3.1 Die Methode der Idealtypuskonstruktion und Vorüberlegungen

3.1.1 Die Methode der Idealtypuskonstruktion nach Weber

Mit der Idealtypuskonstruktion beabsichtigt Weber die „Überwindung des Gegensatzes von Theorie und Geschichte“ (Winckelmann 1969, 438). Dabei wird ein Schema konstruiert, das idealisierte Handlungszusammenhänge enthält. Die idealisierten Handlungszusammenhänge bestehen aus Handlungen, die unter zweckrationalen Gesichtspunkten als optimal angesehen werden können (Jánoska-Bendl 1980, 657). Sie beschreiben ein übergreifendes soziales oder historisches Phänomen, wie zum Beispiel das indische Kastensystem oder das Phänomen des Kapitalismus in der Moderne, indem sie seine Einzigartigkeit und Individualität im Vergleich zu anderen Phänomenen herausarbeiten (Hempel 1984, 90; vgl. auch Deißinger 1998, 109 f.). Winckelmann zufolge enthält der Idealtypus als Typus ein „(hypothetisches) Urteil über die typischen Bedingungen“, unter denen die durch ihn erfassten Gesichtspunkte unter Beachtung des objektiv Möglichen auftreten. Er offeriert Anknüpfungspunkte, die Ursachen, funktionale Beziehungen und ihre Verflechtungen erhellen (Winckelmann 1969, 439). Der Zweck eines Idealtypus ist die Erschaffung eines widerspruchsfreien Ideals (Weber 1968a, 42, 51; Mommsen 1974, 225; Deißinger 1998, 109), bei dem gewählte „Gesichtspunkte bis zum denkmöglichen Extrem“ gedacht werden (Weber 1968a, 47), jedoch nicht im Sinne eines normativen Ideals (Weber 1968a, 44). Durch den konstruierten Idealtypus entsteht ein Maßstab, an dem die Realität gemessen werden kann, um sie so zu erschließen, nicht etwa, um sie mit normativen Idealvorstellungen abzugleichen. Dabei wird bewusst abstrahiert. Teile der Realität werden ausgeblendet, um Mechanismen und Logiken freizulegen, die in der Realität aufgrund ihrer Komplexität und der Vielzahl an Einflüssen so nicht vorkommen (Weber 1968a, 42 ff.; Winckelmann 1969, 439). Ein Idealtypus dient demzufolge als „Grenzbegriff“ und keinesfalls als Schema, in das die Realität eingeordnet werden kann (Weber 1968a, 46). Er spiegelt ausdrücklich nicht die empirische Realität wider (Weber 1968a, 42), sondern stellt letztlich eine „Utopie“ dar, „die durch gedankliche Steigerung bestimmter Elemente der Wirklichkeit gewonnen ist“ (Weber 1968a, 42). Diese Elemente sind „Einzelerscheinungen“, die „diffus und diskret“ vorliegen, „hier mehr, dort weniger, stellenweise gar nicht“, und anhand eines festzulegenden Blickwinkels „einseitig“ ausgewählt und herausgestellt werden, um sie „zu einem in sich einheitlichen Gedankengebilde“ zu verdichten (Weber 1968a, 43; vgl. auch Hirsch Hadorn 1997, 288). Erst wenn Einzelerscheinungen logisch mit anderen verbunden werden, lassen sie sich verstehen und zuordnen, denn, so Weber, „die gleiche historische Erscheinung“ kann Ausdruck unterschiedlicher Typen sein (Weber 2002, 10).

Der Idealtypus findet klassischerweise Gebrauch als Mittel zur theoretischen Begriffsgewinnung, zur Bildung von Klassifizierungen (Idealtypologien) und als heuristisches Deutungsschema. Zudem wird er als Grundlage zur Hypothesengenerierung für die empirische Anwendung genutzt (Winckelmann 1969, 440). Generell eignet er sich für die Darstellung von Verläufen und Prozessen und muss sich nicht mit einer Analyse des Status quo begnügen (Weber 1968a, 54; Winckelmann 1969, 440; Wittek 2006, 425). Idealtypen haben unter anderem die Funktion, als Fixpunkte für vergleichende Betrachtungen zu dienen (Burger 1976, 166). Bei Weber beschreiben sie zum einen soziale Beziehungen und Strukturen (Holmes 1981, 112). Zum anderen war es nicht zuletzt Weber (1921) selbst, der diese Methode neben der Generierung von Handlungstypen (vgl. Etzrodt 2006, 259–272) zur Analyse von Makrophänomenen wie Herrschaftsformen, beispielsweise der Bürokratie, nutzte.

Hempel präzisiert die begriffsbildende Anwendung der Idealtypusmethode, indem er als Ziel nicht theoretische Begriffe als solche angibt, sondern theoretische Systeme, da die Begriffe logisch miteinander in Zusammenhang gebracht werden (Hempel 1984, 97). Die Begriffsgewinnung und die heuristische Funktion der Idealtypuskonstruktion stehen miteinander in Zusammenhang: Idealtypen ermöglichen die Findung von Begriffen zur Analyse der empirischen, „geschichtlich-gesellschaftlichen“ Realität. Sie entstehen durch die „heuristische Konstruktion von reinen Formen oder Phänomenen“ (Gerhardt 2001, 31).

Zum Vorgehen bei der Konstruktion von Idealtypen liegen nur wenige konkrete Anweisungen vor. Sie finden sich insbesondere in methodischen Schrittfolgen, die entwickelt wurden, um dem Fehlen einer solchen Beschreibung bei Weber abzuhelfen (Hirsch Hadorn 1997, 285). Tabelle 3.1 stellt vier Abfolgen, die von verschiedenen Autor/-innen entwickelt wurden, gegenüber. Wittek (2006) verwendet unter Rückgriff auf Burger (1976, 160 ff.) ein Verständnis des Idealtypus, das ihn wie Schmid (1994) zugleich als Begriff und als Hypothese ausweist, wobei er sich mit seiner Abfolge zur Idealtypuskonstruktion auf den hypothesenbildenden Charakter fokussiert. Während Wittek (2006, vgl. z. B. 420) jedoch von der empirischen Überprüfbarkeit der Hypothesen auszugehen scheint, negiert Burger (1976, 179) diese ausdrücklich. Hempel (1984), bei dem sich ebenfalls eine Schrittfolge zur Konstruktion eines Idealtypus findet, besteht auf einer empirischen Überprüfung der Hypothesen. Bei Hirsch Hadorn (1997, 287–292) und Albert (2007, 62 f.) besteht das Ziel nicht in der Hypothesenbildung. Damit folgen sie der Ansicht, nach der die Formulierung von Hypothesen nicht Teil der Idealtypisierung ist, was auch Webers Meinung entspricht (Weber 1968a, 42), sondern optional auf sie folgen kann. Sie konzentrieren sich auf die theoretische Begriffsbestimmung, wobei sie eine Klassifizierung nicht ausschließen. Während Hirsch Hadorn in Schritt 1 ihrer methodischen Abfolge von Wertideen ausgeht, die Handeln erklären, und daraus mit Schritt 2 Einzelerscheinungen auswählt, beginnt Albert mit regelmäßigen Handlungen, die danach idealtypisch beschrieben werden sollen. Der Weg Hirsch Hadorns endet mit der Feststellung der Zusammenhänge von Schritt 2 und ihrer Verdichtung zu einem Gesamtgebilde, was im Grunde auch Schritt 3 von Albert entspricht (s. Tabelle 3.1). So, wie Albert die idealtypologische Methode Webers versteht, ist dort ein individualistischer Ansatz (Handlungstypen) inbegriffen, methodisch liegt jedoch ein holistischer Ansatz vor (Verbindung von Stufe 2 und 3 durch Makrobegriffe). Das heißt konkret, dass „mittels makrosoziologischer Idealtypen soziale Regeln zu einer sozialen Art zusammengefasst werden“ (Albert 2007, 67), also dass Weber von oben nach unten dachte und ausgehend von einem Idealtypus auf der Makroebene die Regeln auf der individuellen Ebene einordnete (Albert 2007, 64). Die forschungspraktischen Folgen verdeutlicht Hirsch Hadorn mit ihrem Hinweis auf die Interdependenz der Schritte 2 und 3 – der zweite Schritt ist Voraussetzung für den dritten, kann jedoch nicht ohne Berücksichtigung des dritten Schrittes durchgeführt werden (Hirsch Hadorn 1997, 288 ff.). Diese zwei Schritte müssen demzufolge wechselseitig angepasst werden.

Tabelle 3.1 Vorgehensweisen bei der Idealtypenkonstruktion

Auf Grundlage der Erläuterungen über Idealtypen und ihre Konstruktionsweise legt Abschnitt 3.1.2 die Vorgehensweise für die vorliegende Arbeit entsprechend ihres spezifischen Erkenntnisinteresses fest.

3.1.2 Die Idealtypuskonstruktion als Methode der vorliegenden Arbeit und Festlegung einer Schrittfolge

Kernannahme bei der Analyse von legitimen Herrschaftsformen ist folgende: „Wenn eine Herrschaft eine bestimmte Form der Legitimität besitzt, dann besitzt diese Herrschaft auch eine dieser Legitimität entsprechende Struktur“ (Albert 2007, 61), die es zu ergründen gilt. Dies trifft auch auf Meritokratie als Form legitimer Herrschaft zu. Wie in Kapitel 2 gezeigt, übernimmt das Bildungswesen in bildungsbasierten Meritokratien unter anderem die Funktion, nach Leistung zu selektieren. Die berufliche Bildung lässt sich als Teilbereich des Bildungswesens verstehen. Bei Untersuchungen des Schulwesens, oder in unserem Falle des Bildungssystems, muss nach Reichwein dessen geschichtliche Einbettung und Begrenzung beachtet werden, wofür „Zweckmäßigkeitserwägungen“ lediglich die Vorarbeit leisten. Ziel ist ein Gesamtbild, eine „wenn auch noch so allgemein[e] Vorstellung des Ganzen […], von dem aus die einzelnen Erscheinungen und Tatsachen erst ihren Sinn erhalten“ (Reichwein 1963, 90). Das heißt für das Bildungssystem, dass es erklärbar wird, wenn einzelne Phänomene auf seinen Sinn bezogen werden (vgl. Reichwein 1963, 90 f.).

Um die Wertlogiken zu erschließen, die im Rahmen des Zusammenhangs beruflicher Bildung und Meritokratie wirken und sich in Strukturen und Systemen etablieren, liegt es nahe, beispielhaft Länder zu analysieren, die als meritokratisch bekannt sind. Es braucht dabei einen methodischen Ansatz, der es ermöglicht, diese Logiken begreifbar zu machen, indem einzelne auffindbare Strukturausprägungen logisch hinsichtlich Wertzuschreibungen und systemischer Erfordernisse miteinander in Bezug gesetzt werden. Wie oben erläutert (s. Abschnitt 2.3), können die Realitäten einzelner Länder hinsichtlich der Strukturen und Funktionen des Bildungssystems aufgrund der vorhandenen Kontingenzen sehr unterschiedlich aussehen. Deshalb legt Waldow nahe, mit Schablonen zu arbeiten, also einen Maßstab auf einer übergeordneten, abstrakten Ebene zu schaffen (Waldow 2019, 274). Die konstruierte Schablone ermöglicht Abgleiche mit der Wirklichkeit.

Eine soziologische Methode, deren Ziel die Erstellung eines solchen Maßstabes auf der abstrakten Ebene darstellt, findet sich in der Idealtypuskonstruktion nach Max Weber, die in Abschnitt 3.1.1 vorgestellt wurde. Die vorliegende Arbeit verfolgt mit der Idealtypuskonstruktion die Absicht, eine Wertlogik zu extrahieren, die den Zusammenhang zwischen Meritokratie und beruflicher Bildung charakterisiert und mit bestimmten, zu findenden Strukturausprägungen und systemischen Funktionen verbunden ist. Ziel ist es, vor dem dargelegten theoretischen Hintergrund (s. Kapitel 2) ein heuristisches Deutungsschema (vgl. Winckelmann 1969, 440) zu erstellen, das eine theoretische Setzung dessen vornimmt, was den Zusammenhang zwischen Meritokratie und beruflicher Bildung kennzeichnet. Es dient als Maßstab zum Vergleich mit Realtypen, in unserem Falle dem der Ukraine.

Ein wichtiger Vorteil der Methode der Idealtypuskonstruktion ist die Möglichkeit, nicht nur momentane Zustände, sondern auch Prozesse in ihrer Prozesshaftigkeit zu erfassen. Es besteht durchaus die Möglichkeit, dass die gesuchte Wertlogik und ihre Beziehung zu Strukturen und Systemen verschiedene Phasen beinhaltet. Die Methode der Idealtypuskonstruktion erlaubt es, diese als solche zu erfassen, da sie nicht nur den Status quo, sondern auch Prozesse integrieren kann (vgl. Weber 1968a, 54; Winckelmann 1969, 440; Wittek 2006, 425).

Sowohl in der Erziehungswissenschaft allgemein als auch in der Berufs- und Wirtschaftspädagogik liegt naturgemäß ein anderes Erkenntnisinteresse vor als in der Soziologie. Bei der Entlehnung von Methoden aus der Soziologie für die Berufs- und Wirtschaftspädagogik müssen diese also angepasst werden (Bogner/Menz 2009, 61 f.). Weber unterlegt seinen Idealtypus rein handlungstheoretisch, daher muss die Idealtypuskonstruktion für das Erkenntnisinteresse der vorliegenden Arbeit, die einen umfassenderen theoretischen Hintergrund beansprucht (s. Kapitel 2), entsprechend modifiziert werden.

Im Sinne des Vorhabens der vorliegenden Arbeit, ein heuristisches Deutungsschema zu erstellen, scheiden die hypothesenformulierenden Abfolgen aus (s. Tabelle 3.1), weil es nicht darum geht, empirisch untersuchbare Hypothesen zu gewinnen. Vielmehr steht eine idealtypische Beschreibung von Phänomenen und Mechanismen bzw. eine Benennung von Werten, Strukturen sowie Funktionsweisen im Vordergrund, die den Zusammenhang zwischen Meritokratie und beruflicher Bildung beleuchten. Sinnvoll erscheint daher eine Synthese der Vorgehensweisen von Hirsch Hadorn und Albert (s. Tabelle 3.1).

Anders als bei Weber bzw. Hirsch Hadorn und Albert, die ausgehend von Werten auf Handlungen, Handlungslogik und Handlungstypen kommen (s. Tabelle 3.1), werden in vorliegender Arbeit auf Basis des theoretischen Bezugsrahmens (s. Abschnitt 2.4) einzelne Werte, die unter anderem die konsensuelle Leistungsdefinition bestimmen, und (System-)Strukturen als Einzelerscheinungen logisch verbunden. Dies erlaubt es, zu beschreiben, wie Werte und ihre Interaktionen mit Strukturen und Systemen die Bedeutung beruflicher Bildung in Meritokratien beeinflussen. Anstatt wie Weber von zweckrationalem Handeln als Basis der Handlungslogik auszugehen, bilden Werte, die in funktional schlüssigen Strukturen sichtbar werden, die Grundlage der Wertlogik unseres Idealtypus.

Um die Wertlogik zu entschlüsseln, die den Zusammenhang zwischen Meritokratie und beruflicher Bildung kennzeichnet, werden aus der Literatur bekannte Werte, die die Leistungsdefinition bestimmen, fokussiert. Untersucht werden die Strukturen des Teilsystems der Bildung und anderer angeschlossener Teilsysteme, in denen das aggregierte Handeln von Akteur/-innen, wie zum Beispiel Institutionen, zum Ausdruck kommt (s. hierzu Abschnitt 2.3). Der erarbeitete theoretische Bezugsrahmen (s. Kapitel 2, insbesondere Abschnitt 2.4) wird also als Hilfsmittel verwendet, um die grundlegenden Mechanismen des Zusammenhangs zwischen Meritokratie und beruflicher Bildung sichtbar zu machen, indem Strukturmerkmale und Wertlogik dort eingeordnet werden.

Bei der Konstruktion von Idealtypen stützt sich Weber auf empirische Einzelerscheinungen aus unterschiedlichen Ländern und Kulturkreisen. In der Berufs- und Wirtschaftspädagogik findet sich bei Deißinger (1998, 108–127) ein Beispiel für die Ableitung einer Idealtypologie aus Einzelerscheinungen einzelner Länder, die je spezifische Qualifikationsstile markieren. Auch in Methodenbüchern oder -artikeln (vgl. zum Beispiel Holmes 1981, 111–132; Kelly 2013, 423 f.; 2014, 259–262) oder weiteren Studien der vergleichenden Erziehungswissenschaft (vgl. zum Beispiel Dorf et al. 2012; Kelly et al. 2012) wird der Idealtypus als Methode erklärt und verwendet. Allerdings geht es hierbei meist darum, idealtypische Typologien zu erstellen, die unterschiedliche, landestypische Phänomene beschreiben und vergleichen. In unserem Falle ist das Ziel ein anderes: dasselbe Phänomen, das in verschiedenen Ländern auftritt, nämlich jenes der Meritokratie und ihres Zusammenhangs mit beruflicher Bildung, zu erfassen. Die Konstruktion einer Typologie von Meritokratie und ihres Zusammenhangs mit beruflicher Bildung wäre dann notwendig, wenn sich einzelne meritokratische Länder sehr unterschieden und diese Unterschiede nicht auf andere, nicht-meritokratische Einflüsse zurückgeführt werden könnten. Dies dürfte insbesondere der Fall sein, wenn Länder detailliert, auf sehr konkretem Niveau, betrachtet werden. Die vorliegende Arbeit macht es sich zunutze, dass Länder existieren, die als „meritokratisch“ bekannt sind. Es werden zwei Länder gewählt, die exemplarisch auf ihre meritokratischen Eigenheiten hin untersucht werden, um dann durch eine abstrahierende Zusammenfügung zu einem Idealtypus zu gelangen. Dabei wird das Abstraktionsniveau so gewählt, dass keine Typologien notwendig werden, weil sonst eine Analyse von mehr als zwei Ländern notwendig würde, was im Rahmen der vorliegenden Arbeit nicht leistbar ist.

Das Vorgehen, den Idealtypus auf Basis zweier als „meritokratisch“ bekannter Länder zu konstruieren, bedingt, dass zunächst eine getrennte Betrachtung der beiden Länder erfolgt (Schritt 1 bis Schritt 4). Die Auswahl der Länder wird im Vorgang zur Durchführung der einzelnen festzulegenden Schritte vorgenommen und begründet. Folgende Schritte werden in Anlehnung an Albert und Hirsch Hadorn (s. Tabelle 3.1) festgelegt (s. Abbildung 3.1):

  • Schritt 1: Datenmaterial gewinnen. Nach Hirsch Hadorn ist bei der Idealtypuskonstruktion zuerst eine Perspektive festzulegen, aus der die Wirklichkeit betrachtet wird (s. hierzu Hirsch Hadorn in Tabelle 3.1, Schritt 1). Unsere Perspektive, unter der wir die Wirklichkeit betrachten, ist die der Meritokratie. Dabei wird der Wirklichkeitsausschnitt der beruflichen Bildung und ihrer systemischen Einbettung betrachtet. Unser Wirklichkeitsausschnitt lässt sich in mehrere Dimensionen unterteilen. Um die Nachvollziehbarkeit unserer Idealtypuskonstruktion zu gewährleisten und ein Vorverständnis zu schaffen, werden zunächst die Wirklichkeitsdimensionen mit ihren Einzelerscheinungen je Land ausführlich präsentiert. Das heißt, es wird das gesamte „Datenmaterial“ gesammelt, aus dem später Einzelerscheinungen ausgewählt werden. Wie sich noch zeigt, bietet es sich in unserem Fall an, drei Wirklichkeitsdimensionen festzulegen. Sie werden im weiteren Verlauf auch als „Hauptbereiche“ bezeichnet. Sie lassen sich weiter in mehrere Unterbereiche aufteilen (s. hierzu Abschnitt 3.2.1). Die vorliegenden Einzelerscheinungen im Sinne von strukturellen und wertmäßigen Besonderheiten werden entlang der Hauptbereiche ausführlich dargestellt, sodass alle potenziell benötigten Einzelaspekte vorhanden sind. Um den Forschungsstand zu berücksichtigen, werden bereits bekannte Zusammenhänge, die relevante Wirklichkeitsausschnitte betreffen, einbezogen. Dies erleichtert zudem die Idealtypuskonstruktion. Da der historischen Bedingtheit von Bildungssystemen Rechnung getragen werden muss, damit Fehlinterpretationen vermieden werden können (s. hierzu Abschnitt 3.2.1), wird eine geschichtliche Betrachtung der Entwicklung der jeweiligen Bildungssysteme vorangestellt. Außerdem erfolgt eine allgemeine Darstellung der Strukturen der beruflichen Bildung der beiden Länder, um eine ausreichende Verständnisbasis zu generieren.

  • Schritt 2: Bündelung relevanter Einzelerscheinungen. Im zweiten Schritt wird das gesichtete und dargelegte „Datenmaterial“ zusammengefasst, um einen besseren Überblick zu gewinnen. Hierzu werden die betrachteten Unterbereiche unter die drei Hauptbereiche gebündelt und mit Aspekten aus der historischen Betrachtung ergänzt. Dies schließt nicht aus, bei der eigentlichen Idealtypuskonstruktion in Schritt 5 auf einzelne Aspekte zurückzugreifen, die in der Zusammenfassung ausgelassen wurden.

  • Schritt 3: Bezug zum theoretischen Hintergrund. Die logische Erläuterung der gefundenen Phänomene erfolgt mithilfe der Schlussfolgerungen aus dem Theoriekapitel, die im dritten Schritt mit den Ergebnissen aus Schritt 2 verbunden werden. Die gebündelten Einzelerscheinungen werden also in einen Bezugsrahmen eingeordnet, um die zugrundeliegende Logik sichtbar machen zu können (s. hierzu Schritt 1 und 2 von Albert, Tabelle 3.1).

  • Schritt 4: Formulieren einer Wertlogik in Zusammenhang mit (systemischen) Strukturen. Der vierte Schritt wird, wie die vorigen Schritte, für die beiden analysierten Länder jeweils getrennt durchgeführt, jedoch noch nicht auf einer abstrakten Ebene, sondern als „denkende Ordnung“ (s. hierzu Albert, Tabelle 3.1, Schritt 3) der dargelegten Aspekte. Hieraus folgt ein Gesamtgebilde, das aus der in der Empirie angewendeten (zu ermittelnden) länderspezifischen Wertlogik und ihren zusammengefassten strukturellen Entsprechungen in den betrachteten Ländern besteht.

  • Schritt 5: Eigentliche Idealtypuskonstruktion. Die Resultate der beiden Länderstudien werden schließlich im sechsten Schritt auf ein abstraktes, idealtypisches Niveau gehoben. Dazu werden nun spezifische Einzelerscheinungen aus den beiden analysierten Ländern selektiert (s. Schritt 2 bei Hirsch Hadorn und Schritt 1 bei Albert, Tabelle 3.1) und logisch verbunden (s. jeweils Schritt 3 bei Hirsch Hadorn und Albert, Tabelle 3.1). Es ergibt sich ein großes Gesamtbild, das zuerst idealtypisch eine Wertlogik wiedergibt, die in Meritokratien in Bezug auf die berufliche Bildung zur Anwendung kommt. Vor diesem Hintergrund werden idealtypische Strukturausprägungen und systemische Zusammenhänge sowie die Aufteilung von Funktionen benannt, die den Zusammenhang zwischen beruflicher Bildung und Meritokratie beschreiben.

  • Schritt 6: Theoretische Einordnung und der Ergebnisse und Implikationen. Als sechster Schritt wird in Anlehnung an den vierten Schritt nach Hempel (s. Tabelle 3.1) die Aufnahme der gewonnenen Erkenntnisse in einen breiteren theoretischen Zusammenhang angestrebt. Zum einen erfolgt eine reflektierende Betrachtung, indem die eigenen Ergebnisse mit denen aus anderer Meritokratieforschung verbunden und ergänzt werden. Zum anderen werden bekannte Resultate aus der Berufsbildungsforschung zur Einordnung und Sicherung der Ergebnisse herangezogen sowie Implikationen benannt.

Abbildung 3.1
figure 1

Schrittfolge der Idealtypuskonstruktion

Insgesamt ist die bereits in Abschnitt 3.1.1 erläuterte Interdependenz einzelner Schritte zu beachten, die wechselseitig angepasst werden müssen (Hirsch Hadorn 1997, 288 ff.). Zum einen werden die Wirklichkeitsdimensionen als flexibel während des Ablaufs anpassbar angesehen. Zum anderen können einzelne Aspekte als Einzelerscheinungen nachträglich integriert oder ausgeschlossen werden, wenn die zu ermittelnde widerspruchsfreie Logik des Gesamtgebildes es erfordert.

Um die Entstehung des Idealtypus Schritt für Schritt nachvollziehbar zu machen und diejenigen Leser/-innen abzuholen, die nicht mit den hier relevanten Aspekten über Japan und Frankreich vertraut sind, werden die einzelnen Analyseschritte großteils in den Fließtext integriert. Im Falle der Unterbereiche von Schritt 1 wurden die Beschreibungen dem Anhang hinzugefügt, weil die anschließende Bündelung in drei Hauptbereiche deren wichtigsten Merkmale umfasst. Nichtsdestotrotz kommt es zu einigen Wiederholungen, weil die Schrittfolge letztlich sukzessive das Datenmaterial in einer Abfolge von Analysen und Synthesen anpasst und so verändert, dass ein Idealtypus konstruiert werden kann. Somit wird das Datenmaterial mehrmals präsentiert, aber jeweils in veränderter Form.

3.2 Idealtypuskonstruktion des Zusammenhangs zwischen Meritokratie und beruflicher Bildung entlang der festgelegten Schrittfolge

3.2.1 Festlegung von Wirklichkeitsdimensionen für die Auswahl von Einzelerscheinungen für die Idealtypuskonstruktion (Schritt 1)

Es werden nun im ersten Schritt die Wirklichkeitsdimensionen festgelegt, das heißt die Perspektive, aus der die Wirklichkeit betrachtet werden soll. Eine tabellarische Übersicht der Wirklichkeitsdimensionen und ihre Unterteilung findet sich in Anhang 1. Um die Wirklichkeitsdimensionen bestimmen zu können, werden zunächst einige Vorüberlegungen angestellt.

Historisch gesehen hat sich die heutige, meritokratische Form der legalen Herrschaft aus der traditionalen Herrschaft entwickelte (s. hierzu Abschnitt 2.1.2; Fend 2008, 24). Wir gehen also davon aus, dass die heutige Orientierung von Bildungssystemen am meritokratischen Leistungsprinzip auf dem aufsetzt, was tradiert wurde (vgl. Georg 2001, 377), und die gesellschaftliche Akzeptanz von Leistungsbeurteilungen abhängig von der geschichtlichen und kulturellen Entwicklung ist (Waldow 2019, 273). Dies legt einen Einbezug geschichtlicher Aspekte nahe.

Wie in der vergleichenden Erziehungswissenschaft betont wird, sind Bildungssysteme Produkte von Erziehungsidealen, „realen Antrieben“ und Funktionserfordernissen (Schneider 1953, 12 f.; Reichwein 1963, 90; Schneider 1963, 26; Georg 1997, 82 ff.; Deißinger 2009, 93). Sie sind aus der Historie und der Kultur entstandene Konstrukte (Deißinger 2001a, 13 f.; Georg 2001, 377). Thematisiert werden hier einige Punkte, die in Kapitel 2 bereits abgehandelt wurden und daher auch in Bezug zum meritokratischen Leistungsprinzip als relevant erscheinen.

Erstens kommen kulturell bedingte, wertbasierte Konstrukte zur Sprache, die die gesellschaftlichen Ziele von Bildung beeinflussen, wie Bildungs- bzw. Erziehungsideale. Letztere beeinflussen Werte, welche Bildungsverständnissen und Bildungssystemen zugrunde liegen. Sie gestalten die Ziele von Bildung und damit auch Leistungsziele mit. Bedingt durch den Prozess der Institutionalisierung kommt es zur Abfassung von Lehr- bzw. Bildungsplänen, die gesellschaftliche Erwartungen spezifizieren und unter anderem auf deren kulturellen Werten beruhen (vgl. Cummings 2003, 36 f.; Kuper/Thiel 2010, 487).

Zweitens beinhalten die „realen Antriebe“ geschichtliche Ereignisse und Akteurkonstellationen sowie -interessen, die je nach Ausprägung und Art der Beziehung Einfluss auf die Ausgestaltung von Strukturen des Bildungssystems bzw. die Steuerung des Bildungssystems ausüben, zum Beispiel in Form von Institutionen, Gesetzen, Curricula oder der Schul- und Bildungsorganisation.

Drittens ist der funktionale Aspekt von Erziehung zu beachten, der eine bestimmte Ausrichtung von Bildungsarten und -gängen bedingt und Ausdruck dessen ist, wie unterschiedliche Funktionen zwischen Teilsystemen distribuiert sind. Die Funktionsaufteilung von beteiligten Teilsystemen setzt Bildungsprozessen bestimmte Rahmenbedingungen.

Das heißt für die festzulegenden Wirklichkeitsdimensionen, dass sie vor ihrem geschichtlichen Hintergrund betrachtet werden müssen. Deshalb werden die beiden Länderanalysen jeweils mit einem historischen Abriss beginnen, der Ereignisse, Reformen und deren Hintergründe aufgreift, die für das Bildungssystem relevant waren. Es sind ferner Bildungsideale und in Zusammenhang damit die Ausgestaltung von Curricula und die Steuerung von Bildung zu berücksichtigen. Auch muss die Distribution von Funktionen zwischen Teilsystemen Beachtung finden.

Da unsere Fragestellung sich auf die Wertschätzung der beruflichen Bildung in Meritokratien bezieht, umfasst unsere erste Wirklichkeitsdimension (= Hauptbereich 1) Aspekte, die mit ihr in Bezug stehen. Die Wertschätzung beruflicher Bildung wird in Relation zur Wertschätzung allgemeiner bzw. akademischer Bildung betrachtet (vgl. den Überblick bei Bohlinger 2013, 30 f.). Deshalb wird ein Hauptbereich Einzelerscheinungen beschreiben, die Aufschluss über die Wertigkeit beruflicher Bildung gegenüber allgemeiner bzw. akademischer Bildung innerhalb des Bildungssystems geben (1). Um einen Bezug der Wertigkeit von Bildungsarten zu Meritokratie herstellen zu können, sind Einzelerscheinungen interessant, die einen Bezug zum Leistungsprinzip besitzen. Wie in Abschnitt 2.1.3 gezeigt, übernimmt das Bildungssystem in bildungsbasierten Meritokratien eine wichtige Rolle als Selektionsorgan. Allerdings ist die Definition und Bewertung von Leistung, nach der selektiert wird, unterschiedlich (s. hierzu Abschnitt 2.1). Daher besteht ein weiterer Hauptbereich (2) in der Definition und/oder Bewertung von Leistung im Bildungssystem. Im Verständnis von Meritokratie im engeren Sinne enthalten ist die Verkoppelung von Bildung und Berufsposition nach Maßgabe des Leistungsprinzips (s. hierzu Abschnitt 2.1.2). Bezüglich beruflicher Bildung und ihrer Wertschätzung ist nach der Wertigkeit von Abschlüssen beruflicher Bildungsgänge gegenüber allgemeinen bzw. akademischen auf dem Arbeitsmarkt zu fragen (vgl. zum Beispiel Solga 2013, 22). Also werden in einem nächsten Hauptbereich (3) Phänomene und Strukturen einbezogen, die das Verhältnis von Bildung und Beschäftigungswesen berühren.

Die drei genannten Hauptbereiche (= HB) lassen sich durch Unterbereiche spezifizieren. Durch eine Analyse der Unterbereiche lassen sich alle Hauptbereiche beschreiben. Im Folgenden werden die Unterbereiche beschrieben; eine Übersicht findet sich ebenfalls in Anhang 1.

Für die Verteilung von Wertschätzung auf allgemeine bzw. akademische und berufliche Bildung (HB 1) spielen die in den Vorüberlegungen thematisierten Bildungsideale eine gewichtige Rolle (vgl. zum Beispiel Angermuller/Maeße 2015, 99 f.). Auch für die Definition dessen, was als gute bzw. schlechte Leistung anerkannt wird (HB 2), sind Bildungsideale relevant, denn sowohl Bildungsideale als auch Leistungsdefinitionen gehen auf kulturelle Werte zurück (s. hierzu Abschnitt 2.2; vgl. Mauthner 1924, 128; Fischer 2012, 194; Sayyid-Hosseini 2012, 345). Bildungstheoretisch steht hinsichtlich des Gegensatzes zwischen beruflicher und allgemeiner Bildung üblicherweise die Frage nach der Bildungswirksamkeit beruflicher bzw. praxisbezogener Bildung im Vordergrund (vgl. zum Beispiel Fischer 1950, 321–330; Kerschensteiner 1966, 89–104; Spranger 1969, 8 f.; Blankertz 1972; Zabeck 1975; Blankertz 1982; Zabeck 1983a; 1983b; Humboldt 1999, 304 f.; Kutscha 2008; 2011). Denkbare Gradmesser sind demzufolge der Fach- und Praxisbezug von Bildungsgängen sowie deren Curricula einschließlich der in Bildungsplänen definierten Leistungsziele (s. hierzu unsere Vorüberlegungen). Sie sind mit dem Platz der Bildungsgänge in der Bildungshierarchie in Relation zu setzen. Zudem spricht die Tatsache, dass Leistung abhängig von ihrem Inhalt ist und ohne Bezug zu einem Inhalt nicht existiert (Heid 2012, 1), dafür, zu untersuchen, inwiefern Inhalte des Bildungssystems auf eine eher beruflich oder allgemein orientierte Leistungsdefinition verweisen.

Über den Aspekt der Leistungsdefinition und -bewertung (HB 2) vermag außerdem die Bedeutung von Zertifikaten und Prüfungen sowie deren Ausgestaltung und Handhabung in Form von Lehr- und Lernkulturen aufzuklären. Hinzu kommen Selektionsmechanismen im Bildungssystem und die vorhandene Durchlässigkeit sowie die Gliederung von Bildungssystemen (vgl. zum Beispiel Georg/Sattel 2006, 128; Fend 2008, 78 f.; Heid 2012, 3–9; Schäfer/Thompson 2015, 17).

Hauptbereich 3, die Verkopplung von Bildung und Wirtschaft über Bildungsabschlüsse, ist ablesbar am Personalmanagement von Unternehmen, also zum Beispiel ihrem Rekrutierungsverhalten und angewandten Beförderungsmechanismen, die in Verbindung mit zertifizierter Leistung stehen (vgl. zum Beispiel Hoffer 2002, 435). Außerdem wird es in der Organisationsform von Unternehmen (vgl. Theorie der gesellschaftlichen Effekte; erläutert in Lutz 1991; Maurice 1991; Georg/Sattel 2006, 126) und der Beteiligung der Wirtschaft und ihrer Akteur/-innen an Bildungsprozessen und deren curricularer Ausgestaltung sichtbar. Dieser Aspekt spiegelt den Grad der Anpassung des Wirtschaftssystems an das Bildungssystem und deren Ausprägung wider (vgl. Fend 2008, 131; Luhmann 2008, 196 f.). Damit wird der Aspekt der Funktionsaufteilung unter den Teilsystemen, den wir in den Vorüberlegungen angesprochen haben, einbezogen.

Der Inhalt gesetzlicher Regelungen und Standards, die das Bildungssystem, die Hierarchie von Bildungsabschlüssen als Mindestvoraussetzung für Berufspositionen, Berufsklassifizierungen und die zugehörigen Muster der Begründung betreffen (vgl. zum Beispiel Georg/Sattel 2006, 126; Schäfer/Thompson 2015, 17), kann Aussagen zu allen drei Bereichen liefern. Meritokratie als legitime Herrschaftsform äußert sich in Strukturen, die sie legitimieren (vgl. zum Beispiel Albert 2007, 61) bzw. nach Weber in „Satzungen“, die sie legalisieren (vgl. Weber 1921, 124). Das Ausmaß, in dem der Staat als Akteur berufliche Bildung im Vergleich zu allgemeiner bzw. akademischer Bildung reguliert und fördert, und die institutionelle Organisation beruflicher Bildung sollten ebenfalls Berücksichtigung finden (vgl. zum Beispiel Busemeyer/Trampusch 2012, 21 ff.; Pilz 2017, 770 f.). Auch dieser Punkt betrifft wohl alle drei Hauptbereiche. Sein Einbezug korrespondiert mit unseren Vorüberlegungen, die nahegelegt haben, die Steuerung von Bildung zu analysieren.

3.2.2 Länderanalysen als Basis der Idealtypuskonstruktion (Schritte 2 bis 4)

3.2.2.1 Auswahl bestimmter Länder als Basis für die Idealtypuskonstruktion und Begründung

Geeignete Länder für die Idealtypuskonstruktion müssen solche sein, die einseitig meritokratische Züge aufweisen, um das Besondere im Gegensatz zu anderen Herrschaftsformen (vgl. Weber 1968a, 42 f.; Hirsch Hadorn 1997, 288) untersuchen zu können. Sie sollten im besten Fall in unterschiedlichen kulturellen Regionen der Welt verortet sein und so der Betrachtung die nötige Breite geben, damit der Idealtypus nicht zu sehr auf ein Land oder einen Kulturkreis bezogen wird. Als meritokratisch werden hierbei solche Gesellschaften verstanden, deren normative Orientierung das meritokratische Prinzip darstellt. Wichtig ist angesichts der Fragestellung, dass deutsch- oder englischsprachige Literatur verfügbar ist, die die benötigten Informationen über die berufliche Bildung bereitstellt, wenn möglich aus der Berufs- und Wirtschaftspädagogik. Hinsichtlich des Auffindens einer Wertlogik wäre es von entscheidendem Vorteil, Länder zu analysieren, die über eine eher homogene Wertbasis verfügen und diesbezüglich einem „reinen“ Typus nahekommen. Vor diesem Hintergrund fällt die Wahl auf Japan und Frankreich, die anhand von Literatur und Dokumenten analysiert werden.

Beide Länder können, unter anderem, was die Mentalität im Sinne der normativen Ausrichtung angeht, als Prototypen von Meritokratie charakterisiert werden. Sowohl Japan (Eswein 2016, 228) als auch Frankreich (Lüsebrink 2018, 234) werden als in der Vergangenheit vergleichsweise werthomogene Nationen charakterisiert.

Japan wurde bereits im Jahre 1983 aufgrund des vorherrschenden Leistungsstrebens und des Zusammenhangs zwischen Prüfungserfolg und sozialem Status als „the world’s most advanced meritocracy“ (Rohlen 1983, 82) bezeichnet. Die markante Leistungsorientierung und die prägende meritokratische Denkart sowie die enge Verbindung zwischen dem Bildungserfolg und den Karrierechancen sind Gründe dafür, dass Japan auch danach und bis heute als ausgesprochen meritokratisches Land klassifiziert wird (Georg 1994a, 346; Drinck 2006, 348). Bezieht man das von Young gezeichnete Bild von Meritokratie auf Japan, so kommen Kariya und Dore zu dem Schluss: „Japan can well claim, still, to be the most thoroughly meritocratic of all the countries in the OECD, with the possible exception of Korea“ (Kariya/Dore 2006, 134). Auch andere asiatische Staaten, man denke an China (Bell 2009; Fan 2013; Bell 2016; Liu 2016), Singapur (Tan 2008; Bellows 2009; Chong 2014) oder auch Indien (Jambo/Pilz 2017, 15), werden als stark meritokratisch etikettiert. Allerdings ist es Japan, über das mehr berufs- und wirtschaftspädagogische Studien durchgeführt und veröffentlicht wurden.

Mit Blick auf den europäischen Kulturkreis liegt der Fokus auf Frankreich, das als „Land der Meritokratie“ (Demesmay 2012, 9) bezeichnet wird. Lutz skizziert die historische Entwicklung des französischen Bildungssystems und seiner Verknüpfung mit dem Beschäftigungssystem unter der Prämisse der „meritokratischen Logik“ (Lutz 1986). Auch Ott beschreibt den engen Bezug Frankreichs zum meritokratischen Prinzip (Ott 2015, 222–233) und bezeichnet das französische Bildungssystem als „typisches meritokratisches System“ (Ott 2015, 223). Während das Berufsprinzip bzw. eine Orientierung von beruflichen Qualifikationen an der betrieblichen Praxis als typisch für Deutschland gilt, ist es für Frankreich das meritokratische Prinzip (Deißinger 2001b; Bernhard et al. 2015, 145).

Das Berufsprinzip als zentrales identitätsstiftendes, statuszuweisendes Allokationsprinzip (Deißinger 1998; Georg 1998, 62 f.) ist der Grund, weshalb Länder wie Deutschland, die dieses Prinzip implementiert haben, nicht infrage kommen. Auch wenn das Leistungsprinzip als grundlegendes Prinzip des Bildungswesens anerkannt wird, existiert mit dem Berufsprinzip ein zweites Prinzip, über das Allokation und Statuszuweisung stattfindet. Daher wäre es nicht sinnvoll, auf Basis einer solchen Mischform nach möglichst reinen, explizit meritokratischen Merkmalen zu suchen.

3.2.2.2 Japan

Der Begriff der „Berufsbildung“ wird in der deutschen Literatur bei Japan-Analysen meist beibehalten. Dabei wird darauf hingewiesen, dass Japan nicht über „Berufe“ im deutschen Sinne verfügt und „berufliche Bildung“ eher eine tätigkeitsorientierte oder arbeitspraxisbezogene Bildung darstellt (vgl. zum Beispiel Georg 1994a; Eswein 2003). Diesem Vorgehen schließt sich auch die vorliegende Arbeit an.

In Japan gibt es große Unterschiede zwischen den Bildungs- und Arbeitskarriereverläufen von Frauen und Männern. Zwar ist den Frauen per Gesetz Gleichberechtigung zugesprochen, jedoch kann bei Weitem noch keine vollumfängliche Umsetzung vermeldet werden. Obwohl deutliche Fortschritte erkennbar sind, hinkt Japan diesbezüglich anderen Industrienationen hinterher (vgl. zum Beispiel Ishida 2007, 64 f.; Mayer/Watanabe 2011). Die Segregation nach Geschlecht ist nicht Thema dieser Arbeit und eine differenzierende Beschreibung von Bildungs- und Karriereverläufen nach Geschlecht würde die Darstellungen unnötig verkomplizieren und unübersichtlich machen. Wesentliche Erkenntnisse für die vorliegende Fragestellung verspricht die Analyse der typischen Muster bei Männern, da sich die Bildungs- und Erwerbsverläufe von Frauen eher an jene der Männer angleichen als umgekehrt. Zwar wird die Gleichberechtigungsthematik an einigen Stellen gestreift, meist aber auf die typischen Bildungsverläufe und Statuszuweisungsmuster des männlichen Geschlechts Bezug genommen, sofern nicht explizit anderslautende Hinweise eingebaut sind.

