zumindest soliden Bildungsweg in den Hintergrund rücken. Sie hat mittlerweile eine von sozialen Aspekten dominierte Auffangfunktion und einen schlechten Ruf. Durch den Verlust der Beziehungen zu Betrieben zu Beginn der Unabhängigkeit (die zunächst keinen Bezug zu Meritokratie hatte), der anschließenden Vernachlässigung durch die Politik und die chronische Unterfinanzierung hat die Qualität der beruflichen Bildung gelitten. Dies kann als Ausdruck dessen gewertet werden, dass die allgemeine Sekundarschulbildung und die Hochschulbildung Priorität hatten, also als „wichtiger“ bzw. wertiger erachtet wurden. Doch auch der Hochschulsektor weist große Defizite auf, die an den Idealtypus erinnern:

Yet, many view the country’s academic institutions as inflexible and out of touch with labor market demands and societal needs. In this view, Ukrainian society has an unhealthy obsession with theoretical university education at the expense of more employment-geared education and training. (Friedman/Trines 2019)

Die spät forcierte Trennung beruflicher und allgemeiner Bildung – beide wurden im Rahmen der sowjetischen Polytechnisierung lange als komplementär betrachtet – sowie die Einführung von zentralen, unabhängigen Leistungstests als Selektionsgrundlage sind meritokratische Erscheinungen, die die Ukraine rückwirkend nachholt – im Idealtypus sind sie der ersten Phase zugeordnet. Aufgrund der Gleichheitsideologie der Sowjetunion wies die Ukraine zu Beginn der Unabhängigkeit eine Tradition der Förderung der Chancengleichheit auf, die sich bis heute in den Strukturen des Bildungssystems äußert, unter anderem in der eher unscharfen Selektion. Im Idealtypus wird die Förderung der Chancengleichheit erst in der zweiten Phase ein Thema. Der ukrainische Realtypus hat hier teilweise ein Stadium erreicht, das im Idealtypus erst in der dritten Phase vorzufinden ist. Dies gilt für Erscheinungen wie einen Facharbeitermangel, berufliche Hochschulabschlüsse, den Selbstschutz von hoch angesehenen Bildungsgängen durch Aufnahmeprüfungen, eigene Ausbildungszentren von Betrieben, den Versuch, Stakeholder besser in Planung, Steuerung und Durchführung beruflicher Bildungsgänge zu integrieren, eine Zunahme der Bedeutung des Fort- und Weiterbildungssektors sowie die Signifikanz eines Hochschulabschlusses für eine Führungsposition. Nicht alle dieser Phänomene haben ihre Ursache ausschließlich im meritokratischen Prinzip, hängen aber damit zusammen.

Durch die meritokratische Verbindung von Bildungszertifikaten, Berufspositionen und Löhnen erfolgt eine wertende Einordnung von Bildungsarten, die der berufsbezogenen Bildung einen geringeren Stellenwert zuweist als der allgemeinen bzw. akademischen Bildung. Wie im Idealtypus ist in der Ukraine in gewisser Weise eine Verallgemeinerung eingetreten – berufliche Inhalte wurden fast vollständig aus der Sekundarschulbildung herausgenommen. Berufsfachliche Spezialisierung und arbeitstätigkeitsbezogene Inhalte und Kompetenzen werden nahezu ausschließlich in der beruflichen Bildung vermittelt. Die Hochschulcurricula weisen eine starke Theorielastigkeit auf. Insgesamt wird die berufliche Bildung von ihrer sozialen Funktion und der geringen gesellschaftlichen Wertschätzung bestimmt. Die noch vorhandene Wertigkeit schöpft sie zuvorderst aus ihrer Berechtigungsfunktion, die sie hauptsächlich durch ihre doppelqualifizierenden Abschlüsse besitzt.

4.2.3.6.3 Phänomene des ukrainischen Realtypus, die sich vom Idealtypus unterscheiden

Thematisiert werden nun realtypische Phänomene der Ukraine, hinsichtlich derer sie vom Idealtypus abweicht, sodass der Realtypus an diesen Punkten nicht als meritokratisch einzustufen ist.

Dazu gehört die aus der Sowjetunion übernommene Gepflogenheit, neben Budgetstudienplätzen Studienplätze für Selbstzahlende anzubieten und dadurch auch leistungsschwächeren, aber mit ausreichenden finanziellen Mitteln ausgestatteten Jugendlichen ein Studium zu ermöglichen.

Die Spezialisierungsmöglichkeiten in der Sekundarstufe II stehen dem idealtypisch enger gefassten Leistungsverständnis, das mit einer strukturellen Betonung der allgemeinen Leistungsfähigkeit verknüpft ist, entgegen.

Durch die Trennung der Curricula der beruflichen Bildung vom Unterrichtsstoff der allgemeinen Hochschulreife, die beide in einem Hybridbildungsgang parallel erlernt werden können, macht die idealtypische Verallgemeinerung der beruflichen Bildung auf inhaltlicher Ebene vor der beruflichen Bildung Halt und ihre Qualifikationsfunktion bleibt in gewissem Maße bestehen. Allerdings muss im Vergleich zu der sehr ausgedehnten, „kleinteiligen“ Spezialisierung der Sowjetunion sehr wohl eine Verallgemeinerung der beruflichen Bildung festgestellt werden. Man hat Berufe zusammengefasst und dadurch ihre Anzahl reduziert.

Im Gegensatz zum Idealtypus scheint der Leistungsdruck in der Ukraine geringer zu sein, sodass realtypisch nur wenige Schulabbrecher/-innen zu verzeichnen sind. Dass Leistungsnachweise dennoch als wichtig erachtet werden, zeigt nicht zuletzt die verbreitete Bereitschaft, sie, wenn nötig, auf illegalem Wege zu erwerben. Anders als im Idealtypus schlagen im Realtypus nicht nur Familien, die der Elite zugehörig sind, solche Wege ein.