Die nachfolgenden Unterkapitel sind so angeordnet, dass zunächst ein grober Überblick über die Geschichte des japanischen Bildungssystems erfolgt, der eine Einordnung einzelner Aspekte in ihren größeren (historischen) Zusammenhang ermöglicht. Dabei wird vor allem auf das Bildungssystem im Allgemeinen eingegangen. Die Genese des beruflichen Bildungswesens lässt sich davon relativ klar abgrenzen und wird der besseren Übersichtlichkeit willen in einem separaten Abschnitt dargestellt, der außerdem die strukturellen Besonderheiten der japanischen beruflichen Bildung beleuchtet. Vor dem historischen Hintergrund werden dann die oben vorgeschlagenen Wirklichkeitsdimensionen im Hinblick auf Japan angewendet, indem die jeweils vorliegenden Einzelerscheinungen ermittelt werden, und bei Bedarf angepasst. Sie werden anschließend zusammenfassend unter den definierten Hauptbereichen gebündelt. Um Wiederholungen zu vermeiden, befinden sich die Beschreibungen der einzelnen Unterbereiche der Wirklichkeitsdimensionen in Anhang 2, die der Hauptbereiche im Fließtext (Abschnitte unter 3.2.2.2.3). Unter Rückbezug auf den theoretischen Bezugsrahmen dieser Arbeit werden hernach die in Japan angewendete Wertlogik und die ihr entsprechenden Ausformungen von Strukturen und Subsystemen in puncto Zusammenhang zwischen beruflicher Bildung und Meritokratie abgeleitet.

3.2.2.2.1 Zur allgemeinen geschichtlichen Entwicklung des japanischen Bildungswesens seit der Meiji-Restauration und seiner aktuellen Struktur

Die Genese des heutigen Bildungssystems in Japan ist hauptsächlich durch zwei politisch-historische Perioden markiert: die Meiji-Restauration (1868–1912) und die Zeit der Besatzung durch die Alliierten nach dem Zweiten Weltkrieg (1945–52). Wie gezeigt wird, prägen diese beiden Abschnitte und ihre ideellen Grundlagen bis heute das japanische Bildungssystem und die Bildungsreformen der japanischen Regierung. Kennzeichen der Meiji-Periode war die Förderung der Bildung des Volkes, die vor allem wirtschaftlich und politisch motiviert war. Es entstand ein selektives, hierarchisches und sehr diversifiziertes Bildungssystem. Mit den Reformen der Nachkriegszeit unter amerikanischer Besatzung wurde dieses System vereinheitlicht, wobei sich die Selektivität reproduzierte, indem sich andere Selektionsmechanismen fanden. Die hierarchische Grundstruktur wurde in anderer Weise beibehalten, wobei rein äußerlich das ans amerikanische angelehnte System grundsätzlich erhalten blieb. Dies zeigen die nächsten Abschnitte, bei denen die beiden genannten Zeiträume im Blickpunkt stehen, wobei auch die Phasen danach in Kürze betrachtet werden, um Brücken zwischen den beiden Zeiträumen und zur Gegenwart zu schlagen. Abschließend stellt ein Überblick das aktuelle Bildungssystem dar.

3.2.2.2.1.1 Die Entwicklung des japanischen Bildungssystems von der Meiji-Zeit bis zum Zweiten Weltkrieg

In der Ära der Meiji-Regierung unternahm Japan Anstrengungen, den Staat zu modernisieren, um die zuvor vorherrschende ständisch-feudale Herrschaftsform zu überwinden (Schubert 2005, 91; Georg 2017, 14). Nach der militärisch von amerikanischer Seite erzwungenen Öffnung des bis dahin weitgehend isolierten Landes machte die Meiji-Regierung die Steigerung der Produktionskapazitäten zu einer Priorität (Drinck 2006, 339). Sie galt neben dem Aufbau einer starken Armee als zentral für die Machtsicherung und Wohlstandsgenerierung (Schubert 2005, 92; Drinck 2006, 339). Bildungsangebote stellte der japanische Staat mit der Absicht zur Verfügung, Bürger auszubilden, die ihm und seinen Zielen, zum Beispiel der Steigerung der Produktionskraft, nützlich sein würden. Der Gedanke, dass es Aufgabe und Dienst des Staates am Volke sei, Menschen um des Menschseins willen auszubilden und sie als Individuen zu fördern, spielte dabei eine untergeordnete Rolle (Kariya/Dore 2006, 134). Bei der Etablierung des Bildungswesens und der Durchführung von Bildungsreformen lehnte man sich an dem Westen und dessen Bildungsstrukturen an (Beauchamp 1994/2015, 3 f.; Drinck 2006, 340; Sakano 2011, 129; Blecken 2017, 10; Georg 2017, 14). Aus Frankreich wurde zum Beispiel die ausgesprochen zentralistische Verwaltungsstruktur staatlicher Schulen übernommen. Das Konzept einiger weniger öffentlicher Eliteuniversitäten schaute man von Deutschland ab. England war Vorbild für die Betonung der Charakterbildung und moralischen Disziplin in „preparatory schools“. Die Struktur der Grundschulen orientierte sich am amerikanischen Modell. Zusätzlich wurden einige pädagogische Ansätze und das Interesse an „beruflicher Bildung“ aus den USA entlehnt (Beauchamp 1994/2015, 4). Dabei setzte die Meiji-Regierung das Bildungswesen strategisch zur Förderung der Industrialisierung ein (Teichler 1975, 34). Idee der Bildungsreformen unter dem ersten Kultusminister Arinori Mori (1847–1889) war die Ausbildung einiger weniger Beamter als Elite und demgegenüber einer breiten Masse an brauchbaren Arbeitern. Für beide Gruppen waren je unterschiedliche Bildungswege vorgesehen, die zum einen mit dem Abschluss der Universität als Elitebildung und zum anderen mit dem Abschluss der Gewerbeschule als Bildung des Volkes umschrieben werden können (Sekikawa 2001, 47).

Im Jahre 1871 wurde ein Schulsystem eingeführt, das die bestehenden Bildungseinrichtungen unter privater, buddhistischer und staatlicher Verwaltung zusammenfasste und vereinheitlichte (Teichler 1975, 93; Drinck 2006, 339 f.). Die Primarstufe wurde 1886 allgemein zugänglich gemacht (Schmidt 2009, 220). Sie hatte den Auftrag, dem japanischen Volk eine „einheitliche Grundbildung […] in Sprache, Schrift und Arithmetik“ zu vermitteln (Schubert 2005, 92). Neue Sekundarschulen entstanden, außerdem Lehrerbildungseinrichtungen, Offiziersakademien und „höhere“ Schulen der Handelsmarine und der Künste. Üblicherweise überprüften Eingangstests die akademische Leistungsstärke („academic achievement“), da nur die besten Talente zur „höheren“ Bildung zugelassen werden sollten, für die überdies Schulgebühren verlangt wurde (Kariya/Dore 2006, 135). 1885 gab es neben der 1877 in Tokio gegründeten ersten offiziell anerkannten Universität 77 weitere Hochschulen, die allerdings keinen Status als anerkannte Universitäten genossen (Teichler 1975, 86; Schmidt 2009, 220). Ein Studium an einer der Universitäten war zu Beginn des 20. Jahrhunderts noch Kindern aus Elternhäusern der Elite vorbehalten (Schmidt 2009, 220; Blecken 2017, 10). Auch wenn die Politik das Prinzip der Chancengleichheit betonte, wurde es oberhalb der Primarstufe kaum bis gar nicht angewendet. Ab der Sekundarstufe waren die soziale und regionale Herkunft sowie das Geschlecht entscheidend für die Bildungsbeteiligung, von der männliche Jugendliche aus der oberen Schicht profitierten (Okada 2012, 119).

Politische Gruppierungen nationalistisch-fundamentalistischer Gesinnung formierten sich alsbald, um der ausgeprägten Bereitschaft, westliche Prinzipien zu übernehmen, entgegenzuwirken (Drinck 2006, 340). Mit der Forderung nach einer Rückbesinnung auf japanisch-konfuzianische Werte setzte 1880 ein gegenläufiger Trend ein (Beauchamp 1994/2015, 4). Unter anderem stießen die Praxis der bloßen Übersetzung westlicher Lehrbücher für den Unterricht und die mangelnde Vorbereitung des Lehrkörpers darauf, das neue Wissen zu vermitteln, auf erheblichen Widerstand (Teichler 1975, 93 f.). Man erzielte einen Kompromiss, der vorsah, dass nur technisches Wissen, jedoch nicht ethisch-moralische Ideale des Westens implementiert werden sollten. Fortan war die Richtschnur der japanischen Bildungspolitik die Rezeption des technischen Know-hows aus dem Westen unter Beibehaltung und Betonung der „japanisch östlichen Moral“ (Drinck 2006, 340; vgl. auch Georg 2017, 14). So erging 1890 ein kaiserlicher Erlass, der „nationale und konfuzianische Tugenden“ als japanische Erziehungsideale ausgab (Sekikawa 2001, 47 f.). Die nunmehr gezielt vermittelten Werte und Normen waren letzten Endes Teile der konfuzianischen Tradition, die man in einen westlich geprägten Rahmen einfügte. Über die Jahrzehnte gelang es nach und nach, dass sie nicht nur den Diskurs der Herrschaftsschicht prägten, sondern auch in ländlichen Regionen kulturell adaptiert wurden (Schubert 2005, 96 f.).

Letztlich war es gerade der traditionelle Konfuzianismus mit seinem vernunftorientierten, pragmatischen Kern und den Idealen des Pflichtbewusstseins, der Enthaltsamkeit und der treuen Ergebenheit, der als nahezu perfekter Unterbau der übernommenen modernen, industriestaatlichen Strukturen und Arbeitsweisen diente. Mit seiner hierarchischen und selektiven Gliederung erfüllte das modernisierte Bildungswesen die „zentrale Selektions- und Zuweisungsfunktion“. Zugangsberechtigungen zu anschließenden Bildungsgängen als Nachweise der Leistungsfähigkeit waren fester Bestandteil des Systems; Bildungsabschlüsse wurden als Bedingung des sozialen Aufstiegs mit Arbeitspositionen verknüpft (Georg 2017, 13 f.). Die Förderung von Chancengleichheit wurde zur treibenden Kraft der Bildungsreformen und trug maßgeblich zur Überwindung der vormaligen Herrschaftsstrukturen bei (Okada 2012, 119; Georg 2017, 14). Sie ist vor dem Hintergrund der japanischen Strategie einer „energische(n) Anhebung des allgemeinen Bildungsniveaus“ einzuordnen, die der Stärkung der Produktionskraft und der Technisierung zugutekommen sollte (Drinck 2006, 339 f.), wobei inhaltlich vordergründig eine „universale zivilisatorische Mobilisierung“ angestrebt wurde und gezielte technische oder berufliche Bildung nicht im Fokus standen (Teichler 1975, 34; vgl. auch Schubert 2005, 92).

In den späten 1920er und während der 1930er Jahre nutzte die staatliche Behörde für Bildung ihr exklusives Bestimmungsrecht über die Lehrbücher aus dem Jahre 1903, um die nachwachsende Generation nach Werten zu erziehen, die der nationalistischen und militaristischen Politik des Staates dienten. Unter anderem wurde die im Konfuzianismus hervorgehobene Loyalität gegenüber der sozialen Gruppe so ausgelegt, dass Individuen, die als Güter des Staates betrachtet wurden, den höheren Instanzen unbedingten, kritiklosen Gehorsam schuldeten (Beauchamp 1994/2015, 5).

Lebensläufe in Japan entwickelten Schubert zufolge bereits in dieser Phase eine im Unterschied zu anderen Industrienationen sehr eigene Ausprägung, die in den 1920er Jahren erkennbar und in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg für die Mehrheit der Japaner bedeutsam wurde. Sie äußerte sich in einem „recht strikt vereinheitlichte(n) ‚Lebenslaufregime‘“ (Schubert 2005, 101), charakterisiert durch zwei Merkmale. Zum einen folgte das Bildungswesen dem Prinzip der hierarchischen Ordnung von Bildungseinrichtungen, an deren Spitze die kaiserlichen Universitäten standen. Zum anderen erfolgten Aufnahmetests, die den Zugang zu Bildungseinrichtungen regelten. Dadurch wurde die Aufgabe der Selektion aus dem Unterricht ausgelagert und ein Festhalten „an den Prinzipien der Gemeinsamkeit und der Kooperation im Klassenzimmer und in der Schule“ (Schubert 2005, 101) ermöglicht, die in Japan traditionell sehr geachtet wurden. Von der Norm divergierende Lebensläufe oder Quereinstiege waren nicht vorgesehen. Das Ideal bestand im Folgen des Königswegs, der von einem angesehenen Kindergarten zu einer hoch geschätzten Universität führte und danach bei Männern im besten Fall in ein Dauerarbeitsverhältnis mündete, bei Frauen in die Ehe mit einem Mann in Dauerbeschäftigung (Schubert 1992, 192–198; 2005, 101 f.).

Bereits in der Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg diskutierte man in Japan Probleme, die auch in den 1970er Jahren präsent waren: Der aufgrund der hohen Selektivität vorherrschende starke Wettbewerb und Konkurrenzdruck im Bildungssystem drängte die individuell-persönliche Entwicklung und Entfaltung als an sich wichtigen Part des japanischen Erziehungsideals in den Hintergrund. Es wurde eine „einseitig intellektuelle Orientierung“ angeprangert und gleichzeitig eine frühere Selektion eingefordert (Teichler 1975, 106).

3.2.2.2.1.2 Die Entwicklung des japanischen Bildungssystems seit der Nachkriegszeit

1947, nach dem Zweiten Weltkrieg, führten die alliierten Besatzer in Gestalt einer amerikanischen Militärregierung das eingleisige 6-3-3-4-System nach amerikanischem Vorbild ein, bei dem alle Schüler/-innen gemeinsam die Primar- sowie Sekundarstufe durchliefen. Es ersetzte das hochdifferenzierte und mehrgleisige Bildungssystem der Vorkriegszeit. Hauptzweck der Reformen war die Demokratisierung des nationalistischen, den Militarismus fördernden Schulwesens (Beauchamp 1994/2015, 5–8; Okada 2012, 120). Als rechtlicher Rahmen wurden das Erziehungsgrundgesetz (Kyoiku kihon ho), das Schulerziehungsgesetz (Gakkō kyoiku ho) und die Neue Verfassung (Nihon koku kenpo) verabschiedet. Das Hauptaugenmerk lag nun nicht mehr auf der Ausbildung sozial funktionaler und nützlicher Bürger/-innen, sondern auf dem Ideal der Gleichheit – in dem Sinn, dass mehr der Selbstverwirklichungsaspekt und weniger der Aspekt der Rechtfertigung sozialer Ungleichheit betont wurde (Okada 2012, 119 f.). Es sollte unter anderem explizit das Recht aller auf Zugang zu weiterführender Bildung nach Maßgabe von Begabung und Kompetenzen, ohne Beachtung der sozialen Herkunft und des Geschlechts, gesichert werden. Eine frühzeitige Selektion wollte man vermeiden, indem allen während der Zeit der Schulpflicht die gleiche Ausbildung zuteilwurde. Die gemeinsame Grundschule war auf sechs Jahre ausgelegt, die Mittelschule auf drei, gefolgt von der ebenfalls dreijährigen Oberschule, an die ein vierjähriges Hochschulstudium anschloss (Münch/Eswein 1992, 66 ff.; Sekikawa 2001, 51; Eswein 2005, 32; Schmidt 2009, 220 f.; Drinck/Schletter 2016, 142). Inhalte von Bildungsplänen und Schulbüchern sowie Lehrmethoden wurden demokratisiert (Sekikawa 2001, 51). Um gleiche Bildung für alle zu garantieren, wurden nur vom Bildungsministerium zugelassene Lehrbücher verwendet, die lediglich in möglichst geringem Umfang durch andere Lehrmaterialien ergänzt wurden; öffentliche Schulen erhielten vergleichbare Ausstattungen (Drinck/Schletter 2016, 142 f.). Das Erziehungsedikt des Kaisers aus dem Jahre 1890 wurde aufgehoben (Sekikawa 2001, 51). 1949 strengte die Regierung eine Universitätsreform zur Schaffung von Chancengleichheit beim Zugang zur tertiären Bildung an. Bestehende Institutionen des tertiären Bildungssektors wurden angeglichen, umbenannt und ausgebaut. Universitäten boten nun einheitlich vierjährige Studiengänge an. In jeder Präfektur sollte dabei mindestens eine der hoch angesehenen staatlichen Nationalen Universitäten vorhanden sein, um eine Ballung in städtischen Gebieten zu verhindern. Anders als zuvor wurden ab 1945 auch private Hochschulen von staatlicher Seite finanziell unterstützt (Eswein 2005, 32 f.; Schmidt 2009, 220 ff.). Alle Absolvent/-innen der „höheren“ Sekundarstufe waren berechtigt, sich für die Zulassung an Universitäten zu bewerben. Die geschlechtliche Diskriminierung im Bildungssystem zu Ungunsten des weiblichen Geschlechts wurde abgeschafft. Diejenigen, die auf Unterstützung angewiesen waren, konnten auf neu geschaffene finanzielle Fördermöglichkeiten wie Stipendien und andere finanzielle Hilfen zählen. Auffällig war im reformierten System die Hervorhebung von Allgemeinbildung. Sie zielte darauf ab, das generelle Bildungsniveau der Bevölkerung anzuheben – „rather than to provide vocational training“ (MEXT o. J.e).

Die von den Besatzern veranlassten Bildungsreformen wurzelten im amerikanischen Demokratieverständnis und erwiesen sich für den japanischen Kontext in mancherlei Hinsicht als dysfunktional (Beauchamp 1994/2015, 8). Nach Ende der Besatzung 1952 versuchte die japanische Regierung, die von den Amerikanern implementierten Bildungsstrukturen zu korrigieren (Okada 1999, 173), da die Umgestaltungen von vielen Japanern als zu weitgehend und teilweise als unverträglich mit japanischen Werten und Traditionen empfunden wurden (Beauchamp 1994/2015, 10). Der Vorgang ist bekannt unter dem Schlagwort „reverse course“ (Beauchamp 1994/2015, 10; Okada 1999, 173; 2012, 120). Die konservative Regierung begann den Versuch, all jene Teile des von den Besatzern etablierten Bildungssystems zu eliminieren, die sie als zu fremdländisch oder liberal empfand (Beauchamp 1994/2015, 15; Okada 1999, 173). Das Bildungsministerium, jetzt nicht mehr unter amerikanischem Einfluss, nutzte seine Macht, um über die inhaltliche Ausgestaltung, Aufrechterhaltung und Änderung nationaler Curricula zu bestimmen. Dadurch wurden andersdenkende politische Vereinigungen, insbesondere der einflussreiche, progressiv eingestellte japanische Lehrerverband Nikkyoso, geschwächt. Insgesamt setzten die Konservativen fünf kennzeichnende Modifikationen zur geplanten „Wiederherstellung der nationalen Identität“ durch: „school board reform, textbook screening, teacher evaluation, setting up moral education, and diversification of the 6-3-3-4 system“ (Okada 1999, 173). Allerdings war die Handlungsfreiheit der Regierung durch die bereits implementierten Reformen und die allgemeine Befürwortung einer demokratischen Gesellschaftsausrichtung begrenzt (Beauchamp 1994/2015, 15). Grundsätzlich blieben die Eingleisigkeit des Bildungssystems und die 6-3-3-Struktur erhalten. Neben der Möglichkeit eines vierjährigen Universitätsstudiums wurden Optionen für zweijährige Studien geschaffen: 1964 wurde ein Zusatz zum Schulerziehungsgesetz erlassen, in dem das seit 1950 eingeführte System zweijähriger Junior Colleges, auch Kurzhochschulen (IdW 2011–2019, 6) oder Kurzuniversitäten (Eswein 2005, 33; Sakano 2011, 132) genannt, dauerhaft etabliert wurde (Schmidt 2009, 221). Sie dienten zunächst der Hochschulqualifizierung von Frauen, denen dort berufliche Kurse angeboten wurden, und entwickelten sich dann weiter zu Hochschulen, die vor allem Geisteswissenschaften und darauf basierende Fächer unterrichteten. Zusätzlich bildeten sie Kindergärtner/-innen, Krankenpflegeschullehrer/-innen und für andere Berufe des Gesundheitswesens, wie zum Beispiel Ernährungsberater/-in, aus (MEXT o. J.b). Ein Reformgesetz zur Dezentralisierung aus dem Jahr 1948, das gewählten, lokalen Gremien Autorität über Bildungsangelegenheiten zuwies, wurde abgeschafft. Die Gremien wurden der lokalen öffentlichen Verwaltung unterstellt und ihre Mitglieder durch Gouverneur/-innen von Präfekturen oder Bürgermeister/-innen bestimmt. Dies war als Ausdruck der in Japan verbreiteten Präferenz zentralistischer Steuerung anzusehen. Hinsichtlich des Bildungssystems wurde argumentiert, dass hierdurch Chancengleichheit garantiert werden könne. Die Ausstattung von Bildungseinrichtungen war sehr ähnlich, es gab ein einheitliches Curriculum für alle, das vom Bildungsministerium vorgegeben und immer wieder aktualisiert wurde, außerdem nationale Standards. Alle hatten gleichen Zugang zu Lehrbüchern; Lehrpersonen hatten vergleichbare Kompetenzen durch eine homogene Lehrerbildung. 1958 wurde der zuvor gestrichene „Moralunterricht“ im geringen Umfang von einer Wochenstunde wieder in den offiziellen Stundenplan der Regierung aufgenommen (Shields 1989c, 218 f.; Beauchamp 1994/2015, 11–14; vgl. auch Drinck 2006, 340). Es wurden immer mehr technische Hochschulen für Industrie und Handelsmarine eröffnet (Beauchamp 1994/2015, 18). Für diejenigen, die keinen Erfolg bei den Aufnahmeprüfungen der Hochschulen hatten oder einen anderen Weg bevorzugten, wurden privat organisierte, nicht regulierte Bildungsgänge an Gewerbeschulen angeboten (Schmidt 2009, 221).

Der Staat gründete in der Periode von 1960 bis 1975 neun neue nationale Universitäten; private Träger/-innen etablierten in derselben Zeit 165 Hochschulen (Beauchamp 1994/2015, 19). Aufgrund der Hochschulreformen kam es zwischen 1947 und 1976 zu einer Verdopplung der Anzahl der (Kurz-)Universitäten und einer weitreichenden Bildungsexpansion, in deren Rahmen die Zahl der Studierenden in relativ kurzer Zeit auf das 14-fache anstieg. Im Zeitraum zwischen 1950 und 1976 erhöhte sich die Zahl der Absolvent/-innen der Oberschulen, die sich an einer weiterführenden Bildungseinrichtung einschrieben, von 10,1 % auf 38,6 % (Eswein 2005, 33). Allerdings konnte nicht die Rede davon sein, dass durch die Horizontalisierung des japanischen Bildungssystems durch die Reformmaßnahmen der amerikanischen Besatzungsmacht die vertikale Logik des Systems wie geplant beseitigt worden wäre. Vielmehr bestand innerhalb des horizontal organisierten Bildungssystems eine ausgeprägte Vertikalisierung fort, die in einer Hackordnung von Bildungsinstitutionen ihren Ausdruck fand. Es entwickelte sich seit den 1960er Jahren ein Dominoeffekt, der seinen Anfang in Universitätsrankings nahm. Diese wurden anhand von Kriterien wie Zahl der Bewerber/-innen, Schwierigkeitsgrad der Aufnahmeprüfungen und der Zahl der Absolvent/-innen, die an angesehene Posten gelangen, erstellt und jährlich veröffentlicht. Infolgedessen wurden Quoten ermittelt, die den Anteil an Schüler/-innen angaben, die aus bestimmten Oberschulen kamen und die Aufnahme in die angesehensten Universitäten schafften. Sie bildeten die Basis für die hierarchische Anordnung der Oberschulen. Analog setzte sich der Prozess in den Mittelschulen fort und reichte bis in den Elementarbereich. Mithilfe von bestimmten Leistungstests wurde ab 1965 die Leistungsstärke (im Sinne des „academic achievement“) von Schüler/-innen ermittelt. Sie gab an, welche Bildungseinrichtung für wen infrage kam. 1993 verbot die Regierung nach massiver Kritik diese Art Tests in öffentlichen Schulen (Kopp 2000, 197; Teichler 2000, 330 f.; McVeigh 2002, 88 f.; Drinck 2006, 340 f.; Drinck/Schletter 2016, 142 f.). Während vor dem Krieg ein Mittelschulabschluss den Zugang zu Fachschulen und „höheren“ Schulen garantierte, waren nun die Aufnahmeprüfungen an den Universitäten entscheidend. Den 20 % Studierenden vor dem Krieg standen jetzt 70 % an Heranwachsenden gegenüber, die sich um die Aufnahme an den Universitäten bemühten (Shimizu 1973, 81). Passend zu den in diesem Absatz beschriebenen Effekten etablierte sich bei namhaften Unternehmen eine Rekrutierungspraxis, die beinhaltete, Bewerber/-innen nach Rang der besuchten Universität einzustellen (Drinck 2006, 341; Drinck/Schletter 2016, 143).

Das Verfahren der Selektion von Schüler/-innen und Studierenden durch Aufnahmeprüfungen führte zu einem großen Konkurrenzdruck und einer starken Zunahme privater Ergänzungsschulen (Juku) seit den 1970er Jahren. Die Anzahl der Juku wuchs von 22 000 im Jahre 1976 bis 1996 auf 50 000. Im Vergleich dazu nahm sich die Gesamtzahl aller japanischen Grund- und Mittelschulen von 35 000 recht überschaubar aus. Man spricht in diesem Zusammenhang von einer „Überhitzung der Bildung“ (Kyoiku no kanetsu), mit der man den „eskalierenden Wettbewerb um Bildungschancen“ umschreibt (Drinck 2006, 342 f.; vgl. auch Drinck/Schletter 2016, 143). Schulen richteten den Unterricht auf die Vorbereitung für die Aufnahmeprüfungen an renommierten weiterführenden Schulen oder Hochschulen aus (Demes/Georg 2007, 272, 274); Schüler/-innen verbrachten ihre Freizeit in Ergänzungsschulen (Drinck/Schletter 2016, 143). Seit den 1980er Jahren besuchten nahezu alle Jugendlichen (konstant ca. 98 %) in Japan eine Oberschule. Während man 1950 noch 201 Hochschulen und Universitäten zählte, waren es 2010 schon 778. Durch die hohen Zahlen an Absolvent/-innen verloren Hochschulabschlüsse an Wertigkeit, und es wurde immer relevanter, an welcher Hochschule bzw. Universität man seinen Abschluss machte (Drinck/Schletter 2016, 144).

Die japanische Regierung reagierte auf die „Überhitzung“ mit einer Politik der Entspannung. 1998 implementierte das japanische Bildungsministerium einen Bildungsplan, der eine Reduktion des Unterrichtsstoffes der Primar- und Mittelstufe um 30 % enthielt. 1992 wurde partiell eine Fünf-Tage-Schulwoche eingeführt, die bis 2002 vollständig umgesetzt wurde. Ausnahme bildeten private Schulen, die sich der Regel nicht beugten (Ogasawara 2015, 165 f.; Drinck/Schletter 2016, 149 f.). Es wurden modernere, individualisierte Unterrichtsmethoden propagiert, die den Schüler/-innen mehr Entwicklungsfreiraum geben und den Leistungsdruck minimieren sowie Kreativität fördern sollten (Drinck 2002, 266; 2006, 337 f.; Kariya/Dore 2006, 151; Ogasawara 2015, 167 f.; Drinck/Schletter 2016, 148). Damit wurde Abstand von der Pädagogik des Drills, der Disziplin und des Auswendiglernens genommen (Kariya/Dore 2006, 150 ff.; Schmidt 2009, 234 f.; Drinck/Schletter 2016, 144, 148).

Doch die von der Regierung verordnete Entspannung erwies sich als trügerisch, da die Schüler/-innen das Mehr an Freizeit für den Besuch von zusätzlichem Unterricht zur gezielten Vorbereitung auf die Aufnahmeprüfungen oder für Nachhilfeunterricht nutzten (Schmidt 2009, 235; Ogasawara 2015, 168). Nach einem verschlechterten Abschneiden bei den PISA-Studien 2003 und 2006 wurden einige Maßnahmen zurückgenommen. Die Unterrichtszeit wurde zum Beispiel wieder um 10 % erhöht (Drinck/Schletter 2016, 149 f.).

Im Jahr 2006 verabschiedete die japanische Regierung eine Revision des Erziehungsgrundgesetzes. Die allgemeinen Grundsätze der Version des Gesetzes von 1947 behielt man bei. Es wurde jedoch auf die neuen gesellschaftlichen Gegebenheiten und Bedingungen von Bildung reagiert, indem einige prinzipielle Anpassungen vorgenommen wurden: „Such principles include placing value on public-spiritedness and other forms of the ‘normative consciousness’ that the Japanese people possess, as well as respecting the traditions and culture“ (MEXT o. J.c).

Auch wenn die PISA-Ergebnisse ab 2009 wieder im sehr guten Bereich lagen, blieben die Probleme des Konkurrenzdrucks und der „Überhitzung“ des Systems bestehen (Drinck/Schletter 2016, 140 ff.). 2007 verfügten mehr als 70 % der Absolvent/-innen, die jedes Jahr neu auf den Arbeitsmarkt strömten, über einen tertiären Bildungsabschluss (Demes/Georg 2007, 298). 2016 waren es nach Angaben der OECD (2018b, 135) 68 %, die im Laufe ihres Lebens einen solchen vorweisen konnten (der OECD-Durchschnittswert beträgt 45 %). Circa 80 % eines Jahrgangs setzten 2016 nach dem Schulabschluss ihre Bildungskarriere im tertiären Bildungsbereich (inklusive Kurzzeitstudiengängen) fort (Kooperation international 2020a).

3.2.2.2.1.3 Die aktuelle Struktur des japanischen Bildungswesens und ihre geschichtliche Basis

Auf den Seiten des japanischen Bildungsministeriums findet sich eine Übersicht des aktuellen japanischen Bildungssystems.Footnote 1 Grundlage ist nach wie vor das amerikanische 6-3-3-4-Modell. Man sieht jedoch eine Ausdifferenzierung ab der Sekundarstufe II, die nach der Besatzungszeit stattgefunden hat. Hier gliedert sich das Bildungssystem unter anderem in folgende Bildungsgänge: Oberstufe der Sekundarschule, College of Technology, Specialized Training College (Oberstufe) (MEXT o. J.c). Die beruflichen Bildungsgänge werden im nächsten Abschnitt thematisiert. Das MEXT definiert als berufliche Schulen bzw. als „vocational and technical education programs“ die Specialized Training Colleges (allgemeine Stufe) und die Miscellaneous Schools (MEXT 2016). Sie schließen ebenfalls an die Sekundarstufe I an.

Bezüglich der Struktur von Universitätsstudiengängen bleibt anzumerken, dass diese in Bachelor- und Masterabschlüsse unterteilt sind. Für einen Bachelorabschluss ist eine Regelstudienzeit von vier Jahren angesetzt, für einen Masterabschluss eine von zwei Jahren. Anschließende Promotionsstudiengänge dauern mindestens drei Jahre (Blecken 2017, 22).

Zusammenfassend lässt sich der Darstellung der Geschichte und Struktur des japanischen Bildungswesens entnehmen, dass die zentralen Bausteine und Tendenzen auf der einen Seite auf der Bildungspolitik der Meiji-Zeit und auf der anderen Seite auf jener der Besatzungszeit nach dem Zweiten Weltkrieg beruhen. Es stellt eine Mischung aus demokratischen und konfuzianischen bzw. traditionellen moralischen Elementen dar, während immer wieder Nachbesserungen aufgrund veränderter äußerer Rahmenbedingungen angestrebt und durchgeführt wurden. Auch wenn am gemeinsamen Unterricht während der Schulpflichtzeit festgehalten wird, zeichnet sich das japanische Bildungssystem durch eine hierarchische Vertikalisierung aus, die mittels Aufnahmeprüfungen und Rangordnungen von Bildungseinrichtungen durchgesetzt wird.

3.2.2.2.2 Zur Geschichte, Struktur und Bedeutung der beruflichen Bildung in Japan

Über die berufliche Bildung in Japan wird gesagt, sie sei eine „Berufsausbildung ohne Beruf“ (Eswein 2003, 190; vgl. auch Georg 1994a; Bromann 2008; Georg 2017). Sie wurde in der Geschichte immer wieder aufs Neue von der allgemeinen Bildung verdrängt und konnte, so Bromann, nur in wenigen Ausnahmefällen Formen von Berufen entwickeln (Bromann 2008, 67). Laut Georg war es der (meritokratische) „enge Zusammenhang zwischen beruflicher Karriereperspektive und dem Niveau des allgemeinen (Hoch-)Schulabschlusses“, der „die ursprünglich im Schulsystem angelegten berufsbezogenen Organisationsformen und Inhalte weitgehend marginalisiert[e]“ (Georg 1994a, 346). Ein „System“ beruflicher Bildung ist in Japan nicht vorhanden. Der Großteil beruflichen Lernens findet weitgehend ohne gesetzliche Regelung oder Standardisierung in Unternehmen statt und beinhaltet betriebsspezifische Kenntnisse und Fähigkeiten (Georg 1995, 43 f.). Die wenigen Angebote vollzeitschulischer beruflicher Bildung finden keine hohe Wertschätzung (Pilz/Alexander 2016, 214 f.). Historische Ursachen und Prozesse, die dazu geführt haben, werden im Folgenden dargelegt. Während der Meiji-Zeit kann man drei Phasen der Anfänge beruflicher Bildung unterscheiden. Ihr Ausbau reichte bis zum Zweiten Weltkrieg (Abschnitt 3.2.2.2.2.1). Dann allerdings gingen die beruflichen Bildungsgänge in eine neu eingeführte berufliche Oberschule und akademische Bildungsformen über. Die berufliche Bildung als solche wurde nahezu komplett den Betrieben überlassen (Abschnitt 3.2.2.2.2.2). Folgerichtig thematisiert Abschnitt 3.2.2.2.2.3 die aktuelle Situation und Struktur der beruflichen Bildung in Japan anhand der betrieblichen Ausbildung. Daneben kommen strukturelle Neuerungen, die in der jüngeren Vergangenheit von Seiten des Arbeits- und des Erziehungsministeriums veranlasst wurden, zur Sprache.

3.2.2.2.2.1 Die drei Phasen der Anfänge der beruflichen Bildung während der Meiji-Periode und ihr Ausbau bis zum Zweiten Weltkrieg

Zur Zeit der Ständegesellschaft vor der Meiji-Restauration (ca. 1600 bis Mitte/Ende des 19. Jahrhunderts), der Tokugawa-Zeit, bestimmte in Japan die Geburt über den Stand und damit den Beruf eines Menschen. Die obere Klasse der Samurai (1) war für den Staats- und Militärdienst vorgesehen, darunter gab es die Stände der Bauern und Fischer (2), der Handwerker (3) und der Kaufleute und Dienstboten (4). Alle anderen, die diesen Ständen nicht angehörten, wurden als „Nicht-Menschen“ bezeichnet und eingeordnet (Drinck 2000a, 37, 61 ff.). Während Samurai Vorbereitungsschulen für ihre Berufe besuchten, lernten Bauern und Fischer von den Zugehörigen ihrer Dörfer die berufsnotwendigen Fähigkeiten inklusive Wissen über bestimmte Regeln und religiöse Rituale, die Teil der Berufsausübung waren. Für Familien der unteren Schichten bestand die Option, ihre Kinder bei Handwerkern und Kaufleuten in die Lehre zu schicken. Dort verbrachten sie ab einem Alter von elf bis zwölf Jahren eine normalerweise zehnjährige Lehrzeit, in der sie neben beruflichen Aufgaben auch in den Meisterfamilien bzw. -haushalten anfallende Tätigkeiten übernahmen (Drinck 2000a, 61 f.). Mädchen landeten oft als „Pfand“ im Dienstleistungsgewerbe oder in der Prostitution. Die untere Klasse bestand in den sogenannten Nicht-Menschen der „Bettler, Schausteller, Unterhaltungskünstler, Wahrsager und Justizflüchtlinge“ (Drinck 2000a, 63). War die Zugehörigkeit zu diesem Stand nicht Folge eines Abstiegs im Laufe des Lebens, sondern eine per Geburt festgelegte, blieb sie zeitlebens erhalten. Entsprechende Berufe der seit Geburt den „Nicht-Menschen“ Angehörigen sind „Schlächter, Totengräber, Latrinenputzer, Müllentsorger, Leichensezierer, Henker und Kerkermeister“ (Drinck 2000a, 63).

Mit der Meiji-Restauration begann neben der Einführung und Durchsetzung einer nicht-ständischen Gesellschaftsform die Etablierung flächendeckender Bildung für das Volk. Gemäß Teichler konnte seit 1893 von Forderungen aus der Industrie gesprochen werden, das Bildungswesen entsprechend der am Arbeitsplatz benötigten Fähigkeiten zu gestalten. In der ersten der drei Phasen, die die Anfänge beruflicher Bildung in Japan kennzeichneten, entstanden „Schulen für industrielle Berufsbildung“, primär Technikerfachschulen, in denen oft ausländische Lehrpersonen unterrichteten. Sie befanden sich unter Aufsicht der jeweiligen Fachministerien, nicht etwa des Bildungsministeriums. Während Phase 2, die Teichler auf 1883 bis 1892 datiert, erfolgte eine Reorganisation der bestehenden „Fach- und Hochschulen für industrielle Berufsbildung“ durch das Bildungsministerium. Berufliche Bildung fand zu jener Zeit in „technischen Schulen“ und „Institutionen für Agrar- und Handelsausbildung“ statt, zum Teil in Mittelschulen integriert, zum Teil verselbstständigt. Trotz der Ausbreitung beruflicher Bildung in der Sekundarstufe stand sie quantitativ schon damals im Schatten der Allgemeinbildung und fand kaum Berücksichtigung in der Gesetzgebung. In der dritten Phase realisierte man eine institutionelle Trennung der beruflichen Sekundarstufe von der allgemeinbildenden und einen zahlenmäßigen Ausbau der beruflichen Sekundarschulen. 1893, 1894 und 1899 wurden schließlich Gesetze erlassen, die die berufliche Bildung berücksichtigten (Teichler 1975, 82 f.; vgl. auch Drinck 2000b, 77 ff.). Mit dem Gesetz von 1894 wurden zum Beispiel Lehrlingsschulen reguliert, die dafür zuständig waren, auf den Bereich der Produktion vorzubereiten. Ihre Dauer erwies sich mit einer Spanne von zwischen sechs Monaten und vier Jahren als sehr variabel (Drinck 2000b, 80). Es gelang dem damaligen Bildungsminister Kawashi Inoue, der als Vorreiter der japanischen Berufsbildung gilt, aber nicht, das Prinzip der industriellen Nützlichkeit als Kernprinzip des japanischen Bildungswesens durchzusetzen. Sein Argument war vor allem die Verschiebung internationaler Wettbewerbsfähigkeit vom militärischer Stärke hin zur Produktionskraft, die eine stärkere Orientierung von Bildung an der industriellen Beschäftigungsfähigkeit erfordere (Teichler 1975, 82 f.; vgl. auch Drinck 2000b, 77 ff.).

Die Zuordnung von Berufen zu schulischen Institutionen ergab zur Meiji-Zeit folgendes Bild:

Mediziner, Juristen, Naturwissenschaftler und Geisteswissenschaftler gingen zur Fachbildung an die Universität. Ingenieure und Techniker besuchten eine Fachhochschule. Manager, Kaufleute, qualifizierte Facharbeiter lernten auf einer Fachschule, für Facharbeiter gab es gewerbliche Schulen. (Drinck 2000b, 77)

Sämtliche weiterführende Bildungsgänge verlangten allgemeinbildende Abschlüsse. Fachschulen kam die Aufgabe zu, nicht nur berufliche Fähigkeiten zu lehren, sondern auch wissenschaftliche. Ein Abschluss an einer Fachschule bedeutete bereits die Zurechnung zur „geistigen Elite“ des Landes und folgte einem relativ hohen „akademischen Standard“. Für die Fachschulen wurden im Jahre 1903 rechtliche Regulierungen erlassen. Darin wurden sie als „Schulen für die Vermittlung höherer Natur- und Geisteswissenschaften“ definiert. Infolgedessen entstanden Berufsfachschulen als neue Arten von Fachschulen, die „höhere“ berufsbildende und allgemeinbildende Inhalte integrierten. Seit 1903 durften Fachschulen Kurse zur Vorbereitung auf die Universität anbieten (Drinck 2000b, 77 ff.). Sakano zufolge wurden zu dieser Zeit sowohl Oberschulen als auch Fachschulen und Universitäten als Hochschulen eingestuft (Sakano 2011, 130).

Im Verlauf der Bildungsexpansion von 1885 bis 1920 entwickelte sich „ein größerer Mangel an Berufsbildung für qualifizierte manuelle Arbeit als an hochqualifizierten Technikern“ (Teichler 1975, 87). Nach 1905 wurden weitere kaiserliche Universitäten ins Leben gerufen, die die industrielle Ausbildung fokussierten (Teichler 1975, 87). Private Fachschulen durften sich seit 1918 Universität nennen – ein Recht, das zuvor nur staatlichen Universitäten zukam (Sakano 2011, 130). Bereits damals rekrutierten japanische Unternehmen für Führungspositionen in der Verwaltung hauptsächlich Akademiker (Teichler 1975, 87). Besonders nachgefragte Disziplinen stellten die Geistes- und Sozialwissenschaften dar, auch wenn aufgrund der hohen Nachfrage die entsprechenden Bildungstitel der Hochschulabsolventen massiv an Wertigkeit verloren und Unternehmen vermehrt auch für einfache Verwaltungsjobs Akademiker einstellten. Begründen lässt sich dies mit der „traditionelle(n) Hochschätzung von Allgemeinbildung“, die sich „in der bevorzugten Wahl geistes- und sozialwissenschaftlicher Fächer fortsetzt[e]“, und mit der leichteren Finanzierbarkeit eines solchen Studiums (Teichler 1975, 91 f.).

Nach Teichler bildeten sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts in Japan zwei zentrale Merkmale heraus, die bis heute geblieben sind:

1. Industrie und Handel wurden in Japan in besonderem Maße zu Großabnehmern von Hochschulabsolventen. Dabei gehört die Abhängigkeit des Zugangs zu entsprechenden Leitungspositionen von einer Ausbildung an einer bestimmten Hochschule zu den vielzitierten Personalstrategien japanischer Unternehmer. 2. Die nebeneinander bestehenden staatlichen Hochschulen, die ja zunächst Nachwuchs vor allem für den öffentlichen Dienst ausbildeten, und die privaten Hochschulen entwickelten keine Arbeitsteilung in der Heranbildung junger Eliten: Die angesehensten staatlichen Universitäten eröffneten, wie schon zuvor für den Staatsdienst, auch die besten Zugangschancen zu den höchsten Positionen in Industrie und Handel. (Teichler 1975, 93)

Charakteristisch für die Periode war eine formelle Dominanz der allgemeinen und nationalistischen Bildung, aus der sich im Zuge der Bedeutungsgewinnung der industriellen Berufsbildung Spannungen ergaben. Eine 1913 eigens eingesetzte Kommission zur Erarbeitung von Vorschlägen zur Anpassung des Bildungswesens konnte keine Einigung erzielen. Dies gelang dem „Außerordentlichen Erziehungsrat“, der 1917 gebildet wurde. Zwar wurden seine Pläne umgesetzt, aber sie sahen keine grundlegenden Umstrukturierungen vor. Insbesondere handelte es sich um Maßnahmen zur Förderung von Patriotismus in der Erziehung und der Erziehung gemäß moralischen Traditionen, Maßnahmen zur Ausweitung der Kontrolle des Bildungssystems durch die zentrale Regierung, zur Expansion von Bildung in der industriellen Berufsbildung und um Hochschulreformen (Teichler 1975, 100 f.). Der Ausbau des Bildungssystems umfasste unter anderem die Gründung weiterer berufsbildender Institutionen. Per Verordnung von 1921 wurde beruflichen Schulen der Einbezug moralischen Unterrichts in den Lehrplänen vorgeschrieben (Drinck 2000b, 100). Im Zeitraum von 1918 bis 1923 erfuhren die japanischen Sekundarschulen im Verlauf der Bildungsexpansion einen Zuwachs an Schüler/-innen von 62,3 %, Hochschulen von 63,6 %, berufliche Schulen von vergleichsweise geringen 20 %. So mag es kaum verwundern, dass aus Industrie und Handel das Verlangen artikuliert wurde, die „höhere“ berufliche Bildung auszuweiten (Teichler 1975, 104).

Während der Zeit des Krieges wurde die Mehrzahl der beruflichen und fachlichen Schulen umgestaltet. Die seit 1935 bestehende Jugendschule wurde 1939 verpflichtend für alle, die keine weiterführenden Bildungsgänge besuchten. Dies waren zu dieser Zeit 80 bis 85 %. Der Unterricht beinhaltete berufliche Bildung, Militärausbildung, Arbeitskontrolle und ideologischen Unterricht. Die Ausbildungsdauer variierte zwischen zwei und sieben Jahren (Teichler 1975, 116). Im Zuge von weiteren Anpassungen des Bildungssystems während der Periode von 1943 bis 1945 wurden Mittelschulen, Mädchenschulen und Berufsschulen auf denselben Rang wie die ‚Sekundarschulen‘ gehoben (JNC 1966, 43 f.; zit. in Teichler 1975, 116).

3.2.2.2.2.2 Das Aufgehen der beruflichen Bildung in beruflichen Oberschulen und akademischen Bildungsgängen seit der Nachkriegszeit

Nach dem Krieg wurde das monolithische Schulsystem etabliert, das Grundschule, Mittelschule, Oberschule und Universität umfasste (Yūki 1997, 572 f.; Sakano 2011, 131). Dabei wurden im Jahre 1949 „damalige Universitäten, höhere Schulen und Fachschulen zu neuen Universitäten zusammengefasst“ (Sakano 2011, 131).

Wie Eswein unter Bezug auf japanische Quellen (Okamoto 1976, 95 ff.; Ono 1992, 142 f.) angibt, sahen sich japanische Unternehmen in den 1960er Jahren damit konfrontiert, dass ihr Knowhow nicht ausreichte, um die vorhandenen Technologien weiterzuentwickeln. Sie begannen gezielt, Spezialist/-innen wie Forscher/-innen, Ingenieur/-innen und Naturwissenschaftler/-innen mit mindestens einem Masterabschluss an einer möglichst angesehenen Universität einzustellen. Solche Spezialist/-innen waren zuvor normalerweise an Bildungsinstitutionen tätig, nicht in der freien Wirtschaft. Sie wurden gut bezahlt und trotz ihres geringen Alters über neu eingeführte Spezialistensysteme in die Unternehmenshierarchie integriert (Eswein 2016, 233 f.). Außerdem versuchte man, dem zuvor vorhandenen Sackgassencharakter der beruflichen Bildung zu begegnen, indem man die Oberschulen vereinheitlichte. Unter anderem wurden vormalige Gewerbeschulen zu Oberschulen umgestaltet. Die Oberschule war zuvor ausschließlich zur Vorbereitung für die Universität vorgesehen und verfügte nicht über berufsbezogene Bildungsgänge. In ihrer neuen Form vereinte sie die Ziele der Berufsvorbereitung und der Universitätsvorbereitung, indem berufliche und nicht-berufliche Oberschulen formal gleichgestellt wurden, womit der Abschluss einer beruflichen Oberschule zum Hochschulstudium berechtigte. Anfang des 21. Jahrhunderts existierten circa 5 000 Oberschulen, von denen über die Hälfte rein allgemeinbildend und etwa 20 % rein berufsbildendend waren; ungefähr ein Viertel bot allgemeinbildende und berufsbildende Zweige an. Die ursprünglich beabsichtigte Aufhebung der Trennung allgemeiner und beruflicher Bildungsgänge wurde damit nur in begrenztem Maße umgesetzt (Georg/Demes 2000, 278; Terada 2011, 108 f.).

In den 1950er und 1960er Jahren verfügten die beruflichen Oberschulen über weit größere prozentuale Zuwächse bei den Schülerzahlen als die allgemeinen und erreichten einen Gesamtanteil von circa 40 %. Durch die fortschreitende Bildungsexpansion verloren sie indes an Attraktivität und pendelten sich bis Ende der 1990er Jahre bei 25 % ein (Georg/Demes 2000, 278). Seit 2005 und bis 2015 waren es stabile 72 % der Gesamtzahl an Oberschüler/-innen, die eine allgemeine Oberschule besuchten. Der Anteil an Schüler/-innen spezialisierter Oberschulen sank kontinuierlich leicht und betrug 2005 23,66 % und 2015 21,88 %. Die integrierte allgemeine und berufsbildende Oberschule besuchten 2005 5,21 % und 2015 nach Jahren leichten Anstiegs der Zahlen 7,31 % (MEXT o. J.d; 2016). Die Entwicklung der Schülerzahlen an den unterschiedlichen Oberschultypen über die Zeit zwischen 1955 und 2015 ist in Abbildung 3.2 dargestellt.

Abbildung 3.2
figure 2

(Datenquelle: MEXT o. J.d; 2016)

Die Verteilung der Schüler/-innen auf die Oberschulen in Japan.

Da sie weniger studienorientiert waren als allgemeine Oberschulen, wurden den Absolvent/-innen der beruflichen Oberschulen kaum Chancen im Rennen um die begehrten Studienplätze eingeräumt, die über Aufnahmeprüfungen verteilt wurden (Georg/Demes 2000, 279). „Insofern ist der Eintritt in eine berufliche Oberschule keine echte Alternative im Sinne einer freien Auswahl zwischen mehreren ähnlich attraktiven Bildungskarrieren“ (Georg/Demes 2000, 279). Weil das Bildungssystem eine Allokation der teilnehmenden Schüler/-innen nach Leistung vorsah, deren Basis eine Einteilung sowohl von Bildungseinrichtungen als auch von Schüler/-innen in Rangordnungen darstellte, spielten Neigungen und Interessen der Heranwachsenden bei der Schulwahl kaum eine Rolle (Georg/Demes 2000, 279). Berufliche Oberschulen hatten die soziale Funktion, die schlechteren Mittelschulschüler/-innen aufzunehmen, wobei private allgemeine Oberschulen in der Rangfolge nach den öffentlichen beruflichen Oberschulen eingeordnet wurden, aber vor privaten beruflichen (Georg/Demes 2000, 282). Durch die Eingliederung der beruflichen Oberschulen in die Oberschulhierarchie verloren sie ihre eigentliche Funktion der Qualifizierung und dienten stattdessen der Selektion (Eswein 2016, 236).

Es gab berufliche Oberschulen in verschiedenen beruflichen Feldern: Landwirtschaft, Industrie, Wirtschaft, Fischerei, Haushalt, Krankenpflege und Sonstige. Seit 2005 kamen „information“ und „welfare“ als weitere Oberschularten hinzu (MEXT 2016). Die einzelnen Oberschulen verfügten in der Regel über mehrere Fachrichtungen, für die unterschiedliche Aufnahmevoraussetzungen zu erfüllen waren, beispielsweise Maschinenbau, Informationstechnik, Elektrotechnik oder Elektronik. Die Qualität des praktischen Unterrichts war an die technische Ausstattung der jeweiligen Schule gebunden. Sie wurde vom Bildungsministerium zentral angeordnet und zum Teil auch finanziert. Jedoch bestand während des ausgehenden 20. Jahrhunderts ein Mangel sowohl an Maschinen- und Laborequipment als auch an fachlichem Lehrpersonal (Georg/Demes 2000, 278 f.).

Außer den beruflichen Oberschulen schlossen seit den 1960er Jahren Fachhochschulen an den Abschluss der Mittelschule an. Bereits während den 1950ern kam aus der Industrie die Forderung nach einer stärker an ihren Bedürfnissen orientierten Bildung, die den Bereichen der Wissenschaft, Technologie und „beruflichen“ Lehrinhalten mehr Beachtung schenken sollte. Interessengruppen wie der Japanische Arbeitgeberverband (Nikkeiren) artikulierten den Bedarf an einer funktional differenzierten Hochschulstruktur und einer erhöhten Spezialisierung von Bildungsgängen. Sie gewannen an Gehör und übten längerfristig starken Einfluss auf die Bildungspolitik aus, denn die Forderungen gingen mit einem starken Wirtschaftswachstum einher, das vor allem die 1960er und 1970er Jahre prägte (Beauchamp 1994/2015, 15 f.). Die japanische Regierung verabschiedete ein Gesetz zur Errichtung von 19 technisch ausgerichteten Hochschulen („technical college“ = College of Technology in Abschnitt 3.2.2.2.1.3) für Absolvent/-innen der Sekundarstufe I. Sie boten eine fünfjährige Ausbildung für Techniker/-innen mittleren Niveaus an. Eine gute Allgemeinbildung und ein solides, technisch spezialisiertes Wissen in unterschiedlichen industrie- oder handelsmarinebezogenen Bereichen wurden vom Bildungsministerium als Ziele definiert. Sie stellten eine Alternative zum mittlerweile etablierten 6-3-3-4/2-System dar, indem sie die technische OberschuleFootnote 2 (drei Jahre) und das ingenieurwissenschaftliche Studium (zwei Jahre) verbanden, was auf eine 6-3-5-Einteilung hinauslief. Es entstand ein hochdifferenziertes, hierarchisch gegliedertes System technischer Bildung. Über die Hälfte des Unterrichts widmete sich berufsbezogenen Inhalten und berücksichtigte neuere Technologien. Bis zum Jahr 1983 waren 62 technische Hochschulen zu verzeichnen, drei davon unter privater Trägerschaft. Die Einrichtung der Fachhochschulen war als sehr modern bekannt. Auch das Student/-innen-Dozent/-innen-Verhältnis war mit 13:1 als positiv anzusehen. Drei Viertel der Absolvent/-innen der Fachhochschulen stiegen nach ihrem Abschluss direkt ins Berufsleben ein, wo sie gute Beschäftigungschancen hatten und die Personalabteilungen ihren Abschluss als nahezu gleichwertig zu jenem der ingenieurwissenschaftlichen Universitäten einstuften. In Großunternehmen wies der Trend allerdings darauf hin, dass Fachhochschulabsolvent/-innen von Universitätsabsolvent/-innen technischer Zweige ausgestochen wurden. Ein großes Problem der Fachhochschulen bestand in der Geringachtung fachlicher Qualifikationen am Arbeitsmarkt. Unternehmen begriffen nach wie vor hauptsächlich allgemeine Bildungsabschlusse als Prädiktoren der Lern- und Leistungsbereitschaft (Beauchamp 1994/2015, 18; Georg/Demes 2000, 283 ff.).

Mit Blick auf die Schülerzahlen fiel die Anzahl an Fachhochschulstudierenden mit rund 57 600 im Jahre 2015 sehr gering aus. An Universitäten waren gerundet vergleichsweise sehr hohe 2 860 000 zu verzeichnen, Kurzuniversitäten wurden von knapp 133 000 Studierenden besucht. Die Fachschulen wiesen 656 000 Schüler/-innen auf, wobei hier Teilnehmende von Weiterbildungskursen und Zusatzqualifikationsangeboten inbegriffen waren. Abbildung 3.3 zeigt die Entwicklung der Schülerzahlen nach Schultyp seit 1955, wobei die Universitäten und Oberschulen durchgängig sehr hohe Schülerzahlen aufwiesen und die geringe Bedeutung der Fachschulen und Fachhochschulen deutlich wird.

Abbildung 3.3
figure 3figure 3

(Datenquelle: MEXT 2016)

Die Entwicklung der Schülerzahlen in Japan nach Schultyp seit 1955.

Hinsichtlich der Fachschulen (= Specialized Training Colleges in Abschnitt 3.2.2.2.1.3) ist zu ergänzen, dass dieser Schultyp ursprünglich zu den sogenannten „verschiedenartigen“ Schulen (= miscellaneous schools/colleges) auf postsekundärem Niveau gehörte (Georg/Demes 2000, 285). Unter den „verschiedenartigen“ Schulen, die auch heute noch existieren, versteht man ein Konglomerat verschiedenster, meist berufsbezogener Schulen von sehr unterschiedlicher Dauer, Strukturierung und Ausrichtung – in den Worten von Georg und Demes einen „weitgehend diffusen und untergeordneten Sektor privater Kursangebote“ (Georg/Demes 2000, 286). Abgesehen von den Fachschulen sind dies berufliche Schulen, die technische Kurse abhalten, oder auch Schulen, die auf diverse praktische Tätigkeiten vorbereiten (MEXT o. J.c), aber nicht „im engeren Sinn berufliche Qualifikationen vermitteln“ (Georg/Demes 2000, 288). Während manche Kurse nur ein paar Monate dauern, sind andere auf über ein Jahr ausgelegt. Aus zahlenmäßiger Perspektive sind die wichtigsten Schulen dieser Kategorie Fahrschulen und Vorbereitungsschulen für Universitätsaufnahmeprüfungen (Georg/Demes 2000, 288). Die „verschiedenartigen“ Schulen wurden zur Meiji-Zeit im Gesetz als Restschulen geführt und im 1947 erlassenen Schulgesetz nicht als Schulen im engeren Sinne anerkannt (Eswein 2016, 232). 1976 wurde ein bestimmter Teil der „verschiedenartigen“ Schulen mit einer Gesetzesnovellierung des Schulerziehungsgesetzes unter der Bezeichnung „Fachschule“ öffentlich anerkannt. Georg und Demes unterscheiden drei Typen von Fachschulen nach ihren Zugangsbedingungen: die Upper Secondary Special Training School, die eine (berufliche) Oberschule ersetzt und einen Mittelschulabschluss verlangt; das Special Training College, das an den Oberschulabschluss anschließt und den Löwenanteil der anerkannten Fachschulen stellt; und schließlich Fachschulen ohne bestimmte Eingangsvoraussetzungen, die vorwiegend von Oberschulabsolvent/-innen besucht werden (Georg/Demes 2000, 285 ff.). An bestimmten Fachschulen, an denen Berufe aus gesundheitlichen, kaufmännischen und technischen Bereichen erlernt werden können, kommt die Ausbildung am ehesten einer berufsorientierten nahe (Demes/Georg 2007, 278; Bromann 2008, 67).

Insgesamt betrachtet scheint eine Fachschulqualifikation jedoch die Berufskarriere wenig zu beeinflussen, was Studien zur Rekrutierung der Absolvent/-innen nahelegen. Sie kommt primär für Oberschulabsolvent/-innen infrage, deren Leistungen im unteren Mittelfeld angesiedelt sind und denen nur die Wahl zwischen weniger angesehen Hochschulen oder Fachschulen bleibt. Außerdem stellt sie für Universitätsstudierende eine Möglichkeit des Zusatzunterrichts dar, um sich gezielt Kenntnisse in bestimmten Feldern, wie zum Beispiel Softwareentwicklung, Gesundheit, Hauswirtschaft, Modedesign, Buchhaltung etc., anzueignen, in denen sie einen staatlichen Qualifikationstest ablegen möchten (Georg/Demes 2000, 285 ff.; Demes/Georg 2007, 278). Die Fachschulen sowie die „verschiedenartigen Schulen“ dienen nicht nur der beruflichen Erstausbildung, sondern auch der Weiter- und Fortbildung, indem sie bestehende Lücken schließen, die im Bildungssystem durch die Ausrichtung auf die Aufnahmeprüfungen in Zusammenhang mit der Hierarchie der Abschlüsse bestehen. Generell gilt, dass sich bislang „die japanischen Unternehmer gegenüber Spezialisierungsansätzen im Bildungsbereich auch dann reserviert verhalten, wenn solche Spezialisierungen ausdrücklich mit einem entsprechenden betrieblichen Qualifikationsbedarf begründet wurden“ (Georg/Demes 2000, 288).

Die staatliche bzw. öffentliche bzw. private, nicht betriebliche japanische „Berufsbildung“ hat im Vergleich zum deutschsprachigen Raum also eine randständige Bedeutung. Während die vorwiegend privat getragenen Specialized Training Colleges wenig einheitlich, kaum reguliert und kaum mit deutschen Berufsausbildungen zu vergleichen sind, stellen am ehesten noch die Fachhochschulen berufliche Bildungsgänge, wenngleich auf akademischem Niveau, zur Verfügung. Allerdings kommt ihnen zahlenmäßig nur sehr geringe Relevanz zu. Die berufliche Oberschule besitzt viele allgemeinbildende und so gut wie keine tätigkeitsbezogenen Anteile und steht im Schatten der allgemeinen Oberschule (vgl. Georg/Demes 2000, 305 f.; Pilz/Alexander 2016, 216 f.).

3.2.2.2.2.3 Das Wesen der betrieblichen Ausbildung als aktuell gebräuchlichste Form der beruflichen Bildung in Japan und die politische Agenda zur Stärkung beruflicher Bildung in der jüngeren Vergangenheit

Somit ist das Gros der Ausbildungsmaßnahmen im rein betrieblichen Bereich angesiedelt. Sie beginnen nach Aufnahme einer Beschäftigung und folgen keiner gesetzlichen Regulierung bzw. staatlich definierten Berufsbildern. Vielmehr werden ausschließlich Kompetenzen für betriebsspezifische Arbeitstätigkeiten erlernt. Es herrscht eine große Heterogenität bezüglich der betrieblichen Ausbildungskonzepte. Von äußerst formalisierten und in hohem Maß organisierten Ausbildungen, die internen Unterricht in Schule und Werkstatt umfassen, bis hin zu kaum strukturiertem Lernen am Arbeitsplatz existieren in Japan je nach Betrieb zahlreiche Varianten (vgl. Georg/Demes 2000, 305 f.; Pilz/Alexander 2016, 216 f.). Der Grad der Standardisierung und Institutionalisierung steigt mit der Größe des Unternehmens (Bromann 2008, 70; Georg 2017, 15). Das Unternehmen übernimmt die Verantwortung für die Ausbildung seiner Angestellten und bestimmt die Regeln. Ausgebildet werden sowohl einfache Produktionsarbeiter/-innen als auch Top-Manager/-innen. Berufliche Vorkenntnisse werden allenfalls von Absolvent/-innen der beruflichen Oberschule o. Ä. erwartet. Was genau ein/-e Arbeitnehmer/-in lernt, hängt vom Bedarf des Unternehmens ab und steht unmittelbar damit in Zusammenhang, was dort mit welcher Ausstattung oder Technologie produziert wird. In kleineren Unternehmen sind die Lernmöglichkeiten daher meist relativ begrenzt. Im Allgemeinen bilden japanische Firmen nicht Facharbeiter/-innen für eng eingegrenzte Tätigkeitsbereiche aus, sondern Generalist/-innen, die innerhalb der Firma in möglichst vielen Bereichen einsetzbar sind (Georg/Demes 2000, 306; Drinck 2002, 265; vgl. auch Alexander 2011, 170; Eswein 2016, 231). Die erlernten Kompetenzen sind betriebsspezifisch und erschweren die zwischenbetriebliche Mobilität (Georg/Demes 2000, 306). Japanische Unternehmen verfolgen die Strategie der Bindung ihrer Arbeitskräfte an das Unternehmen. Daher setzen die Ausbildungsmaßnahmen zuallererst bei der sozialen Integration neuer Arbeitnehmer/-innen in die Belegschaft an (Hilgendorf 1992, 115; Georg/Demes 2000, 307; Eswein 2016, 231).

Zu Beginn der betrieblichen Ausbildung findet alljährlich am ersten Arbeitstag der neu eingestellten Schulabsolvent/-innen eine Aufnahmefeier statt (Georg/Demes 2000, 307). An ihr nehmen ausschließlich die für die Stammbelegschaft Neueingestellten teil. Sie stellen die hauptsächliche Zielgruppe betrieblicher Bildung in Großunternehmen (Alexander 2011, 155). Eine erste Orientierung gewährt eine Einführungsphase mit Praktika, Trainings und Arbeitseinsätzen auf der niedrigsten Stufe der Unternehmenshierarchie. Das Einführungspraktikum dauert meist mehrere Wochen. Sein oberstes Ziel ist die Identifikation mit dem Unternehmen. Es werden einzelne Abteilungen durchlaufen und arbeitsplatzspezifische Tätigkeiten eingeübt. Am Ende wird fast immer eine mindestens mehrtägige Schulung abgehalten, bei der Theorie vermittelt, die Mitarbeiter/-innen motiviert und die bisherigen Erfahrungen reflektiert werden. Üblich ist es, die Neueingestellten daraufhin auf Basis von Eignungstests, Beurteilungen und Gesprächen einem Arbeitsplatz zuzuordnen. Erst dann wird mit der eigentlichen „Grundausbildung“ oder „Anlernphase“ begonnen. Nach Abschluss der Grundbildung ist nicht länger die Personalabteilung für die Trainees zuständig, sondern die jeweilige Fachabteilung. Die weitere Ausbildung übernehmen erfahrene Arbeitskräfte. Mit Ablauf einer Dauer von circa sechs bis zwölf Monaten nach Arbeitsantritt ist die Einarbeitung abgeschlossen (Georg/Demes 2000, 307 ff.; Demes/Georg 2007, 289 f.; vgl. auch Alexander 2011, 160–167). Die Ausbildung für Arbeitsplätze in der Produktion und in der Verwaltung ist ähnlich aufgebaut. Methodisch verläuft sie durch „Mitarbeit am einzelnen Arbeitsplatz, das Lernen durch Beobachtung und durch die allmähliche Übernahme eigener Aufgabenbereiche“ (Georg/Demes 2000, 309). Die weitere Qualifizierung wird zum größten Teil durch Training on the Job bewerkstelligt, gelegentlich auch Training off the Job (Demes/Georg 2007, 290 f.; Alexander 2011, 171). Frauen durchlaufen oftmals verkürzte Sonderprogramme (Georg/Demes 2000, 308).

Es gibt keine klaren Grenzen zwischen Arbeit und Qualifizierung. Um die innerbetriebliche Einsatzfähigkeit zu maximieren, wird nach dem Prinzip des Arbeitsplatzwechsels vorgegangen, sodass eine gewisse Breite der Kompetenzen erreicht werden kann. In kleineren Betrieben ist Training on the Job häufig die ausschließliche Ausbildungsform (Georg/Demes 2000, 310 ff.; Demes/Georg 2007, 289 f.). Hier wird die staatliche Organisation für Beschäftigung und Personalentwicklung zunehmend aktiv. Sie bietet den Erwerb überbetrieblicher Qualifikationen durch den Besuch von Kursen in Ausbildungszentren an, deren Zielgruppe in Arbeitnehmer/-innen aus Mittel- und Kleinbetrieben besteht (Bromann 2008, 70 f.). Vor allem Kleinbetriebe haben häufig keine Kapazität, auf technologische Neuerungen zu reagieren und ihre Mitarbeiter/-innen dahingehend selbst auszubilden (Georg 2017, 15). Da Betriebe die in öffentlichen Bildungseinrichtungen gelehrten Inhalte als zu wenig betriebsspezifisch ansehen, gibt es auch Kooperationen von Klein- und Mittelbetrieben, in deren Rahmen die Ausbildung der Berufseinsteiger zusammengelegt wird (Bromann 2008, 70 f.).

Zusätzliche Off-the-Job-Trainings werden von den Betrieben größtenteils in eigenen Einrichtungen nach eigenem Ermessen abgehalten (Alexander 2011, 171; Pilz/Alexander 2016, 217). In großen Unternehmen stehen für Mittelschulabsolvent/-innen mitunter interne Oberschulen zur Verfügung. Hier können sie innerhalb von drei bis vier Jahren die allgemeine Hochschulreife und parallel eine technische, beruflich ausgerichtete Grundbildung erlangen. Für Oberschulabsolvent/-innen werden zum Teil in hauseigenen Zentren berufliche Grundausbildungsgänge angeboten. Unternehmensinterne Vollzeitschulen können sich nach den Vorgaben des Arbeits- oder des Erziehungsministeriums richten und zu ganz oder teilweise anerkannten Qualifikationen führen. Es besteht auch die Option, den internen Unterricht mit Fernunterricht des öffentlichen Bildungssystems zu koppeln. Die internen Schulungsangebote lassen sich als „technische Oberschulen“ (kaum noch vorzufinden), „betriebliche Fachschulen“ und „universitätsähnliche Studienangebote“ klassifizieren. Hinzu kommen in seltenen Fällen zweijährige Vocational Training Colleges für Oberschulabsolvent/-innen, an denen entlang der Standards des Arbeitsministeriums unterrichtet wird. Zugelassen wird hier von Betriebsseite nur eine Auswahl von Arbeitnehmer/-innen, die während ihres ersten Jahres oder der ersten Jahre bestimmt werden. Sie müssen einen Aufnahmetest bestehen und nach der Ausbildung ihre erworbenen Kenntnisse mit ihren Kolleg/-innen teilen. Vielmals sind die internen Schulungszentren vom anerkannten Bildungssystem losgelöst und vermitteln gezielt Kompetenzen, die über die Lernoptionen des Anlernens am Arbeitsplatz hinausreichen. Dies betrifft vor allem das Training von Vorgesetzten und Manager/-innen. In manchen Fällen werden Persönlichkeitstrainings oder Kurse zur Förderung der Unternehmenskultur durchgeführt. Generell wird Eigeninitiative bei der Weiterbildung sehr begrüßt und unterstützt. Erfordern bestimmte Arbeitsplätze spezifische Theoriekenntnisse, so ist es keine Seltenheit, dass Arbeitnehmer/-innen sich diese im Selbststudium beibringen (Georg/Demes 2000, 307–312; Demes/Georg 2007, 290 f.). Bereits seit 1959 kann man sich in Japan fachliche Kompetenzen durch das Ablegen standardisierter Prüfungen bescheinigen lassen. Die Zertifikate beziehen sich auf relativ enge Tätigkeitsbereiche (z. B. Führerscheine). Sie haben sich auf dem Arbeitsmarkt kaum etabliert und haben letztlich nur in Branchen mit hoher Fluktuation und im Bereich der Kleinunternehmen eine Wertigkeit (Demes/Georg 2007, 287 f.; Georg 2017, 15).

Die staatliche berufliche Aus- und Weiterbildung, die in der Verantwortung des Arbeitsministeriums liegt, bewegt sich im Allgemeinen im Rahmen „kompensatorischer Arbeitsmarktpolitik“. Wie oben beschrieben, dient sie der Unterstützung von kleineren Betrieben (Georg 2017, 14). Ihr Ziel ist eine Flexibilisierung von Bildungs- und Erwerbsverläufen, die Menschen mit Verläufen, die nicht der Norm entsprechen, auf anderen Wegen Chancen auf feste Arbeitsplätze gewähren. Das heißt, dass man „neben der bisherigen ‚Monokarriere‘ der Bildungsganggesellschaft mit den Stationen ‚gute Oberschule‘ → ‚gute Universität‘ → ‚gutes Unternehmen‘“ auch andere Bildungsverläufe zugesteht (Eswein 2011, 269). So versucht die Regierung seit 2008, die steigende Zahl an jungen Arbeitslosen, Oberschulabsolvent/-innen ohne Festanstellung und „Freeters“ (Gelegenheitsarbeiter/-innen) aufzufangen, indem ihnen Möglichkeiten geboten werden, eine berufliche Ausbildung zu erwerben (Bromann 2008, 73 f.; Eswein 2016, 237). Laut Eswein führen sie intern zur Aufnahme von nicht-regulären Mitarbeiter/-innen in die Stammbelegschaft, insbesondere wenn die Zertifikate in internen Schulungen erworben wurden (Eswein 2016, 238).

Seit den Reformen, die 2004 ins Leben gerufen wurden, ist von einer „vocationalization“ im Segment des Bildungssystems, das sich unter der Kontrolle des Erziehungsministeriums befindet, die Rede. So ist ein kontinuierlicher Anstieg der Kurse auf Hochschulniveau im Bereich der Gesundheit und der sozialen Dienste zu verzeichnen. Die Schulen haben gegenüber den Universitäten aber einen schweren Stand. Zum einen ist es aus Prestigegründen nach wie vor erstrebenswerter, an einer Universität zu studieren, zum anderen ist beides institutionell getrennt und Möglichkeiten der Anrechnung sind nicht vorgesehen. Bereits seit 1999 ist es Absolvent/-innen des Specialized Training Colleges erlaubt, in ein Professional Training College auf post-sekundärem Niveau einzutreten und somit ein insgesamt vierjähriges berufliches Studium zu absolvieren. Mittlerweile tritt vermehrt der Fall auf, dass Studienabbrecher/-innen von Universitäten auf die Professional Training Colleges wechseln. Allerdings haben die Schülerzahlen der Professional Training Colleges nach Jahren des Anstiegs wieder abgenommen, was darauf zurückgeführt wird, dass nun auch Universitäten mehr beruflich ausgerichtete Studiengänge in Schlüsselbereichen der beruflichen Bildung anbieten, wie gerade zum Beispiel in den Bereichen Gesundheit und soziale Dienste. Als problematisch wird thematisiert, dass die Bildungsgänge der Professional Training Colleges von privater Seite getragen werden, was finanzielle Konsequenzen hat und das Fehlen staatlicher Regulierung impliziert (Goodman et al. 2009, 11 ff.).

Aktuell sieht sich die japanische Regierung mit Herausforderungen hinsichtlich des Kompetenzerwerbs der Bevölkerung konfrontiert, die sich aufgrund der Überalterung der Gesellschaft und des sich daraus ergebenden Fachkräftemangels stellen. Als Reaktion darauf versucht sie, das lebenslange Lernen zu fördern, Studierende des tertiären Sektors finanziell zu unterstützen und frühkindliche Erziehungsprogramme aufzusetzen (OECD 2018b, 132). Sie bemüht sich darum, durch ein breites Lernangebot, das für alle zugänglich ist, Auffangnetze zu spannen und die soziale Gemeinschaft durch den Aufbau von Verbindungen und Beziehungen zu fördern (OECD 2018b, 20). Des Weiteren sollen Programme auf unterschiedlichen Bildungsstufen, die unter dem Rubrum „career education“ firmieren, junge Menschen besser auf die Arbeitswelt vorbereiten. Sie beinhalten zum Beispiel kurze Praktika in Betrieben, die Aufnahme in Curricula finden. Dabei steht nicht eine bessere Qualifizierung im Vordergrund, sondern die Überwindung der Diskrepanz zwischen den Vorstellungen junger Menschen von der Arbeitswelt und der Realität, die immer häufiger dazu führt, dass sie sich nicht in das reguläre System integrieren lassen (vgl. zum Beispiel Oka et al. 2008; Oka et al. 2010; Fujita 2011; Mochizuki 2011).

Generell korrespondieren in Japan die Inhalte von Bildungsgängen in fachlicher Hinsicht in vergleichsweise geringem Maße mit den Bedarfen der Arbeitswelt.

3.2.2.2.3 Betrachtung der Wirklichkeitsdimensionen (Schritt 2)

Nachdem die Abschnitte 3.2.2.2.1 und 3.2.2.2.2 die geschichtlichen und strukturellen Eigenheiten des japanischen Bildungswesens inklusive der beruflichen Bildung beleuchtet haben (Schritt 1, Teil 1), wird nun weiteres Datenmaterial gewonnen, indem die vordefinierten Wirklichkeitsbereiche einzeln betrachtet werden (s. Abschnitt 3.1.1). Die nachfolgenden Abschnitte umfassen dabei lediglich die drei Hauptbereiche:

  • die Wertigkeit beruflicher Bildung gegenüber allgemeiner bzw. akademischer Bildung (HB1)

  • die Definition und Bewertung von Leistung im Bildungssystem (HB2)

  • die Definition und Bewertung von Leistung im Bildungssystem (HB3).

Sie stellen zusammenfassende Bündelungen der Einzelerscheinungen dar, die entlang der vordefinierten Unterbereiche gesammelt wurden (Schritt 1, Teil 2). Es handelt sich um folgende:

  • Bildungsideal und Definition von Leistung im Bildungswesen

  • Inhalten und Fach-/Praxisbezug von Bildungsgängen und Prüfungen

  • Statuszuweisung durch Bildung und Selektionsmechanismen im Bildungswesen

  • Steuerung der allgemeinen und beruflichen Bildung

  • Personalmanagement in Unternehmen

Die Ausführungen zu den Unterbereichen sind in Anhang 2 zu finden (s. A2.1, A2.2, A2.3, A2.4 und A2.5) und erscheinen nicht im Haupttext, um Redundanzen zu vermeiden.

Um die Hauptbereiche zu beschreiben (Schritt 2), wurde wie folgt vorgegangen: Die einzelnen Abschnitte aus Anhang 2, in welchen die Unterbereiche beschrieben wurden, wurden nacheinander durchgegangen. Währenddessen wurden Aspekte herausgefiltert, die als relevant zur Beschreibung der Hauptbereiche erschienen. Dieses Prozedere wurde für alle drei Hauptbereiche separat wiederholt. Die Ergebnisse wurden anschließend, wo es sinnvoll und gewinnbringend erschien, durch Punkte aus der geschichtlichen Entwicklung des japanischen Bildungssystems im Allgemeinen (Abschnitt 3.2.2.2.1) und der beruflichen Bildung (Abschnitt 3.2.2.2.2) ergänzt.

Um der gesuchten japanischen Wertlogik und ihrem Zusammenspiel mit den Strukturen des Bildungssystems auf den Grund zu gehen, wird die gewonnene „Essenz“ der drei Hauptbereiche, wie in Schritt 3 fixiert, nachfolgend (s. Abschnitt 3.2.2.2.4) mithilfe der Schlussfolgerungen des Theoriekapitels über Werte, Strukturen und Systeme (Abschnitt 2.4) verknüpft und in Bezug auf die berufliche Bildung ausgewertet. Wo notwendig und sinnvoll, wurden Punkte aus den Unterbereichen, die in den Bündelungen der Hauptbereiche zunächst ausgelassen worden waren, nachträglich hinzugefügt. Die so mithilfe des theoretischen Bezugsrahmens geordneten Resultate werden anschließend gemäß Schritt 4 zu einer Wertlogik verdichtet (s. Abschnitt 3.2.2.2.5), die in bestimmten Strukturen ihren Ausdruck findet und sich reproduziert.

3.2.2.2.3.1 Die Wertigkeit beruflicher Bildung gegenüber allgemeiner bzw. akademischer Bildung in Japan

In Japan hat berufliche Bildung im Sinne von spezieller, tätigkeitsbezogener Bildung gegenüber der allgemeinen Bildung eine geringe Wertigkeit: Für Japaner/-innen ist es wichtig, eine breite, generalistische Ausbildung zu haben. Spezialisierung ist geradezu verpönt (Ernst 1997, 454 f.; Pilz 2011, 284). Ein Grund ist die nach wie vor gelebte Orientierung an konfuzianischen Lehren (Beauchamp 1994/2015, 20; Eswein 2016, 229), die besagen, dass edle Menschen sich nicht als Werkzeug zu Knechten bzw. Mägden der Nützlichkeit für sachliche Ziele machen (Weber 1922, 532; Weber-Schäfer 1983, 213; Plake 2010, 125; Eswein 2016, 229). Das Ziel, nicht ein Mittel für einen anderen Zweck, ist das vollkommene Selbst, das in einer totalen Anpassung besteht (Weber 1922, 532).

Strukturell zeigt sich dies in schwerpunktmäßig allgemeinbildenden Curricula sämtlicher Schulstufen: Hochschulstudiengänge wie Naturwissenschaften und Ingenieurwissenschaften zeichnen sich nicht durch einen hohen Grad an Spezialisierung und Praxisbezug aus (Pilz/Alexander 2007, 30; Goodman/Hatakenaka/Kim 2009, 8; Alexander 2011, 162). Aufgabe der Universitäten ist primär die Menschenbildung, nicht die Berufsvorbereitung (vgl. zum Beispiel Nakayama/Ōkōchi 1973, 151 ff.; Teichler 2000, 317 f.), obwohl es für letztere außerhalb der Universitäten im Bildungssystem kaum Bildungsgänge oder Lehranstalten gibt. Selbst die beruflichen Oberschulen besitzen kaum Tätigkeits- und Anwendungsbezug (Georg/Demes 2000, 282). Wesentlich sind neben generellem Wissen die kulturell wichtigen Charaktereigenschaften des „heimlichen Lehrplans“, die in der Schule gefördert werden (vgl. zum Beispiel Singleton 1989, 11; Georg 2017, 15; s. Abschnitt 3.2.2.2.3.2). Zur Allgemeinbildung gehören neben Wissen und Kompetenzen in meist nicht wirtschaftsorientierten Fächern bestimmte Charaktereigenschaften, wie die mit dem Generalistentum verknüpfte Anpassungsfähigkeit. Der Nachweis des Lernstandes erfolgt durch Aufnahmeprüfungen im Bildungssystem, die allgemeine Kenntnisse abprüfen und für deren Bestehen außerordentlich viel Fleiß und Durchhaltevermögen notwendig ist (Shields 1989b, 102; Hilgendorf 1992, 107; Neves 2000, 349; Cummings 2003, 204; Bromann 2008, 68). Die im Betrieb durchgeführte Ausbildung legt ebenfalls ein starkes Gewicht auf den „heimlichen Lehrplan“, weniger auf fachliche Aspekte (Hilgendorf 1992, 103; Georg/Demes 2000, 307 f.).

Die idealisierte Anpassungsfähigkeit, die mit der konfuzianischen Selbstvervollkommnung verbunden ist (Weber 1922, 532), erklärt die Tatsache, dass berufliche Bildung fast ausschließlich im Betrieb durchgeführt wird. Nach Weber liegt dem Konfuzianismus eine Rationalität von außen nach innen zugrunde, nicht wie im Protestantismus mit dem Berufungsgedanken eine solche von innen nach außen (Weber 1922, 534). Um sich vervollkommnen zu können, muss die äußere Umwelt einen Rahmen bieten, an den man sich anpasst. Diesen bietet der Betrieb mit den anfallenden Aufgaben, für deren Erledigung bestimmte Kompetenzen erlernt werden müssen. Nach der japanischen Logik eignet man sich diese Fähigkeiten nicht an, um die Aufgabe zu erledigen, sondern um sich an ihre Erfordernisse anpassen zu können. Da die Erfordernisse im Bildungssystem nicht gegeben sind, kann man sich dort auch nicht daran anpassen. Die entsprechenden beruflichen Kompetenzen scheinen in sich und als solche keine Wertigkeit für den Ausführenden als Menschen zu haben. Der Gedanke in Anlehnung an Kerschensteiner, dass praxisbezogene Bildung menschenbildend sein kann, den Menschen nicht automatisch zu einem Werkzeug macht und ihm in mancherlei Hinsicht erst den Weg zu einem tieferen Verständnis allgemeiner Sachverhalte öffnet, kommt im japanischen Denken offenkundig nicht vor (s. hierzu Anhang 2, A2.1).

Auch die im japanischen Wertgefüge zentrale Gruppenorientierung muss in Zusammenhang mit dem Generalistentum genannt werden. Wer breit aufgestellt ist, ist der Gruppe am nützlichsten, weil er stets dort eingesetzt werden kann, wo die Gruppe ihn am nötigsten braucht. Die strukturelle Widerspiegelung findet man in der gruppenorientierten Lehr- und Lernkultur sowohl in der Schule als auch im Betrieb (vgl. hierzu zum Beispiel Iwama 1989, 73; Eswein 1996, 17; Schubert 1997, 398 ff.). Die Gruppenorientierung steht in Einklang mit einer militärischen Ethik, die nach wie vor in und neben Schulen durch das Durchführen bestimmter Praktiken vermittelt wird und die Eingliederung in Gruppen sowie die willige Übernahme von Aufgaben und Unterordnung bezweckt (vgl. hierzu Sugimoto 2010, 141–146). Dies ist eng verbunden mit dem hohen Stellenwert von Harmonie (Iwama 1989, 73; Schubert 1992).

Das weitgehende Fehlen beruflicher Spezialisierung im Bildungssystem führt Eswein auf den uniformen Intellektualismus in Japan zurück (Eswein 2016, 229). Intellektualismus kann als Bedingung des Generalistentums interpretiert werden, da letzteres hohe kognitive Fähigkeiten einschließt. Nach Ansicht des einflussreichen Fukuzawa (vgl. einen Text von ihm aus der Zeit zwischen 1872 und 1876 in Wittig 1976, 95; s. auch Anhang 2, A2.1) wurde körperliche Arbeit als leichte Arbeit definiert, während geistige Arbeit, unter anderem jene von Kaufleuten im Großhandel, schwere Arbeit darstellte und deshalb eine höhere Gegenleistung verdiente. Er empfahl, entgegen dem konfuzianischen Ideal, unter anderem tätigkeitsbezogene (geistige) Kompetenzen zu erwerben. Im lange gültigen Kaiserlichen Erziehungsedikt wurde unter anderem zum beruflichen Lernen und Ausbilden der geistigen Fähigkeiten aufgefordert (in Wittig 1976, 90 f.). Die vorliegende Abweichung vom konfuzianischen Ideal wird mit der Orientierung am Ausland und der Meiji-Politik der Förderung der Produktionskraft und der Instrumentalisierung von Bildung erklärt (Suzuki 1976, 83 f.). Man kann sie auch so auslegen, dass bewusst diejenigen eingeschlossen werden, die es nicht nach oben schaffen und deshalb für die berufliche Qualifizierung vorgesehen sind.