Den zentralen Platz, der im Idealtypus dem Abitur gehört, nimmt im Realtypus der Hochschulabschluss ein. Sie besitzen jedoch beide eine ähnliche Funktion, gerade was die Verknüpfung mit Berufspositionen angeht. Diese Verknüpfung wird in der Ukraine im Rahmen gesetzlicher Regelungen eingefordert, die das meritokratische Leistungsprinzip fördern, was im Idealtypus nicht der Fall ist.

Das Ablegen höher angesehener Abschlüsse als ukrainische Hochschulzertifikate verlagert sich im Realtypus ins Ausland, wo qualitativ höherwertige Studien durchlaufen werden können.

Eine quasi-moralische Wertigkeit besitzen Bildungszertifikate in der Ukraine nicht, auch wenn sie sehr wichtig sind.

Aufgaben von Führungspersonen sind in der Ukraine tendenziell mehr mit spezialisiertem Fachwissen verbunden als im Idealtypus. Wer nicht gleich nach dem Erwerb der Hochschulreife parallel zum Abschluss einer Berufsausbildung einen Hochschulabschluss ablegt, sondern in eine Erwerbstätigkeit einmündet, kann diesen später per Fernunterricht nachholen und hat sich nicht für sein ganzes Leben alle Chancen auf einen Aufstieg verbaut. Auch dies ist ein Unterschied zum Idealtypus.

Aufgrund der Tatsache, dass das Bildungsministerium in der Ukraine sehr detaillierte Vorgaben erlässt, bleibt den einzelnen Lehranstalten nur wenig Spielraum, sodass ihre Praxisorientierung sich auf einem vergleichbaren Niveau befindet. Im Idealtypus weisen Curricula elitärer Bildungsgänge auf Hochschulniveau, nachdem die Selektion abgeschlossen ist, durchaus mehr Praxiselemente auf als die Studienprogramme anderer Hochschulen.

Dass in der Ukraine die aus der Sowjetzeit übernommenen beruflichen Hochschulabschlüsse abgeschafft werden, dürfte eine Auswirkung der Angleichung im Rahmen der Bologna-Reform sein. Nach dem aktuellen Bildungsgesetz existiert zukünftig nur noch der Junior-Bachelor, der formal unterhalb des Bachelor angesiedelt ist. Diese realtypische Entwicklung ist gegenläufig zum Idealtypus.

In der Ukraine beobachtbare Bemühungen zur Formulierung von Kompetenzstandards und zur Vorbereitung der Anerkennung informell oder non-formal erworbener Kompetenzen sind nicht Teil des idealtypischen Verlaufs einer bildungsbasierten Meritokratie. Hier schlägt man einen durchaus leistungsbasierten Pfad ein, der sich jedoch vom formalen Bildungswesen löst und in Richtung einer kompetenzbasierten Meritokratie weist.

Die vorhandenen Pläne, Institutionen zu eröffnen, die sich der Qualitätssicherung von beruflichen Bildungseinrichtungen annehmen (s. hierzu Abschnitt 4.2.3.4 D), kommen im Idealtypus nicht vor. Ein weiterer Aspekt, der im Idealtypus keine Entsprechung findet, ist der Niveauverlust von Bildungsgängen, der aufgrund der nicht sehr strengen Selektion eingetreten ist (s. hierzu Abschnitt 4.2.3.5 O).

4.2.3.6.4 Fazit des Vergleichs

Der ukrainische Realtypus ist dadurch gekennzeichnet, dass er bestimmte Traditionen, Strukturelemente und Werthaltungen aus der ukrainischen Sowjetvergangenheit enthält, die mit dem damals angestrebten Gleichheitsideal in Verbindung stehen. Gleichzeitig ist eine Förderung des selektiven Leistungsprinzips zu beobachten. Da die Ukraine historisch gesehen während Phase 1 als Teil der Sowjetunion dem Gleichheitsanspruch verpflichtet war, waren einige Merkmale der zweiten meritokratischen Phase schon zum Zeitpunkt der Unabhängigkeitserklärung vorhanden – also vor der politischen Hinwendung zu neuen Prinzipien. Gleichzeitig waren, wie oben gezeigt (s. hierzu Abschnitt 4.1.2.6), bereits zu Sowjetzeiten im Bildungssystem durchaus einige selektive Mechanismen etabliert, die teilweise auf dem Leistungsprinzip beruhten. Infolgedessen sind seit der Unabhängigkeit der Ukraine sowohl Bemühungen um mehr Chancengleichheit (im Idealtypus Phase 2) als auch um verstärkte Selektion im Rahmen einer Wettbewerbs- und Leistungsorientierung (im Idealtypus Phase 1) zu beobachten. Aufgrund der gleichheitsbasierten Merkmale des Bildungssystems und den daraus im Zusammenwirken mit leistungsorientierten Elementen entstehenden Problematiken sind einige Prozesse bereits so weit fortgeschritten, dass sie wiederum Phase 3 zugeordnet werden müssen. Im Endeffekt gleichen sich die strukturellen Resultate des Idealtypus und des ukrainischen Realtypus in vielerlei Hinsicht, während ihre Abfolge sich unterscheidet.

Alles in allem ist ein Bestandteil des ukrainischen Transformationsprozesses eine Transformation hin zu einer verstärkten Leistungsorientierung und Verbindung von Bildungszertifikaten mit Berufspositionen. Dass die berufliche Bildung einen massiven Wertigkeitsverlust erlitten hat, ist unter anderem auf eine Werthaltung zurückzuführen, die dem meritokratischen Prinzip folgt. Der in der Ukraine als sehr wesentlich angesehene materielle Wohlstand hängt unter anderem von der Berufsposition ab, die unter anderem an Bildungszertifikate gebunden ist, sodass Bildungszertifikate und die entsprechenden Bildungsgänge bzw. anbietenden Institutionen nach den Karriere-, Status- und Wohlstandsaussichten beurteilt werden, die sie eröffnen.