Unstrittig ist, dass in Japan die kognitiven Leistungen eine hohe Wertschätzung erfahren. Diese Werthaltung besagt, dass hohe kognitive Leistung eine gute Leistung ist (vgl. hierzu Eswein 2011, 231). Dabei muss sie nicht unbedingt abstrakt-theoretischer Natur sein. Vielmehr besteht sie zu einem großen Teil in der Fähigkeit, in hoher Geschwindigkeit Faktenwissen rezitieren und Theorien auf Beispiele anwenden zu können (vgl. hierzu Shields 1989b, 102; Hilgendorf 1992, 108; Beauchamp 1994/2015, 20; Neves 2000, 349). Zum Faktenwissen gehört kein spezielles Wissen aus dem beruflichen Bereich; der Transfer auf Beispiele bezieht sich nicht auf die Berufs- oder Lebenspraxis. Dadurch wird der beruflichen Bildung implizit das Niveau der allgemeinen Bildung abgesprochen. Es kann mit speziellem Wissen nie erreicht werden, weshalb berufliche Bildung auch in ihrer akademischen Form immer unterhalb der allgemeinen eingeordnet wird. Bildung oder Leistung, die nicht auf intellektuelle bzw. kognitive Fähigkeiten ausgerichtet ist, hat nach dieser Logik kaum eine Wertigkeit (s. hierzu Abschnitt 3.2.2.2.2; Anhang 2, A2.1 und A2.2).

Schon früh, das zeigt die Geschichte, war berufliche Bildung die Bildung der wenig Erfolgreichen und verlor an Bedeutung – bis hin zur gegenwärtigen Marginalisierung (Georg 1994a, 346; Goodman/Hatakenaka/Kim 2009, 8; Pilz 2011, 278). Während der Ausbreitung von Schulen und der Forcierung von Bildung für das Volk Ende des 19. Jahrhunderts und zu Beginn des 20. Jahrhunderts wurde allgemeine Bildung als Bildung der Elite institutionalisiert, indem ihre Abschlüsse als Voraussetzung für den Erhalt hoher Posten festgelegt und Schul- bzw. Studiengebühren verlangt wurden, die sich nur reiche Familien leisten konnten. Die Gewerbeschulen für das Volk mündeten in eine Bildungssackgasse, von der aus der Besuch höherer Schulen nicht erlaubt war (Amano 1973, 12; Drinck 2000b, 77; Sekikawa 2001, 47; Okada 2012, 119). Dadurch wurde die Trennung eher beruflicher und eher allgemeiner Bildung strukturell früh etabliert (Teichler 1975, 82). Sie zeigte sich nicht nur in separaten Bildungsgängen, sondern auch in den rechtlichen Zuständigkeiten. So unterliegen allgemeinbildende Schulen dem Erziehungsministerium, berufsbildende dem Arbeitsministerium (Georg/Demes 2000, 295). Nach der grundlegenden Schulreform während der Besatzungszeit wurde das zuvor sehr differenzierte, selektive und hierarchische Schulwesen vereinheitlicht und konzentrierte sich auf allgemeine Bildung für alle, war jedoch durch die Aufnahmeprüfungen und die Unterscheidung der Bildungseinrichtungen nach Prestige weiterhin sowohl selektiv als auch hierarchisch (vgl. zum Beispiel Fujita 1989, 129; Georg 1994a, 347; Eswein 2012, 53; Georg 2017, 14). Eher beruflich orientierte Bildungsgänge wurden nur von denjenigen besucht, die den Zugang zur „besseren“ Bildung nicht erreichten (Hilgendorf 1992, 111; Georg/Demes 2000, 282) bzw. hatten eine kompensatorische Funktion (Georg 2017, 14). Dadurch kam es zu einer Bildungsexpansion, sodass heutzutage fast alle jungen Japaner/-innen mindestens einen Oberschulabschluss vorweisen können, was wiederum zu einer Entwertung des Oberschulabschlusses und einer Abwertung „niedrigerer“ Abschlüsse geführt hat. Durch die Verknüpfung von Bildungsgang und Status und die feingliedrige Bildungsganghierarchie, in der berufliche Bildung weit unten rangiert, haben allgemeinbildende Abschlüsse eine sehr hohe Wertigkeit bzw. sind nach der Bildungsexpansion Mindestvoraussetzung für einen angesehenen Job geworden. Dies hat zur Folge, dass allgemeinbildende Bildungsgänge für Heranwachsende attraktiver sind und mehr Zulauf haben (vgl. zum Beispiel Drinck 2000b, 77 f.; 2002, 262; Kariya/Dore 2006, 141; Eswein 2012, 53; Georg 2017, 14). – Zumal es nur wenige berufsbildende Angebote zur Erstausbildung gibt und Unternehmen für die betriebliche Bildung Absolvent/-innen allgemeinbildender Institutionen favorisieren.

Von Seiten des Staates sind lediglich geringe Bemühungen um die berufliche Bildung zu konstatieren. Es gibt nur wenige staatliche oder öffentliche Kursangebote und kaum Regularien. Letztere beziehen sich auf zu erwerbende Zertifikate oder Akkreditierungen, die nur eine randständige Rolle spielen (vgl. hierzu Georg 1994a, 349; Georg/Demes 2000, 293–298; Demes/Georg 2007, 284 f.). Betriebe kümmern sich im Großen und Ganzen selbst um die berufliche Ausbildung ihrer Angestellten (Bromann 2008, 70). Zusatzqualifikationen oder Angebote für Bildungsverlierer/-innen in Form der Specialized Training Colleges kommen fast ausschließlich von privater Seite (vgl. hierzu MEXT 2016).

Durch die Geschichte hindurch wurden immer wieder Versuche begonnen, die berufliche Bildung und den Praxisbezug des Bildungssystems zu stärken. Vor allem aus der Industrie erhoben sich immer wieder Stimmen, die eine Förderung der beruflichen Bildung und mehr Spezialisierung forderten (vgl. zum Beispiel Beauchamp 1994/2015, 15–18; Teichler 1975, 34+82 f.+100–104), was ein Hinweis auf gewisse Defizite im System war. Frühe Kaiserliche Universitäten betrieben industrielle Bildung (Teichler 1975, 87). Schon bald wurden an beruflichen Fachschulen neben beruflichen wissenschaftliche Kenntnisse vermittelt und einige erhielten universitären Status, wurden jedoch der Lehre von Natur- und Geisteswissenschaften verpflichtet (Drinck 2000b, 77 ff.). Die Akademisierung setzte sich 1918 fort, indem Fachschulen Anerkennungen als Universitäten erhielten (Sakano 2011, 130). Höchstes Ansehen und großen Zulauf besaßen dennoch geistes- und sozialwissenschaftliche Studiengänge, da Allgemeinbildung traditionell wertgeschätzt wurde und entsprechende Rekrutierungspraktiken vorherrschten. Generell war zu Beginn des 20. Jahrhunderts eine formelle Dominanz allgemeiner und auch nationalistischer Bildung auszumachen (Teichler 1975, 91 ff.). Seit den 1960er Jahren wurden immer mehr technische Hochschulen, d. h. Fachhochschulen (= Colleges of Technology in Abschnitt 3.2.2.2.1.3), errichtet, die zunächst gut angenommen wurden, dann aber in Zusammenhang mit der rückläufigen Wirtschaftslage wieder an Zulauf verloren und die meisten Schüler/-innen den allgemeineren und rangmäßig höherstehenden Universitäten überlassen mussten, deren Abschlüsse bessere Berufsperspektiven boten (Beauchamp 1994/2015, 15–18; Georg/Demes 2000, 283 ff.; vgl. auch Abbildung 3.3). Sie kämpfen mit der Geringachtung fachlicher Qualifikationen am Beschäftigungsmarkt, da Unternehmen nach wie vor Zertifikate allgemeinbildender Einrichtungen als Indikatoren hoher Leistungsfähigkeit betrachten (Georg/Demes 2000, 285). Ähnlich erging es den beruflichen Oberschulen, die im Verlauf der fortschreitenden Bildungsexpansion langfristig an Schülerzahlen einbüßten und als Alternative für diejenigen dienen, die keine Zulassung an allgemeinen Oberschulen erreichen (vgl. hierzu Georg/Demes 2000, 278; MEXT 2016).

Inhaltlich ist der Schwerpunkt universitärer Bildung heute alles andere als berufsbildend und eher beruflich ausgerichtete Fächer wie Ingenieurwissenschaften beinhalten wenig Praxisbezug (Pilz/Alexander 2007, 30; Goodman/Hatakenaka/Kim 2009, 8; Alexander 2011, 162). Eine Ausnahme bilden die akademisierten Gesundheitsberufe und die Professional Training Colleges, die jedoch klar im Schatten der Universitäten stehen (vgl. hierzu Goodman/Hatakenaka/Kim 2009, 11 ff.). Letzten Endes setzt sich stets eine kulturelle Prägung durch, die sich gerade auch durch die Systemlogik des Schulwesens reproduziert. Sie enthält und signalisiert eine Höherachtung nicht nur akademischer, sondern vor allem allgemeiner Bildung gegenüber beruflicher, tätigkeitsbezogener Bildung. Eswein folgert: „[D]as japanische Bildungsideal ist nach wie vor im japanischen Wertesystem begründet, das letztlich über allen gesellschaftlichen Wandel hinweg bestehen blieb und das typisch Japanische ausmacht“ (Eswein 1996, 17). Grundlegende Änderungen im zentralistisch vom Bildungsministerium gesteuerten Bildungssystem (vgl. hierzu Shimahara 1989, 279; Ishida 2007, 66) sind nur auf sein Bestreben hin möglich. Neu eingeführte, scheinbar praxisbezogene Inhalte wie die der „career education“ konzentrieren sich, so Ito, in Wahrheit auf die Persönlichkeitsbildung (Ito 2016, 192 f.). Die Zuständigkeit des Arbeitsministeriums, nicht des Bildungsministeriums, für die berufliche Bildung lässt darauf schließen, dass sie nicht als Teil des eigentlichen Bildungswesens angesehen wird. Außerdem erweisen sich die gesetzlichen Regelungen zur beruflichen Bildung, vor allem zur beruflichen Erstausbildung, als sehr dürftig und schieben die Verantwortung dafür den Betrieben zu (vgl. hierzu zum Beispiel Georg 1994a; ILO 19962014; Demes/Georg 2007, 284 f.; MHLW o. J., 5–9). Institutionell existieren kaum Organisationen oder Verbände, die berufliche Bildung fördern oder regulieren. Die bekannten Institute, wie das Büro für Berufsbildung, die EPC oder die JAVADA, gehören allesamt zum Arbeitsministerium (Georg/Demes 2000, 294; Demes/Georg 2007, 284 f.; Bromann 2008, 69).

Unternehmen stellen für höhere Positionen nicht nach beruflichen Fachkenntnissen, sondern nach dem Niveau der Allgemeinbildung ein (Drinck 2002, 265). Für die begehrten Posten heuern sie bevorzugt Generalisten an, ohne nach berufsfachlichen Kompetenzen zu fragen oder tätigkeitsbezogen auszuwählen (Demes/Georg 1997, 435; Drinck 2002, 262; Georg/Demes 2000, 285+306 f.; Demes/Georg, 2007, 288).

Ein wichtiger Teil der Lehrpläne ist die Moralerziehung, an der sich im Laufe der Geschichte wiederholt Diskussionen entzündeten. Nach dem Abzug der amerikanischen Besatzungsmacht wurde ein Moralunterricht in neuer Form realisiert, der Japanbildung, Kenntnisse über die Welt und die Erziehung zur traditionell hochgeachteten Vaterlandsliebe umfasste (vgl. hierzu Inatomi 1973, 27 f.). Auch heute noch wird der Erziehung zu korrektem moralischem Verhalten im Schulwesen große Aufmerksamkeit zuteil (Sugimoto 2010, 141–146).

3.2.2.2.3.2 Die Definition und Bewertung von Leistung im japanischen Bildungssystem

In Japan ist Leistung in Form von Bildungserfolg eine zentrale, gesellschaftlich hochrelevante Größe, die eng mit dem sozialen Status verknüpft ist und als Indikator der Moral einer Person herangezogen wird (Woirgardt-Kobayashi/Hoppstädter 2000, 28–33; Drinck 2006, 341; Drinck/Schletter 2016, 145). Neves definiert wie folgt: „In Japan performance is a sum of specific and predominantly social and political skills, combined with effort and talent“ (Neves 2000, 350). Die sozialen und politischen Fähigkeiten sind eng mit dem „heimlichen Lehrplan“ verbunden. Er zielt auf die Bildung des individuellen Geistes und Charakters ab und versucht, zu „richtigem“ Verhalten auf Basis einer bestimmten Einstellung zur Gruppe oder Organisation, zu der man gehört, zu erziehen (Singleton 1989, 11). In Bezug auf die „Gruppe“ des Staates ist die Förderung gebildeter Staatsbürger/-innen, die der Gemeinschaft dienen und ihr Vaterland lieben, ein wesentliches Anliegen (Inatomi 1973, 27 f.; Eswein 1996, 17).

Anstrengung ist ein häufig als Fleiß bezeichneter Wert mit größter Relevanz für die japanische Vorstellung dessen, was eine gute Leistung beinhaltet. Sowohl bei Fukuzawa (in Wittig 1976, 95) als auch im Kaiserlichen Erziehungsedikt (in Wittig 1976, 90 f.) wurde zu fleißigem Lernen aufgerufen. Disziplin und Hingabe für den schulischen Erfolg werden von den Schüler/-innen durch Lehrpersonen und Eltern eingefordert (Shields 1989a, 4 f.) und durch die Erziehung zum Gehorsam (vgl. hierzu Shields 1989b, 99; Schubert 2005, 96+100) begünstigt. Über die Bedeutung der Begabung gibt es hingegen keine eindeutigen Angaben. Während Neves sie in ihrer oben zitierten Leistungsdefinition aufnimmt und Eswein angibt, dass sie auf Seiten der Betriebe zunehmend beachtet werde (Eswein 2003, 201), betonen andere Autoren eher gambaru. Gambaru steht für Anstrengungsbereitschaft in Form von Ausdauer und Beharrlichkeit, mit der eventuell fehlendes Talent nach japanischer Vorstellung wettgemacht werden kann (vgl. Shields 1989a, 7; Singleton 1989, 8; Hilgendorf 1992, 110; Pilz/Alexander 2007, 27; Drinck/Schletter 2016, 142 ff.). Insgesamt spricht vieles dafür, dass die Frage nach dem Talent in Japan nicht gestellt wird (vgl. hierzu Coulmas 2003, 173). Dies entspricht der Weber‘schen Interpretation der konfuzianischen Wertbasis (Weber 1922, 535) Überdies kommt Begabung als Kriterium bei der Berufswahl allem Anschein nach nicht vor. Einstellungen und Bewerbungen erfolgen nicht nach Stellenbeschreibungen, in denen die zugehörigen Tätigkeiten und Aufgaben genannt werden. Entscheidend für die Allokation von Menschen zu Arbeitsstellen bzw. ihre Karriere- bzw. Statusaussichten ist stattdessen die Höhe des Abschlusses (Fürstenberg 1998, 117 f.; Alexander 2011, 158; Georg 2017, 14). Die Aufnahmeprüfungen des Bildungssystems, deren Ergebnisse als Leistungsnachweis wichtiger sind als Abschlusszertifikate, setzen sehr großen Fleiß voraus, jedoch weniger Talent (Beauchamp 1994/2015, 20; Schmidt 2009, 234; Sugimoto 2010, 151).

Ein gutes Ergebnis gilt als Zeichen großer Leistungsfähigkeit. Um ein solches zu erreichen, braucht es charakterliche Kompetenzen wie Durchhaltevermögen, Lernbereitschaft, Belastbarkeit, Hingabe, Anpassungsfähigkeit, Einsatzbereitschaft inklusive Bereitschaft zum Freizeitverzicht und Willigkeit, gestellte Aufgaben zu lösen (Neves 2000, 349; Eswein 2011, 231 f.; Georg 2017, 15). Hinzu kommen intellektuelle Fähigkeiten („kognitive Leistungen“) wie die des Auswendiglernens und Anwendens von Theorien auf Beispiele (Hilgendorf 1992, 108; Neves 2000, 349; Eswein 2011, 231 f.). Neuerdings werden überdies Problemlösefähigkeiten als belangvoll erachtet (Ogasawara 2015, 164–168). Eine als gut bewertete Leistung steht also außer mit Anstrengungsbereitschaft und bestimmten Charaktereigenschaften in Verbindung mit dem Intellektualismus (Eswein 2016, 229), der unter anderem von Fukuzawa geprägt wurde, indem er geistige als schwere und körperliche als leichte Arbeit darstellte (in Wittig 1976, 95).

Als Bildungserfolg sieht man in Japan allgemeinbildende Abschlüsse an, die zusammen mit dem Generalistentum große Bedeutung besitzen. Negativ ausgelegt wird das Spezialistentum.

Wie Ōkōchi erklärt, bemisst man in Japan die Wertigkeit eines Menschen nach dem Prestigerang der Bildungseinrichtung, an der jemand seinen höchsten Abschluss erlangt hat (Ōkōchi 1973, 52 f.). Das heißt unter anderem, dass Leistungsfähigkeit sehr geachtet wird und eine sehr gute Leistung der Zulassung zu einer sehr angesehenen Hochschule entspricht.

Ergänzend bleibt hinzuzufügen, dass in Japan eine relative starke Segregation nach dem Geschlecht herrscht, weil für Frauen Leistung anders definiert wird als für Männer bzw. sozial etwas anderes erwünscht ist als eine berufliche Tätigkeit (siehe hierzu Anhang 2, A2.3 und A2.5). des weiblichen Geschlechts, die sich in einem Annäherungsprozess an die des männlichen befindet, wird im Rahmen dieser Arbeit, die sich auf die Berufswelt und insbesondere die industrielle Beschäftigung konzentriert, nicht näher eingegangen.

3.2.2.2.3.3 Das Verhältnis von beruflicher Bildung und Beschäftigungswesen in Japan

Das allgemeine Bildungssystem und das Beschäftigungssystem sind in Japan aneinander angepasst und über verschiedene Mechanismen verbunden. Berufliche Bildung ist größtenteils Sache der Unternehmen und deshalb letzten Endes ein Teil des betrieblichen Beschäftigungswesens. Die Verdrängung der beruflichen Bildung aus dem regulären Bildungssystem ist eng an die Art der Beziehung zwischen dem regulären Bildungssystem und dem Beschäftigungswesen gekoppelt.

Der Bezug des Beschäftigungssystems zum Bildungssystem ist unter anderem durch das Rekrutierungsverhalten der Betriebe gekennzeichnet. Sie konkurrieren um die besten Generalist/-innen (Woirgardt-Kobayashi/Hoppstädter 2000, 28; Drinck 2002, 265). Hinsichtlich der Karrierechancen gewähren Unternehmen denjenigen die besten Perspektiven und Bedingungen, die einen möglichst hohen und, gemessen am Ansehen der Bildungseinrichtung, guten Abschluss vorweisen können (vgl. zum Beispiel Kariya/Dore 2006, 147; Drinck/Schletter 2016, 144 f.; Georg 2017, 14).

Mit Ausnahme der Fachhochschulzertifikate haben berufliche Qualifikationen und Zeugnisse, die tätigkeitsbezogene Kompetenzen zertifizieren, kaum eine Bedeutung (Georg/Demes 2000, 284–287; Demes/Georg 2007, 278). Auch wenn die Absolvent/-innen kaum oder keine tätigkeitsbezogenen Fähigkeiten erlernt haben, so ist doch von einer guten Passung die Rede, da der „heimliche Lehrplan“ auf sozialer und charakterlicher Ebene gut auf die Erfordernisse der spezifischen japanischen Arbeits- und Betriebskultur vorbereitet (Georg 1994a, 347; Demes/Georg 2007, 270; Pilz 2011, 284).

Die fachliche Ausbildung im Betrieb richtet sich nach den dortigen Erfordernissen und wird primär durch Anlernen am Arbeitsplatz, verbunden mit Arbeitsplatzwechseln, erzielt (Georg 1995, 43 f.; Georg/Demes 2000, 310 ff.; Demes/Georg 2007, 289 f.). Sofern das Ausbildungsunternehmen sich an vom Arbeitsministerium gesetzte, unverbindliche Standards hält, können die Auszubildenden staatlich anerkannte Zertifikate erwerben. Diese sind auf dem Arbeitsmarkt von geringer Bedeutung. Hauptsächlich für kleinere und mittelgroße Betriebe bieten Staat, öffentliche und private Träger/-innen im Sinne der Weiterbildung in einigen Ausbildungszentren Training off the Job an (Georg 1994a, 349; ILO 19962014, 2; Demes/Georg 2007, 284 f.). Großbetriebe verfügen in der Regel über spezifische und recht umfassende Ausbildungspläne und vergeben eigene Zertifikate, die auf dem Arbeitsmarkt informelle Standards setzen (Pilz 2011, 284).

Erste Priorität haben während der betrieblichen Ausbildung das Erlernen der firmeninternen Werte und Normen, die Integration in die Unternehmenshierarchie und die Identifikation mit dem eigenen Betrieb (Hilgendorf 1992, 103; Georg/Demes 2000, 307 f.). Das Generalistentum spielt also auch im Arbeitsleben und den dortigen Lehr- und Lernprozessen eine große Rolle, zumindest für diejenigen, die für höhere Positionen vorgesehen und durch ihren Bildungsabschluss in die Lage versetzt sind, eine gute Karriere zu machen und einen hohen Status zu erreichen (vgl. hierzu Ito 1997, 455; Sakano 2011, 144 ff.). Bereits seit der Meiji-Periode wird der Status, auch der soziale, über Bildungszertifikate vermittelt (Amano 1989, 113 f.). Damals bestand ein anderes Verhältnis zwischen beruflicher Bildung und Wirtschaftssystem als heute, weil es beispielsweise Fachschulen und Gewerbeschulen gab, die gezielt für die Wirtschaft ausbildeten. Durch die Kriege, in die Japan verwickelt war, gewann die militärische Ausbildung eine Vorrangstellung und mit der Etablierung des amerikanischen Schulsystems sowie der Bildungsexpansion wurden berufliche Schulen „Opfer“ von Vereinheitlichung und Akademisierung des Bildungswesens. Eine Grundvoraussetzung für die ausgesprochen schnell fortschreitende Bildungsexpansion in Japan und die nach wie vor hohe Akademikerquote war und ist das implizite Versprechen eines akademischen Abschlusses, eine Stellung in der Stammbelegschaft eines Großunternehmens zu garantieren, die beste Karriereaussichten, Vergütung und Anerkennung mit sich bringt (vgl. zum Beispiel McVeigh 2002, 88 f.; Drinck 2006, 340 f.; Demes/Georg 2007, 289; Drinck/Schletter 2016, 142 f.; Georg 2017, 14). Der Bildungsexpansion zuträglich war darüber hinaus die Einordnung beruflicher Bildung unterhalb allgemeiner Bildung, auch wenn es sich um akademische Bildungsformen handelt (Hilgendorf 1992, 111; Georg/Demes 2000, 282).

Generell spricht man von einer strikten Segregation zwischen Bildungs- und Beschäftigungssystem. Damit meint man die Trennung beider Systeme, die verhindert, dass Wege vom Beschäftigungssystem zurück ins Bildungssystem führen (Ishida 1993; 2007, 67). Die Zeit der Neueinstellungen ist einmal im Jahr, wenn die Absolvent/-innen von den Universitäten oder Oberschulen strömen. Die besten wählen normalerweise die attraktiven Großbetriebe, die sie ihrerseits umwerben, während die kleineren und mittleren Unternehmen aus den Übriggebliebenen wählen (Georg/Demes 2000, 306+314; Georg 2017, 15). Vom externen Arbeitsmarkt werden nur wenige Arbeiter/-innen eingestellt. Eine Annäherung der beiden Systeme kann lediglich hinsichtlich relativ neuer Programme und Bemühungen beobachtet werden, die Schüler/-innen und Studierenden Einblicke in die Geschäftswelt erlauben und sie bei der Karriereplanung unterstützen (Ito 2014, 177). Universitäten und Unternehmen sind im „laufenden Geschäft“ jenseits der Vermittlung von Absolvent/-innen weitgehend unverbunden, die fachliche Verknüpfung erweist sich als sehr lose (Nakayama/Ōkōchi 1973, 151 ff.; Teichler 2000, 317).

Das Bildungssystem übernimmt eine Vorselektion für die Unternehmen, indem es nur die nach seiner Definition und Bewertung Leistungsfähigsten zur „höheren“ Bildung zulässt. Da für die Karrierechancen nicht zuerst Abschlusszeugnisse, sondern vielmehr die Ergebnisse von Aufnahmeprüfungen zählen, kann von einer verschärften Auslese gesprochen werden. Die Prüfungen wirken einengend auf die Bildungsoptionen der Nicht-Erfolgreichen, und das Bildungssystem bietet ihnen fast keine kompensatorischen Möglichkeiten (vgl. hierzu Drinck/Schletter 2016, 14). Da Unternehmen ihre Rekrutierungsstrategie an den Aufnahmeprüfungen orientieren, finden umgekehrt kaum Universitätsabsolvent/-innen den Weg in Graduiertenschulen, deren Abschlüsse ihnen nicht wirkliche bessere Chancen verheißen (Teichler 2000, 317). Ebenso wie die Bildungseinrichtungen sind die Unternehmen in ausdifferenzierte Prestigehierarchien gegliedert und befinden sich im Wettbewerb um die besten vom Bildungssystem selektierten Bewerber/-innen (Endô 1994, 386 f.; Ernst 1997, 457 f.; Georg 2017, 14).

Die Hierarchie des japanischen Bildungssystems spiegelt sich in der japanischen Berufshierarchie wider. Angesehene Berufe setzen einen Hochschulabschluss voraus. Wer früh das Bildungssystem verlässt, muss sich mit einem geringgeschätzten Beruf zufriedengeben, der zu den körperlich anstrengenden, schmutzigen und risikoreichen Berufen gehört. Ein etwas höherer Abschluss garantiert eine „Blue Collar“-Arbeit, während die angesehenen „White Collar“-Berufe meist den Hochschulabsolvent/-innen vorbehalten sind (vgl. hierzu Eswein 2011, 229). Je höher der Abschluss, desto höher ist in aller Regel die erreichte Vergütung. Dies gilt für Männer und Frauen, wobei die Frauen deutlich weniger verdienen als die Männer (vgl. hierzu TJILPT 2010, 48; Alexander 2011, 165). Für Beförderungen sind die erreichten Qualifikationen und der Rang der Bildungseinrichtung, an denen sie erreicht wurden, von entscheidender Relevanz (Eswein 2004, 209 ff.; zit. in Eswein 2012, 53; 2011, 230 f.+266).

Die Selektionsmechanismen des Bildungssystems beim Übergang auf den Arbeitsmarkt erweisen sich nicht als unbestechlich. Nicht nur die Ergebnisse der Aufnahmeprüfungen bestimmen den Weg, auch die Finanzen der Eltern sowie Beziehungsnetzwerke zwischen Bildungseinrichtungen und Unternehmen tragen zur Allokation von Absolvent/-innen und Betrieben bei. Aufgrund der zahlreichen privaten Anbieter/-innen von Vorbereitungsschulen und relativ gut gelittenen, aber teuren Hochschulen ist finanzielles Kapital definitiv ein Vorteil, der Leistungsmängel auszugleichen hilft (vgl. hierzu Georg/Demes 2000, 279; Kariya/Dore 2006; Sugimoto 2010, 138 f.; Sakano 2011, 138; Eswein 2012, 60 f.).

3.2.2.2.4 Einordnung der Ergebnisse in die Schlussfolgerungen aus dem theoretischen Hintergrund (Schritt 3)

Es werden nun die gewonnenen Erkenntnisse aus der Auswertung des vorigen Abschnittes mit den Schlussfolgerungen des theoretischen Bezugsrahmens zusammengefügt, wobei an wenigen Stellen eine Ergänzung durch Einzelerscheinungen, die bisher ausgespart wurden, jetzt aber als Teil der Logik wichtig erscheinen, vorgenommen wird. Eine Übersicht über die Schlussfolgerungen ist in Anhang 1 zu finden, Details hinsichtlich der Unterbereiche, die oben gebündelt und zusammengefasst unter die drei Hauptbereiche dargestellt wurden, in Anhang 2. Im Folgenden wird für eine Schlussfolgerung aus dem Theorieteil die Abkürzung „T“ verwendet, „HB“ bedeutet „Hauptbereich“.

3.2.2.2.4.1 Kulturbedingte Leistungssozialisation durch das Bildungssystem in Japan

Der vorliegende Abschnitt verknüpft T1 und T2A sowie HB1 bis 3 (s. Anhang 1).

Die kulturelle Definition von Leistungsfähigkeit in Japan beinhaltet allgemeines (im Gegensatz zu tätigkeitsbezogenem) Wissen, basierend auf Intellekt, verwandten Werten wie Fleiß, Durchhaltevermögen und Beharrlichkeit, außerdem eine gute Physis sowie gruppensoziale Kompetenzen und Anpassungsfähigkeit (s. hierzu Abschnitt 3.2.2.2.3.2).

Das zugrundeliegende Deutungssystem wertet gute Leistung als einen Ausdruck der Moral und infolgedessen der Wertigkeit eines Menschen. Tätigkeitsbezogenes, also eher berufliches, Wissen wird erlernt, damit man zum Erfolg der Gruppe beitragen kann, nicht um sich um der Spezialisierung willen zu spezialisieren. Ein/-e Spezialist/-in zu sein, kommt einem Stigma gleich, da es die Implikation beinhaltet, nicht leistungsfähig zu sein (s. hierzu Abschnitt 3.2.2.2.3.2). Das heißt nach obiger Definition im Umkehrschluss so viel wie faul, dumm und schwach zu sein, sich nicht in Gruppen einfügen bzw. keinen Beitrag zu ihrem Erfolg leisten zu können und sich mitziehen zu lassen, anstatt ein aktiver, anpassungsfähiger Teil zu sein. In der Konsequenz ist es Ausdruck einer schlechten Moral und damit einer geringeren Wertigkeit des spezialisierten Menschen. Dieses Verständnis wird im Rahmen der Leistungssozialisation erlernt (s. hierzu Abschnitt 2.4, T1).

Das Leistungsverständnis wird hierbei unter anderem durch das Bildungssystem (inklusive der Vorbereitungsschulen) vermittelt (s. hierzu Abschnitt 2.4, T1 und T2A). Um gute Ergebnisse bei den anspruchsvollen Aufnahmeprüfungen erreichen zu können, sind neben dem Besitz von viel allgemeinem Wissen weitere kulturell hochangesehene Eigenschaften wie Fleiß, Durchhaltevermögen und Beharrlichkeit notwendig, die in der Vorbereitungsphase eingeübt werden. Inhaltlich findet in den Schulen eine Ausrichtung auf die Eingangsprüfungen statt. Im staatlichen und öffentlichen Schulwesen sowie in verpflichtenden Clubs wird Wert auf das Erlernen des „richtigen“ Verhaltens in Gruppen gelegt (s. hierzu Abschnitt 3.2.2.2.3.2). Dieses wird in den Aufnahmeprüfungen nicht abgeprüft, könnte aber bei Empfehlungen durch Lehrpersonen, Schulen oder über Netzwerke zum Tragen kommen (s. hierzu Abschnitt 3.2.2.2.3.3). In der betrieblichen Ausbildung ist es das erste Ziel, das teilweise mit „fast militärisch anmutendem Drill erzeugt“ (Georg/Demes 2000, 308) wird.

Das Bildungswesen ist geprägt von Leistungsorientierung, die mit dem hohen Rang des Fleißes in der Werthierarchie zusammenhängt. Sie ist der Motor, der die Schüler/-innen bzw. ihre Eltern antreibt: Eltern wirken auf ihre Kinder ein, damit diese viel lernen; und die Kinder werden dazu erzogen, ihren Eltern gehorsam zu sein, was ebenfalls einen wichtigen Wert in der japanischen Kultur darstellt (s. hierzu Abschnitt 3.2.2.2.3.2; Anhang 2, A2.1 und A2.4). Ohne statusorientiertes, leistungsbezogenes Denken in Hierarchien, also elitäres Denken, und die Gleichsetzung guter Leistung mit hoher Moral und einer hohen Wertigkeit des Menschen würde das in Japan vorhandene System nicht funktionieren. Betriebe würden nach anderen Kriterien rekrutieren. Aus individueller Perspektive könnte man sich mit weniger Erfolg im Bildungssystem zufriedengeben und müsste sich nicht so sehr anstrengen, wie es die meisten Heranwachsenden in Japan tun. Überdies muss das Leistungsverständnis in der Gesellschaft anerkannt und als legitim betrachtet werden, um sich in dem Maß systemisch verfestigen zu können (s. hierzu Abschnitt 2.4, T2 und T3), wie es in Japan der Fall ist. Ob das individuelle Ziel eher der soziale Status ist oder der materielle Anreiz einer hohen Position, lässt sich nicht sagen. Beides ist denkbar und beides spielt wohl eine Rolle. Zudem dürfte die traditionell hochgelobte Anpassungsfähigkeit und damit Bereitschaft, sich den leistungsorientierten Systemvorgaben unterzuordnen, zur Funktionsfähigkeit des Systems beitragen.

Es wird in der neueren Literatur vermehrt über Gewalt an Schulen, Schulphobien und Schulabbrüche berichtet (vgl. zum Beispiel Woirgardt-Kobayashi/Hoppstädter 2000, 28–31; Sugimoto 2010, 146 f.). Dies unterstreicht die große Leistungsorientierung in Japan, die zu einem hohen Leistungsdruck und in manchen Fällen Frustration führt, die sich ein Ventil sucht.

Durch die Leistungsorientierung fand in Japan eine Bildungsexpansion in ungeahntem Ausmaß statt, die sich auf die akademische und allgemeine Bildung konzentrierte, wodurch die berufliche Bildung ins Hintertreffen geriet. Strukturell fand früh eine klare Trennung zwischen beruflicher Bildung und allgemeiner bzw. akademischer Bildung statt, wobei letztere bessere Karriereaussichten bot (s. hierzu Abschnitt 3.2.2.2.3.1 und 3.2.2.2.3.3). Das Ausmaß der Bildungsexpansion in Japan ist im internationalen Vergleich bemerkenswert (vgl. zum Beispiel Teichler 1975, 104; Eswein 2005, 33; Drinck/Schletter 2016, 144; OECD 2018a, 68).

Diese einseitige Entwicklung in Japan lässt sich unter anderem auf die einheitliche intellektualistische Wertbasis der Gesellschaft zurückführen, die Eswein zufolge die berufliche Spezialisierung im Bildungssystem verhindert hat (Eswein 2016, 229) und körperliche Arbeit sowie utilitaristische Bildung ablehnt (s. hierzu Abschnitt 3.2.2.2.3.1). In Japan, so beschreibt es Windolf, „wird die Verteilung der Studenten nicht nur durch wechselnde Arbeitsmarktchancen beeinflußt, sondern auch durch kulturelle Wertmuster, die im Wechsel der konjunkturellen Zyklen eine erstaunliche Stabilität beweisen“ (Windolf 1990, 230, 232).

Selektionsgrundlage des Bildungssystems sind in Japan nicht etwa die Noten von Abschlusszertifikaten, sondern die Ergebnisse von Aufnahmeprüfungen und der Rang der Bildungseinrichtung, durch die das Abschlusszeugnis ausgestellt wurde. Die vor dem Zweiten Weltkrieg vorherrschende hohe Differenziertheit des Bildungssystems wurde mit den Reformen danach äußerlich aufgehoben. Innerlich wurde sie durch Hierarchien von Bildungseinrichtungen anstelle von Hierarchien von Schultypen ersetzt. Dies ist ein Hinweis auf das kulturell stark ausgeprägte vertikale Denken in Hierarchien und ein auf Prestige gerichtetes Deutungsmuster der sozialen Wirklichkeit. Durch das neue Bildungssystem nach dem Zweiten Weltkrieg konnte eine frühzeitige Selektion nicht langfristig verhindert werden, da sich eine Aufnahmeprüfungspraxis etablierte, die von den Hochschulen nach unten weitergegeben wurde (s. hierzu Abschnitt 2.4, T1 und 3.2.2.2.1.2). Das heißt, die angelegten kulturellen, letztlich elitären Wertmuster des Denkens in Rangfolgen und Leistungsbeurteilungen haben Wege gefunden, sich in anderer Form zu reproduzieren.

3.2.2.2.4.2 Widerspiegelung des Bildungsideals und der Leistungsorientierung im Bildungssystem und der institutionellen Landschaft in Japan

Der vorliegende Abschnitt verknüpft T2, T3, T6 und T8 mit HB1 bis 3 (s. Anhang 1).

Verknüpft man die im Theorieteil beschriebenen Mechanismen in Bezug auf die wahrgenommenen Handlungsalternativen, den Einfluss des Bildungssystems auf die Mentalität der Heranwachsenden und die Internalisierung von Kultur (s. hierzu Abschnitt 2.4, T8) mit der japanischen Ausprägung, ergibt sich folgendes Bild: Die institutionelle Landschaft begrenzt die Möglichkeiten der Bildungsteilnehmenden auf die allgemeine Bildung, weil schlichtweg Angebote der beruflichen Bildung fehlen. Strukturell erscheint allgemeine Bildung als einzig wichtig und die gesellschaftliche Erwartung suggeriert, dass leistungsfähige Jugendliche die Aufnahmeprüfungen an ranghohen Bildungseinrichtungen erfolgreich bestreiten. Andere Optionen als diese, um an einen begehrten Posten zu kommen, existieren in der Regel nicht. Da die Vorbereitung auf die Eingangstests großen Raum in den Schulen einnimmt, ist die mentale Prägung der Schüler/-innen eng damit verknüpft und bewirkt eine generalistische Leistungsorientierung.

Schon von Beginn des Aufbaus eines Schulsystems der Bildung für alle an war berufliche Bildung nicht der Weg zu einem hohen Status und guten Positionen. Aus politischer Sicht war historisch zunächst die Mobilisierung des Volkes in der Breite essenziell, um die Produktionskraft zu steigern. Dafür brauchte die Industrie zur Anfangszeit der Verbreitung der Bildung für alle vor allem „normale“ Arbeiter mit einer Grundbildung, die in den Gewerbeschulen vermittelt wurde (s. hierzu Abschnitt 3.2.2.2.1.1). Deshalb kann es als politischer Wille und Kalkül ausgelegt werden, dass „höhere“ Bildung nur wenigen zugänglich sein sollte. Dies war leicht durchzusetzen, da es an Institutionen mangelte, die sich für berufliche Bildung einsetzten bzw. sie anboten. Überdies wurde die Ausweitung der Bildung für alle zentralistisch von der Regierung gesteuert (s. hierzu Abschnitt 3.2.2.2.2, 3.2.2.2.3.1).

Nimmt man die wertbezogene Perspektive ein, verwundert es nicht, dass berufliche Bildung schnell an Bedeutung verlor, selbst in ihrer akademischen Form immer unterhalb der allgemeinen Bildung angesiedelt wurde und in ihrer nichtakademischen Form keine dauerhafte Akzeptanz erfuhr. In der japanischen Leistungsdefinition kommt sie schlicht nicht vor. Die Summanden der Leistungsformel beziehen sich allesamt auf allgemeines Wissen oder soziale und politische Kompetenzen.

Es scheint eine starke Leistungs- und Statusorientierung zu geben: Die in Japan verbreitete willige Akzeptanz von Lebensumständen und die antrainierten Eigenschaften des Gehorsams und der Loyalität (s. hierzu Abschnitt 3.2.2.2.1.1 und 3.2.2.2.3.1) tragen dazu bei, ausbleibenden schulischen Erfolg als persönliches Versagen zu interpretieren, auf mangelnde Anstrengung zurückzuführen und die bestehenden Strukturen nicht zu hinterfragen. Auch weil die Wertigkeit des Menschen in Japan mit seiner Leistung korreliert, ist das Leistungsstreben sehr ausgeprägt. Durch das in der japanischen Kultur verwurzelte Denken in Hierarchien findet vertikale Differenzierung und Eingruppierung von Leistung bzw. Wertträger/-innen in Pyramiden und Ränge statt. Auf der horizontalen Ebene differenziert man Drinck und Schletter (2016, 142 f.) zufolge kaum. Sowohl im Bildungssystem als auch, was Unternehmen angeht, ist das Prestige von großer Wichtigkeit. Da im japanischen Verständnis von Leistung Spezialisierung negativ ausgelegt wird und kognitive Leistung als „wahre“ Leistung zählt (s. hierzu Abschnitt 3.2.2.2.3.1), rangiert berufliche Bildung auch aus der wertbezogenen Perspektive unterhalb allgemeiner. Dies wird durch die Strukturen des Bildungssystems repräsentiert und wirkt prägend zurück auf die Werthaltung der Systemteilnehmer/-innen, wodurch eine Reproduktion stattfindet (s. hierzu Abschnitt 2.4, T2, T3 und T6). In Japan bedeutet dies für die berufliche Bildung, dass sie bei der Reproduktion des Bildungssystems ihre marginale Rolle beibehält und in der Verantwortung der Betriebe verbleibt.

Nicht zuletzt sind es die Strukturen selbst, die Chancengleichheit vorspiegeln. Sie schaffen durch die Eingliedrigkeit und die zentralistische Steuerung einheitliche Regeln und Inhalte. Die Aufnahmeprüfungen je Schule sind für jeden Teilnehmenden gleichFootnote 3. Neigung und andere Arten von Leistung als die von der Kultur definierten werden nicht berücksichtigt. Dies wird nicht infrage gestellt, weil, so lässt sich aus obiger Theoriebetrachtung ableiten, das Leistungsverständnis als natürlich und einzig richtig internalisiert wird. Ebenso erscheint der Systemcode der Einordnung in besser bzw. schlechter als gegeben (s. hierzu Abschnitt 2.4, T1 und T3). Somit ist eine horizontale Selektion nach Neigung oder Tätigkeit ausgeschlossen, da sich beide außerhalb des Systems befinden. Wer sich den Regeln des Systems nicht beugt, was in jüngster Vergangenheit vermehrt geschiehtFootnote 4, wird ausgeschlossen (s. hierzu Abschnitt 2.4, T3). Das Problem der „Aussteiger“ besteht darin, dass die Strukturen des Bildungs- und Beschäftigungssystems auf der kulturellen Definition von Leistung nach japanischer Art beruhen und keine Alternativen zulassen.

3.2.2.2.4.3 Die Leistungsbewertung in Japan

Der vorliegende Abschnitt verknüpft T4 und T5 mit HB1 bis 3 (s. Anhang 1).

Die Beurteilung von Schüler/-innen durch die Lehrpersonen hängt in Japan von den Ergebnissen ab, die sie ihren Schüler/-innen bei den Aufnahmeprüfungen angesehener Schulen der nächsten Schulstufe zutrauen. Die Einschätzungen basieren auf den Resultaten aus Vortests (vgl. Georg/Demes 2000, 279). Wichtig ist bei den Eingangstests vor allem das Abschneiden im Vergleich zu den Mitschüler/-innen und der sich daraus ergebende Rang (Kopp 2000, 197), weniger das Ergebnis selbst. Weil diese Prüfungen allgemeines Wissen und allgemeine Kompetenzen testen, scheint es völlig abwegig, tätigkeitsbezogene Leistungsfähigkeit in die Bewertung einzubeziehen bzw. sie überhaupt abzufragen. Selbst Unternehmen erwarten solche Kompetenzen nicht. Für sie ist eine hohe Leistungsfähigkeit verbunden mit gutem Erfolg bei den Zulassungsprüfungen, die eben keine praxisnahen Inhalte oder Kompetenzen prüfen. Die im Unternehmen zu erwartende Leistung eines Angestellten wird an diesem Erfolg abgelesen und ist losgelöst von spezifischen Kompetenzen (s. hierzu Abschnitt 2.4, T4, T5 und 3.2.2.2.3.1).

Bildungsentscheidungen (s. hierzu Abschnitt 2.4, T4) werden in dem Sinn getroffen, dass man entscheidet, bei welchen Bildungseinrichtungen man an der Aufnahmeprüfung teilnimmt. Vorentscheidend ist der Oberschulzugang, da der Besuch einer beruflichen anstatt allgemeinen Oberschule den Verzicht auf ein Studium bedeutet (s. Abschnitt 3.2.2.2.2.2 und 3.2.2.2.3.1). Die Entscheidung, bei welcher Oberschule man sich bewirbt, hängt vom informellen Rang ab, der sich durch die Ergebnisse der Vortests ergibt (s. oben). Die Bildungsentscheidungen gehen in aller Regel in die Richtung, eine möglichst gute Bildungseinrichtung zu besuchen, bis hin zur Universität. Das heißt, möglichst nicht auf spezialisierte Schulen zu gehen. Wegen der Zulassungsbeschränkungen ist gleichwohl die Entscheidungsfreiheit sehr eingeschränkt.

Inhaltlich orientieren sich die Schulen in Japan überwiegend an allgemeiner Bildung einschließlich Naturwissenschaften. Eher beruflich klingende Fächer, wie Ingenieurwissenschaften, oder berufliche Oberschulen verfügen über hohe Anteile allgemeinbildender Inhalte und die eher praxisbezogenen Inhalte sind nicht tätigkeitsspezifisch (s. hierzu Abschnitt 2.4, T5 und 3.2.2.2.3.1). Dies ist in Zusammenhang mit der zentralistischen Steuerung des Bildungssystems durch das Bildungsministerium zu sehen, das über weite Strecken Bildungsinhalte und Regeln zur Organisation von Lehr- und Lernprozessen einheitlich vorgibt (s. hierzu Abschnitt 3.2.2.2.3.1). Dadurch bleiben andere Inhalte, wie zum Beispiel stärker berufsorientierte Aspekte, von vornherein ausgeschlossen.

3.2.2.2.4.4 Der Einfluss leistungsbasierter Hierarchien auf die Kommunikation zwischen Wirtschafts- und Bildungssystem in Japan

Der vorliegende Abschnitt verknüpft T7 mit HB1 bis 3 (s. Anhang 1).

Die Betriebe des japanischen Wirtschaftssystems verfügen intern über ausgeprägte Hierarchien und werden extern selbst Prestigerängen zugewiesen. Im Bildungssystem existieren Hierarchien von Bildungseinrichtungen und Bildungsgängen (s. hierzu Abschnitt 3.2.2.2.3.3). Aus systemischer Sicht passen sich Wirtschafts- und Bildungssystem aneinander an und kommunizieren miteinander (s. hierzu Abschnitt 2.4, T7). So sind die angesehensten Bildungseinrichtungen jene, die die meisten Absolvent/-innen in den prestigereichsten Unternehmen unterbringen. Umgekehrt haben die Unternehmen den besten Ruf, für die sich die größte Zahl an Absolvent/-innen der besten Universitäten entscheiden. Dies tun sie, wenn Unternehmen möglichst attraktive Arbeitsbedingungen bieten. Dazu gehört die möglichst sichere Aussicht auf eine hohe Position im Unternehmen. Die Betriebe bieten also ihrerseits Universitätsabsolvent/-innen bessere Aufstiegsoptionen als andere. Dies ist umgekehrt der Grund, weshalb sich die Schüler/-innen und Studierenden anstrengen, die Erfordernisse zu erfüllen, die es braucht, um diese Stellen und Möglichkeiten zu bekommen (s. hierzu Abschnitt 3.2.2.2.3.3).

Die Kommunikation zwischen Bildungssystem und Wirtschafts- bzw. Beschäftigungssystem (s. hierzu Abschnitt 2.4, T7) findet über die Aufnahmeprüfungsergebnisse statt. Sie sind die Sprache, über die Unternehmen und Absolvent/-innen zusammenfinden und auf deren Grundlage letztere in besser oder schlechter eingeteilt werden. Die Selektion findet im Bildungssystem statt. Arbeitgeber/-innen betrachten die Eingangsprüfungsresultate als Prädiktoren der beruflichen Leistungsfähigkeit. Dabei beziehen sie sich nicht auf spezielle Kenntnisse der Arbeitspraxis, sondern rechnen der allgemeinen Bildung, die das Bildungssystem hauptsächlich misst, große Wertigkeit für das Lernpotenzial bezüglich im Unternehmen benötigter spezieller Bildung zu (zu den Prädiktoren vgl. zum Beispiel Georg/Demes 2000, 285). Das positive Einflusspotenzial der allgemeinen Bildung auf das Erlernen beruflicher Tätigkeiten wird tendenziell überbewertet. Dass es eine gute Passung zwischen Bildungssystem und Wirtschaftssystem gibt, liegt vor allem am „heimlichen Lehrplan“, der inoffiziell kulturelle Werte wie Durchhaltevermögen, Beharrlichkeit und Fleiß vermittelt, die in den Betrieben von großer Bedeutung sind. In den Aufnahmeprüfungen werden sie nicht direkt bewertet, jedoch sind die abgefragten Inhalte so gestaltet, dass ein Lernprozess erforderlich ist, der genau diese kulturell bestimmten Werte schult (s. hierzu Abschnitt 3.2.2.2.3.2).

Die Funktionen der beiden Systeme der Bildung und der Wirtschaft sind klar getrennt, was sich in der strukturellen Segregation zeigt. Dabei nimmt das Bildungssystem die Selektion vor, indem es von ihm vermittelte allgemeine Kenntnisse und implizit auch Charaktereigenschaften in Form von Zulassungsprüfungen misst. Die spezielle Ausbildung übernehmen die Arbeitgeber/-innen (s. hierzu Abschnitt 2.4, T7 und 3.2.2.2.3.3).

In Unternehmen kommen Organisationsformen zum Einsatz, die den kulturellen Werten des Landes entsprechen, im Bildungssystem vermittelt werden und mit den Abschlüssen des Bildungssystems korrespondieren. Betriebe sind trotz der großen Bedeutung von Teamwork in feingliedrigen Hierarchien organisiert, wobei die Zuteilung von Arbeitnehmern zu den Stufen und die Beförderungsgeschwindigkeit unter anderem von der im Bildungssystem nachgewiesenen Leistungsfähigkeit abhängt. Berufsfachliche Qualifikationen sind dabei auf beiden Seiten kaum von Interesse (s. hierzu Abschnitt 3.2.2.2.3.3).

Die vorhandene Leistungsorientierung hat sich dadurch verschärft, dass mit der Ausweitung der Bildungsexpansion zunehmend viele junge Menschen einen relativ hohen Abschluss vorweisen konnten. Einerseits hieß das, dass die Anforderungen für Berufe bzw. Positionen angehoben wurden. Andererseits wuchs das Angebot an hohen, den Abschlüssen entsprechenden Posten nicht im selben Ausmaß wie die Nachfrage. Dadurch wurde es noch wichtiger, an einer möglichst angesehenen Universität zu studieren (s. hierzu Abschnitt 3.2.2.2.3.1).

3.2.2.2.5 Ergebnis: die gesuchte japanische Wertlogik (Schritt 4)

Versucht man nun, durch weitere „denkende Ordnung“ der Erkenntnisse ein wertlogisches Konzentrat aus den bisherigen Erkenntnissen zu Tage zu fördern, findet man eine logische und zum Teil auch chronologische Abfolge, die auf der Unterteilung Wert – Wertträger/-innen – Werthaltung – Wertigkeit und ihrer Interaktion mit Strukturen und Systemen basiertFootnote 5. Sie endet mit der Marginalisierung beruflicher Bildung und ihrer Reproduktion. Ausgangspunkt sind die Werte, die im Bildungssystem vermittelt werden, indem Einfluss auf die Mentalstruktur der Schüler/-innen genommen wird. Bestimmt werden die Werte, die auf die Schüler/-innen wirken, durch die institutionelle Struktur des Bildungssystems inklusive des offiziellen Lehrplans, die Art der Verbindung und Kommunikation mit dem Beschäftigungssystem und den „heimlichen“ Lehrplan. Die Lehrpersonen als Mittler/-innen unterliegen derselben kulturellen Prägung, die sie weitergeben.

Folgende Wertlogik wurde für Japan festgestellt:

  1. 1.

    Wichtig sind in Japan Werte wie Fleiß, Lernbereitschaft, Durchhaltevermögen, Allgemeinwissen und Intellektualität, Anpassungsfähigkeit, gruppenorientiertes Sozialverhalten, auch politisch, und eine gute Physis.

  2. 2.

    Wie wir gesehen haben, ist Leistung die Wertträgerin eines Großteils der gelehrten Werte, wobei der Leistungsbegriff in Japan spezielle (berufliche) Fähigkeiten nicht umfasst bzw. als minderwertig klassiert.

  3. 3.

    Als Wertträgerin wird der Leistung im Vergleich zu anderen Wertträger/-innen eine hohe Wertigkeit zugesprochenFootnote 6 und Leistungsfähigkeit wird dadurch ihrerseits zu einem wichtigen Wert.

  4. 4.

    Wertträger/-innen des Wertes der Leistungsfähigkeit sind die Angehörigen der Gesellschaft, Bildungseinrichtungen und Betriebe.

  5. 5.

    Die Wertigkeit der Wertträger/-innen als solcher wird also an ihrer Leistungsfähigkeit abgelesen.

  6. 6.

    Um die Wertigkeiten differenzieren zu können, braucht es entsprechende Hierarchien, die die Rangfolge von den „wertvollen“ Eliten an der Spitze, abgestuft bis hinunter zu den im Falle Japans „wertlosen“, eng spezialisierten, wenig leistungsfähigen Menschen, Bildungseinrichtungen bzw. Betrieben angeben.

  7. 7.

    Es entwickelt sich eine Werthaltung, die aus der Hierarchie abgeleitet wird. Sie beinhaltet elitäres, vertikales Denken und die Einordnung von beruflich spezialisierten Bildungseinrichtungen als minderwertig.

  8. 8.

    Es entsteht eine Leistungsorientierung, bei der versucht wird, spezielle Bildung möglichst zu vermeiden, und die das Generalistentum idealisiert. Weder die Mitglieder der Gesellschaft möchten diese Bildungseinrichtungen besuchen noch ist das Bildungsministerium willig, sie zu fördern, noch rekrutieren die Betriebe gerne aus diesem Absolventenpool. Vielmehr reagiert das Bildungssystem auf das Rekrutierungsverhalten der Arbeitgeber/-innen und stärkt die Allgemeinbildung, die von den Betrieben nachgefragt wird.Footnote 7 Die Leistungsorientierung korrespondiert mit dem Wert der Lernbereitschaft, der auch ein Teil der Leistungsdefinition ist.

  9. 9.

    Berufliche Bildung wird marginalisiertFootnote 8 und der ausgleichenden Arbeitsmarktpolitik zugeordnet bzw. weitgehend privaten Träger/-innen überlassen, seien es die Betriebe oder die Anbieter der Specialized Training Colleges.

  10. 10.

    Als Teil der Wertbasis wird zementiert, dass berufliche Bildung minderwertig ist; und so wird die Haltung gegenüber beruflicher Bildung reproduziert.

Diese Wertlogik lässt sich über die gegenseitige Anpassung von Wirtschafts- bzw. Beschäftigungssystem und Bildungssystem näher erklären, die die Systemlogik expliziert. Da das Wirtschaftssystem Spezialist/-innen benötigt und das Bildungssystem diesen Bedarf nicht deckt, muss es sie selbst ausbilden. Forderungen, das Bildungssystem so anzupassen, dass dort bereits berufliches Tätigkeitswissen gelehrt wird, verlaufen im Sande oder haben nur wenig Erfolg. Das Erziehungsministerium sieht sich nicht in der Verantwortung, spezielle Bildung anzubieten. Sie deckt sich nicht mit der Vorstellung, dass „wahre“ Bildung allgemeiner Natur ist und dazu befähigt, spezielle Tätigkeiten leicht zu erlernen. Auf Seiten der Bildungseinrichtungen sind diese wenig geneigt, in „minderwertige“ Bildung zu investieren und damit ihren Ruf auf das Spiel zu setzen. Sie haben wenig Aussichten darauf, dass entsprechende Bildungsgänge Zuspruch bei den Heranwachsenden finden, da diese nicht davon ausgehen, durch einen entsprechenden Abschluss gute Karriereaussichten zu erlangen. Nach Windolf gelingt es den Universitäten durch das stabile Studienfachwahlverhalten, sich weitgehend „dem Einfluß des Marktes zu entziehen“ (Windolf 1990, 232). Sie besitzen „also als Anbieter von Studienplätzen ein Monopol und [können] den Anteil jedes Studienfaches – unabhängig von wechselnden Arbeitsmarktbedingungen – an den Bedürfnissen der Institution ausrichten“ (Windolf 1990, 232). Unternehmen wiederum gehen davon aus, dass nur die schlechten Schüler/-innen spezialisierte Kurse absolvieren, weil sie aufgrund mangelnder Leistungsfähigkeit bei Aufnahmeprüfungen schlecht abschneiden und keine andere Möglichkeit haben, als sich der beruflichen Bildung zuzuwenden. Deshalb rekrutieren Betriebe lieber Absolvent/-innen anderer Bildungsgänge. Außerdem richten sich die Betriebe derart ein, dass sie die in den Schulen trainierte Anpassungsfähigkeit und Gruppenorientierung in ihre Organisationsform integrieren und ihre Effizienz nicht aus Spezialisierung, sondern aus reibungslosem Teamwork (vgl. Eswein 2016, 238 f.) resultiert. So passt sich das Beschäftigungssystem an das Bildungssystem an.

Letzteres hat die Funktion, für das Beschäftigungssystem zu selektieren. Es tut dies auf Basis dessen, was gelehrt und dann in Tests bewertet wird. Die Inhalte sind kulturell bestimmt, ebenso wie die Leistungsdefinition. In streng leistungsorientierten Bildungssystemen wie in Japan muss aus funktionalen Gründen eine Hierarchisierung von Bildungsgängen erfolgen. Dabei muss eine Art Bildung schlechter abschneiden und es muss davon ausgegangen werden, dass es niedrigere Bildung gibt, die einen niedrigeren Status verdient. Welche dies ist, entscheidet die Kultur. Da die Elite die Definitionsmacht hat, war es in Japan zu Beginn der groß angelegten Ausbreitung der Bildung des Volkes die Allgemeinbildung, die höher gewertet wurde, da sie die Bildung der Elite war. Weil Intellektualismus und das Verständnis, das körperliche Arbeit als leichte Arbeit beurteilt, weitverbreitet sind, stellen sie einen fruchtbaren Boden für die Höherwertung allgemeiner Bildung dar.

Würde die Definition von Leistung nicht durch die Kultur festgelegt, hätte die Industrie bzw. das Wirtschaftssystem bessere Chancen, eine andere Leistungsdefinition durchzusetzen, die eher auf ihre Bedarfe ausgerichtet ist. Hinzu kommt das Fehlen wirtschaftsorientierter Institutionen, die Einfluss auf das Bildungswesen nehmen. Bildung wird in Japan zentralistisch durch den Staat gesteuert und damit sind die Möglichkeiten der Einwirkung der Wirtschaft auf Belange der Bildung begrenzt. Wäre das Bildungssystem nicht in einem solch hohen Maße leistungsorientiert und legte es weniger Fokus auf die Selektion und mehr auf die Vermittlung von Kompetenzen, losgelöst von der Vorbereitung auf Leistungsmessungen, wäre eine mehr horizontale Differenzierung denkbar. Letztlich lässt sich von einer Funktionalisierung von Bildung zugunsten der Karriereorientierung sprechen; oder in Drincks Worten, auf die oben schon einmal hingewiesen wurde:

Bildung ist spätestens seit dem Wirtschaftsboom in den 60er-Jahren des letzten Jahrhunderts zur notwendigen persönlichen Ressource geworden, um einen hohen sozialen Status zu erlangen. Diese Entwicklung hat jedoch zu einer Überbewertung der Bildung geführt, die sich heute in einer quasi-moralischen Beurteilung von Bewerbern auf dem Arbeitsmarkt ausdrückt. (Drinck 2002, 262)

Das Bildungssystem in Japan hat sich an das Wirtschaftssystem angepasst, indem es der Selektion für das Wirtschaftssystem durch die Kategorisierung der Schüler/-innen nach Leistungsfähigkeit die wahrscheinlich höchste Priorität einräumt. In der Literatur ist von einer „Betriebsorientierung“ der Schule die Rede, ausgelöst durch die Vorverlagerung des Wettbewerbs um gute Jobs in das Schulsystem. Fast schon paradoxerweise wird diese „Betriebsorientierung“ von Drinck mit einer Aufwertung von Allgemeinbildung im japanischen Sinne erklärt: Da die Betriebe bei der Rekrutierung Generalist/-innen bevorzugen, die über Schlüsselkompetenzen und ein breites allgemeines Wissen verfügen, hat demnach die in der Schule stattfindende berufliche Spezialisierung eine Abwertung erfahren. Als Reaktion darauf sind die Curricula entsprechend adjustiert worden (Drinck 2002, 265 f.).

3.2.2.3 Frankreich

Grundsätzlich ist das französische Bildungswesen in drei Zweige aufgeteilt: einen allgemeinbildenden, einen technischen (bzw. technologischen) und einen beruflichen (vgl. zum Beispiel Bouder/Kirsch 2007, 507). Die Berufsbildung erweist sich als recht diversifiziert und umfasst unterschiedliche Abschlüsse auf zunehmend mehr Bildungsstufen inklusive Hochschulniveau.

Einführend wird als Hintergrund der Frankreich-Analyse ein Überblick über die geschichtliche Entstehung und die Struktur des heutigen französischen Bildungswesens gegeben, wobei die berufliche Bildung separat betrachtet wird, um diesbezüglich einen detaillierteren Einblick vermitteln zu können. Für die weitere Betrachtung des französischen Beispiels werden dieselben Wirklichkeitsdimensionen herangezogen, wie sie für Japan zur Anwendung kamen.

3.2.2.3.1 Zur geschichtlichen Entwicklung des französischen Bildungssystems seit der Französischen Revolution

Ein nach wie vor im Schulsystem Frankreichs präsentes Erbe stammt von den Jesuitenkollegs des 17. und 18. Jahrhunderts und deren Auslegung des Humanismus (Hörner 1996, 83; Große 2008, 210). Als prägnante historische Zäsur für die Entwicklung des französischen Bildungssystems wird in der Literatur die Französische Revolution hervorgehoben. Auch wenn den Revolutionär/-innen die Mittel fehlten, ihre Ideen sofort umzusetzen, wirkten sie auf ideeller Ebene nach und gelten als ein Schlüssel zur Erklärung des heutigen Bildungssystems in Frankreich (Bernhard 2017, 324; vgl. auch Harth 1986, 23; Lutz 1986, 193; Hörner 1996, 83; Brauns 1998, 19, 39, 85; Musselin 2006, 711; Hörner/Many 2017, 231). Daran anschließend waren die Reformen Napoleons ein wesentliches Element in der französischen Bildungsgeschichte, vor allem, was das Sekundar- und Hochschulwesen anbelangt (vgl. Honig 1964, 36 ff.; Lutz 1986, 196; Koppetsch 1994, 190–193). Zwischen den Denkfiguren der Revolutionszeit und der Napoleons war ein „starkes Spannungsverhältnis“ auszumachen (Hörner 1996, 83). Um die herausragende Stellung des Gymnasiums nachzuvollziehen, ist die anschließende Zeit bis zum Ende des Krieges 1870/71 von wesentlicher Bedeutung (Lutz 1986, 196). Im weiteren Verlauf erfolgte während der Dritten Republik der Aufschwung der Volksschule als ebenfalls bildungshistorisch bedeutender Prozess, währenddessen die theoretischen Konzepte aus der Revolutionszeit, die Bildung für alle beabsichtigten, in der Wirklichkeit Gestalt annahmen (Lutz 1986, 196; Ritzenhofen 2005, 13; Hörner/Many 2017, 231). Die Strukturierung des Bildungssystems nach dem Zweiten Weltkrieg war eine Fortsetzung von Tendenzen, die seit dem Ende des Ersten Weltkriegs die Schaffung einer Einheitsschule forcierten und in einer sukzessiven Sekundarschulreform von 1959 bis 1975 mündeten (Hörner/Many 2017, 231). Die seither verwirklichten Reformen und Anpassungen bis zur Gegenwart sind als Reaktionen auf akut auftretende Probleme aufzufassen, die keine grundsätzlichen Änderungen des allgemeinen Bildungswesens mit sich brachten.

Im Folgenden wird die Genese des französischen Bildungssystems anhand der oben genannten „Stationen“ grob nachvollzogen. Eine Art Prolog informiert über die Merkmale der Jesuitenkollegs (Abschnitt 3.2.2.3.1.1). Die Phasen der Französischen Revolution, der Regierungszeit Napoleons und der Zeit bis zum Krieg 1870/71 gehen ineinander über und werden deshalb in einem Abschnitt beleuchtet (Abschnitt 3.2.2.3.1.2). Mit der Stärkung des Volksschulwesens wurde eine neue Phase eingeläutet, die bis zum Zweiten Weltkrieg andauerte und im anschließenden Teil betrachtet wird (Abschnitt 3.2.2.3.1.4). Die Neustrukturierung in den Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg bildet den nächsten Unterabschnitt (Abschnitt 3.2.2.3.1.4), das überdies aktuellen Reformen und einen Überblick über das gegenwärtige französische Bildungssystem sowie einigen Statistiken integriert.

Die Geschichte und Struktur der beruflichen Bildung werden der besseren Übersicht halber separat im Folgeabschnitt (Abschnitt 3.2.2.3.2) behandelt und zuvor nur an einigen Stellen gestreift, die für das französische Bildungswesen im Allgemeinen bedeutsam waren.

3.2.2.3.1.1 Die Prägung der französischen Jesuitenkollegs des 17. und 18. Jahrhunderts

Über zwei Jahrhunderte hinweg waren es die Jesuitenkollegs (Collèges jésuites), die die französische Bildungslandschaft stark beeinflussten, vor allem hinsichtlich der Betonung der Allgemeinbildung (Honig 1964, 30). Kennzeichen der Jesuitenkollegs des 17. und 18. Jahrhunderts war ihr Internats- und Ganztagesschulcharakter (Große 2008, 210). Ihr Sinn lag in der Abschottung der Lernenden von der „bösen“ Welt und ihrer Erziehung hinter dem Schutz von Mauern. An der Tagesordnung waren „ein völliges Aufgehen des einzelnen in der Gruppe, die Überwachung aller durch alle, Disziplin und ein strenger Formalismus“ (Stephan 1978, 148). Prägende Strukturmerkmale stellten die „Examensordnung und das System der Wettbewerbsprüfungen“ dar. Auch für den Zugang zu höheren Klassenstufen existierten Examina. Im Unterricht erfolgte eine „harte Schulung des Intellekts“ (Honig 1964, 30). Die später unter Napoleon entstandenen staatlichen Gymnasien (Lycées) wurden im Geist der Jesuitenkollegs geführt (Große 2008, 211), und bis heute ist der Einfluss der Jesuitenkollegs, die als die Schulen zuerst der Aristokratie und später der Bourgeoisie galten, im französischen Bildungswesen und -verständnis spür- und sichtbar (Honig 1964, 30 f.).

3.2.2.3.1.2 Das französische Bildungswesen zur Zeit der Französischen Revolution und bis 1870/71

„Die Geschichte des modernen Bildungswesens beginnt in Frankreich, wie so vieles andere, mit der Revolution von 1789“ (Lutz 1986, 193). Zwei Leitlinien kennzeichneten die revolutionären Pläne für das Bildungswesen: das demokratische Gleichheitsprinzip der gleichen Bildungschancen und das bürgerlich-republikanische Prinzip der „Elitenbildung durch Leistung“ (Lutz 1986, 193). Ein maßgebliches Ziel der Revolutionsregierung war die Säkularisierung des Bildungswesens. Es sollte aus der Kirche herausgelöst und dem demokratischen Grundgedanken untergeordnet werden (Harth 1986, 23 f.). Für Fragen der Bildung, so eine Richtschnur der Revolution, sollte ausschließlich der Staat zuständig sein. Vorderstes Ziel des Schulwesens war die Erziehung von loyalen Staatsbürger/-innen (Koppetsch 1994, 206 f.). Die starke, laizistische Ablehnung des Klerikalismus begünstigte die einseitige Ausrichtung am Etatismus als Gegenpol des Klerikalismus (Schriewer 1983; Koppetsch 1994, 207). Allerdings traten bei der Umsetzung Schwierigkeiten auf. Unter anderem ergaben sich finanzielle und personelle Probleme. Letztere wurden durch die Vertreibung kirchlicher Lehrkräfte hervorgerufen. Zudem regte sich Widerstand in der Bevölkerung (Harth 1986, 24; Lutz 1986, 194, 197). So ist es zu erklären, dass Lutz die Durchsetzung der zentralistischen staatlichen Bildungssteuerung nicht der Revolutionszeit, sondern Napoleon zuordnet, der sie als Instrument zur Ordnung des relativ chaotischen, ineffizienten und anarchistischen Bildungswesens, das die Revolutionsregierung hinterlassen hatte, nutzte (Lutz 1986, 196 f.).

Die französischen Universitäten am Anfang des 19. Jahrhunderts, die aus der Revolution hervorgingen, waren eng mit dem Sekundarschulwesen verbunden und müssen als „Verlängerung eines der Tradition und der staatlichen Aufsicht verpflichteten Sekundarsystems“ (Koppetsch 1994, 191) aufgefasst werden. Gleichwohl waren es nur die „großen und prestigereichen Universitäten“, die die Revolution überdauerten (Lutz 1986, 197). Einerseits war ein nach Fakultäten differenziertes System vorhanden, andererseits existierten unterschiedliche Berufsfachschulen (Ecoles spéciales) auf Hochschulniveau, aus denen später die sog. Grandes écoles als zentrale Elitehochschulen entstanden. Zu ihnen gehörten unter anderem die Ecoles polytechniques (Koppetsch 1994, 191). Sie bildeten das Herzstück des Bildungswesens der Republik. Die Ecole polytechnique war eine Fachhochschule und zugleich Elitehochschule, die aus der alten königlichen Militärakademie entstanden war und bis heute dem Verteidigungsministerium untersteht. Nach einem anspruchsvollen, vorbereitenden dreijährigen Grundstudium mathematisch-naturwissenschaftlicher Ausrichtung bot sie die Möglichkeit, sich zu spezialisieren. Dabei kam der „Besuch einer Reihe von spezialisierten Schulen für bestimmte Sparten militärischer oder ziviler Technik“ oder eine Offiziersausbildung infrage (Lutz 1986, 194). Ein Abschluss einer Ecole polytechnique bzw. Grande école garantierte mit großer Sicherheit einen hervorragenden Posten im öffentlichen Dienst oder der privaten Wirtschaft. Zugang fanden nur diejenigen, die bei der Eingangsprüfung am erfolgreichsten abschnitten. Die Prüfung war gesetzlich geregelt und fand jährlich frankreichweit zum selben Termin statt, wobei alle 15- bis 20-jährigen teilnehmen durften. Anhand einer auf Grundlage der Prüfungsprotokolle erstellten nationalen Rangliste wurden die begehrten Plätze an die besten Absolvent/-innen der Prüfungen vergeben (Lutz 1986, 195).

Im Zuge des Ausbaus des französischen Hochschulwesens im Laufe des 19. Jahrhunderts wurden die „spezialisierten Berufsfachschulen“ im Sinne der „funktionalen Spezialisierung“ je nach Bedarf gegründet und dienten der Ausbildung für bestimmte Berufe, zum Beispiel Ingenieur oder Lehrer (Koppetsch 1994, 191). Die in Fakultäten gegliederten Universitäten (Universités impériales) wurden stark zentralistisch gesteuert und reglementiert. Auch ihr Fokus war nahezu ausnahmslos die berufsförmige Ausbildung (Koppetsch 1994, 191). Ihre gesetzliche Basis war gewerberechtlich und ihre Hauptfunktion die Organisation von Prüfungen für die Berufszulassung freier Berufe „der Rechts- und Gesundheitspflege“ (Lutz 1986, 197). Zu dieser Zeit dominierte im Bildungswesen eine utilitaristische Gesinnung, die auf die berufsfachliche Bildung abzielte, nicht etwa auf eine wissenschaftliche oder auch kulturelle Ausrichtung (Koppetsch 1994, 210).

Charakteristisch für die Bildungspolitik Napoleons waren die Schaffung einer uniformen, hierarchischen Verwaltungsstruktur und die Durchsetzung des staatlichen Bildungsmonopols im Sekundar- und Tertiärbereich (Große 2008, 203 f.). Napoleon rekurrierte auf die alte Idee, dass Bildung Sache und Privileg des Staates sei. Seine Intention war es, über Bildung ihm ergebene, gehorsame Bürger/-innen heranzuziehen und dadurch seine Macht zu festigen. Während die Revolutionsregierung die Trennung von Kirche und Staat im Bildungsbereich anstrebte, holte Napoleon die Kirche wieder ins Boot (Aulard 1911, 363 ff.). Das Volksschulwesen wurde zu weiten Teilen per Konkordat erneut der kirchlichen Kontrolle unterstellt (Lutz 1986, 197; vgl. auch Große 2008, 204). Nach der Zusammenschließung des Schul- und Universitätswesens unter Napoleon wurde unter dem Begriff der Université sowohl der sekundäre als auch der tertiäre Bildungssektor, bestehend aus den Fakultäten, gefasst (Koppetsch 1994, 191 f.). Für seine Universités engagierte Napoleon Hausgeistliche, also Kaplane, und machte den Katholizismus zur Grundlage der schulischen Ausbildung (Aulard 1911, 365). Verwaltungsstrukturell folgten die Universités einer strengen hierarchischen Logik, oben angefangen vom Erziehungsministerium über Verwaltungsbezirke mit den je gleichen fünf Hochschulfakultäten (Geisteswissenschaften, Naturwissenschaften, Medizin, Recht, Theologie und Pharmazie) zu den Lycées (Gymnasien/Oberschulen) (Koppetsch 1994, 191 f.). Als zentrale Einrichtungen des Bildungswesens fungierten implizit die Lycées (Lutz 1986, 199–202), während das Hochschulwesen als ihre Verlängerung als „atrophiert“ galt, da seine „dynamische[n] Teile ausgelagert und anderen Funktionssystemen angehängt“ wurden (Schriewer 1983, 373; vgl. auch Aulard 1911). Die Fakultäten für Theologie, Medizin und Jura führten die Ausbildung für konkrete Berufe durch, während die Fakultäten für Natur- und Geisteswissenschaften kaum über Studierende verfügten und vorrangig als Prüfungsinstitutionen wirkten, die das Abitur abnahmen. Forschung war nicht Aufgabe der Fakultäten – dafür gab es spezielle Forschungsinstitutionen (Koppetsch 1994, 192 f.; vgl. auch Lutz 1986, 200). Somit wurden die geistes- und naturwissenschaftlichen Fakultäten zu Dienerinnen der Lycées. Deren herausragende Stellung erklärt sich außerdem aus der Tatsache, dass, so Lutz, „die maßgeblichen Beamten der Schulaufsicht“ aus dem gymnasialen Personal stammten. Es wurde „zunehmend zur Bildungsstätte der herrschenden Klasse“, wobei „das Abitur als Ausweis der Zugehörigkeit zur Elite der Nation“ eine die Zeiten überdauernde Funktion einnahm. Ihr Markenzeichen bestand in ihrer Exklusivität, die sich aus „hohen ökonomischen und sozialen Barrieren“ speiste (Lutz 1986, 200).

Organisiert wurde das, schon zur damaligen Zeit in sich sehr geschlossene, Bildungssystem entlang „kirchlicher, militärischer und bürokratischer“ Grundregeln (Schriewer 1983, 373). Hierbei kennzeichnete eine große, zentral vorgegebene Einheitlichkeit die unterrichteten Inhalte, die Lehrmethoden und die Prüfungsregularien. Die pädagogische Ausrichtung war die Berufsvorbereitung, nicht eine möglichst breite Bildung der Person. Jede Bildungseinrichtung besaß genau eine Funktion. Entstand ein Bedarf an darüberhinausgehenden Institutionen, wurden dafür neue gegründet, die die Funktion erfüllten, den neuen Bedarf zu decken (Koppetsch 1994, 191–194). Hochqualifizierte Fachleute und Führungskräfte wurden an Eliteschulen ausgebildet, die neu gegründet wurden, wenn der Bedarf es nötig machte. Ihre Absolvent/-innen besetzten die besten Positionen der Gesellschaft (Koppetsch 1994, 199). Durch die Zugehörigkeit zum selben System, dem der Universités, waren der Hochschul- und der Sekundarschulbereich eng verknüpft; die Hochschulen waren weder aus administrativer noch aus professioneller Sicht autonom (Koppetsch 1994, 195 f.).

Hinsichtlich der Volksschule ist zu ergänzen, dass die Gemeinden in Frankreich seit 1816 dazu verpflichtet waren, Volksschulen zur Verfügung zu stellen. Somit wuchs die Zahl der Volksschulen seither an und blieb ab den 1860er Jahren auf einem stabilen Niveau. Bis in die 1870er Jahre hinein existierte weder ein staatliches Volksschulwesen noch eine Schulpflicht (Lutz 1986, 203 f.).

3.2.2.3.1.3 Das französische Bildungssystem von 1870/80 bis zum Zweiten Weltkrieg

Eine bedeutende Veränderung erfuhr das französische Bildungssystem in den 1870er Jahren. Es wurden neue Hochschulen errichtet, die Studierende auf das geistes- und naturwissenschaftliche Lizenziat (= dreijähriger Hochschulabschluss) vorbereiteten. Dadurch büßte das Lycée innerhalb relativ kurzer Zeit sein Monopol auf die Vergabe von Zertifikaten ein, die die „höchsten“ Laufbahnen ermöglichten. Hinzu kam die wachsende Konkurrenz durch private Handels- und Verwaltungshochschulen, die sich zu etablieren begannen. Seine Exklusivität konnte das Lycée indessen bewahren, da sich seine Schülerschaft aus der gymnasialen Elementarschule speiste. Diese existierte als Alternative neben der Volksschule, wobei ein Wechsel zwischen beiden eine „unerwünschte Ausnahme“ darstellte (Lutz 1986, 202 f.).

Nach dem Krieg 1870/71 führten zwei Argumente zur politisch forcierten Stärkung des Volksschulwesens. Zum einen kamen Stimmen auf, die die französische Niederlage auf das mangelnde Bildungsniveau der Bevölkerung zurückführten, das die militärische Stärke beeinträchtigt habe. Zum anderen sollte durch einen republiktreuen Lehrkörper der große kirchliche Einfluss eingedämmt werden. Unter Minister Jules Ferry kam es 1881/82 zur großen Schulreform, bei der unter anderem die allgemeine Schulpflicht eingeführt wurde. Der Besuch der Volksschule war nun für alle unentgeltlich. Zuvor war er kostenpflichtig gewesen, wobei für Kinder, deren Eltern sich das Schulgeld nicht hatten leisten können, eine Befreiung möglich gewesen war. Was den Volksschulunterricht anging, wurden religiöse Inhalte und Praktiken aus den öffentlichen Volksschulen verbannt. Allen Kindern sollte derselbe „Satz zivilisatorischer Mindestkenntnisse und Mindestfertigkeiten (mit vielfach zumindest indirektem Arbeitsbezug)“ beigebracht und die ‚laizistische Moral‘ anerzogen werden (Lutz 1986, 204 f.; vgl. auch Lüsebrink 2018, 118 f.). Diese Entwicklungen machten das Volksschulwesen in der Dritten Republik zu einem Teil der zentral gesteuerten Bildungs- und Schulverwaltung (Große 2008, 204). Eine Ausnahme bildeten einige kirchliche Privatschulen, die sich halten konnten (Lutz 1986, 205). 1880 wurde die Sekundarschule für Mädchen geöffnet (Hörner 1996, 84). Sie wurden in separaten Schulen anhand eigener Lehrpläne unterrichtet (Troger 2009, 10).

Gegenüber dem Lycée konnte sich die Volksschule, in der eine starke „Eigenkultur“ aufzublühen begann, mehr und mehr behaupten. Mit dem Fortschreiten der Industrialisierung nahm der Bedarf an beruflicher und mittlerer Bildung zu. Aus diesem Grund wurden von den Volksschulen auf die Pflichtschule aufbauende Bildungsgänge auf Hauptschulniveau sowie Volksschuloberschulen (Ecoles primaires supérieures) auf Realschulniveau eingerichtet (Lutz 1986, 205 f.). Sie dienten gleichzeitig dazu, dem Wunsch der unteren Schichten nach „höherer“ Bildung zu entsprechen, ohne das Gymnasium öffnen zu müssen, das als eine Art „Kastenschule“ die höhere Schicht sozial reproduzierte (Honig 1964, 38 f.). Zur selben Zeit verfiel die traditionelle Lehre; die „Entwicklung neuer, effizienter Formen zur beruflichen Vorbereitung und Ausbildung der zukünftigen Industriearbeiterschaft“ misslang (Lutz 1986, 206). Gründe liegen einerseits darin, dass die Industrie nicht ausreichend für ihre Bedarfe mobilmachte. Andererseits setzten sich stets allgemeine Bildungsaspirationen gegenüber beruflichen durch. Zwar forderte die Wirtschaft ein Mehr an beruflicher Spezialisierung. Grundsätzlich dominierte aber die Ansicht, dass den Heranwachsenden zuvörderst grundlegende Bildung vermittelt werden müsse, die in der intellektuellen und moralischen Erziehung für das ganze Leben bestünde. Zudem realisierten Eltern die besseren Karriereperspektiven der allgemeinbildenden Abschlüsse und versuchten, ihre Kinder an den entsprechenden Schulen unterzubringen, die ihnen die besten Chancen auf einen möglichst hohen sozialen Status boten. Der Abschluss des mittleren Schulwesens war verknüpft mit Posten im kleineren und mittleren Angestellten- oder Beamtensektor, wobei die berufsspezifische Ausbildung durch Lernen am Arbeitsplatz erfolgte. So setzten Arbeitgeber/-innen bei der Rekrutierung neuer Arbeitskräfte auf Eingangsprüfungen, die schulische Inhalte abfragten, oder stellten nach den Noten des Schulabschlusszeugnisses ein (Lutz 1986, 206 f.). Deren „Berufsbezug (und Aufstiegsfunktionalität) [war] gerade dann am evidentesten, wenn der vermittelte Stoff am allgemeinsten und am wenigsten auf ein spezielles Anwendungsgebiet zugeschnitten“ war (Lutz 1986, 207).

Die öffentliche Volksschule um 1930 war in eine Vorschule (Ecole maternelle), eine Elementarstufe (Ecole primaire élémentaire), weiterführende Schulen (Ecoles primaires supérieures) und Lehrerseminare (Ecoles normales d’instituteurs) untergliedert. Bezüglich der weiterführenden Schulen, die nach Bestehen des Abschlussexamens des siebten Volksschuljahres besucht werden konnten, gabt es außer der allgemeinbildenden Schule unabhängig vom allgemeinen Volksschulwesen eine technische und eine landwirtschaftliche Schule sowie Kunstschulen. Diese Sekundarschulen, die als zweiter, in sich geschlossener Schulweg bestanden, wurden in der Regel von Schüler/-innen besucht, die aus finanzschwächeren Familien stammten, die sich die Schulgebühren der Lycées nicht leisten konnten. Daneben existierte ein Privatschulwesen mit Bildungsinstitutionen von der vorschulischen Bildung bis zur Universität, die hauptsächlich von der katholischen Kirche betrieben wurden (Schneider 1963, 29–34). Für die Zeit zwischen 1880 und 1930 war es kennzeichnend, dass die einzelnen Bereiche des Schulwesens stark voneinander separiert waren. Aus funktionaler Perspektive lag eine „Fragmentierung“ vor (Koppetsch 1994, 194).

Lutz sieht die öffentliche Volksschule als dynamische Gegenkultur zum Gymnasium, deren Anspruch die Gleichberechtigung war, was sich unter anderem in der pädagogischen Praxis und der großen Schülermotivation an der Volksschule äußerte. Neben der Förderung der Gleichheit wurde der Wettbewerb unter den Schüler/-innen angeheizt. Einer egalitären Praxis der Förderung des Individuums stand eine auslesende Prüfungspraxis gegenüber. Im Sekundarbereich fungierten mit der republikanischen Volksschule und dem Lycée zwei Schularten nebeneinander, die sich inhaltlich zunehmend überlappten, jedoch zu ganz unterschiedlichen Berufspositionen führten. Dadurch entstand bis in die 1930er Jahre hinein ein Reformdruck, der in die sukzessive Überführung des gymnasialen Elementarbereichs in die Volksschule mündete. Zudem wurde die Schulgeldpflicht an den Lycées aufgehoben und die Volksoberschule wurde mit der gymnasialen Sekundarstufe zusammengelegt. Die Schülerzahlen der allgemeinbildenden weiterführenden Schulen stiegen daraufhin stark an (Lutz 1986, 208; vgl. auch Schneider 1963, 43 f.). Um auch künftig selektieren zu können, wurden nach dem Wegfall der Schulgelder Aufnahmeprüfungen für die sechste Klasse eingeführt (Honig 1964, 39).

Weiterhin überdauerte die stark zentralistische Steuerung durch die Schulverwaltung, die für eine große Einheitlichkeit der Lehr- und Stundenpläne sorgte. Das stark ausgebaute Prüfungswesen dominierte zunehmend den Unterricht (Schneider 1963, 30 f.), auch weil es mitunter relativ hohe Durchfallquoten zu verzeichnen hatte (Schneider 1963, 44 f.).