Im Gegensatz zum Idealtypus selektiert die Ukraine weniger scharf und räumt in größerem Rahmen legale und illegale Optionen ein, das Leistungsprinzip zu umgehen. Auch wenn die Meritokratie zunimmt, hält die ukrainische Kultur aktuell daran fest, die Wertigkeit eines Menschen mehr danach zu bemessen, wer jemand als Mensch ist, als danach, wie leistungsfähig er ist.

4.3 Schlussfolgerungen und Empfehlungen für die Ukraine

Im Folgenden geht es darum, Schlussfolgerungen aus dem Abgleich des Realtypus der Ukraine mit dem Idealtypus zu ziehen, indem die Zusammenfassung des Abgleichs mit den Erkenntnissen aus der idealtypischen Betrachtung in Bezug gesetzt wird. Im Mittelpunkt unserer Fragestellung stehen dabei Wirkungen und Empfehlungen für die berufliche Bildung. Da die berufliche Bildung in bestimmte Funktionszusammenhänge eingebunden ist und dem Einfluss anderer Systeme unterliegt, die im Rahmen der ideal- bzw. realtypischen Beschreibungsdimensionen thematisiert wurden, werden diese als Kontext ebenfalls berücksichtigt.

4.3.1 Berufliche Bildung und berufliche Hochschulbildung

Einfluss des meritokratischen Prinzips auf die berufliche Bildung und ihre gesellschaftliche Bedeutung

Letztlich sieht sich die ukrainische Berufsbildung mit denselben Problemen konfrontiert wie im Idealtypus. Die Tatsache, dass der Großteil eines Jahrgangs einen Hochschulabschluss ablegt, unter anderem weil auch leistungsschwächere Schüler/-innen zugelassen werden, hat diesem Abschluss eine Bedeutung als Mindeststandard verliehen, wie es im Idealtypus beim Abitur der Fall ist. Im Umkehrschluss reicht der Abschluss einer Berufsausbildung nicht aus, um Aufstiegschancen zu wahren und Arbeitsstellen mit gewissem Anspruch und Lohn zu erhalten. Junge Menschen können über einen beruflichen Bildungsabschluss kaum gesellschaftliche Anerkennung erlangen, ihre Chancen am Arbeitsmarkt sind schlecht und die Kluft zwischen sozial Benachteiligten, die häufig in der beruflichen Bildung landen, und den besser gestellten Jugendlichen, die in der Regel einen Hochschulabschluss erreichen, wächst. Von Chancengleichheit kann hier keine Rede sein – auch, weil Familien ihren Sprösslingen mittels Finanzen ein Studium ermöglichen können. Dass die Hochschulen auf die Gelder aus den nicht staatlich finanzierten Studienplätzen angewiesen sind, ist eine problematische Entwicklung.

Die in der Gesellschaft verankerte Wahrnehmung der beruflichen Bildung als minderwertig und ihre lange währende Vernachlässigung durch den Staat führten zu Passungsproblemen am Arbeitsmarkt. Die vorhandene Leistungsorientierung und der Glaube an das meritokratische Prinzip verweist die Jugendlichen auf „höhere“ Bildungsgänge, entfacht unrealistische Erwartungen und lässt sie oftmals enttäuscht von den vorgefundenen Gegebenheiten am Arbeitsmarkt zurück. Währenddessen fehlt es der Wirtschaft an fachlich qualifizierten Arbeiter/-innen, weil die berufliche Bildung nicht auf dem aktuellen Stand ist und als Notnagel dient; Unternehmer/-innen verlangen bei der Besetzung von Arbeitsstellen zudem selbst für einfachere Tätigkeiten einen Hochschulabschluss. Somit trägt die Orientierung an der meritokratischen Denkfigur zur mangelnden Attraktivität und der beruflichen Bildung in der Ukraine bei.

Wie im Idealtypus ist auch in der Ukraine eine relativ große Durchlässigkeit zwischen der beruflichen und der allgemeinen bzw. akademischen Bildung vorhanden. Da dies der Wertigkeit der beruflichen Bildung abträglich ist und sie nach und nach auf ihre soziale Funktion und ihre Berechtigungsfunktion reduziert, ist dies kritisch zu sehen. Auch wenn Übergänge und Brücken für Menschen, die zwischen allgemeiner und beruflicher Bildung wechseln möchten, sicher sinnvoll sind, führt dies idealtypisch und realtypisch zu einer Dominanz des allgemeinbildenden Bildungswesens, unter anderem weil die Schaffung von Durchlässigkeit beinhaltet, dass die berufliche Bildung sich an die allgemeine anpasst.

Überträgt man die Erkenntnisse aus der idealtypischen Betrachtung auf den Realtypus, kommt man zu der Prognose, dass der neue Junior-Bachelorabschluss für die berufliche Bildung auf Sekundarschulniveau kontraproduktiv sein wird. Es ist zu erwarten, dass die Berechtigungsfunktion der beruflichen Bildung dadurch an Bedeutung gewinnt, wie es auch in der beruflichen Bildung auf Sekundarniveau auf funktionaler Ebene der Fall ist, die zahlreiche Auszubildende dafür nutzen, die Hochschulreife zu erlangen. Weiter ist anzunehmen, dass eine Verallgemeinerung beruflicher Bildungsgänge stattfindet, weil die beruflichen Bildungsgänge nach den neuen Regelungen für einen tendenziell allgemeineren akademischen Abschluss vorbereiten. Wie in der idealtypischen Phase 3 besteht das Risiko, dass der Junior Bachelor als zumindest teilweise beruflicher Hochschulabschluss eine schlechtere Art Allgemeinbildung darstellen wird. Dies zeigt sich bereits jetzt darin, dass er formal unterhalb des Bachelors angesiedelt ist (vgl. zum letzten Punkt ENIC Ukraine 2019).

Dass der Spezialistenabschluss und der Junior-Spezialistenabschluss aufgegeben werden, beeinträchtigt den Eigenwert der beruflichen Bildung, weil ihr die „eigenen“ Anschlüsse und Möglichkeiten für ihre Teilnehmer/-innen, sich weiterzuentwickeln, entzogen werden. Der vorhochschulische Bildungssektor suggeriert zudem eine niedrigere Stellung der zugehörigen beruflichen Bildungsgänge gegenüber akademischen des tertiären Bildungssektors.