Was die Hochschullandschaft angeht, fasst Lutz wie folgt zusammen:

[D]er Hochschulbereich [bleibt] – von Universitäten kann man allenfalls in einem typographischen Sinne sprechen, während die eigentlichen Arbeitseinheiten und Machtzentren die Fakultäten sind – bis nach dem zweiten Weltkrieg schwach, zersplittert und noch stark von traditionellen Strukturen geprägt. Die Geistes- und Naturwissenschaften sind ausschließlich an der Vorbereitung auf den höheren Schuldienst ausgerichtet. Wirtschaftswissenschaftliches Studienangebot gibt es allenfalls im Rahmen der rechtswissenschaftlichen Fakultäten. Und die Ingenieurhochschulen bleiben außerhalb des Hochschulsystems im engeren Sinne. (Lutz 1986, 203)

3.2.2.3.1.4 Das französische Bildungssystem seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs

Nach dem Zweiten Weltkrieg kamen in Frankreich Reformen zur Etablierung eines weniger selektiven Schulsystems in Gang, die entsprechende Bestrebungen aus der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg fortsetzten. Die wesentlichen Reformelemente, die zu dieser Zeit umgesetzt wurden, sind bis heute geblieben, während spätere Korrekturen der Strukturen des Bildungssystems, wie beispielsweise die Änderung der Differenzierungsmodalitäten der Oberschulen, der Kategorie Feinabstimmung zuzuweisen sind. Durch die Reformen sollte die stattfindende Reproduktion der sozialen Ungleichheit gestoppt werden, bei der die Herkunft anstelle der Leistung über die gesellschaftliche Positionierung entschied (Hörner 1996, 84; Brauns 1998, 54 ff., 63; Hörner/Many 2017, 231). Sie fielen in eine Zeit massiver, explosionsartiger Bildungsexpansion und gesteigerter wirtschaftspolitischer Ansprüche an die Bildung (Hörner 1996, 84; Brauns 1998, 54 f.).

Die konkrete Kritik am bestehenden Schulsystem als Ausdruck der Reformbedürftigkeit lässt sich Honig zufolge unter drei Punkte zusammenfassen. Erstens kann man die Selektionsverfahren beim Übergang zum weiterführenden Schulwesen als problematisch bezeichnen. Sie erfolgten als eintägige Prüfungen in Form von schriftlichen Aufgaben, die darauf ausgerichtet waren, die intellektuelle Leistungsfähigkeit der zehn- bis elfjährigen Teilnehmer/-innen festzustellen. Psychologische und pädagogische Aspekte fanden dabei keine Berücksichtigung. Es wird berichtet, dass der Schwierigkeitsgrad sehr hoch war. Vor allem die Sprachtests in Französisch bevorteilten eindeutig Kinder aus den Milieus der höheren Schicht, die von Hause aus besser lernten, sich auf die erforderliche Art auszudrücken. Als zweiten Punkt wurden überfrachtete Lehrpläne und überholte Unterrichtsmethoden in den „höheren“ Schulen kritisiert, die einseitig die Förderung intellektueller bzw. enzyklopädischer Fähigkeiten förderten und den Schüler/-innen eine passive Rolle zuwiesen. Ein Grund für die überladenen Stoffpläne wird in dem Versuch gesehen, das auf das Individuum gerichtete Humanitätsideal aus dem 16. bis 18. Jahrhundert mit Inhalten zu vereinen, die sich aus dem wirtschaftlichen und technischen Fortschritt in Verbindung mit einem größeren Andrang an den höheren Schulen ergaben. Letztere konnten es sich immer weniger erlauben, nur bestimmte, einer kleinen Elite vorbehaltene allgemeinbildende Inhalte zu vermitteln. Drittens wurde eine übersteigerte Relevanz der Prüfungen moniert, die zu einer sehr hohen Arbeitsbelastung der Schüler/-innen führte und bestimmte Facetten der Erziehungsarbeit zugunsten der reinen Wissensvermittlung in den Hintergrund drängte (Honig 1964, 72–79). Brauns zufolge ist ein weiteres Problem in der Starrheit und der traditionalistischen Prägung des Bildungssystems zu sehen, das in der Konsequenz die Bedürfnisse der Ökonomie nicht bedienen konnte. Die Wirtschaft stand der Aufgabe der Modernisierung gegenüber und war auf eine generell und beruflich besser qualifizierte Arbeiterschaft angewiesen (Brauns 1998, 55).

Es dauerte bis 1959, bis die erforderlichen Mehrheiten im Parlament zustande kamen und die Reformen auf den Weg gebracht werden konnten. Als Bezugsrahmen diente der bekannte Langevin-Wallon-Plan aus dem Jahre 1947. Insgesamt zog sich der Prozess schrittweiser Reformen bis zum Bildungsgesetz im Jahre 1975 hin, mit dem endgültig eine einheitliche, nicht differenzierte Sekundarstufe I (Collège) für alle implementiert wurde. Die Einheitsschule, zunächst noch horizontal in drei Ausbildungswege (Filières) differenziert, ersetzte das bisherige dreigliedrige System, das aus Lycée, Collège d’enseignement général (eine Art Realschule, die Nachfolger der oben erwähnten Primaroberschule war) und Primarschule (im Sinne von Hauptschulen mit Anschluss an die berufliche Bildung) bestanden hatte. Dadurch wurden die Lycées auf ihre Oberstufen reduziert. Auf die uniforme Sekundarstufe I baute die Sekundarstufe II mit einer horizontalen Unterteilung unterschiedlicher Schultypen auf, die allgemeinbildende, technische und berufliche Zweige beinhalteten. Zentraler Bestandteil der Reformen war die Einführung einer Orientierungsstufe, die 1963 von anfänglich zwei schließlich auf vier Jahre verlängert wurde – also bis zum Ende der Sekundarstufe I. Wie der Name schon andeutet, diente sie der Orientierung, die eine begabungsgerechte Verteilung der Schüler/-innen auf die drei anschließenden Schultypen ermöglichen sollte. Dabei wurde Sorge dafür getragen, dass Schüler/-innen nicht zu früh auf einen Bildungsweg festgelegt wurden. Dies gelang nur bedingt, denn das Einheitlichkeitsprinzip wurde Ende der siebten Klasse durch das Angebot beruflich orientierter Bildungsgänge für lernschwächere Schüler/-innen, das circa 20–25 % wahrnahmen, durchbrochen (Hörner 1996, 84 ff.; Hörner/Many 2017, 231; vgl. auch Schriewer 1982, 266; Brauns 1998, 56–61). Darüber hinaus wurde die Schulpflicht verlängert, erst bis zum 16., später bis zum 18. Lebensjahr. Auf Ebene der Oberstufe entstanden differenzierte und stark profilbildende Zweige, wie zum Beispiel durch die profilbildenden Fächer Philosophie, Wirtschaftslehre und Mathematik. Die Hochschulreife konnte außerdem innerhalb technischer Oberschulen erworben werden, deren Abschluss zugleich berufsqualifizierend war. Mögliche Profilfächer waren hier Wirtschaft, Industrie und Paramedizin (Hörner 1996, 84 f.).

Als Konsequenz folgte eine Hochschulreform, die der jetzt früher stattfindenden Spezialisierung in der Oberstufe Rechnung trug, indem die Studienzeiten verkürzt wurden. Sie wurde in den 1960er Jahren als technokratisch kritisiert (Hörner 1996, 85). Bis zum Abschluss der Licence war nach dem zweijährigen Grundstudium noch ein Studienjahr zu absolvieren, bis zur natur- oder geisteswissenschaftlichen Maîtrise dauerte es zwei Jahre (Hörner 1996, 85; Brauns 1998, 80). Seit 1984 existierte als Alternative zum allgemeinen Grundstudium ein zweijähriges berufsqualifizierendes Diplomstudium (Diplôme d’études universitaires scientifiques). Anstelle des Maîtrise-Abschlusses konnte überdies ein anwendungsbezogenes Diplom (Diplôme d’études supérieures spécialisées) erworben werden, „welches eine fachliche, stärker praxisbezogene Spezialisierung“ beinhaltete (Brauns 1998, 80 f.; vgl. auch Hänsch/Tümmers 1991, 265 f.).

1967 richtete man zweijährige Kurzstudiengänge (Diplômes universitaires de technologie) ein, um den industriellen Bedarf an Techniker/-innen besser abdecken zu können. Zusätzlich wurde die Möglichkeit geschaffen, nach dem Abitur einen zweijährigen Technikerabschluss zu erlangen. Im weiteren Zeitverlauf gründete man selektive ingenieurwissenschaftliche Studiengänge, die auf dem Grundstudium aufbauten und in Konkurrenz zu den Grandes écoles traten (Brauns 1998, 80 f.).

1968 wurden die sog. Fakultäten aufgelöst, denen die Universitäten bisher angehört hatten. Es entstanden stattdessen auf Hochschulebene sog. Unités d’enseignement et de recherche. Teilweise wurden dazu die alten Hochschulen in die neue Form überführt, teilweise wurden Neugründungen ins Leben gerufen. Die neuen Universitäten erhielten Selbstverwaltungsorgane und wählten ihre Direktor/-innen und Präsident/-innen eigenständig. Ein neues Statut garantierte ihnen mehr finanzielle Selbständigkeit. 1984 traten die Unités de formation et de recherche an die Stelle der Unités d’enseignement et de recherche. Letztere bekamen noch größere Autonomie, vor allem finanziell und verwaltungsmäßig. Insbesondere wurden neue Gremien der akademischen Selbstverwaltung installiert, die von Universitätsangehörigen nach einem neuen Modus gewählt wurden (Hänsch/Tümmers 1991, 263 f.).

1975 wurde schließlich und endgültig die strukturelle Ausgestaltung des modernen französischen Schulsystems fundiert. Die Dreiteilung der Sekundarstufe I in Filières wurde aufgehoben und durch den Tronc commun, eine Art Beobachtungsstufe, ersetzt, in der zwei Jahre lang alle Schüler/-innen einen gleichen Unterricht erhielten. Es folgte eine zweijährige Orientierungsstufe, die bereits eine Zweiteilung aufgewiesen hatte – in das allgemeinbildende Collège und einen „berufsorientierten Zweig“ mit Vorbereitungsklassen für vollzeitschulische Ausbildungsgänge oder Berufslehren. Nach wie vor waren die beruflichen Bildungsgänge für leistungsschwächere Schüler/-innen vorgesehen und führten bildungstechnisch gesehen in eine Sackgasse. Der zweite Zyklus der Sekundarstufe umfasste die schon bekannte Dreiteilung, die entweder zu einem allgemeinen oder technischen Abitur oder, im beruflichen Zweig, zu einem Brevet d’études professionnelles (BEP) oder Certificat d’aptitude professionnelle (CAP) führte (Brauns 1998, 62). Das Hauptanliegen der Alternative des beruflichen Weges in der Sekundarstufe I war und ist die (Re-)Integration von Jugendlichen mit Problemen in der Schule in die formalisierte Bildung (Berger 2015, 330 f.; 2016, 165; EduSCOL 2018d).

Bei der Bewertung des Erfolgs der Reformen seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges bis zum Bildungsgesetz aus dem Jahre 1975 gingen die Meinungen auseinander. Während die einen sie als Durchbruch feierten, der der Segregation des Bildungswesens ein Ende bereitete, sahen andere sie kritisch, weil sich sozial schwächere Schüler/-innen in den Schulen der vorstädtischen Ghettos sammelten und somit weiterhin eine, wenngleich anders gelagerte, Differenzierung im Schulsystem fortbestand (Kempf 2007, 409 f.; Große 2008, 218; Hörner 2008; vgl. auch Demesmay 2012, 8 f.; Hörner/Many 2017, 231 f.). So wurden 1981 in zahlreichen Vorstädten Zones d’éducation prioritaires eröffnet, in denen von der Grundschule über das Collège bis hin zum Gymnasium 11 % der französischen Schüler/-innen eine intensivere Betreuung zugutekam (Kempf 2007, 409 f.; Große 2008, 218). Seit 2011 heißen sie Réseaux d’éducation prioritaire renforcés. Mit dem Schuljahr 2017/18 wurden dort die Klassengrößen auf die Hälfte reduziert, was durch eine gleichzeitige Aufstockung der Lehrer/-innenstellen gewährleistet wurde (Lüsebrink 2018, 129).

Als Problem erwies sich die traditionell geringe Wertschätzung beruflicher Bildung. Mitte der 1980er Jahre wurden Lösungsversuche unternommen, indem ‚technologische‘ Bildungsgänge in den letzten beiden Klassen der Sekundarstufe I implementiert wurden, die sukzessive die vorigen beruflichen Zweige ohne Anschluss zur höheren Bildung ersetzten und formal die gleichen Anschlüsse boten wie die allgemeinen Collèges. Mitte der 1980er-Jahre wurde zudem ein berufliches Abitur (Baccalauréat professionnel) eingeführt. Somit wurde die Entscheidung darüber, ob ein Heranwachsender das Abitur ablegen mochte oder nicht, nach hinten verlegt und musste erst im Alter von circa 15 Jahren getroffen werden (Brauns 1998, 63, 66; vgl. auch Zettelmeier 2005a, 17). Während das allgemeine und das technische AbiturFootnote 9 auf drei Jahre ausgelegt waren, bekam man das berufliche Abitur zunächst schon nach zwei Jahren (Hänsch/Tümmers 1991, 258; s. hierzu auch Abschnitt 3.2.2.3.2). Außerdem wurde das oben bereits erwähnte berufsqualifizierende Universitätsdiplom eingeführt (Brauns 1998, 80). Den prinzipiell uneingeschränkten Zugang zu den Universitäten, Fachhochschulen oder Vorbereitungsschulen für eine Grande école bzw. deren Auswahlverfahren gewährte das allgemeine Abitur. Ein technisches Abitur bereitete hauptsächlich auf die zweijährigen Studiengänge an den STS (Sections de techniciens supérieurs) und IUT (Instituts universitaires de technologie) vor, anschließend konnte der Bildungsweg in ingenieurwissenschaftlichen Studiengängen, die mit einem Bachelor (Licence) oder Master abschlossen, fortgesetzt werden (MENJ 2019a; Pigeaud 2019, 17). Als weiterführendes Studium in Anschluss an ein berufliches Abitur war ein Studium an einer STS vorgesehen (EduSCOL 2018b).

Ein Ziel der Einführung der beruflichen Hochschulreife war eine höhere Abiturquote von 80 % pro Jahrgang (Brauns 1998, 63). Die Quote bedeutete fast eine Verdopplung der tatsächlichen 47 % aus dem Jahr 1986. 1989 trat ein neues Bildungsgesetz in Kraft, dessen Absicht die allgemeine Hebung des Bildungsniveaus war (Hörner/Many 2017, 232, 234). Als Abiturient/-innen zählten hierbei alle Schüler/-innen, die Sekundarschulen besuchten, die zum Abitur führten, und nicht nur jene, die das Abitur auch erfolgreich abschlossen (Hörner/Many 2017, 235). Über die Zeit entwickelten sich innerhalb der drei Abiturtypen insgesamt über 50 verschiedene Abiturarten. Zwischen den einzelnen Typen und Arten der Hochschulreife bestanden Unterschiede im Ansehen. Ihre hierarchische Anordnung entschied über die weiteren Bildungs- und Berufschancen der Absolvent/-innen und rekurrierte sowohl auf die absteigende Rangfolge allgemein – technologisch (bzw. technisch) – beruflich als auch auf jene zwischen den einzelnen Profilen der drei Grundtypen (Brauns 1998, 66). Mathematik war das Fach, dessen curricularer Stellenwert über das soziale Prestige eines Abiturzweigs bestimmte. In den 1990er Jahren wurde versucht, die Dominanz des Fachs Mathematik im allgemeinen Gymnasialbereich zu unterbinden, indem die Zahl der allgemeinbildenden Abiture auf drei herabgesetzt wurde. Fortan konnten die Jugendlichen zwischen den Richtungen „L“ für littéraire, einem Abitur mit Schwerpunkt in Sprachen, „ES“ für économique et social, also einem Abitur mit wirtschafts- und gesellschaftswissenschaftlicher Ausrichtung, und „S“ für scientifique, einem Abitur mit mathematisch-naturwissenschaftlichem Profil, wählen. Was das technische Abitur betrifft, standen insgesamt zwölf Fachrichtungen zur Auswahl, die den wichtigsten Bereichen der Wirtschaft entsprachen. Das heißt, dass in Frankreich das Verständnis des Technikbegriffs sehr weit gefasst wurde, indem es Handel, Verwaltung und Kunst einschloss (Hörner/Many 2017, 245 f.).

In den 1980/90er Jahren wurden Demokratisierungsbemühungen unternommen, indem zum Beispiel die Lehrplanentwicklung nicht mehr allein Aufgabe der Schulaufsicht war, sondern Gremien gebildet wurden, die eine breitere gesellschaftliche Basis aufwiesen (Hörner/Many 2017, 232). Im Zuge der Bologna-Reform wurden die Hochschulabschlüsse 2005 umgestellt und umfassen seither Licence (entspricht dem Bachelor), Master und Doctorat (Bernhard 2017, 313). Bestrebungen, das als zu theoretisch kritisierte Hochschulsystem praxisnäher zu gestalten, führten 1999 zu einer Unterteilung der Licence in eine allgemeine (Licence générale) und eine berufliche (Licence professionnelle), wobei letztere durch projektbasierte Partnerschaften mit privaten Unternehmen und Betriebspraktika für eine größere Nähe des Curriculums zur Wirtschaft sorgen sollte. Die Licence professionnelle besteht aus einem einjährigen Studiengang, der nach Beendigung eines allgemeinbildenden zweijährigen Studiums oder dem Abschluss eines beruflichen Kurzstudiums begonnen werden kann. Die Licence professionnelle hat ein gutes Ansehen in der Wirtschaft und bietet gute Jobaussichten im mittleren Beschäftigungssektor. Ursprüngliche Intentionen sahen sie als Alternative für Studierende der allgemeinen Licence vor, die einen früheren Eintritt in den Arbeitsmarkt anstelle eines Masters anstreben (Agulhon 2007; Calmand et al. 10/2009, 5; Berger 2011, 26; Giret et al. 2011, 111 f.; Giret 2011, 247; Calmand et al. 2014, 536–539). Auf Masterniveau wurde eine Unterscheidung zwischen einem beruflichen Master und einem forschungsorientierten Master getroffen, wobei ersterer auf das Berufsleben und letzterer auf eine Promotion vorbereiten soll (Cedefop 2008, 30).

Bezüglich der hohen Zahlen an Schulabgänger/-innen ohne Abschluss wurden unterstützende Maßnahmen wie die Einrichtung von Förderkursen im Jahre 1999 ergriffen (Große 2008, 218). 2005 bestätigte das Fillon-Gesetz (Loi Fillon) die angestrebte Abiturquote von 80 %, wobei mindestens 50 % einen Hochschulabschluss erreichen sollten (MENR 2004; Bernhard 2017, 346; Hörner/Many 2017, 232). Es spezifizierte den Bildungsinhalt, den alle französischen Bürger/-innen erlernen sollten, anhand von sieben Kernbereichen (Hörner/Many 2017, 234). Schließlich trat 2013 eine Neuauflage des Orientierungsgesetzes in Kraft, in dem Menschenrechte und der Respekt vor den republikanischen Werten als bildungspolitische Ziele thematisiert wurden. Grund war die hohe Gewaltbereitschaft an Schulen (Hörner/Many 2017, 232).

Unter Macron wurden weitere Maßnahmen zur Verbesserung des Bildungssystems getätigt. Nennen lassen sich zum Beispiel die Bildung kleinerer Grundschulklassen, die Schulpflicht ab drei Jahren, die Reduktion der Zahl der Abschlussprüfungen beim allgemeinen Abitur und eine stärkere Berücksichtigung im Laufe der Abiturzeit erbrachter Leistungen sowie Neuerungen der Regelungen zur Studienplatzvergabe (Villinger 2018, 4–15). Zum Schuljahr 2019/20 schaffte die Regierung die bisherigen allgemeinen Abiturzweige Literatur (L), Wirtschaft und Soziale (ES) und Wissenschaft (S) in der früheren Form ab und substituierte sie durch drei verbindliche Unterrichtsfelder. Dazu gehört erstens ein großer gemeinsamer Sockel mit wissenschaftlichen und humanistischen Themen. Zweitens müssen sich die Abiturient/-innen zukünftig für Schwerpunktfächer aus einem definierten Wahlpflichtbereich entscheiden. Drittens erhalten sie „schulbegleitende Orientierungshilfen“, die der Vorbereitung auf die weitere Ausbildung nach dem Abitur dienen sollen. Das technische Abitur bleibt als Spezialisierung erhalten, ist aber auch von der umfangreicheren gemeinsamen Grundbildung betroffen (Französische Botschaft in Berlin 2018a).

Eine aktuelle Darstellung des französischen Bildungssystems findet sich bei Berger (2015, 330). An die fünfjährige Grundschule schließt sich die vierjährige Gesamtschule des Collège an. Letzteres teilt sich in eine Anpassungsstufe, eine zentrale Stufe und eine Orientierungsstufe. Im Laufe der Pflichtschulzeit im Collège besteht die Option, in eine Vorbereitungsschule für das berufliche Gymnasium oder für die Aufnahme einer Lehre zu wechseln. Die Sekundarstufe I schließt mit dem Diplome national de brevet ab. In der Sekundarstufe II kann man die allgemeinbildende Hochschulreife am Lycée général, die technische Hochschulreife am Lycée technologique, die berufliche Hochschulreife am Lycée professionnel oder eine Lehre (Apprentissage) absolvieren (Berger 2015, 330). Sowohl die Lehre als auch die berufliche Hochschulreife führen in den Arbeitsmarkt. Mit der beruflichen Hochschulreife kann man jedoch auch seinen Bildungsweg an der Hochschule fortsetzen, was ebenso für die technische und allgemeine Hochschulreife gilt (Ott 2015, 165). Im kleinen post-sekundären Bereich finden sich voruniversitäre Bildungsgänge. Hier graduierten im Jahre 2014 gerade einmal 10 000 Schüler/-innen (Eurydice 2018/19). Die technologisch-ingenieurwissenschaftlichen STS sind an allgemeinbildende oder technische Gymnasien angeschlossen (Kempf 2007, 405) und können je nach Betrachtungsweise zum postsekundären oder zum tertiären Schulsektor gezählt werden (vgl. Eurydice 2018/19; 2019). Das Hochschulwesen ist aufgeteilt in Grandes écoles, Universitäten und die IUT. Im Vorgang zu den dreijährigen Grandes écoles ist ein ebenfalls dreijähriger Vorbereitungskurs zu absolvieren (CPGE). Für einen Bachelor an der Universität beträgt die Regelstudienzeit drei Jahre, ein Master dauert zwei Jahre. Die STS schließt nach zwei Jahren mit dem Brevet de technicien supérieur (BTS) ab, die IUT bietet einen Diplomabschluss, den DUT (Diplôme universitaire de technologie), nach zwei und einen Bachelor nach drei Jahren an (Eurydice 2018/19; 2019).

Die einjährigen Aufbaustudiengänge der eher beruflich orientierten Hochschulen vergeben als Bachelor-Äquivalent hierbei die oben erwähnte Licence professionnelle (EDU-CON, o. J.; Calmand et al. 2014, 539). Die hochschulischen Technikerabschlüsse füllen den lange Zeit leeren Grenzbereich zwischen der Bildung für die Elite und der Bildung für die breite Masse. Ihre Absolvent/-innen haben vor allem in der Industrie gute Einstellungschancen, verbleiben aber aufgrund ihres „minderwertigen“ Diploms in einem fraglichen sozialen Status (d‘Iribarne/ d‘Iribarne 1999, 37 f.). Die vorwiegend allgemeinbildenden Universitäten gerieten bezüglich der Beliebtheit ihres Bachelorabschlusses in den letzten Jahren ins Hintertreffen. Dies hängt mit den Zugangsvoraussetzungen zusammen, die an den technischen Hochschulen selektiver sind als an den Universitäten. Selektive Bildungsgänge gelten als besser. Es hat sich infolgedessen aktuell unter den Studierenden eine neue Strategie entwickelt: Sie schreiben sich zuerst für ein eher beruflich ausgerichtetes Hochschulstudium ein und setzen dann ihr Studium in einem allgemeineren Studiengang fort, um ein „besseres“ Zertifikat zu erwerben. Mittlerweile sind es circa drei Viertel der Absolvent/-innen eines berufsorientierten Studienganges, die nach ihrem Abschluss weiter im Hochschulsystem verbleiben. Absolvent/-innen des allgemeinen Abiturs haben die besten Chancen, die Selektion an den IUT/STS zu überstehen, und drängen die Absolvent/-innen des beruflichen Abiturs an die Universitäten ab, die keine Zulassungsbeschränkungen haben (Berger 2011, 26; Giret 2011, 246; Bernhard 2017, 315 f.).

In der Sekundarstufe I befanden sich in Frankreich im Jahr 2017 etwa 3 350 000 Schüler/-innen, in der Sekundarstufe II circa 2 700 000 (OECD 2019). Für einen gymnasialen Bildungsgang meldeten sich im Jahr 2018 knapp 680 000 Schüler/-innen an. Die Gesamtquote der Abiturient/-innen hat 2018 das Ziel der 80 % erreicht (MENJ 2019c, 8.10). Abbildung 3.4 zeigt die Verteilung der Abiturient/-innen auf die drei Abiturrichtungen.

Abbildung 3.4
figure 4

(eigene Berechnung; Datenquelle: MENJ 2019c, 8.10; ab 2001 sind die französischen Überseegebiete (DOM) enthalten)

Die prozentuale Verteilung der Abiturient/-innen in Frankreich nach Art des Abiturs.

Es fällt auf, dass sich die meisten am allgemeinen Abitur versuchen. Während das technische Abitur zwischen 1987 und 2010 an zweiter Stelle lag, wurde es 2011 vom beruflichen überholt, das bis heute diese Position behalten hat. Die Gesamtzahl der Abiturient/-innen ist angestiegen (MENJ 2019c, 8.10). Damit scheint das berufliche Abitur wie geplant zu bewirken, dass mehr junge Menschen zur Hochschulreife gelangen.

Im Jahr 2017 verzeichneten die allgemeinen bzw. technischen Gymnasien eine Erfolgsquote von 90,7 % bzw. 90,5 % und die beruflichen von 81,5 % (MEN 2018, 6).

Die Studierendenzahlen in Frankreich stiegen nach Angaben der OECD von circa 2 340 000 im Jahr 2013 auf ungefähr 2 530 000 im Jahr 2017 (OECD 2019).

Davon waren rund 400 000 an einer der etwa 300 Grandes écoles eingeschrieben, von denen ungefähr 200 ingenieurwissenschaftlich ausgerichtet sind (Lüsebrink 2018, 125). Über die Hälfte der studienwilligen Abiturient/-innen entscheiden sich für ein Universitätsstudium (s. Abbildung 3.5; MENJ 2019c, 6.2). Während im Studienjahr 2010/11 rund 565 000 Universitätsstudierende in einem Studiengang der Licence générale (also einem allgemeinen Bachelor) eingeschrieben waren, waren es 2018/19 nach Jahren stetigen Anstiegs knapp 690 000. Im Vergleich pendelte sich der universitäre berufliche Bachelor (Licence professionnelle) zwischen 2010/11 und 2018/19 bei Zahlen um die 50 000 ein (MENJ 2019c, 6.5). Die IUT und STS sehen sich wachsenden Studierendenzahlen gegenüber (Lüsebrink 2018, 127). Ihr Anteil an der Gesamtanzahl der Studierenden lag im Studienjahr 2017/18 bei 4 % (IUT) bzw. 10 % (STS) (MENJ 2019c, 6.2). Neben den erwähnten Hochschultypen – den Universitäten, den dort angeschlossenen DUT, den STS, in der Regel an die technischen Gymnasien angebunden, und den Vorbereitungsschulen auf die Grandes écoles sowie den Grandes écoles selbst – kann man sich an fachspezifischen Hochschulen einschreiben, die Ingenieur/-innen (im französischen Sinne des Begriffes) oder Volks- bzw. Betriebswirt/-innen, Verwaltungs- und Gesundheitsfachleute oder Lehrpersonen ausbilden und zum Teil an die Grandes écoles angegliedert sind (MENJ 2019c; vgl. auch Bernhard 2017, 313). In Abbildung 3.5 werden die Grandes écoles mangels entsprechender Zahlen nicht gesondert aufgeführt.

Abbildung 3.5
figure 5

(Datenquelle: MENJ 2019c, 6.2)

Eingeschriebene Studierende in Frankreich im Studienjahr 2018/19 nach Hochschulart.

Im Vergleich zu Deutschland mit 214 700 waren es in Frankreich 2014 mit 68 938 Doktorand/-innen nur wenige, die diesen Weg wählten. Diese Zahl entspricht für Frankreich in etwa den Zahlen aus den Vorjahren seit 2006 (UNESCO Institute of Statistics 2014; zit. in Thimme/Quenstedt 2018, 16 f.). Mit Ausnahme des medizinischen Gebiets ist in Frankreich keine besonders große Wertschätzung der Promotion vorzufinden (Lüsebrink 2018, 126 f.).

Als aktuell zentrale Herausforderungen des Arbeitsmarktes nennt Legoupil die hohe Jugendarbeitslosigkeit, die hohe Arbeitslosigkeit unter älteren Menschen und die Transformation der Wirtschaft durch Digitalisierung, Robotik und Umweltschutz. In diesem Kontext sollen unter anderem Bildungsgänge in Zukunft noch mehr an den Bedürfnissen der Wirtschaft ausgerichtet werden (Legoupil 2018, 3). Allerdings haben in der Vergangenheit unternommene Versuche der Annäherung von Bildungsgängen an die Praxis gezeigt, dass der symbolische Stellenwert allgemeiner Abschlüsse der Umsetzung solcher Ansinnen oftmals im Wege steht (d‘Iribarne/d‘Iribarne 1999, 39).

3.2.2.3.2 Zur Geschichte, Struktur und Bedeutung der beruflichen Bildung in Frankreich

Der vorliegende Abschnitt orientiert sich in der Darstellung historisch bedeutsamer Entwicklungsphasen der französischen Berufsbildung im Kern an den drei von Ott (2015, 125 f.) vorgeschlagenen Perioden der Institutionalisierung (von 1911 – hier: ab 1902 – bis zum Zweiten Weltkrieg), der Konsolidierung (von der Nachkriegszeit bis zum Anfang der 1970er Jahre) und der Diversifizierung (seit dem Berufsbildungsgesetz 1971 bzw. der Einführung des Baccalauréat professionnel 1985). In einem Vorspann wird kurz die Zeit vor der Institutionalisierung umrissen, um die Hintergründe der ersten Phase zu vermitteln. Zum Schluss werden die Strukturen der beruflichen Bildung Frankreichs, wie sie aktuell vorzufinden sind, erläutert und veranschaulicht.

3.2.2.3.2.1 Die Zeit vor der Institutionalisierung der beruflichen Bildung in Frankreich

Vor der Französischen Revolution waren es die Zünfte, die die Wirtschaft und das berufliche Ausbildungswesen Frankreichs fest im Griff hatten. Im Jahre 1776 wurden sie per Gesetz abgeschafft, Gewerbe und Handel liberalisiert, um durch freien Wettbewerb und gleiche Besteuerung die Produktion anzukurbeln. Allerdings haperte es bei der Umsetzung der Reformen. Erst mit der Revolution und der Abschaffung des gesamten Feudalwesens gelang es, die Zusammenschlüsse aus dem Mittelalter zu zerschlagen (Griewank 1973, 40, 47; Meyser 1996, 87 ff.; Greinert 2005, 33). Per Gesetz wurden 1791 die Zünfte und alle anderen beruflichen Zusammenschlüsse verboten (Griewank 1973, 46; Charlot/Figeat 1985, 27; Greinert 2005, 33; Kirsch 2006, 92; Ott/Deißinger 2010, 494; Ott 2015, 126). Dadurch wurde die Tradition beendet, nach der die Vermittlung beruflicher Fertigkeiten im Rahmen von Zünften bzw. Innungen organisiert war (Hillau 1994, 54; Kirsch 2006, 92). Es begann eine lange Zeit, die unter dem Stichwort ‚Krise der Lehre‘ bekannt ist und durch das 19. Jahrhundert hindurch bis zum Ersten Weltkrieg andauerte (Troger 2004, 12; Ott 2015, 127). Man versäumte es, die 1791 zerstörten Strukturen durch neue zu ersetzen (Lutz 1986, 206). Die Politik verfolgte eine liberale Linie, die die berufliche Bildung grundsätzlich den Betrieben überließ und nur die mittlere und höhere beruflich-technische Ausbildung von Führungskräften berücksichtigte, die zum Beispiel in den staatlichen Ecoles polytechniques angeboten wurde. Da die Regierung die organisatorische Infrastruktur der beruflichen Elementarbildung beseitigt hatte, entstand ein Vakuum (Lutz 1986, 193; Schriewer 1986, 80). Erst 1864 wurde das „Verbot beruflicher Vereinigungen und Koalitionen“ gelockert und 1884 schließlich aufgehoben (Schriewer 1986, 75 f.). So ist hinsichtlich der Weiterentwicklung der beruflichen Bildung im Laufe des 19. Jahrhunderts einzig die Einrichtung von Schulen und Kursen zur technischen Ausbildung zu verzeichnen. Hierbei handelte es sich um größtenteils privat oder von philanthropischen Vereinigungen getragene Abendkurse und Betriebsschulen sowie städtische Schulen oder Schulen von Berufsverbänden (Troger 2004, 13). Ende des 19. Jahrhunderts gründete der Staat technische Fachschulen, die Ecoles nationales professionnelles (ENP), die als die originären Schulen der technischen Bildungstradition Frankreichs bezeichnet werden können (Meylan 1983, 29). Zur gleichen Zeit wurden nach einem vorangegangenen Kompetenzstreit zwischen dem Erziehungs- und dem Handelsministerium die existierenden EPS (Ecoles primaires supérieures; höhere Grundschulen mit berufsfachliche Zweigen) in Ecoles pratiques de commerce et de l’industrie (= Handels- und Industriefachschulen) umbenannt und der Kontrolle des Handelsministeriums unterstellt (Troger 1989b, 595 f.).

Es traten Problematiken auf, die die ‚Krise der Lehre‘ andauern ließen: Erstens spielte der Niedergang der Handwerksberufe und damit der traditionellen Lehre eine Rolle. Hinzu kamen zweitens die ausbeuterischen Arbeitsbedingungen Jugendlicher und auch Kinder in Industriebetrieben. Drittens entstand ein Facharbeitermangel in den modernen Industriezweigen, vornehmlich im Maschinenbau und der Elektroindustrie (Troger 2004, 12 f.; vgl. auch Greinert 1999, 79 f.; Ott 2015, 127). Letztlich hat sich die französische Berufsbildung von der Krisenzeit bis heute nicht erholt. So attestiert Agulhon, dass die berufliche Bildung in Frankreich nie ihren Platz gefunden hat (Agulhon 2003, 54).

3.2.2.3.2.2 Die Phase der Institutionalisierung der beruflichen Bildung in Frankreich vom Beginn des 20. Jahrhunderts bis zum Zweiten Weltkrieg

Der vorige Abschnitt zeigt bereits auf, dass es beim Entwicklungsbedarf der beruflichen Bildung im Frankreich des beginnenden 20. Jahrhunderts nicht nur um die Befriedigung ökonomischer bzw. betrieblicher Bedürfnisse ging, sondern gerade auch soziale Belange in den Vordergrund traten (Ott 2015, 127; vgl. auch Lutz 1986, 193). Insbesondere dachte man der beruflichen Erstausbildung die Funktion zu, sowohl zur Befriedigung industrieller Bedarfe als auch zur Disziplinierung der Jugendlichen beizutragen, über die der Staat nach Beendigung der Schulpflicht (mit 13 Jahren) und vor dem Eintritt in den Militärdienst (mit 18 Jahren) keine Kontrolle hatte (Troger 2004, 13).

1902 gründeten Teile der „republikanischen politischen Eliten und der Arbeitgeberschaft“ unter dem Namen Association Française pour le Développement de l’Enseignement Technique (AFDET) einen Verband zur Förderung der technischen Bildung. Sie erreichten die Gründung mehrerer Dutzend technischer Fachschulen, die der Staat und die Gebietskörperschaften finanzierten. Auf ökonomischer Seite dienten sie dazu, die Nachfrage an technischem Fachpersonal zu decken. Diese Mitarbeiter/-innen erhielten in der Hierarchie der Unternehmen einen Platz zwischen Geschäftsleitung bzw. Forschungsabteilung und Produktion, wo sie für die Umsetzung technischer Neugestaltungen in der Praxis zuständig waren. Nahezu 90 000 Schüler/-innen besuchten im Jahre 1939 diese Schulen, also fast so viele Schüler/-innen, wie an Oberschulen lernten (Brucy/Troger 2000, 11 f.; Troger 2004, 14).

Diese technischen Fachschulen wählten unter den besten Grundschülern diejenigen aus, die aufgrund ihrer sozialen Herkunft eher kurze Ausbildungswege bevorzugten, welche rasch auf eine stabile Berufslaufbahn hinführten. Sie bildeten hoch qualifizierte Arbeiter für Industrieunternehmen aus, die sehr schnell zu Werkmeistern oder Technikern aufstiegen, die besten unter ihnen sogar zu Ingenieuren. (Troger 2004, 14; vgl. auch Legoux 1972)

Damit boten sie eine Alternative zu den existierenden technischen Schulen des Staates (s. oben), die als elitär galten und von den Behörden am Gängelband gehalten wurden (Brucy/Troger 2000, 12; Ott 2015, 128). 1911 gelang es der AFDET, ein Gesetz zu erwirken, das die Einführung des ersten staatlich anerkannten Berufsbefähigungszeugnisses unter der Bezeichnung Certificat de capacité professionnelle (CCP) vorsah. Mit dem Astier-Gesetz (Loi AstierFootnote 10) von 1919, das unter anderem eine Berufsschulpflicht für Lehrlinge beinhaltete, ging aus dem CCP das Certificat d’aptitude professionnelle (CAP) hervor. Dieses Zertifikat erhielten Auszubildende auf Grundlage einer bestandenen Prüfung als Nachweis ihrer beruflichen Fähigkeiten, wenn sie zuvor mindestens drei Jahre lang an theoretischem Unterricht teilgenommen hatten. Neben der Erleichterung der Mobilität der Facharbeiter/-innen war es dazu gedacht, die Ausbildungsinvestitionen von Unternehmen anzuerkennen und einheitliche Ausbildungsstandards zu etablieren. Überdies stellte es ein Instrument der Qualitätskontrolle von Ausbildungen dar (Brucy/Troger 2000, 12; Troger 2004, 14; Brucy 2008, 27 f.; Ott 2015, 128 f.). Auch wenn das Astier-Gesetz als historisch relevant eingeschätzt wird, weil es zum ersten Mal das Prinzip der technischen Bildung der Masse, die kostenlos und verpflichtend war, rechtlich festschrieb (Charlot/Figeat 1985, 249), kann nicht die Rede von einer erfolgreichen Realisierung sein: Unternehmer/-innen leisteten eine Art „passiven Widerstand“ gegen das Astier-Gesetz, da obligatorische Berufsbildungskurse in ihren Augen eher störend als nützlich für den Arbeitsalltag ihrer Angestellten waren. Der Staat blieb seiner liberalen Haltung treu und war nicht willens, die Inhalte des Gesetzes durchzusetzen. Er versäumte es, entsprechende Überwachungsinstanzen zu installieren und Konsequenzen für Zuwiderhandlungen zu definieren. Lediglich für den „Sektor der beruflichen Eliteausbildung war eine klare Entscheidung für das schulische Ausbildungsmodell gefallen“ (Greinert 1999, 68; vgl. auch Greinert 2005, 92). Ansonsten verließ sich der Staat getreu dem Prinzip der Selbstverwaltung auf die Unternehmen und lokale Gremien (Brucy/Troger 2000, 12 f.; Ott 2015, 130).

1925 erließ die französische Regierung ein Gesetz, nach dem Unternehmen, die nicht ausbildeten, eine Ausbildungssteuer zu entrichten hatten. Diese Steuer gibt es bis heute. Sie sollte die Ausbildungsbereitschaft von Betrieben fördern. Für viele berufliche und technisch-fachliche Bildungsinstitutionen war sie eine wichtige Finanzquelle. Mit der Abwicklung der Steuerzahlungen wurden die im selben Jahr ins Leben gerufenen Berufskammern beauftragt (Greinert 1999, 68; Brucy/Troger 2000, 12 f.; Troger 2004, 14; Greinert 2005, 92; Ott 2015, 128, 130). Auch wenn die Errichtung der Kammern zügig vonstattenging, blieb ihr Einfluss auf die berufliche Bildung in den Folgejahren stark beschränkt (Greinert 1999, 68 f.; 2005, 92).

Ergänzend verpflichtete die Regierung im Jahre 1928 in einem weiteren Gesetz Ausbildungsbetriebe und Auszubildende, einen schriftlichen Lehrvertrag zu unterzeichnen, der den Besuch beruflicher Ausbildungskurse und die Teilnahme an der Abschlussprüfung nach sich zog (Brucy 2008, 28). Für die Ausbildenden machte man eine „methodische Vermittlung einer vollständigen Berufsausbildung“ bindend (Greinert 1999, 69). Den regionalen Gremien wurde das Recht übertragen, die Lehrlingszahlen in einzelnen Betrieben zu limitieren und ihnen zeitweise das Ausbildungsrecht zu entziehen. Doch auch dieses Gesetz konnte nicht die gewünschte Wirkung entfalten: Betriebe umgingen es, indem sie ihren jungen Arbeiter/-innen den Auszubildendenstatus verweigerten oder davon absahen, Auszubildende einzustellen (Greinert 1999, 69; 2005, 92; vgl. auch Charlot/Figeat 1985, 259 f.).

Schließlich begann ein längerer Prozess, bei dem die berufliche Bildung verstaatlicht, verschult und verallgemeinert wurde. Die Gründe hierfür waren vielfältig. Einen Beitrag zur Verschulung und Verallgemeinerung beruflicher Bildung leisteten die Volksschulen, deren Bedeutung wuchs und die berufliche Kurse in ihr allgemeines Programm integrierten (s. Abschnitt 3.2.2.3.1.3; Lutz 1986, 206). Zunächst verhinderten die unterschiedlichen Interessen und Partikularitäten einzelner Unternehmen, Branchen und Regionen, die sehr heterogene Praktiken mit dem CAP verbanden, eine bessere Zusammenarbeit hinsichtlich des Ausbaus und der Standardisierung der beruflichen Bildung auf Basis des Selbstverwaltungsgedankens. Dies führte zu einer großen Unübersichtlichkeit, die ein Eingreifen des Staates notwendig erscheinen ließ (Greinert 1999, 68; Brucy/Troger 2000, 10, 13; Brucy 2007, 27; 2008, 30, 37; Ott 2015, 131). Auf Initiative der Arbeitgeber/-innen, die die mangelnde Transparenz des CAP monierten, erstellte die zuständige Abteilung des Ministeriums, die Direction de l’enseignement technique, erste Normen. Ein Rundschreiben aus dem Jahr 1926 enthielt eine Liste mit 112 industriellen Berufen, für die gemeinsame Prüfungsrichtlinien fixiert wurden. 1927 folgte ein ähnliches Schreiben speziell für kaufmännische Berufe (Brucy/Troger 2000, 13; Brucy 2008, 39). Auch in der Folgezeit verstärkte der Staat seine Bemühungen um die Normierung des CAP (Brucy 2007, 29 f.). Hinzu kamen die Wirtschaftskrise und die hohen Arbeitslosenzahlen der 1930er Jahre. Um die Heranwachsenden ohne Ausbildungsstelle oder Schulplatz aufzufangen, wurden erste berufliche Vollzeitschulen für Angestellte und Arbeiter/-innen eingerichtet (Brucy/Troger 2000, 14; Troger 2004, 14; Ott 2015, 131). Die Situation verschärfte sich zusehends, so dass die Regierung 1939 berufliche Ausbildungszentren, sog. Centres de formation professionnelle (CFP), ins Leben rief, um die Vielzahl der arbeitslosen Jugendlichen unterzubringen. Sie bildeten bald massenhaft Heranwachsende aus und hatten 1944 bereits Schülerzahlen von circa 50 000 bei einer Zahl von 850 Einrichtungen (Greinert 1999, 71 f.; vgl. auch Brucy/Troger 2000, 14; Troger 2004, 14; Ott 2015, 133). Diese Schulen, die ersten beruflichen Vollzeitschulen und die Ausbildungszentren, sind die Vorläufer der späteren beruflichen Gymnasien, der Lycées professionnels (Brucy/Troger 2000, 14; Troger 2004, 14; Ott 2015, 131).