Dass offiziell die Vorgabe gemacht wird, für Führungsposten ein Hochschulzertifikat zu benötigen, ist Ausdruck der meritokratischen Verknüpfung von Bildungsabschlüssen und Berufspositionen, die sowohl im Idealtypus als auch in der Ukraine, vor allem äußerlich und weniger inhaltlich, qualifikatorisch bedeutsam ist, solange nicht ein Zertifikat in einer bestimmten Fachrichtung, sondern ein Zertifikat eines bestimmten Bildungsniveaus gefordert wird.

Empfehlungen

Will die berufliche Bildung sich behaupten und ihre qualifikatorische Funktion erfüllen, muss sie ihr Profil schärfen, ihrer Logik treu bleiben und ihre Zertifikate neben jenen der allgemeinen bzw. akademischen Bildung als Alternative etablieren (vgl. zum Beispiel Farla 2000, X). So wird beispielsweise vorgeschlagen, Fachhochschulen und Universitäten klar zu trennen (vgl. GIZ 2018, 69). Der „vorhochschulische“ Bildungsbereich trägt einen unglücklichen Namen. Er sollte, was die „höheren“ Bildungsgänge anbelangt, nicht als Schwelle zum tertiären Bildungssektor, sondern als gleichwertige Alternative gelten, für die eine Berufsausbildung Voraussetzung ist. Eine Berufsausbildung kann so neben dem allgemeinen Abitur auf gleicher Ebene etabliert werden. Ob der berufliche Weg wirklich als gleichwertige Alternative wahrgenommen wird, hängt dabei nicht nur von einer formalen Gleichstellung ab, sondern von ihrer Qualität, dem Anklang bei Arbeitgeber/-innen und der Offenheit der Kultur, an diesem Punkt umzudenken.

Wichtig wäre es, die Qualität der beruflichen Bildung zu steigern, um der Wirtschaft Anreize zu bieten, Facharbeiter/-innen aus der beruflichen Bildung einzustellen. Sichkar und Ermsone schlagen als Ansatzpunkte unter anderem eine bessere Ausstattung der beruflichen Schulen vor, eine Diversifizierung von Lernwegen, eine programmatische Verbesserung der Qualität und Relevanz der beruflichen Bildung, eine Aktualisierung der curricularen Inhalte unter Einbezug der Industrie, eine Verbesserung der Kooperation zwischen den verschiedenen Ebenen des Bildungssystems, verbesserte Möglichkeiten des betrieblichen Lernens und eine Förderung des Images von Arbeiterberufen (Sichkar/Ermsone 2019, 51 f.). An diesem Punkt dürfte auch die berufliche Lehrerbildung eine wichtige Stellschraube sein, denn guter Unterricht erfolgt durch gut geschultes Lehrpersonal (s. hierzu Abschnitt 4.4).

Der Versuch, eine Art duales System der beruflichen Bildung in der Ukraine aufzubauen kann hilfreich sein, um die Qualität und Attraktivität der beruflichen Bildung für Auszubildende und Unternehmen anzuheben. Jedoch ist aktuell der Ausgang des Projekts noch offen. Es ist nicht zu erwarten, dass dadurch in naher Zukunft merklich mehr Jugendliche in die berufliche Bildung einmünden und auf ein Studium verzichten, weil sie in einem dualen Berufsabschluss ausreichendes Potenzial sehen. Dies legt unter anderem das französische Beispiel nahe.

Zudem herrscht generell in der Ukraine die Meinung vor, der Staat sei für die Ausbildung seiner Bürger/-innen verantwortlich, sodass es schwer ist, Unternehmen für die Beteiligung an der beruflichen Bildung zu gewinnen. Gleichwohl sind Bemühungen, Verbindungen zwischen Stakeholdern der beruflichen Bildung und beruflichen Schulen wertvoll und begrüßenswert. Als Mittler könnten neu zu etablierende Verbände dienen, für die es einen rechtlichen Rahmen und Mitspracherechte bräuchte.

Ein besonderes Potenzial bietet diesbezüglich die gesetzlich geschaffene Option, die es beruflichen Schulen erlaubt, Einkommen zu generieren. Gerade im kaufmännischen Bereich könnten Auszubildende unter Aufsicht an echten Fällen lernen, ohne in einem Unternehmen beschäftigt zu sein. Durch die so entstehenden Kontakte zu Firmen können sie sich vernetzen und ihre Beschäftigungschancen verbessern.

Mit der Qualitätssteigerung der beruflichen Bildung sollten eine Beschränkung des Hochschulzugangs und eine Verschlankung des Hochschulwesens einhergehen. Der Zugang sollte nicht für diejenigen offenstehen, die „leistungsfähiger“ oder „besser“ sind als andere, sondern deren Stärken hauptsächlich im kognitiven Bereich liegen und deren Berufsziele mit intellektueller Bildung korrespondieren. Die Hochschulen würden weniger Finanzen verschlingen, wenn sie weniger Studierende beschulen müssten. Außerdem könnten sie sich mehr dem dringend benötigten Ausbau der ukrainischen Forschungslandschaft widmen. Das aus Sowjetzeiten übernommene Modell der Budgetstudienplätze und selbstfinanzierten Studienplätze bedarf einer Reformierung.

Interne Aufstiege in Unternehmen sollten auch ohne Hochschulzertifikat möglich sein, komplexere Inhalte auch in beruflichen (Hoch-)Schulen erlernbar (vgl. zum Beispiel Voss-Dahm 2011). Es sollte offener gelassen werden, wer an welcher Position ankommt, um denjenigen, die in der Schule, aus welchen Gründen auch immer, nicht gut abgeschnitten haben, nicht zu verweigern, ihre Fähigkeiten in der Praxis zu erweitern und einzusetzen. Ob es für die Aufgaben, die mit einer bestimmten Position verbunden sind, ein Studium braucht, sollten die Unternehmen selbst entscheiden können. Dies lässt sich nicht pauschal festlegen und vorhersagen.

4.3.2 Praxisbezug des Bildungssystems

Einfluss des meritokratischen Prinzips auf den Praxisbezug des Bildungssystems

Die vormalige starke Spezialisierung des beruflichen Bildungssystems der UkrSSR mit einer starken Betonung des Fachmenschentums hat man aufgrund ihres Fokus auf die Nützlichkeit und Verwertbarkeit menschlicher Arbeitskraft durch die Zusammenfassung von Berufen – und damit eine breitere Interpretation des Berufsbegriffs – aufgegeben. Das Sekundarschulwesen betont relativ stark Fächer mit Ukraine-Bezug. Die „Talentschulen“ ermöglichen eine Spezialisierung, die sich aber nicht auf berufliche Fachbereiche beziehen. Im Hochschulsystem findet auf curricularer Ebene seit der Unabhängigkeit der Ukraine eine „Humanisierung“ von Bildung statt. Sie bewirkt, dass sämtliche Studierende allgemeinbildende Fächer belegen müssen und eher technische oder naturwissenschaftliche Studiengänge durch bestimmte Kurse ergänzt werden, die Studierenden eine weitere Perspektive vermitteln. Diese Entwicklungen der Entspezialisierung und Verallgemeinerung gleichen einer Hinwendung zum Kulturmenschentum, wie sie auch in der idealtypischen Meritokratie vorkommt. Da sowohl die Hochschulreife als auch Studiengänge grundsätzlich recht theoretisch und tätigkeitsunspezifisch orientiert sind und Hochschulabschlüsse im Vergleich zu Abschlüssen der beruflichen Bildung sehr viel bessere Berufskarriereperspektiven eröffnen, ist diese Vorgehensweise kritisch zu sehen. Die Erkenntnisse aus der idealtypischen Betrachtung legen nahe, dass hierdurch der inferiore Status der beruflichen Bildung mit ihrer tätigkeitsspezifischen Ausrichtung zementiert wird und Leistungsfähigkeit zunehmend allgemein ausgelegt wird. Dies ist aus Sicht des Fachkräftemangels und fehlender Beschäftigungsfähigkeit von Hochschulabsolvent/-innen vor allem aus ökonomischer Sicht nicht begrüßenswert.

Empfehlungen

Diesbezüglich sind die Spezialisierungsmöglichkeiten und die relativ breit gefächerte Talentförderung in der Sekundarstufe II, welche vom Idealtypus abweichen und eher der ukrainischen Tradition folgen, eine gute Idee. Sie können potenziell eine unfaire Eingrenzung von Leistungspotenzialen auf eine bestimmte Art der Leistung verhindern (vgl. Stojanov 2011, 171). Allerdings sind die Spezialisierungsfächer zu allgemein und zahlreiche Schüler/-innen sehen von einer Spezialisierung ab. Zudem erhalten die Pflichtfächer des EIT eine erhöhte Relevanz. An diesem Punkt wäre eine breitere und flexiblere Ausrichtung des EIT anzudenken. Zudem sollten „Talentschulen“ mit Spezialisierungsmöglichkeiten in berufspraktischen Fächern angeboten werden, um diesen Begabungen größere Wertschätzung zuteil werden zu lassen und diese Potenziale besser zu nutzen.

Die Hochschulcurricula bedürfen einer Überarbeitung, die praxisnahen Elementen größere Bedeutung beimisst.

4.3.3 Zusammenhang zwischen Leistungsprinzip und Korruption

Einfluss des meritokratischen Prinzips auf das Auftreten korrupter Praktiken

Aufgrund der hohen Wertigkeit von Bildungszertifikaten und ihrer außerordentlichen Bedeutung für den beruflichen Werdegang in bildungsbasierten Meritokratien impliziert der idealtypische Verlauf Anreize, das Leistungsprinzip mittels unlauterer Praktiken zu umgehen, wenn jemand zu scheitern und ausgesiebt zu werden droht. In der Ukraine als einem Land, in dem korrupte Praktiken an der Tagesordnung sind, wird aktuell versucht, durch das Leistungsprinzip und eine transparente Selektion, die von unabhängigen Institutionen unter gleichen Bedingungen durchgeführt wird, Korruption zu erschweren. Das meritokratische Prinzip wird letztlich durch Bildungsstandards und die Implementierung des NQR, die Berufspositionen mit Bildungsabschlüssen verbindlich verknüpfen, zu stärken versucht.

Empfehlungen

Jedoch ist eben dieses Prinzip in seiner Eigenschaft, Anreize für Korruption zu schaffen, nicht wirklich dazu geeignet, Korruption zu bekämpfen. Hilfreich wäre es, im Bildungssystem mehr horizontal statt vertikal zu differenzieren und zu selektieren und dem qualifikatorischen Prinzip mehr Raum zu geben. Das pragmatische Vorgehen einiger Unternehmen, das sich von der bildungsbasierten Meritokratie löst und im Personalauswahlprozess eigene Tests einsetzt, scheint ebenfalls eine sinnvolle Alternative darzustellen. Allerdings sollten interne Aufstiege offengehalten werden, um Anreize zur Korruption oder zu anderen illegalen Praktiken zu vermeiden und alternative Wege für wirklich leistungsfähige Personen, die sich in der Praxis beweisen, nicht zu verschließen.

4.3.4 Bildungspolitik

Einfluss des meritokratischen Prinzips auf die Bildungspolitik

Die ukrainische Bildungspolitik lehnt sich in vielerlei Hinsicht eng an Meinungen, Maximen, Standards und Empfehlungen aus dem Ausland an, insbesondere der EU, was nicht immer zielführend ist und tendenziell negative meritokratische Prozesse fördert.