1941 novellierte die Vichy-Regierung das Astier-Gesetz und gestand dem Staat zulasten der lokalen Gremien mehr Rechte in der beruflichen Bildung zu. Im Jahr 1943 wurden zum einen die industriellen CAP über allgemeingültige Richtlinien standardisiert und zum anderen das Recht auf Prüfungsorganisation und Ausstellung der Diplome sämtlicher beruflicher Bildungsgänge, auch privater Trägerschaft, in ein staatliches Monopol überführt (Brucy/Troger 2000, 13 f.; Brucy 2007, 28; 2008, 33 f.). Ab diesem Zeitpunkt dienten die staatlichen Abschlusszertifikate als Bezugsnormen hinsichtlich der Qualität der Absolvent/-innen (Brucy 2007, 28). Seit 1946 lag die Verantwortung für die Prüfungsorganisation bei den Schulbezirken (Académies), wobei die Abschlussprüfungen in jedem Schulbezirk zeitgleich stattfanden. Im weiteren Verlauf prägten Auseinandersetzungen zwischen Unternehmen und Staatsrepräsentanten die Situation. Erstere beklagten insbesondere die mangelnde Berücksichtigung regionaler Spezifika. Im Handwerk ging man zum Teil so weit, die staatlichen Zertifikate zu ignorieren und an der traditionellen Ausbildung festzuhalten (Brucy 2007, 22, 29; Ott 2015, 132).

Wie oben erwähnt, hatten die Ende des 19. Jahrhunderts gegründeten Fachschulen sowohl eine soziale als auch eine wirtschaftliche Funktion. Es entstand ein Zielkonflikt zwischen politisch-pädagogischen Ansinnen und ökonomisch-qualifikatorischen Ansprüchen, der zu Auseinandersetzungen über Kompetenzen und Konzeptionen zwischen dem Erziehungs- und Handelsministerium führte. Letztlich behielt das Erziehungsministerium die Oberhand, womit die Tür dafür geöffnet war, von außen an die Fachschulen herangetragene Qualifikationserwartungen umzuinterpretieren (Schriewer 1982, 253260; Troger 1989b, 596; Greinert 1999, 69 f.). Dies leistete der Verallgemeinerung der beruflichen Bildung Vorschub.

Ein weiterer wesentlicher Faktor hinsichtlich der Verallgemeinerung der beruflichen Bildung war der steigende bildungspolitische Einfluss der Lehrkräfte bereits bestehender Handels- und Industrieschulen sowie staatlicher Berufsschulen (Brucy/Troger 2000, 13; vgl. auch Ott 2015, 131). Einige dieser Lehrpersonen, vorrangig allgemeinbildender und theoretischer Fächer, waren gegen ihre Präferenzen an berufliche Schulen versetzt worden und hatten ein Interesse daran, ihren Status durch eine Angleichung der beruflichen Schulen an das Sekundarwesen aufzubessern (Schriewer 1982, 255; vgl. auch Greinert 1999, 71). Sie waren in lokalen und regionalen Gremien der beruflichen Bildung vertreten. Die dort ebenfalls repräsentierten Unternehmen entzogen sich relativ schnell der Aufgabe, Curricula zu entwickeln und Prüfungen zu organisieren. Folglich waren es die Lehrer/-innen, die die Standardisierung der beruflichen Bildung nach ihren Vorstellungen vorantrieben (Brucy/Troger 2000, 13; Ott 2015, 131). Diese Vorstellungen betonten die Trias von Mensch, Arbeiter/-in und Bürger/-in, was sich auf das angewendete Erziehungsideal und die Lehrpläne beruflicher Bildungsgänge auswirkte, deren funktionale berufsqualifizierende Ausrichtung eine Verallgemeinerung erfuhr (Troger 1989a, 152; Kirsch 2005, 5; Brucy 2007, 24 f.; 2008, 36 ff.; Méhaut 2013, 202; Ott 2015, 131 f.). Letztere ist bis heute in den Lehrplänen beruflicher Bildungsgänge sichtbar (vgl. auch Kirsch 2006, 93; Méhaut 2013, 202).

Auf diese Weise wurden die neuen beruflichen Schulen nach und nach an das traditionelle französische Bildungsverständnis angepasst. Didaktisch fand eine Verschiebung hin zu allgemeinen und theoretischen Lehrinhalten statt. Das traditionelle Erziehungsideal wurde vor allem von den Lycées repräsentiert und priorisierte Rhetorik und abstrakte sowie theoretische Inhalte, das heißt spezifisch Bildung des Verstands und der sprachlichen Fähigkeiten, der persönlichen Urteilskompetenz und eines rational-sittlichen Lebensstils. Für die Berufsausbildung folgte daraus, dass berufliche Handlungsmuster theoretisiert und intellektualisiert wurden. Dies konnte jedoch nur für intellektuell anspruchsvollere Berufe verwirklicht werden, nicht für Berufe, die stark auf die Ausführung von Handlungen bezogen waren. Es ließ sich eine schrittweise Anhebung des Niveaus beruflicher Schulen beobachten, die sich in den Eingangsvoraussetzungen, den Inhalten und der Stufe der Abschlüsse äußerte. Damit einher gingen eine Bildungsexpansion und steigende soziale Aufstiegsaspirationen der Jugendlichen (Greinert 1999, 70 f.; vgl. auch Lutz 1986, 206, Kirsch 2006). Sie hatten die Absicht, durch Bildungstitel ihren Marktwert zu sichern und sich sozial nach unten abzugrenzen (Schriewer 1982, 255; vgl. auch Legoux 1972).

Die Prozesse der Verstaatlichung, Verallgemeinerung und Verschulung der beruflichen Bildung, die in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts ihren Anfang genommen hatten, intensivierten sich nach dem Zweiten Weltkrieg, wie der folgende Abschnitt über die Konsolidierungsphase deutlich macht.

3.2.2.3.2.3 Die Phase der Konsolidierung der beruflichen Bildung in Frankreich von der Nachkriegszeit bis zum Anfang der 1970er Jahre

Auch nach dem Zweiten Weltkrieg hielt die französische Regierung an der Hinwendung zum Prinzip der staatlichen Interventionen fest, was auch fortan die Gestaltung der beruflichen Bildung beeinflusste. Ein wirtschaftlicher Aufschwung, hervorgerufen durch den Wiederaufbau des Landes nach dem Zweiten Weltkrieg, kennzeichnete die „glorreichen dreißig Jahre“ (Trente glorieuses) von 1945 bis 1975. Er wurde von einem beträchtlichen Facharbeiterbedarf begleitet (Brucy/Troger 2000, 14). Ein demographischer Gesichtspunkt verschärfte den Fachkräftebedarf zusätzlich: Die geburtenschwachen Jahrgänge der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts waren nun im erwerbsfähigen Alter (Brucy/Troger 2000, 14; Troger 2004, 14). Die Unternehmen waren mit der Ausbildung der hohen Anzahl an qualifiziertem Fachpersonal überfordert, sodass sie die Fortführung der Verstaatlichung der beruflichen und technischen Bildung unterstützten (Troger 2004, 14). Ein Ziel, das die Regierung zu dieser Zeit verfolgte, bestand darin, die berufliche und technische Bildung weiter zu regulieren und die Abschlusszertifikate auf nationalem Niveau zu standardisieren. Auch forcierte sie die Zentralisierung der beruflichen und technischen Bildung. 1948 gründeten sich die Commissions nationales professionnelles consultatives (CNPC), also nationale Berufsbildungsgremien mit beratendem Charakter. Sie bestanden aus Stakeholdern der beruflichen und technischen Bildung wie Funktionär/-innen des zuständigen ministerialen Büros, Repräsentant/-innen von Arbeitgeber- und Arbeitnehmerverbänden sowie Lehrervereinigungen und Vertreter/-innen von Elternorganisationen. Ihnen wurden Aufgaben auf nationaler Ebene übertragen, zu denen die Modifizierung, Abschaffung oder Einführung von Berufsabschlüssen, die Definition von Stellenprofilen, Berufsinhalten, Lehrplänen und Prüfungsregularien gehörten (Brucy/Troger 2000, 15 f.; Ott 2015, 134). Brucy und Troger beurteilen die Schaffung der CNPC als signifikant hinsichtlich der Verschiebung der Zuständigkeit für die Berufsbildung von der lokalen auf die nationale Ebene (Brucy/Troger 2000, 15).

Mit den 1950er Jahren begann eine Zeit, in der die „Berufsausbildung, die hauptsächlich am Arbeitsplatz stattfand, sukzessive durch eine schulische Ausbildung ersetzt wurde“ (Kirsch 2006, 93; vgl. auch Prost 1981, 568–577). Im Rahmen der Politik der Modernisierung, die seit 1959 unter de Gaulle praktiziert wurde, etablierte man, wie oben bereits beschrieben, die einheitliche Sekundarstufe I (Collège unique). Es erfolgte der Ausbau naturwissenschaftlicher und technischer Bildungsgänge, neue Ingenieurschulen wurden eröffnet, die technisch-fachliche und berufliche Bildung weiterentwickelt (Troger 2004, 15). Im Verlauf der Reformen von 1959 bis 1968 wurden einige berufsbildende Abschlüsse umbenannt – ein Versuch, die Wertschätzung der Berufsausbildung „in Anbetracht der dominanten gesellschaftlichen Werthierarchie“ durch eine „Strategie der symbolischen Aufwertung“ zugunsten der technisch-beruflichen Bildungsgänge anzuheben (Schriewer 1982, 262 f.). Die de-Gaulle-Regierung förderte die vorhandenen Ausbildungszentren, die unter anderem die „Berufsfachschulen der ersten Generation“ (Collèges techniques) ersetzten, mit erheblichen Finanzmitteln (Greinert 1999, 71 f.). 1944 ließ man sie in Centres d’apprentissage (CA) umbenennen (Greinert 1999, 71), bevor sie 1959 zu Collèges d’enseignement technique (CET) wurden (Zettelmeier 2005a, 19). Es kam zu einschneidenden inhaltlichen Anpassungen des CAP: Die zuvor in hohem Maße spezialisierten Bildungsgänge wurden umgewandelt „in eine sowohl theoretisch anspruchsvollere wie auf breitere Berufsfelder beziehungsweise Funktionsbereiche bezogene und daher allgemeiner und vielseitiger gehaltene Berufsbildung“ (Schriewer 1982, 263). Begründet wurde dies prospektiv mit veränderten Qualifikationsbedarfen einer zunehmend technisierten Wirtschaft (Schriewer 1982, 263; vgl. auch Maillard/Rose 2007, 10). 1965 erfolgte ein wesentlicher Schritt im Prozess der Eingliederung der beruflichen Bildung ins allgemeine Schulwesen: Das Technikerabitur (Baccalauréat de technicien) wurde aus der Taufe gehoben und formal dem allgemeinbildenden Abitur gleichgestellt (Prost 1981, 569; Kirsch 2006, 93). Überdies folgte 1966 die Einführung eines Hochschuldiploms für Techniker/-innen (Kirsch 2006, 94). Dazu wurden technische Institute an die Universitäten angegliedert, sogenannte Institutes universitaires de technologie (IUT; s. Abschnitt 3.2.2.3.1.4), die Kurzzeitstudiengänge in den Bereichen Technik, Betriebswirtschaftslehre und Sozialarbeit anboten. Sie gleichen aus deutscher Perspektive jedoch eher Berufsakademien als Fachhochschulen (Kempf 2007, 405). Das Jahr 1968 markierte die Einführung eines neuen, inhaltlich breiter gefassten berufsbildenden Abschlusses, nämlich des Brevet d’études professionnelles (BEP; s. Abschnitt 3.2.2.3.1.4), dessen Bezeichnung Brevet seine Höherwertung gegenüber dem Certificat symbolisierte, auch wenn beide formal auf derselben Qualifikationsstufe angesiedelt waren. Das BEP nahm den Platz der früheren Industrie- bzw. Handelsdiplom-Bildungsgänge ein, die zu Technikerdiplomen auf der nächsthöheren Qualifikationsstufe umgestaltet wurden (Schriewer 1982, 264; vgl. auch Kirsch 2006, 94; Ott 2015, 136). Es sollte sich bald herauskristallisieren, dass die neuen Abschlüsse (BEP, Technikerabitur, Techniker-Universitätsdiplom) eher der Realisierung eines möglichst hohen Bildungsabschlusses als der konkreten Berufsvorbereitung dienten (Kirsch 2006, 95). Ihre Ausrichtung folgte dem Primat der technischen oder technologischen Ausbildung, weniger einer beruflichen (Prost 1981, 568; Kirsch 2006, 94). Planmäßig sollte das BEP den vollzeitschulischen Bereich des CAP substituieren, während es als Lehrabschluss der betrieblichen bzw. teilzeitschulischen Apprentissage erhalten bleiben sollte. Letztlich blieb es aber für beide Arten im Spiel (Maillard 2007a, 38; Ott 2015, 135).

In den 1960er Jahren wurde ein Schema erstellt, in dem Bildungsabschlüsse gestuften Niveaus zugeordnet wurden, die mit Berufspositionen korrespondierten und die hierarchische Struktur des französischen Bildungswesens widerspiegelten. Als Grundlage diente das Argument, so die Planung des wirtschaftlichen Arbeitskräftebedarfs optimieren zu können (Schriewer 1982, 263–275; Greinert 1999, 73 f.; Kirsch 2006, 95; Bouder/Kirsch 2007, 505 f.).

Es vollzog sich eine innere Hierarchisierung von BEP-Abschlüssen zugunsten weniger spezialisierter, allgemeinerer Zweige (Schriewer 1982, 264). Nach Schriewer entsprach der zu beobachtende Prozess der „Entspezialisierung und Theoretisierung der Ausbildungsinhalte“ den Vorgängen an den „napoleonischen Staatsgewerbeschulen“. Er ging Hand in Hand mit einer Anhebung von Zulassungsvoraussetzungen, einer längeren Gesamtausbildungsdauer, der Schaffung neuer Bildungstitel, die mit „spezifischen Berechtigungen“ die Allokation in der „Karrierehierarchie“ bewerkstelligten, und einer „symbolischen Aufwertung durch Umbenennung der Ausbildungsinstitutionen in Angleichung an die nächsthöhere und prestigereichere Einrichtung“. Konsequenz war eine erhöhte Selektivität des Bildungswesens (Schriewer 1982, 265; vgl. auch Bourdieu/Boltanski 1975).

Quantitativ legten die beruflichen Vollzeitschulen zu, während die Lehre (Apprentissage), was die Schülerzahlen anging, auf dem gleichen Level verblieb und von den Vollzeitschulen überholt wurde (Brucy/Troger 2000, 15; Troger 2004, 15; Ott 2015, 134). Die Abschlüsse dieser Vollzeitschulen erwiesen sich gerade für die einfachere Bevölkerung als attraktiv, da sie einen einfachen und raschen Zugang zum Arbeitsmarkt auf Basis anerkannter Qualifikationen boten. Die Unternehmen ihrerseits profitierten von der Möglichkeit, einsatzbereite Arbeiter/-innen und Angestellte für die mittlere Führungsebene rekrutieren zu können (Troger 2004, 15). Dabei zogen die Fachschulen auch aus der insgesamt stattfindenden Bildungsexpansion der 1960er Jahre, begünstigt durch die Verlängerung der Schulpflicht und die Ausweitung der weiterführenden Bildung, einen Nutzen (Lutz 1986, 209 f.; Troger 2004, 15; Maillard/Rose 2007, 10; Ott 2015, 135).

Nach diesem Aufschwung folgte ein Prozess des Bedeutungsverlusts der Berufsbildung, der auf unterschiedliche Ursachen zurückgeführt wurde. Zum einen hatte man in Frankreich seit dem Ende der 1960er Jahre verstärkt mit einer hohen Arbeitslosigkeitsquote zu kämpfen. Sie lässt sich durch die starken Geburtenjahrgänge der Baby-Boom-Generation und geringe Zahlen altersbedingten Ausscheidens aus dem Arbeitsleben erklären. Außerdem machte in den 1970er Jahren die Ölkrise der Wirtschaft zu schaffen (Troger 2004, 15). Zum anderen löste die Bildungsexpansion eine Entwertung von Bildungsabschlüssen aus, weil mittlerweile viele der Heranwachsenden einen Abschluss der weiterführenden Bildung vorweisen konnten. Die Unternehmen passten ihre Rekrutierungsstrategien an und wählten für höhere Posten Absolvent/-innen höherer Bildungsgänge aus. Die berufliche Bildung bekam zunehmend einen Sackgassencharakter, da sowohl Anschlüsse im Bildungssystem fehlten als auch der Aufstieg im Unternehmen durch höher Zertifizierte blockiert war (Schriewer 1982, 269; Troger 2004, 15 f.; Maillard/Rose 2007, 10; Ott 2015, 135). Kirsch beschreibt den problematischen Zustand der zeitgenössischen französischen Berufsbildung. Unter anderem

schottete der akademische Anstrich die berufliche Bildung immer mehr von der Arbeitswelt ab und führte zu unerwünschter sozialer Ausgrenzung. Tatsächlich wurden bereits ab der ersten Ausbildungsstufe Anforderungen an die Allgemeinbildung gestellt, die nicht von allen erfüllt werden konnten. Zugleich wurde die Funktion der vorberuflichen Sozialisation der Jugendlichen nur unzureichend erfüllt. Die Wissensübermittlung erfolgte [sic!] einem Muster, das sich ganz überwiegend an schulischen Maßstäben orientierte. (Kirsch 2006, 96)

3.2.2.3.2.4 Die Phase der Diversifizierung der beruflichen Bildung in Frankreich seit den frühen 1970er Jahren bis heute

In den 1970er Jahren begann in Frankreich eine Phase der Modernisierung der beruflichen Bildung. Unter anderem reagierte die Regierung auf die Eingliederungsprobleme der Jugendlichen am Arbeitsmarkt mit einer Politik, die unter dem Stichwort der Alternance (= „Wechselspiel“; der Ausdruck bezieht sich auf den Wechsel der Lernorte Schule und Betrieb) bekannt wurde. Sie setzte sich eine Steigerung der Attraktivität der marginalisierten Apprentissage zum Ziel (Lattard 1999, 123; Zettelmeier 2005a, 20). Lattard zufolge war letztere „mangelhaft organisiert und kontrolliert“ und drohte von den allmählich in die Mittelschulen integrierten Berufsfachschulen komplett beseitigt zu werden (Lattard 1999, 123). Unter anderem ging es um eine Aufwertung des Betriebs als Lernort. Man schuf neue Regelungen, die eine bessere Verknüpfung der beiden Lernorte Betrieb und Bildungseinrichtung erreichen sollten (Zettelmeier 2005a, 20), um die bemängelte Abschottung des beruflichen Schulwesens von der Arbeitswelt zu beheben (Kirsch 2006, 96).

Das Jahr 1971 bezeichnet das Jahr, in dem erstmals seit 1919 die betriebliche Lehrlingsausbildung, also die Apprentissage, umfassend gesetzlich neu aufgelegt wurde (Zettelmeier 2005a, 20), nachdem sie in der Nachkriegszeit unberührt geblieben war (Lattard 1999, 123). Mit diesem Gesetz erlebte die Lehre eine Art „Wiedergeburt“, indem sie neben den bereits anerkannten Berufsfachschulen zu einem zweiten „staatlich anerkannten Ausbildungsweg“ wurde (Lattard 1999, 123; vgl. auch Charlot/Figeat 1985, 437 ff.). Zum ersten Mal erhielten Lehrlinge einen Erwerbstätigenstatus, der durch die Verpflichtung zum Abschluss eines zweijährigen Ausbildungsvertrages erreicht wurde, wobei die Ausbildungsvergütung gesetzlich geregelt wurde. Man setzte die Stundenzahl des allgemeinbildenden Unterrichts in der Lehre von 100 auf 360 pro Jahr herauf. Als zuständige Schulen wurden verbindlich bestimmte Einrichtungen benannt, die Centres de formation d’apprentis (CFA). Sie befanden sich zumeist unter der Trägerschaft von Kammern oder unter vereinsrechtlicher Organisation; einige wenige gehörten öffentlichen Schulen an (Lattard 1999, 124; Zettelmeier 2005a, 20). Wie Bouder und Kirsch aufzeigen, hatte der Initiator des Gesetzes von 1971, Jacques Delors, auch die Fort- und Weiterbildung im Sinn: Um der Reproduktion der sozialen Ungleichheit, die das alte Bildungssystem seiner Meinung nach hervorbrachte, entgegenzuwirken, sich besser und schneller an die Bedürfnisse des Arbeitsmarktes anpassen zu können und um Arbeitslose weiterzubilden, schloss das Gesetz von 1971 auch Fort- und Weiterbildungen ein. Unter anderem umfasste es ein gesetzliches Recht von Arbeitnehmer/-innen auf Fortbildung auf Kosten der Arbeitgeber/-innen und Bildungsmaßnahmen für Arbeitslose (Bouder/Kirsch 2007, 507; vgl. auch Ott 2015, 138 f.).

1972 stärkte die Regierung per Verordnung die in der Nachkriegszeit geschaffenen Commissions nationales professionnelles consultatives (CNPC). Bislang zeichneten sie sich durch wenig Struktur und Wirkung aus. Ihr neuer Name lautete Commissions professionnelles consultatives (CPC). Die Aufgaben blieben im Prinzip die gleichen: Stellungnahmen sowie Vorschläge zur Ausbildungsgestaltung unter Berücksichtigung der vielseitigen Stakeholder-Interessen zu erarbeiten. – Mittlerweile konnten sie sich als wichtige Akteur/-innen in der Berufsbildungspolitik etablieren (Lattard 1999, 125; Kirsch 2006, 96 f.). Im selben Jahr schuf man eine weitere Kommission, die Commission technique d’homologation des titres et diplômes de l’enseignement technologique. Hintergrund war die erkannte Notwendigkeit, den Weiterbildungsbereich und den Elementarbereich der beruflichen Bildung aufeinander abzustimmen und einen gemeinsamen Bezugsrahmen zu schaffen, was die zertifizierten Berufsqualifikationen anging (Bouder/ Kirsch 2007, 507).

Im Rahmen der Reformen des Jahres 1976 wurden aus den seit 1959 Collèges d’enseignement technique genannten Bildungszentren (CET, s. Abschnitt 3.2.2.3.2.3) zu Lycées d’enseignement professionnel (LEP), womit „nicht zuletzt auch terminologisch die Eingliederung [der beruflichen Bildung] in das staatliche Schulwesen vollzogen“ wurde (Zettelmeier 2005a, 19). Damit verband sich die Hoffnung, durch die Verwendung des Lycée-Begriffs eine Aufwertung der beruflichen Bildung zu erreichen (Zettelmeier 2005a, 19). Als schulischer Lernort des dualen Berufsausbildungsmodells bestanden die Centres de formation d’apprentis (CFA) weiter (Zettelmeier 2005a, 19 f.; vgl. auch MENJ 2019c, 5.1). 1979 nahm man verpflichtende Betriebspraktika im Umfang von 20 % in die Lehrpläne der vollzeitschulischen Bildungsgänge der LEP, die zum CAP oder BEP führten, auf (Lattard 1999, 122 f.).

Die Auswirkungen der Reformen der 1970er Jahre werden als alles andere als durchschlagend positiv für die berufliche Bildung eingeschätzt. Troger erklärt, dass die Heranwachsenden seit dem Ende der 1970er Jahre die berufliche Bildung als Bildung für leistungsschwache Schüler/-innen soweit möglich umgingen. Es ist die Rede von einem „Wettlauf um Bildungsabschlüsse“, bei dem die beruflichen Abschlüsse gegenüber den allgemeinen als minderwertig abschnitten (Troger 2004, 16). Lattard bewertet die Alternanz-Politik der 1970er Jahre zur Stärkung der Apprentissage als eine „Konsolidierung des Bestehenden“, bei der die Apprentissage ihren „status minor“ behalten habe (Lattard 1999, 123). Jedoch wurden die Alternanz-Reformen in den 1980er Jahren fortgesetzt und konnten im Verlauf der Umsetzung der Anpassungen quantitative Erfolge verzeichnen.

Im Kontext der Dezentralisierungsgesetze von 1983 übertrug man den Regionen die politische Zuständigkeit für die Apprentissage, um regionalen Besonderheiten besser Rechnung tragen zu können (Zettelmeier 2005a, 20). Eine entscheidende Weichenstellung erfolgte im Jahre 1985, in dem das Berufsabitur (Baccalauréat professionnel, Bac Pro) kreiert wurde, das eine zweite Bildungsexpansion hervorbrachte (Pinto 2008, 13; Bernhard 2017, 310). Man spricht hierbei von einer sowohl arbeits- als auch bildungspolitisch motivierten Zielsetzung. Aus arbeitspolitischer Sicht versuchte man, das Qualifikationsniveau aufgrund der gestiegenen Ansprüche an die Kompetenzen der Arbeiter/-innen und Angestellten (bzw. der starken Erwartung eines solchen Anstiegs in der Zukunft, Maillard/Rose 2007, 10) zu erreichen. Bildungspolitisch wurde das Ziel ausgegeben, die Abiturrate zu steigern, um international wettbewerbsfähig zu bleiben. Dadurch entstand neben dem arbeitsmarktpolitischen Fokus auf die Qualifizierung eine Berechtigungsorientierung (Hörner 1996, 96 ff.; Romani/Werquin 1999, 192 f.; Ott 2015, 153 f.). Dementsprechend umfasste das Bac Pro neben einer Qualifikation zum direkten Einstieg in den Arbeitsmarkt eine Hochschulzugangsberechtigung. Seit einem Gesetz aus dem Jahre 1987 bot das Bac Pro einen Anschluss an ein CAP oder BEP (Hörner 1996, 96; Greinert 1999, 73; Kirsch 2005, 7; Zettelmeier 2005a, 19; Kirsch 2006, 97 f.; Bernhard 2017, 310). Das hieß, dass CAP- und BEP-Abschlüsse nicht mehr in Bildungssackgassen führten (Bouyx 1997, 4; Lattard 1999, 124; Maillard 2007a, 38 f.; Ott/Deißinger 2010, 499). Zur Förderung der Apprentissage erhöhte man den Anteil des Schulunterrichts, der nun für einen CAP-Abschluss 400 Stunden pro Jahr betrug. Im Sinne einer Flexibilisierung sah das Gesetz eine variable Lehrzeit von zwischen einem und drei Jahren vor. Hinsichtlich der Lehrerausbildung und der pädagogischen Eignung der Ausbildenden in den Betrieben wurden verschiedene Verbesserungsmaßnahmen ergriffen (Zettelmeier 2005a, 20 f.). Das Bac Pro erhielt eine formale Gleichstellung mit dem allgemeinen und technischen Abitur (Kirsch 2005, 7; Zettelmeier 2005a, 19; Kirsch 2006, 97 f.). Einen beruflichen Ausbildungsgang nominell mit dem prestigereichen Baccalauréat-Abschluss zu verbinden, war mehr als ungewöhnlich: Die Wörter „beruflich“ und „Abitur“ zu assoziieren, kam in der französischen Mentalität einem Paradoxon gleich (Vuillet/Siciliano 2003, 9; Deißinger et al. 2011, 407; Ott 2015, 141).

Innovativ war auch die feste Integration von betrieblichen Ausbildungsphasen in den Lehrplan des beruflichen Abiturs. Zudem wurde ein Bezugsrahmen für die Curricula konstruiert, der tätigkeitsbezogene Kompetenzziele definierte (Kirsch 2006, 98). Bei der Entwicklung dieses Bezugsrahmens waren unter anderem die Sozialpartner/-innen beteiligt, die so an Einfluss auf die berufliche Bildung gewannen. Man führte Tätigkeitsanalysen durch und entwickelte daraus Arbeitsplatzprofile (Eckert/Veneau 2000, 33 f.; Troger 2004, 17). Die Übertragung in Niveaustufen nahm das Schema aus dem Jahre 1969 (s. Abschnitt 3.2.2.3.2.3) als Fundament (Bouder/Kirsch 2007, 504 ff.; Ott/Deißinger 2010, 506). Verwendung fanden die ermittelten Profile nicht nur im Rahmen der Lehrplangestaltung und Zertifizierung im schulischen Bereich, sondern auch für die Zertifizierung außerschulisch erworbener Fähigkeiten (Kirsch 2006, 99). Dies wird in der Literatur als bemerkenswert beurteilt, weil sich dahinter eine Hinwendung zur Outcome-Orientierung verbarg. Sie ergänzte fortan den zuvor ausschließlich auf Lerninhalte und formale Lernwege gerichteten Fokus (Troger 2004, 17; Kirsch 2006, 99; Bouder/Kirsch 2008, 4; Ott 2015, 21, 141, 143, 423). Dadurch waren nun auch außerschulische Lernwege anschlussfähig und eine weitere Diversifizierung der beruflichen Bildung eingeläutet. Die Zertifizierung informeller Kompetenzen war prinzipiell seit 1992 möglich, was Ott als eine „definitive Abkopplung von Ausbildung und Zertifizierung“ bezeichnet (Ott 2015, 142; vgl. auch Maillard 2007b, 92 f.; Ott/Deißinger 2010, 506). Für Kirsch war hierbei das Jahr 2002 zentral, in dem die Zertifizierung nicht auf formalem Weg erworbener Kompetenzen gesetzlich in einem größeren Umfang erlaubt wurde. War es zuvor nur möglich, solche Kompetenzen als Ausbildungsteil anrechnen zu lassen, so konnte man seit 2002 unabhängig vom Ausbildungsweg ein Abschlusszertifikat für non-formal erlangte Kompetenzen bekommen (Kirsch 2006, 103). Auch andere Autor/-innen sehen in diesem Gesetz eine bemerkenswerte Zäsur, begründen dies aber mit der Hinwendung zu einem Ansatz, bei dem die Kompetenzen des Individuums im Mittelpunkt stehen und nicht das normierte Ausbildungsangebot bzw. die gewählten Ausbildungswege (OECD 2003, 7; Bouder/Kirsch 2007, 508; 2008, 3; Ott 2015, 142). Damit Hand in Hand ging die Ersetzung der Commission technique d’homologation des titres et diplômes de l’enseignement technologique durch die Commission nationale de certification professionnelle. Ihre Aufgabe sollte unter anderem die Verbesserung der Anrechnung von Vorkenntnissen sein (Bouder/Kirsch 2007, 507; Ott/Deißinger 2010, 507). Auch im Hochschulbereich lassen sich über spezielle Verfahren berufliche Kompetenzen anrechnen (Bernhard 2017, 23).

1989 legte die Regierung im „Orientierungsgesetz über die Bildung“ das Ziel fest, mindestens 80 % eines Jahrgangs zum Abitur führen zu wollen (s. hierzu Abschnitt 3.2.2.3.1.4; Hörner 1996, 86; Maillard 2007a, 38; Ott/Deißinger 2010, 500; Ott 2015, 140). Mithilfe des neu geschaffenen Bac Pro kam man diesem Ziel schnell nahe – auf Kosten der beruflichen Ausbildung auf CAP- bzw. BEP-Niveau, denn seither besitzt die Mehrheit der Bevölkerung ein Abitur- oder Hochschulzertifikat, und für diejenigen ohne Abschluss ist es am Arbeitsmarkt ungleich schwerer geworden, eine Stelle zu finden (Maillard/Rose 2007, 10).

Laut Brucy und Troger war es der neuen Politik der Annäherung von Schule und Betrieb nicht gelungen, die traditionelle Hierarchie zu überwinden. Nach wie vor ließ sich an den Bildungspraktiken und ihrer Validierung erkennen, dass es das abstrakte Denkvermögen war, das darüber entschied, wie hoch der einzelne in der Bildungshierarchie klettern konnte. Beim CAP zählten eher praktische Kompetenzen, wohingegen das Bac Pro „les savoirs académiques les plus abstraits“ betonte und belohnte, also möglichst abstraktes, akademisches Wissen. Die Betriebspraktika wurden eher als wichtige Einführungszeit angesehen denn als bildungswichtige Phase (Brucy/Troger 2000, 17). Die Kompetenzstandards wiesen einen harten Kern theoretischen Wissens auf, der die Bildungspraktiken in der beruflichen Bildung bestimmte, wodurch das Erfahrungswissen an Wertigkeit einbüßte (Lechaux 1995, 66 f.; Brucy/Troger 2000, 17). Durch die Anpassung des beruflichen Gymnasiums (Lycée professionnel) an das akademische Modell wurde das berufliche Wissen aus der Schule verdrängt (Brucy/Troger 2000, 17). Die soziale Kluft vertiefte sich mit der dringlicher werdenden Frage, „was aus den verbleibenden 20 % der Jugendlichen wird, wenn bis zu 80 % eines Jahrgangs bis auf Abiturniveau kommen sollen“ (Hörner 1996, 98). – Sie waren Leidtragende einer Negativselektion, die die Facharbeiterausbildung immer stärker durchzog und das Risiko der „Polarisierung“ und „Marginalisierung“ der Facharbeiterausbildung barg (Hörner 1996, 98).

In den 1990er und 2000er Jahren setzte sich die Diversifizierung der beruflichen Bildung aufgrund weiterer Reformen fort. Ein Gesetz aus dem Jahre 1992 gestattete es Institutionen der öffentlichen Verwaltung, Lehrlinge auszubilden. 1993 war es das ‚Fünfjahresgesetz für Arbeit, Beschäftigung und berufliche Bildung‘, das auf Ebene der Steuerung beruflicher Bildung einer signifikanten und nachhaltigen Veränderung Raum machte: Die Regionen übernahmen die Koordination der Ausgestaltung beruflicher Bildung, unter der Auflage, regionale Entwicklungspläne zu erstellen. Die Folge war eine weitere Diversifizierung der beruflichen Bildung, da die einzelnen Regionen unterschiedliche Wege gingen. So variierte beispielsweise die Bedeutung bzw. Förderung der betrieblichen Ausbildung gegenüber der schulischen (Zettelmeier 2005a, 21).

Zur Jahrhundertwende führte die Feststellung, dass die betriebliche Lehre für einige Berufe das adäquateste Modell abgab, das nicht einfach durch schulischen Unterricht ersetzt werden konnte, zur Modernisierung und Aufbesserung der Apprentissage (Kirsch 2006, 97), die vor allem auf Berufe im Handwerk und im spezialisierten Einzelhandel vorbereitete (Lüsebrink 2018, 122). Man beschloss die Einführung des Labels Lycée de métiers für Bildungseinrichtungen, die aktive Kooperationen mit Unternehmen unterhielten. Es sollte einen Anreiz schaffen, technische und berufliche Ausbildungen institutionell zusammenzuführen (Zettelmeier 2005a, 23; Ott 2015, 161 f.; EduSCOL 2019d). Hiervon erhoffte man sich mehr Flexibilität, Synergieeffekte und eine rationellere Mittelverwendung (Zettelmeier 2005a, 23; vgl. ausführlich Bernhard 2017, 371 ff.).

1999 dehnte man die berufliche Bildung mit der Implementierung des beruflichen Bachelorabschlusses (Licence professionnelle) auf die Universität aus. Im Gegensatz zu den allgemeinen Licence-Abschlüssen wurde er als berufsqualifizierender Studiengang, der Kooperationen mit Unternehmen einschloss, entworfen (Calmand et al. 2014, 539).

Seit 2009/2010 mündet neben dem CAP und BEP im Anschluss an die Pflichtschule ein direkter dreijähriger Ausbildungsweg in das Bac Pro, was eine Reduktion der Ausbildungsdauer des Bac Pro-Abschlusses von 2+2 Jahren auf 3 Jahre bedeutete (vgl. Ott 2015, 165). Ein vorhergehender beruflicher Abschluss ist seitdem nicht mehr notwendig, womit das Bac Pro sich den anderen Abituren angeglichen hat und von seinem ursprünglichen Weiterbildungscharakter abgewichen ist (Hörner/Many 2017, 247). Gleichzeitig besagte die neue Regelung, dass das BEP kein „eigenständiger Berufsabschluss“ mehr war, sondern eine Zusatzoption, die man auf dem Weg zum Bac Pro nutzen konnte (Bernhard 2017, 309). Wer während seiner Apprentissage gute Leistungen erbringt, hat mittlerweile also die Möglichkeit, die Hochschulreife zu erwerben (Berger 2011, 26).

Problematisch ist dabei, dass die erhöhte und mittlerweile zumindest formal vergleichsweise sehr große Durchlässigkeit der ursprünglich klar getrennten beruflichen und allgemeinen Bildungswege die Abschlüsse der nicht-tertiären beruflichen Bildung abwertet. Es ist im Rahmen der beruflichen Bildung von einer „fast schon magischen Fixierung auf das Baccalauréat mit seiner doppel-qualifizierenden Befähigung“ die Rede (Kempf 2007, 400; vgl. auch Berger 2011, 26). Sie korrespondiert mit der oben beschriebenen, traditionell in der französischen Kultur tief verwurzelten Haltung, die dem Abitur an sich einen übergroßen Stellenwert beimisst.

Auffallend ist der geringe Erfolg von Bac Pro-Inhaber/-innen an den Universitäten und technischen Hochschulen, wo systematisch sehr viel weniger von ihnen einen Abschluss schaffen als Absolvent/-innen anderer Abiturarten. Die formale Durchlässigkeit setzt sich dadurch in der Realität nur in begrenztem Umfang durch (Bernhard 2017, 304 f.; vgl. auch Lemaire 2012; Péan 2012). Obwohl die Durchfallquote der Absolvent/-innen des beruflichen Abiturs, die ihren Schulweg fortsetzen, insgesamt knapp 95 % beträgt, versucht ein Drittel von ihnen, einen höheren Bildungsabschluss zu erreichen. Insbesondere auf universitärem Niveau scheitern viele. Am STS liegt die Erfolgsquote laut Zahlen aus dem Jahr 2016 zwar höher, übersteigt aber nicht 60 % (Legoupil 2018, 7).

Ott veranschaulicht schematisch das aktuelle Schulwesen der beruflichen Bildung als Teil des gesamten Bildungssystems in Frankreich seit 1985 bzw. 2009/10. Nach dem College sind folgende Wege (Abschlüsse) möglich:

  • Apprentissage (CAP), danach Arbeitsmarkt

  • Apprentissage oder Lycée professionnel (CAP/BEP, Baccalauréat Professionnel), danach Arbeitsmarkt oder Hochschule

  • Lycée (Baccalauréat), danach Hochschule oder, als unkonventioneller Weg, Lycée professionnel.

Zu den Hochschulen zählen die Grandes Ecoles, Universitäten und Fachhochschulen. Am Lycée kann sowohl das technische als auch das allgemeine Abitur abgelegt werden (vgl. Ott 2015, 165).

In einer Übersicht beschreibt das Cedefop aktuelle Reformbemühungen im Bereich der beruflichen Bildung. Es wird demnach weiter versucht, die Qualität der beruflichen Bildung und verwandter Bereiche anzuheben, indem kleinere Anpassungen vorgenommen werden. Zum Beispiel erhalten Start-ups bessere Unterstützung, Betriebspraktika werden genauer geregelt, die Möglichkeiten der Validierung informeller und non-formaler Kompetenzen erfahren eine Verbesserung, bei der Berufs- und Karriereberatung werden Investitionen getätigt und Inhalte werden aktualisiert (Cedefop 2018).

Die Zahl der Lehrlinge, die sich in einer Apprentissage befinden, beläuft sich inzwischen auf 400 000 bis 500 000 (Lüsebrink 2018, 122 f.), wobei das von der Regierung anvisierte Ziel von 500 000 (Cedefop 2008, 15 f.; Ott/Deißinger 2010, 497; Ott 2015, 164) fast erreicht wurde. Wohlgemerkt zählt man hier alle Lernenden der unterschiedlichsten Bildungsniveaustufen der Centres de formation d’apprentis (CFA) mit, die mittlerweile bis zum Master reichen und auch Ingenieurdiplome enthalten (vgl. MENJ 2019c, 5.1). Abbildung 3.6 zeigt den insgesamt über Jahre steigenden Trend der Schüler- bzw. Studierendenzahlen der CFA.

Abbildung 3.6
figure 6

(Datenquelle: MENJ 2019c, 5.1)

Die Entwicklung der Schüler- bzw. Studierendenzahlen der CFA in Frankreich.

Abbildung 3.7
figure 7

(Datenquelle: MENJ 2019c, 5.1)

Die Entwicklung der Auszubildendenzahlen in Frankreich auf CAP/BEP-Niveau.

Auf Niveau V, also CAP- und BEP-Niveau, die der beruflichen Erstausbildung in Deutschland entsprechen, haben sich die Auszubildendenzahlen seit 2014/15 im Bereich um 160.000 eingependelt (MENJ 2019c, 5.1). Die tendenziell seit 2000/01 fallende Entwicklungslinie dieser Zahlen ist in Abbildung 3.7 zu sehen.