Die Anpassung der Ukraine an den Europäischen Bildungsraum im Rahmen des Bologna-Prozesses beinhaltet unter anderem die Erstellung eines Nationalen Qualifikationsrahmens. Da er eine feste Hierarchie von Bildungsarten und -niveaus festlegt und mit Berufspositionen verbunden wird, die unterschiedlichen Lohnniveaus entsprechen, was eine Wertung bedingt, fördert er Meritokratie und deren in Abschnitt 3.2.3 ermittelten Effekte. Hierzu gehören die Auswirkungen einer starken Hierarchisierung von Bildung inklusive einer Beurteilung der Wertigkeit unterschiedlicher Bildungsarten, die Überbetonung von Bildungszertifikaten, eine übergroße Wettbewerbs- und Leistungsorientierung und die Vernachlässigung von „unten“ angesiedelten Bildungsgängen und -einrichtungen.

Im Rahmen der Neuen Ukrainischen Schule fördert man berufsqualifizierende Abschlüsse auf Abitur-Niveau durch ein berufliches Abitur. Dies könnte auf Kosten der beruflichen Bildung gehen, die bereits doppelqualifizierende Bildungsgänge anbietet, wenn die Auszubildenden zu dieser Bildungsart abwandern. Zudem wird einer weiteren Verallgemeinerung Vorschub geleistet. Überdies vergrößert sich wohl weiterhin der Druck, das Abitur abzulegen und die berufliche Bildung auf „niedrigerem“ Niveau zu umgehen. Eine Attraktivitätssteigerung der beruflichen Bildung im ukrainisches Realtypus ist hierdurch jedenfalls mit Blick auf den Idealtypus nicht zu erwarten.

Internationale Organisationen empfehlen der Ukraine, Vorkehrungen zur Qualitätssicherung des Bildungssystems zu treffen, was sie auch versucht (UNESCO 2008; Zimmermann 2017, 10 f., 23; ETF 2019b, 8). Dies bezieht sich auch auf die berufliche Bildung. In diesem Zug entstanden bereits bestimmte Verfahren zur Beurteilung der Qualität beruflicher Bildungseinrichtungen (vgl. Suprun et al. 2012, 10). Diese Vorgehensweise birgt das Risiko bzw. die Intention, dass Rankings entstehen. Letztere bedingen wiederum, wie der Idealtypus zeigt, dass Lernende in Bewerbungsphasen Lehranstalten nach ihrem Prestige auswählen bzw. den schlechteren Schüler/-innen nur die prestigearmen Institutionen bleiben, obwohl gerade sie aus pädagogischer Sicht besonders gute Schulen und Förderung bräuchten, um ihre Potenziale entfalten zu können.

Empfehlungen

Es wird deutlich, dass von außen geforderte und durch die Anpassung an den Bologna-Bildungsraum hervorgerufene strukturelle Veränderungen des ukrainischen Bildungssystems mit großer Vorsicht zu genießen sind. Sie sind nicht per se besser; vielmehr bewirken sie im ukrainischen Fall ein Aufgeben eigener, sinnvoller und potenzialreicher Strukturen und einen Import von Nachteilen und Problemen. Hier sollte ein vorsichtiger und reflektierter Umgang mit Impulsen (und finanziellen Anreizen) von außen gefunden werden.

Es wäre empfehlenswert, zur Qualitätssicherung nicht auf das leistungsorientierte Wettbewerbsprinzip und Rankings zu setzen, sondern vielmehr den Lehranstalten die nötige Unterstützung und Förderung zuteilwerden zu lassen, um eine hohe Unterrichtsqualität gewährleisten zu können, und bestimmte Qualitätskontrollmechanismen zu implementieren. Insofern ist auch die von der ukrainischen Bildungspolitik seit 2014 angestrebte, stärker leistungsorientierte Finanzierung der Hochschulen (Zimmermann 2017, 14) fragwürdig. Sie impliziert eine wachsende Distanz zwischen den beliebtesten und den unbeliebtesten Hochschulen und Studiengängen (vgl. zum Beispiel Hartmann 2006; Münch 2009, 271) und fördert damit letztlich nur die leistungsstärkeren (Budgetstudienplätze) bzw. finanzstärkeren (privat finanzierte Studienplätze) Studierenden. Insgesamt sollten die weniger leistungsstarken Schüler/-innen und die Frage nach ihrer Förderung mehr in den Vordergrund bildungspolitischer Reformen treten.

4.3.5 Steuerung des Bildungssystems

Einfluss des meritokratischen Prinzips auf die Steuerung des Bildungssystems

Es ist nicht dem Einfluss des meritokratischen Prinzips zuzuschreiben, dass das Bildungsministerium nahezu sämtliche Belange des Bildungssystems kontrolliert, sondern vielmehr eine aus der Sowjetzeit übernommene Struktur, die vom meritokratischen Prinzip gestützt wird. Die zentralistische Steuerung des Bildungssystems, die auch im Idealtypus eingesetzt wird, bewirkt eine enge Reglementierung, durch die zwar mehr Gleichheit geschaffen wird und eine transparentere Selektion stattfinden kann, die jedoch der Vielfalt der Menschen und auch der Berufswelt nicht gerecht wird und nur bestimmte, das heißt allgemeine, kognitiv anspruchsvolle und praxisferne, Leistungen belohnt. Dies ist für die berufliche Bildung problematisch.

Empfehlungen

Vor allem berufliche Bildungseinrichtungen müssten mehr Freiheiten bekommen, um flexibler zu sein und regionalen Spezifika gut gerecht werden zu können (vgl. zum Beispiel Rauner/Wittig 2009, 23). Gerade in der beruflichen Bildung würde dies eine schnelle inhaltliche Anpassung von Curricula ermöglichen und so die Aktualität und Relevanz der beruflichen Bildung steigern.

Der verstärkte Einbezug von Stakeholdern bei der Steuerung des Bildungswesens ist zu begrüßen, wobei er erst noch gelingen muss. Dies hängt auch von ihrer Willigkeit ab, in diesem Bereich zu investieren. Hier sollte die Regierung den Aufbau von Strukturen, in denen partnerschaftliche Beziehungen aufgebaut und gelebt werden können, vorantreiben. Gerade für die berufliche Bildung könnte dies ein Gewinn sein, wenn dadurch beteiligte Arbeitgeber/-innen Vertrauen in die berufliche Bildung fassen und verstärkt auf deren Absolvent/-innen zurückgreifen (vgl. zum Beispiel Schreier 2015, 51). Aber auch die Hochschulen könnten profitieren und sich von ihrer Theorielastigkeit lösen.

4.4 Bezug zur beruflichen Lehrerbildung in der Ukraine

Der Ausgangspunkt unserer Überlegungen war das doppelte Wertschätzungsproblem der ukrainischen Lehrerbildung (s. Abschnitt 1.1). Schwerpunkt der Analyse war im Folgenden der Teil des Wertschätzungsproblems, der die berufliche Bildung anbelangt. Dieser Teil wurde im Lichte des Zusammenhangs von beruflicher Bildung mit dem meritokratischen Leitgedanken analysiert. Im vorliegenden Abschnitt wird abrundend kurz ein Rückbezug auf die berufliche Lehrerbildung hergestellt.

Leidet die berufliche Bildung unter Geringschätzung, so beeinträchtigt dies auch die berufliche Lehrerbildung. Entsprechenden Bildungsgängen mangelt es an Attraktivität und es besteht die Gefahr, dass sie stiefmütterlich behandelt werden. Hierarchien des Lehrerberufs, die anknüpfend an meritokratischen Rangfolgen von Bildungseinrichtungen und -niveaus berufliche Bildung recht weit unten einordnen, lassen diese Sparte innerhalb des Lehrerberufs als wenig erstrebenswert erscheinen.

Die ukrainische berufliche Lehrerbildung ist von großer Heterogenität geprägt. Artikel 45 des ukrainischen Berufsbildungsgesetzes listet über ein Dutzend an Kategorien von Pädagog/-innen beruflicher Schulen auf, zum Beispiel „Lehrer/-in“, „berufliche/-r Lehrer/-in“ und verschiedene Arten „Meister/-innen“ und Ausbilder/-innen (vgl. Melnyk 2017, Anschn. 3.3; Radkevych et al. 2018, 142; Braun 2021, 57). Mehrere Wege, die sich zum Teil sehr voneinander unterscheiden, führen zur Lehrberechtigung an beruflichen Schulen (Braun 2021, 57 f.). Dies hängt unter anderem damit zusammen, dass die berufliche Lehrerbildung bislang kaum reguliert wurde und nicht über verbindliche, einheitliche und konkrete Standards verfügt (Melnyk 2017, Abschn. 3.3; Radkevych et al. 2018, 149 f.). Dies spricht nicht gerade für eine große Wertschätzung und Beachtung der beruflichen Lehrerbildung.

Aus der Sowjetunion stammt die Tradition einer Unterscheidung zwischen Ausbilder/-innen und Berufsschullehrer/-innen. Ausbilder/-innen unterrichteten technische Fächer, Berufsschullehrer allgemeine Fächer. Ihr Studium wies starke Unterschiede auf: Ausbilder/-innen studierten an technischen und landwirtschaftlichen Instituten für Hochschulbildung, Berufsschullehrer/-innen an Universitäten oder Instituten für Hochschulbildung. Das Studium der Ausbilder/-innen wies Praxisphasen auf, in denen sie in Unternehmen oder Werkstätten von Qualifizierten Arbeiter/-innen ohne pädagogische Ausbildung praktische Fähigkeiten lernten. Von den Berufsschullehrer/-innen wird berichtet, dass sie oft keine ausreichenden praktischen Fähigkeiten und ungenügend praxisbezogenes Wissen besaßen (Farla 2000, 28).

Die Lehrbefugnis für berufliche Schulen umfasst in der heutigen Ukraine mehrere Stufen, die vom Bildungsniveau abhängen. So berechtigen die Abschlüsse Junior-Spezialist/-in, Bachelor und Master zum Unterrichten an beruflichen Schulen. Ein „höherer“ Abschluss der Lehrerbildung geht mit einer Lehrlizenz an einer „höheren“ (beruflichen) Schule einher (Radkevych et al. 2018, 144 ff.). Es gibt drei Arten von Hochschuleinrichtungen, an denen Lehrerbildungsgänge angeboten werden, die mit deutschen Wirtschaftspädagogikstudiengängen vergleichbar sind, Pädagogische Akademien/Universitäten, klassische Universitäten und Wirtschaftsuniversitäten (Mischenko 2003; Melnyk 2017, Abschn. 3.3; Braun 2021, 57 f.). Ausbilder/-innen, die an beruflichen Schulen praxisbezogene Fächer lehren, studieren an technischen Hochschulen, die sie mit dem Junior-Spezialisten abschließen (Collins 2011a, 18). Bei den Pädagogischen Hochschulen stehen allgemeinbildende Studieninhalte im Vordergrund, die durch eine starke pädagogische Komponente ergänzt werden. Klassische Universitäten setzen den Schwerpunkt auf eine zweiseitige Ausbildung der Studierenden zu Lehrkräften und Wissenschaftlern. Ziel ist die allseitige, generalistische Menschenbildung (Mischenko 2003; Braun 2021, 58). Die Wirtschaftsuniversitäten folgen einer Ausbildung, die als „binär“ verstanden wird und neben pädagogischer Expertise auch berufsfachliche Kenntnisse in den Blick nimmt (Mischenko 2003; Melnyk 2017, Abschn. 3.3; Radkevych et al. 2018, 150; Braun 2021, 58).

Die Curricula der beruflichen Lehrerbildung in der Ukraine können getreu der meritokratischen Logik als theorielastig und wenig praxisorientiert eingestuft werden. Dies gilt vor allem in Anbetracht der Tatsache, dass in den meisten Fällen keine Praxissemester vorgesehen sind und es in der Ukraine kein Referendariat gibt. Manche Studienpläne enthalten keine auf die berufliche Bildung bezogenen Elemente – sie vermitteln eine allgemeine Lehrerausbildung, die zum Unterrichten an allgemeinen und beruflichen Schulen bestimmter Bildungsniveaustufen autorisieren (Braun 2021, 58 ff.).

Es muss bezweifelt werden, dass die beruflichen Lehrerbildungsprogramme ausreichend auf die Berufstätigkeit vorbereiten, die theoretische und praktische pädagogische sowie fachliche und berufspraktische Expertise erfordert (vgl. Deißinger et al. 2018, 29 f.; Braun 2021). Infolgedessen ist die Frage nach der Unterrichtsqualität an beruflichen Schulen und nach einer damit verbundenen weiteren Abwertung beruflicher Bildung, was ihre gesellschaftliche Wertschätzung angeht, zu stellen. Das Bildungsministerium sieht Handlungsbedarf und hat laut ETF seit 2014 Reformen zur Steigerung der Qualität der beruflichen Lehrerbildung eingeleitet. Insbesondere betrifft dies die Weiterbildung berufstätiger Lehrpersonen (ETF 2017c, 8).

Angesichts des niedrigen Stellenwerts der beruflichen Bildung in der ukrainischen Gesellschaft und der niedrigen Gehälter der Lehrer/-innen beruflicher Schulen, die unter denen in der Industrie liegen, verwundert es nicht, dass aktuell 3 000 Stellen für Berufsschulpädagog/-innen (entsprechend 9 % der Planstellen) vakant sind und der Status beruflicher Lehrkräfte herabgestuft wurde (ETF 2019a, 14, 42). Der monatliche Durchschnittslohn betrug im Januar 2020 in der Ukraine 10 727 UAH, der durchschnittliche Monatslohn im Bildungssektor lag bei deutlich geringeren 8 166 UAH (SSC 1998–2020). Europaweit zahlt die Ukraine ihren Lehrkräften am wenigsten. In der Ukraine und anderen post-sowjetischen Staaten erhalten Lehrer/-innen, die an Grund- oder Sekundarschulen unterrichten, grundsätzlich denselben Lohn. Diesen können sie durch eine freiwillige und erfolgreiche Teilnahme an einer Prüfung aufwerten (Hrynevych 2015, 84; Kavtseniuk et al. 2015, 20 f.). Auch in der beruflichen Bildung existieren leistungsbasierte Lehrerbewertungen und damit verbundene unterschiedliche pädagogische Ränge, die zwar lohnrelevant sind, sich aber finanziell nur wenig unterscheiden (ETF 2019a, 72 ff.). Nach Aussage einer uns bekannten ukrainischen Berufsbildungsexpertin, die unter anderen bei der Nationalen Akademie für Pädagogik beschäftigt war, gab es in der Vergangenheit Gehaltsunterschiede zwischen Berufsschullehrer/-innen und anderen Lehrer/-innen. Innerhalb der beruflichen Schulen wurden Lehrer/-innen allgemeiner Fächer, die aus dem staatlichen Budget finanziert wurden, besser entlohnt als Ausbilder/-innen praktischer Fächer, die ihren Lohn aus lokalen Budgets bezogen. Aktuell ist es geplant, die Unterschiede einzuebnen.

Da die Wertigkeit eines Berufsbildungssystems gesellschaftlich nicht anerkannt wird (ETF 2019a, 64), ist es eine logische Folge, dass die Politik die spärlich vorhandenen finanziellen Mittel kaum in diesen Bereich investiert und nur geringe Löhne zahlt. Die niedrigen Löhne und fehlenden Möglichkeiten der persönlichen Weiterentwicklung beeinträchtigen die Motivation der Lehrer/-innen beruflicher Schulen, was sich wiederum negativ auf die Motivation der Schüler/-innen auswirkt und ihnen einen weiteren Grund liefert, ein Studium anzustreben (ETF 2019a, 64).

Für Absolvent/-innen pädagogischer Studiengänge, die eine Lehrbefugnis erworben haben, ist die Wirtschaft meist ein attraktiveres Berufsfeld als der Bildungssektor (Mospan 2016, 7 f.). Gerade Absolvent/-innen des Faches Wirtschaft, die die Berechtigung, als Lehrer/-in an einer beruflichen Schule zu arbeiten, im Rahmen einer Zusatzoption erworben haben, verfügen über eine vollwertige wirtschaftliche Ausbildung, die mehr Entlohnung verspricht als der Lehrberuf (Farla 2000, 28; vgl. auch ETF 2009, 64). Letzterer kann als Notnagel genutzt werden, um drohende Arbeitslosigkeit zu vermeiden.

Bereits in ihrem Beruf aktive Lehrpersonen wechseln häufig in die Wirtschaft, die ihre Fähigkeiten besser honoriert (Shcherbak et al. 2002, 23; Hellwig/Lipenkowa 2007, 812). Insgesamt fällt die Anzahl an Lehrer/-innen, und nicht nur in Berufsschulen herrscht Lehrermangel. Währenddessen steigt die Anzahl an Hochschuldozent/-innen (Hellwig/Lipenkowa 2007, 812), die in der Lehrerprestigehierarchie (vgl. Zimmermann 2017, 16) höher stehen.

Es folgt ein gefährlicher Kreislauf: Die geringe Wertschätzung und zunehmende Marginalisierung beruflicher Bildung lässt das ohnehin nicht angesehene Lehramt insbesondere an beruflichen Schulen als Schulen der Bildung der Sozialschwachen wenig attraktiv erscheinen. Unter anderem aufgrund des Praxismangels der beruflichen Lehrerbildung werden die wenigen Studierenden, die diesen Weg einschlagen, nicht gut auf den Lehrberuf vorbereitet. Diejenigen, die tatsächlich in einer Lehrtätigkeit an einer beruflichen Schule ankommen, haben aufgrund ihrer Ausbildung keine optimalen Voraussetzungen, guten Unterricht zu halten. Mangelnde Unterrichtsqualität an beruflichen Schulen, freilich auch bedingt durch zusätzliche Faktoren, trägt weiter dazu bei, den Stellenwert der beruflichen Bildung abzusenken.