Betrachtet man die Altersstruktur der Lernenden der CFA und ihren jeweiligen Anteil an der Gesamtschülerzahl, lässt sich erkennen, dass die meisten 18 Jahre alt sind (7,4 % der Gesamtschülerzahl) und der Anteil der Auszubildenden im Alter von 16 bis 25 Jahren bei 5,1 % der Gesamtschülerzahl liegt (MENJ 2019c, 5.1). Somit bestätigen die Zahlen Zettelmeier, der bezüglich der Alternance-Politik betont:

Es handelt sich hierbei nicht nur um Erstausbildungen strictu sensu, sondern auch um Instrumente zur Nachqualifizierung und Umschulung von Jugendlichen, mit denen der Staat auf immer stärker werdende Eingliederungsprobleme vieler Jugendlichen auf dem Arbeitsmarkt ab dem Ende der 70er-Jahre zu reagieren versucht. (Zettelmeier 2005a, 20)

Im Laufe der Zeit hat sich die berufliche Bildung in Frankreich, nachdem sie erst als Sprungbrett für die unteren Schichten zum Erreichen der nächsthöheren Stufen gut war, zur Bildung jener entwickelt, die die im Schulsystem verlangte Leistung nur in unterdurchschnittlichem Maße zu erbringen imstande waren. Es findet eine „Selektion durch das Scheitern im allgemein bildenden Schulwesen“ statt, wobei der „Deklassierungsprozess“ im Bereich der technologisch-fachlichen Schulen weniger drastisch ausfällt (Troger 2004, 16). Das Bildungsministerium arbeitet mittlerweile seit Jahren daran, die berufliche Bildung attraktiver zu machen. Denn obwohl Umfragen zufolge große Einigkeit darüber herrscht, dass die berufliche Bildung besser für den Arbeitsmarkt vorbereitet als das allgemeinbildende Schulwesen, wird sie nach wie vor von der großen Mehrheit als Bildung derer mit geringem Schulerfolg angesehen (Legoupil 2018, 6). Troger bezeichnet die technisch-fachliche und berufliche Bildung in Frankreich als „Sicherheitsventil des französischen Bildungssystems“. Sie nimmt sich rund der Hälfte derer an, die im Collège mehr oder weniger versagt haben, und versucht, sie zu einem Abschluss zu führen, der ihnen einen Einstieg in den Arbeitsmarkt erlaubt (Troger 2004, 17).

Die Apprentissage konnte erfolgreich revitalisiert werden und sich in bestimmten Wirtschaftsbranchen neu etablieren. Dennoch hat sich in Frankreich keine „Ausbildungskultur“ wie beispielsweise in Deutschland herausgebildet, sodass sich die Betriebe mit der Betreuung der Lehrlinge schwertun und die eigentliche Ausbildung in der Schule stattfindet (Troger 2004, 17).

Generell versuchen Jugendliche, berufliche Bildungswege zu umgehen, obgleich sie häufig bessere Jobchancen bieten, und streben nach hohen akademischen Abschlüssen, die sich oft als „‚brotlose‘ Ausbildungssackgassen erweisen“, weil der Übergang zu adäquaten Stellen am Arbeitsmarkt scheitert. Dort herrscht ein Überangebot an Akademiker/-innen, die in vielen Fällen in Jobs unterkommen, für die sie überqualifiziert sind (d‘Iribarne/d‘Iribarne 1999, 39).

Legoupil resümiert hinsichtlich der Situation der beruflichen Bildung in Frankreich treffend:

The path of vocational education is still considered a fall-back choice in guiding people. It still suffers from a negative image despite the various plans on the subject instituted by the French government. This is a primarily cultural question, which the current policies are aimed at changing. The fact that apprenticeships also exist in vocational education will probably contribute to improving the image of the vocational pathway. (Legoupil 2018, 11)

3.2.2.3.3 Betrachtung der Wirklichkeitsdimensionen (Schritt 2)

Im Folgenden werden behandelte Aspekte der Geschichte analog zum Vorgehen bei der Japan-Analyse mit relevant erscheinenden Aspekten aus Beschreibungen der Unterbereiche, die sich in Anhang 3 (A3.1, A3.2, A3.3, A3.4 und A3.5) befinden, unter den drei Hauptbereichen zusammengeführt. Ziel ist es, die in Frankreich hinsichtlich Meritokratie und beruflicher Bildung angewandte Wertlogik in Korrespondenz mit Strukturen konkret herauszuarbeiten.

3.2.2.3.3.1 Die Wertigkeit beruflicher Bildung gegenüber allgemeiner bzw. akademischer Bildung in Frankreich

Als relativ homogene Kultur, die im Vergleich zu anderen Länder einen geringen Wertepluralismus aufweist (vgl. hierzu Lüsebrink 2018, 234 f.), verfügt die französische Kultur über klare Vorstellungen davon, welcher Art Bildung welche Wertigkeit zuzuschreiben ist.

Historisch prägend und langfristig dominierend erweist sich in Frankreich die Vorstellung der culture générale, also der zweckfreien Allgemeinbildung, die vor allem Intellektualität fördert. Entsprechende Leistungswettbewerbe haben historische Tradition und Intellektuelle nehmen eine wichtige gesellschaftliche Funktion ein (vgl. hierzu Honig 1964, 30+60 f.; Große 2008, 211; Lüsebrink 2018, 211–214). In Bildung und Wirtschaft sind vor allem generalistische, abstrakte Kenntnisse gefragt (Hänsch/Tümmers 1991, 261; Jansen 1995, 111). Die Wertigkeit beruflicher gegenüber allgemeiner Bildung lässt sich an der Unterscheidung zwischen edler, nobler und profaner, niedrigerer Bildung festmachen. Allgemeinbildung wird mit ersterer in Verbindung gebracht, während berufliche Bildung letzterer entspricht. Je tätigkeitsorientierter, konkreter und gegenständlicher vermittelte Inhalte und Kompetenzen sind, desto weniger sind sie wert. Allgemeinbildung wird im Gegensatz zu fachspezifischer Qualifizierung als anspruchsvoller gewertet. Dies gilt vor allem für das Erlernen manueller Fertigkeiten (vgl. hierzu Schneider 1963, 36; Hörner 1979, 208; Saltiel 1979, 11; Lutz 1986, 211; Schriewer 1992, 270 f.; Greinert 1999, 70; Iribarne/Iribarne 1999, 32; Ritzenhofen 2005, 20; Troger 2009, 14; Berger 2015, 466).

Es existiert eine Hierarchie der Bildungsabschlüsse, die fast durchgängig allgemeine Abschlüsse höher einsortiert als berufliche, insbesondere nichtakademische berufliche Abschlüsse (vgl. hierzu Brauns 1998; Kempf 2007, 399 f.; Bernhard 2017, 308 f.). Abschlüsse sind nach französischem Verständnis umso höherwertiger, je allgemeiner und abstrakter die vermittelten Inhalte sind. Deshalb fordert das Bildungssystem, wenn es Leistung fordert, abstrakte, intellektualistische und theoretische Kenntnisse. Nur wer bei dieser Art von Leistungserbringung versagt, widmet sich den anderen, vermeintlich einfacheren Inhalten der beruflichen Bildung (vgl. hierzu Lutz 1986, 211; Hänsch/Tümmers 1991, 261+272; Iribarne/Iribarne 1999, 32 f.; Troger 2004, 17; Ritzenhofen 2005, 19; Troger, 2009, 10 ff.; 2015, 415; Bernhard 2017, 308). Ausnahmen stellen die Grandes écoles, die STS und die IUT dar. Wem die Aufnahme an einer der Elitehochschulen gelungen ist, der hat seine intellektuellen Fähigkeiten nachgewiesen, sodass das Studium durchaus praxisnahe Elemente beinhalten kann, ohne mit der im Allgemeinen praktizierten Logik des Primats der Allgemeinbildung zu brechen (vgl. hierzu Barsoux/Lawrence 1991, 63; Iribarne/Iribarne 1999, 33). Die STS und IUT erhalten in jüngster Vergangenheit immer mehr Zulauf, da die Universitäten gesetzlich zur Aufnahme aller Bewerber/-innen verpflichtet sind, die ein Abitur in der Tasche haben. STS und IUT selektieren beim Zugang und werden dadurch als hochwertiger empfunden. Allerdings wechseln ambitionierte Studierende nach Abschluss eines Studiums auf Bachelorniveau auf die allgemeiner orientierten Universitäten, um dort einen Master abzulegen (vgl. hierzu Iribarne/Iribarne 1999, 38; Giret 2011, 246; Bernhard 2017, 315).

Strukturell findet die Hochachtung der Allgemeinbildung im Gegensatz zur geringgeschätzten beruflichen Bildung ihre Entsprechung im Aufbau des französischen Bildungswesens. Lediglich für die Zeit der Zünfte und die Phase der Institutionalisierung ist anzunehmen, dass die berufliche Bildung eine gewisse Wertschätzung genoss, weil sie einen Bildungsabschluss mit einem bestimmten Niveau anbot und nur wenige das Abitur erlangten (s. hierzu Abschnitt 3.2.2.3.2.1 und 3.2.2.3.2.2). Lange Zeit hielt sich eine klare Trennung zwischen allgemeinbildenden und beruflichen Bildungszweigen (Iribarne/Iribarne 1999, 27). Doch schon bald machten Lehrkräfte beruflicher Schulen, die ursprünglich aus dem allgemeinbildenden Bereich stammten, ihren Einfluss geltend und glichen die Curricula der beruflichen Bildung aus Standesdünkel an das allgemeine Sekundarschulwesen an (Schriewer 1982, 255; Brucy/Troger 2000, 13). Das Ansinnen, mehr Chancengleichheit und eine weniger scharfe Selektion zu implementieren, generierte eine größere Durchlässigkeit und eine weitere Anpassung der beruflichen Bildung an die allgemeine. Da die allgemein und intellektuell orientierte Bildung die Bildung der Elite war, die die besten Karriereperspektiven eröffnete, bedeutete die Förderung von Chancengleichheit die Öffnung dieser Art der Bildung bzw. die Schaffung von Anschlüssen der Bildung der Masse, nämlich der beruflichen Bildung, an die elitäre. Bereits relativ früh in der Schulgeschichte war die Antwort auf Rufe aus der Wirtschaft nach spezialisierter Bildung die Integration von entsprechenden Kursen ins allgemeinbildende System. Fokus war und blieb die Vermittlung einer soliden Basis der intellektuellen und moralischen Erziehung, die keinen Berufsbezug aufwies. Bei genuin eher berufsorientierten, meist technischen Bildungsgängen fand, sofern möglich, eine Intellektualisierung und Theoretisierung der Curricula statt, bei der Inhalte auf ein möglichst allgemeines, abstraktes Niveau gehoben wurden, während insgesamt mehr und mehr berufs- und praxisorientierte Aspekte und Lernziele in den Bildungsplänen der beruflichen Bildung durch allgemeinbildende Elemente ersetzt wurden (vgl. hierzu Honig 1964, 38 f.; Leon/Chassignat 1976, 88 f.; Lutz 1986, 205 ff.; Schriewer 1992, 254; Campinos-Dubernet 1998; Greinert 1999, 70 f.; Iribarne/Iribarne 1999, 37; Kirsch 2006, 93 ff.).

Die große Kluft zwischen den Erfordernissen im Berufsleben und den in der Schule gelehrten Curricula verursachte im weiteren Verlauf die Integration mehr praxisorientierter Elemente ins Bildungssystem. Allerdings blieb diese Tendenz in gewissen Schranken und scheint kaum etwas an der kulturell und historisch tradierten Einstellung gegenüber allgemeiner und beruflicher bzw. praxisorientierter Bildung sowie den Inhalten der Unterrichtswirklichkeit geändert zu haben. Beispielsweise wurde die berufliche Licence neu eingeführt, die sich gegenüber der allgemeinen Licence durch Praxisphasen und Partnerschaften mit Unternehmen auszeichnete. Konzipiert war sie als Alternative für Studierende des allgemeinen Typs, die sich während des Studiums für einen früheren Eintritt in den Arbeitsmarkt entschieden. In der Realität wird der berufliche Bachelor jedoch vor allem von Studierenden der Kurzstudiengänge wie STS und IUT nachgefragt, die ihn nutzen, um einen höheren Bildungsabschluss zu erreichen. Lehrpersonen betrachten die neuen, praxisorientierten Inhalte von Bildungsplänen als Unterrichtsstoff unter ihrer Würde. Maßnahmen, durch Berufsorientierungsangebote oder Betriebspraktika mehr Nähe zur Wirtschaft zu schaffen, beziehen sich kaum auf qualifikatorische Aspekte, sondern vielmehr auf individuelle Karrieren und individuelles Erleben (vgl. hierzu Lechaux 1995, 55; Brucy/Troger 2000, 17; Kempf 2007, 411; Berger 2011, 26; Giret/Guégnard/Michot 2011, 111 f.; Calmand/Giret/Guégnard 2014, 536–539; Berger 2015, 140+358 f.+372 f.; 2016, 166; EduSCOL 2019b).

Hinsichtlich der in Abschluss- oder Zugangsprüfungen abgefragten Kompetenzen konzentriert man sich, je höher der hierarchische Rang des Bildungsgangs, desto mehr, auf abstrakte, theoretische Fähigkeiten. An ihnen wird die Begabung der Prüflinge als entscheidender Indikator der Leistungsfähigkeit abgelesen (Iribarne/Iribarne 1999, 33).

Generell haben vollzeitschulische Bildungsgänge einen höheren Stellenwert als alternierende (Berger 2015, 328 f.; Ott 2015, 407 f.+421). Akademische Abschlüsse werden höher gewertet als nicht-akademische, unter anderem, weil sie eine kürzere Dauer aufweisen (vgl. hierzu Bernhard 2017, 323).

Die Logik des französischen Bildungssystems folgt zuvörderst der Karrierisierungsfunktion, die mit allgemeiner und akademischer Bildung verbunden ist, nicht der Qualifizierungsfunktion, der es um die Vermittlung beruflich benötigter Kompetenzen geht. Dadurch kommt der beruflichen Bildung ein untergeordneter Platz im französischen Bildungsgefüge zu (vgl. hierzu Ott/Deißinger 2010, 500; Deißinger/Heine/Ott 2011, 407). Dies zeigt sich beispielsweise in der gesetzlich formulierten Zielsetzung, 80 % eines Jahrgangs zum Abitur führen zu wollen (MENR 2004).

Obwohl sich der Staat im Gegensatz zu den Unternehmen sehr stark in der Verantwortung für die Gestaltung des Bildungswesens sieht (Lattard 1999, 120; Hörner/Many 2017, 235), zu dem auch die berufliche Bildung zählt, hat er sie lange wie ein Stiefkind behandelt. Er reüssiert bislang nicht nachhaltig darin, den Status der beruflichen Bildung anzuheben, um die Probleme zu entschärfen, die als Folge ihrer marginalisierten Rolle aufgetreten sind (s. hierzu Abschnitt 3.2.2.3.2; Iribarne/Iribarne 1999, 39; Lattard 1999, 123; Brucy/Troger 2000, 17; Troger 2004, 16; Kempf 2007, 400+411; Berger 2011, 26; Bernhard 2017, 304 f.; Centre Inffo 2018, 6+11). Wegen des Anschlusses der beruflichen Bildung an das Bildungsministerium anstelle des Handelsministeriums hat sie sich langfristig betrachtet eher von der Wirtschaft entfernt als angenähert (vgl. hierzu Schriewer 1982, 260; 1992, 253; Greinert 1999, 69 f.). Durch die Übertragung einiger Kompetenzen an die Regionen bezüglich der Ausgestaltung der Apprentissage und den verstärkten Einbezug von Stakeholdern der beruflichen Bildung bei der Curriculaentwicklung konnten diese besser auf regionale Spezifitäten abgestimmt werden (Kirsch 2006, 96 f.; Cedefop 2008, 20+44; 2016, 4; Eurydice 2018/19, 2.7). Um die berufliche Bildung aufzuwerten, wurde die Berufsbildung in der Vergangenheit verstärkt akademisiert bzw. formal und inhaltlich anschlussfähig an die allgemeinere, „höhere“ Bildung gemacht (s. hierzu Abschnitt 3.2.2.3.2; Brucy/Troger 2000, 17; Ott 2015; Bernhard 2017). Dadurch verschob sich ihre Funktion von der qualifikatorischen Berufsvorbereitung zur Vorbereitung auf einen möglichst hohen Bildungsabschluss (vgl. hierzu Kirsch 2006, 95; Centre Inffo 2018, 7). Nichtsdestoweniger sind die Durchfallquoten der Absolvent/-innen des beruflichen Abiturs an den Universitäten und anderen Hochschulen desaströs (vgl. hierzu Bernhard 2017, 304 f.; Centre Inffo 2018, 7). Die beruflichen Hochschulstudien stellen für viele nur eine Brücke zum universitären Master dar (Giret 2011, 246; Giret/Guégnard/Michot 2011, 112), und die berufliche Bildung auf Sekundarstufenniveau führt weiterhin ein Schattendasein. Die steigenden Zahlen bei der Apprentissage sind größtenteils auf kompensatorische Effekte zurückzuführen und stehen nicht für eine echte und umfassende Besserstellung beruflicher gegenüber allgemeiner Bildung (vgl. hierzu Brucy/Troger 2000, 19; Ott 2015, 163 f.+226+420). Abschlüsse der nicht-tertiären beruflichen Bildung besitzen aufgrund der Inflation der Hochschulabschlüsse und des daraus resultierenden Überangebots an Akademiker/-innen eine geringe Wertigkeit (Iribarne/Iribarne 1999, 39; Kempf 2007, 400).

3.2.2.3.3.2 Die Definition und Bewertung von Leistung im französischen Bildungssystem

Die Definition und Bewertung von Leistung im französischen Bildungswesen hat sich wiederholt geändert. Insbesondere variierte die hierarchische Eingliederung bzw. Betonung bestimmter Fächer, deren Leistungsnachweise mehr zählten als die anderer Fächer (vgl. hierzu zum Beispiel Troger 2009, 10 ff.; Berger 2015, 466). Aktuell sind es mathematisch-naturwissenschaftliche Fähigkeiten, über die die Bewertung der Leistungsfähigkeit im Bildungssystem hauptsächlich stattfindet (vgl. hierzu zum Beispiel Kempf 2007, 407). Aber auch die in der Tradition des humanistischen Bildungsideals zentralen Geisteswissenschaften, die lange das Bildungssystem beherrschten, erfreuen sich eines hohen Stellenwerts (vgl. hierzu Berger 2015, 466; Lüsebrink 2018, 231). Überdies hebt der Unterricht die für die französische Kultur wichtigen Aspekte des Geschichtsbewusstseins und des Staatsbürgertums hervor (Ritzenhofen 2005, 20; Lüsebrink 2018, 232). Was immer erhalten blieb, war die Basis der Leistungsdefinition, die die verschiedentlich betonten Hauptfächer verband und großteils schon in den Jesuitenkollegs des 17. und 18. Jahrhunderts praktiziert wurde. Sie bestand und besteht in generalistischen, universellen, abstrakten, theoretischen, intellektuellen Inhalten und Denkweisen. Gute Leistung bedeutet, losgelöst vom Gegenständlich-Konkreten in der Lage zu sein, Synthesen zu erzeugen, Gedanken in eine logische Abfolge zu bringen und dabei bestimmte Regeln zu beachten sowie eine gehobene Ausdrucksweise zu pflegen. Den Fähigkeiten des Problemlösens, des autonomen Denkens und der Urteilsbildung kommt wesentliche Bedeutung zu (vgl. hierzu zum Beispiel Honig 1964, 30; Stephan 1978, 148; Saltiel 1979, 11; Hänsch/Tümmers 1991, 261; Schriewer 1992, 254+270 f.; Brauns 1998, 87; Greinert 1999, 70; Große 2008, 211+229 f.). Spezialisierung ist durchaus geachtet, jedoch nicht im berufsfachlichen Sinne, sondern im Sinne von Kompetenzen in Bezug auf Spezialgebiete aus dem Feld der Allgemeinbildung (vgl. hierzu Lüsebrink 2018, 211 ff.).

Ein wichtiger Teil der französischen Leistungsdefinition ist das Talent, denn die französische Kultur begreift es als Zeichen mangelnder Begabung, wenn sich jemand sehr anstrengen muss, um etwas zu erreichen (vgl. hierzu Iribarne/Iribarne 1999, 33; Hildebrand 2000, 196; Bourdieu 2001, 40+60). Entsprechend wird bei der Leistungsbewertung darauf geachtet, wie virtuos die Leistung erbracht wird und inwiefern sie merklich durch Techniken angelerntes Wissen darstellt. Dennoch sind auch ein umfangreiches Allgemeinwissen und die Fähigkeit, formale Regeln einzuhalten, Teile der französischen Definition guter Leistung bzw. großer Leistungsfähigkeit, und exzessives Büffeln und Pauken gehören zur Tradition (vgl. hierzu Honig 1964, 43 f.; Hörner 1979, 210 ff.; Bourdieu 2001, 64–69; Froehlich 2004, 43; Große 2008, 199; Berger 2015, 466). Letzteres erklärt sich aus der engen Verknüpfung von Bildungszertifikaten, die ein bestimmtes Wissens- und Leistungsniveau bestätigen, mit dem sozialen Status und den beruflichen Zukunftsperspektiven (vgl. hierzu zum Beispiel Czerwenka 1990, 857–860; Hörner/Many 2017, 233). Eine weitere Begründung besteht darin, dass im modernen Frankreich ein Zusammenführen zweier ideeller Hierarchien, nämlich jener des Talents und jener des Wissens, stattgefunden hat (Iribarne/Iribarne 1999, 28).

Aus der Definition guter Leistung ausgeschlossen ist körperliche Arbeit (was nicht auf Sonderbereich der Künste übertragbar ist). Hochwertige Leistung steht in Zusammenhang mit geistiger Arbeit (vgl. hierzu Iribarne/Iribarne 1999, 28).

Zieht man Bourdieus Attribute einer guten Leistung nach französischer Auffassung heran, so zeugt eine gute Leistung von Kultiviertheit, Distinguiertheit, Lebhaftigkeit, Originalität, Feinheit, Eleganz, Überdurchschnittlichkeit (Bourdieu 2001, 186). Mangelt es jemandem an diesen Eigenschaften, die durch einen bestimmten Tonfall, Geschmack oder eine schlüssige Beurteilung von Sachverhalten transportiert werden, setzt man dies leicht mit moralischer Unzulänglichkeit gleich (vgl. Bourdieu 2001, 68 f.).

Die in Frankreich etablierte Bewertungsgrundlage guter Leistung lässt sich mit der Differenz fassen, die zwischen einerseits beruflichen, tätigkeitsorientierten Inhalten und Fähigkeiten und andererseits allgemeinen, universellen Inhalten und Kompetenzen besteht. Man kann sie an den Anforderungen von Bildungsgängen im Verhältnis zu ihrem hierarchischen Rang ablesen. Unten angesiedelt sind berufliche Bildungszweige und Bildungstypen mit praxisbezogenen Lernzielen, die für als leistungsschwach kategorisierte Schüler/-innen vorgesehen sind. Oben rangieren allgemeinbildende Bildungsgänge mit abstrakt-theoretischen Lernzielen, die als leistungsstark klassifizierte Schüler/-innen besuchen (vgl. hierzu zum Beispiel Hörner 1994, 288; Brauns 1998; Iribarne/Iribarne 1999; Kempf 2007, 399 f.; Bernhard 2017, 308 f.). In der Regel klammert man konkrete, berufsbezogene Inhalte weitgehend aus den Lehrplänen aus, wenn man etwas auf seinen Studiengang und dessen Abschluss hält. Ein Beispiel hierfür ist die starke Vernachlässigung pädagogischer Lehrveranstaltungen im Lehramtsstudium (vgl. hierzu Schneider 1963, 38 ff.; Iribarne/Iribarne 1999, 32; Bourdieu/Passeron 2007; Michaut 2012, 53).

Bemühungen zur Aufwertung der beruflichen Bildung beinhalten meist Maßnahmen, die sie an das allgemeinbildende Bildungswesen anpassen (vgl. hierzu Campinos-Dubernet 1998; Iribarne/Iribarne 1999, 37; Kirsch 2006, 93 f.). Ausnahme bilden manche Grandes écoles, die vergleichsweise praxisbezogen unterrichten. Die besonders hohe Wertigkeit ihrer Abschlüsse ergibt sich aus den überaus anspruchsvollen Zugangsprüfungen, die alles andere als dafür bekannt sind, tätigkeitsorientierte Kompetenzen abzuprüfen (vgl. hierzu Barsoux/Lawrence 1991, 63; Iribarne/Iribarne 1999, 33; Kempf 2007, 411; Lüsebrink 2018, 131). In diesen Prüfungen versuchen sich die leistungsfähigsten Jugendlichen des Landes zu beweisen, indem sie ihr Allgemeinwissen, ihre sprachlichen und rhetorischen Kompetenzen und ihre intellektuellen Fähigkeiten demonstrieren (vgl. hierzu Kempf 2007, 411; Lüsebrink 2018, 131). Bei den allgemeinen und technischen Abiturprüfungen stehen allgemeine Fächer und Fähigkeiten im Mittelpunkt. Besonders wichtig scheinen sprachliche und analytische Fähigkeiten zu sein. Die Prüfungen werden zentral gesteuert; Inhalte und Termine vom Bildungsministerium vorgegeben (Französische Botschaft in Berlin 2018a; MENJ 2019b). Für den Erhalt der Mittleren Reife müssen ebenfalls hauptsächlich allgemeine Kenntnisse und Fähigkeiten unter Beweis gestellt werden (vgl. hierzu EduSCOL 2018a). Selbst in der beruflichen Bildung ist von einer Akademisierung der Prüfungsinhalte die Rede (vgl. hierzu Kirsch 2006, 93 f.).

Nach der Logik der französischen Gesellschaft zeigt der soziale Rang einer Person ihre Leistungsfähigkeit an. Er bestimmt sich aus den Nachweisen der Leistungsfähigkeit, nämlich Bildungszertifikaten, und wird mit der Wertigkeit einer Person assoziiert. Somit enthalten Bildungstitel eine symbolische Wertdimension (vgl. hierzu Iribarne/Iribarne 1999, 28; Troger 2009, 12). Zentrale Bedeutung hat das Abitur „als Kristallisationspunkt sozialer Positionsbestimmung“ (Hörner 1994, 288).

Wesentlich ist nicht nur das formale Niveau des höchsten Bildungsabschlusses, sondern auch die Einordnung des Abschlusses in die informelle Hierarchie, bei der die Art, und innerhalb der Art auch das Prestige der konkreten Bildungsinstitution, die besucht wurde, eine Rolle spielen (vgl. hierzu zum Beispiel Iribarne/Iribarne 1999, 34 f.; Ritzenhofen 2005, 17; Kempf 2007, 406 f.).

3.2.2.3.3.3 Das Verhältnis von beruflicher Bildung und Beschäftigungswesen in Frankreich

Will man das Verhältnis von beruflicher Bildung und Beschäftigungswesen in Frankreich verstehen, muss man die Beziehung zwischen beruflicher Bildung und allgemeiner Bildung und zwischen dem Bildungssystem als Ganzem und der Wirtschaft berücksichtigen.

Da Bildung, und darin eingeschlossen berufliche Bildung, historisch bedingt als Angelegenheit des Staats verstanden wird, engagieren sich Unternehmen kaum im Bildungsbereich (vgl. hierzu zum Beispiel Iribarne/Iribarne 1999, 32; Lattard 1999, 120; Bernhard 2017, 311 f.; Hörner/Many 2017, 235; Eurydice 2018/19). Die Regierung überließ zunächst aus liberalistischen Motiven die Berufsausbildung sich selbst bzw. den Unternehmen, hatte jedoch durch das Zunftverbot von 1791 die traditionellen Strukturen der Berufsbildung zerstört, sodass es schwerfiel, sie zu revitalisieren (vgl. hierzu Lutz 1986, 193 f.; Schriewer 1986, 80). Im weiteren Zeitverlauf verstand es die Industrie nicht, die durch den entstandenen Facharbeitermangel hervorgerufenen Probleme geschlossen so nachdrücklich zu artikulieren, dass der Staat in ausreichender Weise darauf reagiert hätte. Vielmehr passten sich die Betriebe an die Gegebenheiten an und lernten ihre Arbeiter/-innen nach ihrer Schullaufbahn am Arbeitsplatz an (vgl. hierzu Lutz 1986, 205 ff.). Aufgrund fortwährender Probleme wie Fachkräftemangel und Jugendarbeitslosigkeit und fehlender Ausbildungsbereitschaft der Unternehmen übernahm der Staat immer mehr das Ruder (vgl. hierzu Abschnitt 3.2.2.3.2). Versuche, die Unternehmen stärker in die Pflicht zu nehmen, scheiterten an ihrer Weigerung, entsprechende Erlasse wie das Astier-Gesetz umzusetzen (Greinert 1999, 68) bzw. sich bei der Entwicklung von Curricula zu engagieren (Brucy/Troger 2000, 13). Unterschiedliche Interessen und Spezifitäten einzelner Regionen, Branchen und Unternehmen mündeten in sehr heterogene Ausbildungspraktiken, die für eine große Intransparenz sorgten. Ein normierendes Eingreifen des Staates wurde notwendig (vgl. hierzu Greinert 1999, 68; Brucy/Troger 2000, 10+13; Brucy 2007, 27; 2008, 30+37; Ott 2015, 131). Auf Seiten der Betriebe nahm nach dem Zweiten Weltkrieg eine handfeste Überforderung mit der Aufgabe, die benötigten Fachkräfte auszubilden, Gestalt an. Resultat war, dass die Arbeitgeber/-innen die Verstaatlichung der beruflichen Bildung befürworteten (Troger 2004, 14). Also baute der Staat die berufliche Bildung als Teil des staatlichen Schulsystems auf (s. hierzu Abschnitt 3.2.2.3.2) und erstellte Normen für das CAP (vgl. hierzu Brucy/Troger 2000, 13; Brucy 2007, 29 f.; Brucy 2008, 39). Aktuell sind die Betriebe nur über die alternierenden Bildungsgänge und Beratungstätigkeiten in die berufliche Bildung eingebunden (vgl. hierzu Kirsch 2006, 96 f.; Cedefop 2008, 20; Bernhard 2017, 318 f.). Allerdings steht das Ansehen rein schulischer Bildungsgänge über dem der alternierenden (vgl. hierzu Ott/Deißinger 2010, 499; Berger 2015, 328 f.; Ott 2015, 407 f.+421), die ja vor allem zur Behebung von Eingliederungsproblemen Jugendlicher am Arbeitsmarkt eingeführt wurden (Zettelmeier 2005a, 20).

Traditionell begreift man Bildung in Frankreich als zweckfrei, sodass berufliche Bildung lange von der allgemeinen separiert und das allgemeine Schulwesen vor dem Einfluss der Wirtschaft geschützt wurde (vgl. hierzu Hörner 1979, 208; Schriewer 1992, 524; Kirsch 2006, 93 ff.; Berger 2015, 466). Argumentativ verteidigte man dieses Vorgehen, das der Wirtschaft nicht unbedingt zuträglich war, sondern sie eher zwang, sich an das Bildungssystem anzupassen, damit, dass Allgemeinbildung Schlüsselkompetenzen zur Verfügung stellte. Das heißt, wer eine gute Allgemeinbildung hat, ist in der Lage, in verschiedenen Situationen flexibel zu reagieren, sich in fremde Sachverhalte einzuarbeiten und unterschiedliche Funktionen im Unternehmen zu bekleiden. Dies wird vor allem in Zeiten, in denen Wissen schnell veraltet und Technologien sich rasch wandeln, als Vorteil einer allgemein ausgerichteten Bildung betrachtet (vgl. hierzu Jansen 1995, 111; Froehlich 2004,  43 f.). Durch die Betonung der Mathematik hat eine gewisse Annäherung des Bildungswesens an die Wirtschaft stattgefunden, da Mathematik in Ingenieurberufen gebraucht wird (Große 2008, 200). Gleichzeitig muss aber auch eine Distanzierung zwischen beruflicher Bildung und Beschäftigungswesen konstatiert werden. Durch die Intellektualisierung und Theoretisierung von Inhalten der beruflichen Bildung sowie die Anpassung und Integration selbiger an und in das allgemeinbildende Schulwesen hat es seine Qualifizierungsfunktion in weiten Teilen eingebüßt (Schriewer 1992, 254; Campinos-Dubernet 1998; Greinert 1999, 70; Iribarne/Iribarne 1999, 33 f.; Kirsch 2006, 93 f.). Die Apprentissage vermag hier eine Ausnahme darzustellen. Aufgrund der Bemühungen um Dezentralisierung, also die Verteilung von Zuständigkeiten für die Apprentissage, und der Hinzunahme von Stakeholdern bei der Erarbeitung von beruflichen Bildungsplänen und Zertifizierungsrahmen wurde der Arbeitswelt bei dieser Ausbildungsart mehr Einfluss zugestanden. Resultat war, dass regional die Berufslehre besser auf die Bedarfe der dortigen Unternehmen abgestimmt wurde (vgl. hierzu Eckert/Veneau 2000, 33 f.; Troger 2004, 17; Zettelmeier 2005a, 20 f.; Kirsch 2006, 97). Finanziell sind Unternehmen dazu verpflichtet, sich an der Berufslehre zu beteiligen, indem sie Löhne an die Auszubildenden zahlen und Ausbildungsabgaben zur Finanzierung der schulischen beruflichen Bildung entrichten (vgl. hierzu Cedefop 2008, 63).

Betrachtet man die beruflichen Gymnasien als Institutionen der beruflichen Bildung, so fällt auf, dass der Unterricht ein Praxisdefizit aufweist (Kempf 2007, 411). Immerhin finden im alternierenden Modell Unternehmenspraktika statt (Centre Inffo 2018, 8). Da sie neben der Qualifizierung für den direkten Arbeitsmarkteinstieg auch diejenige für den Zugang zur Universität und anderen Hochschulen leisten müssen, braucht es einen gewissen allgemeinbildenden Anteil im Lehrplan.

Über die fehlenden Praxisbezüge der Bildungslandschaft Frankreichs beklagt sich die Wirtschaft immer wieder. Sie führen oft zu einer mangelnden Beschäftigungsfähigkeit, die den Übergang vom Bildungssystem an den Arbeitsmerkt erschwert (vgl. hierzu Agulhon 2007; Millet 2012, 69 f.; Calmand/Giret/Guégnard 2014, 438 f.; Bernhard 2017, 310). Auch wenn curriculare Anpassungen vorgenommen worden sind, zeigt die Unterrichtswirklichkeit häufig ein anderes Bild, weil die Lehrkräfte es als unter ihrer Würde empfinden, konkrete, praktische Inhalte zu lehren und starke Vorbehalte gegenüber wirtschaftlichen Themen hegen (Ritzenhofen 2005, 20; Berger 2015, 372 f.; 2016, 166). Zudem zeichnen sich die Annäherungen an die Arbeitswelt nicht unbedingt durch einen Beitrag zur Vermittlung beruflicher Kompetenzen aus. Entsprechende Maßnahmen in Collèges und alternierenden Bildungsgängen haben vielmehr einen Charakter des Kennenlernens des Berufsalltags und der Berufsorientierungshilfe (Brucy/Troger 2000, 17; Berger 2015, 40+358 f.; EduSCOL 2019b).

Somit gelingt es dem französischen Schulsystem kaum, die Schüler/-innen mit beruflichen Kompetenzen im engeren Sinne auszustatten. Es sind die Unternehmen, die sich darum kümmern müssen, ihren Mitarbeiter/-innen das nötige Wissen und die nötigen Fertigkeiten beizubringen, die dann allerdings lediglich betriebsspezifisch ausgerichtet sind. Dass mittlerweile Möglichkeiten eingeräumt werden, außerhalb des formalen Schulwesens erlernte Kompetenzen zertifizieren zu lassen, leistet der Entwicklung Vorschub, die berufs- bzw. tätigkeitsspezifische Ausbildung den Unternehmen zu überlassen. Betriebe sind gesetzlich dazu verpflichtet, ihren Beschäftigten regelmäßig Weiterbildungen zu gewähren und zu finanzieren. Die Lernresultate können sich die Beschäftigten zertifizieren lassen. Damit zeigt sich eine Tendenz, dass sich die eigentliche berufliche Bildung auf den Weiterbildungssektor verlagert (vgl. hierzu Bergmann 1998, 56; Iribarne/Iribarne 1999, 35; Brucy/Troger 2000, 17).

Für Führungspositionen stellen die Betriebe nicht Absolvent/-innen der beruflichen Bildung, sondern Hochschulzertifikatinhaber/-innen ein, weil normalerweise nur die als leistungsschwach etikettierten Schüler/-innen berufliche Bildungsgänge belegen und für höhere Positionen möglichst leistungsstarke Mitarbeiter/-innen rekrutiert werden sollen (vgl. hierzu Brauns 1998; Ritzenhofen 2005, 19; Bernhard 2017, 308 f.). Interne Aufstiege für Absolvent/-innen beruflicher Bildungsgänge inklusive der STS/IUT sind möglich, aber nur in begrenztem Rahmen und nach langer Betriebszugehörigkeit, das heißt nur sehr langsam (s. hierzu Bergmann 1998, 68; Iribarne/Iribarne 1999, 38). Im Allgemeinen haben Bildungsabschlüsse mehr Gewicht als Erfahrungswissen (vgl. hierzu Lück 1992, 181).

Berufspositionen, Arbeitstätigkeiten und Bildungsabschlüsse sind dergestalt verbunden, dass sich bestimmte Hierarchieebenen entsprechen. Wer aufgrund seines Bildungsniveaus eine bestimmte Position erreicht hat, führt auch nur bestimmte Tätigkeiten aus. Berufliche Bildungsabschlüsse, die keine Hochschulabschlüsse sind, führen zu ausführenden Tätigkeiten, die als niedrig angesehen werden. Sie beziehen sich auf einen eng abgesteckten Bereich. Je höher der berufliche Abschluss, desto größer das Einsatzgebiet (vgl. hierzu Lutz 1976, 108; Iribarne/Iribarne 1999, 28; Hildebrand 2000, 74+90; Kempf 2007, 397 f.; Berger 2015, 329; MENJ 2018).

3.2.2.3.4 Einordnung der Ergebnisse in die Schlussfolgerungen aus dem theoretischen Hintergrund (Schritt 3)

Wie bereits bei der Japan-Analyse erfolgt nun auch für Frankreich eine Verknüpfung der gewonnenen Erkenntnisse aus den Hauptbereichen mit den Schlussfolgerungen des theoretischen Bezugsrahmens, wobei, wenn erforderlich, ergänzend Aspekte, die bisher in den Hauptbereichen ausgespart wurden, jetzt aber als Teil der Logik wichtig erscheinen, hinzugefügt werden können. Eine Übersicht über die Schlussfolgerungen ist in Anhang 1 zu finden, die Beschreibungen der Unterbereiche in Anhang 3. Im Folgenden wird für eine Schlussfolgerung aus dem Theorieteil die Abkürzung T verwendet, „HB“ bedeutet „Hauptbereich“.

3.2.2.3.4.1 Kulturbedingte Leistungssozialisation durch das Bildungssystem in Frankreich

Im vorliegenden Abschnitt werden T1 und 2A mit HB1 bis 3 verbunden (s. Anhang 1).

In der vergleichsweise homogenen französischen kulturellen Vorstellung von Bildung dominiert die culture générale. Aus dem Ideal der culture générale leitet sich zum einen ab, welche Inhalte im Bildungssystem vermittelt werden, zum anderen bestimmt es die Kriterien guter Leistung, die für die Selektion verwendet werden (s. hierzu Abschnitt 3.2.2.3.3.1; II.4, T1 und T2A). Von der Politik initiierte Änderungen von Lehrplänen zugunsten von mehr Praxisorientierung haben nicht unbedingt Einfluss auf die Unterrichtsrealität (s. hierzu Abschnitt 3.2.2.3.3.3). Sie vermochten es bislang nicht, die etablierte Werthierarchie zu verändern, die allgemeiner Bildung das Primat vor jeglicher Art von beruflicher Bildung zugesteht (s. hierzu Abschnitt 3.2.2.3.3.1) und von Generation zu Generation über die Umwelt weitergegeben wird (s. hierzu Abschnitt 2.4, T1). Die neu geschaffenen alternierenden Bildungsgänge rangieren statusmäßig unter den schulischen und sind insgesamt nichts anderes als eine schlechtere Art der Allgemeinbildung, die mehr als Brücke zu höheren Bildungsabschlüssen denn zur inhaltlichen Qualifizierung für den Arbeitsmarkt dienen (s. hierzu Abschnitt 3.2.2.3.3.1 und 3.2.2.3.3.3).

In der Vergangenheit standen unterschiedliche Fächer im Vordergrund. Aktuell ist es in erster Linie in die Mathematik, die prägenden Einfluss auf die Definition guter Leistung hat. Außerdem besitzen nach wie vor die Geisteswissenschaften hohe Priorität, vor allem was die exzellente Beherrschung der französischen Sprache und das Literarische anbelangt, außerdem in Sachen Geschichtsbewusstsein und Staatsbürgertum (s. hierzu Abschnitt 3.2.2.3.3.2).

Die Historie des französischen Bildungssystems, wie sie oben umrissen wurde, zeugt von einer hohen Selektivität. Über die Zeit und über verschiedene politische Reformen hinweg ist sie erhalten geblieben, auch wenn sie ihre Form verändert hat. Letztlich findet sie gegenwärtig lediglich in subtilerer Weise statt als zuvor.

Berufliche Bildungsgänge hatten schon zu Beginn der Entwicklung des Schulwesens für die Breite der Bevölkerung die Funktion, den unteren Schichten Bildung angedeihen zu lassen. Schon früh trennten sich die Wege der Elite und der Masse. Ein Anschluss an den allgemeinbildenden Zweig und höhere Bildungsabschlüsse war nicht gegeben. Mit der Einführung des Collège versuchte man, die frühe Selektion zu umschiffen und mehr Chancengleichheit zu erreichen. Jedoch blieben Alternativwege innerhalb der eigentlichen Einheitsschule des Collège in unterschiedlicher Form erhalten, sodass sich die schlechteren Schüler/-innen weiterhin in berufsfachlichen, als minderwertig klassifizierten Bildungsgängen wiederfanden (s. hierzu Abschnitt 3.2.2.3.3.1).

Über die Einführung des beruflichen Abiturs wurde ein Anschluss nach oben geschaffen, der mittlerweile auch Lehrlingen der betrieblichen Berufsbildung offensteht (s. hierzu Abschnitt 3.2.2.3.2.4). Dieses Abitur war und ist aber auch als Abitur gegenüber dem allgemeinen und technischen geringgeschätzt (s. hierzu Abschnitt 3.2.2.3.1.4 und 3.2.2.3.2.4). Im weiteren Verlauf führt es zu beruflichen Studiengängen, wie an den STS und IUT angeboten, die im Gegensatz zu den Universitäten beim Zugang selektieren und dadurch „trotz“ ihres eher beruflichen Charakters relativ angesehen sind. Absolvent/-innen der allgemeinen und technischen Abiture werden hier bevorzugt. Sie nutzen diese Studiengänge in der Regel aber nicht zur Vorbereitung auf den direkten Arbeitsmarkteinstieg, sondern als Brücke zu universitären Masterabschlüssen. An den Universitäten gelingt es den dorthin abgedrängten Inhaber/-innen beruflicher Abiture nur selten, erfolgreich ein Studium abzuschließen. Hier findet die Selektion nicht beim Zugang, sondern durch Zwischenprüfungen statt (s. hierzu Abschnitt 3.2.2.3.3.1). Die Grandes écoles konnten ihre Stellung an der Spitze der Bildungshierarchie seit Generationen verteidigen. Sie sind für Lernende des beruflichen Wegs praktisch unerreichbar und „produzieren“ die Elite des Landes (s. hierzu Abschnitt 3.2.2.3.1.4, 3.2.2.3.3.2).

Der Versuch, die berufliche Bildung attraktiver zu gestalten, um mehr junge Menschen anzuziehen, endete in einer Verallgemeinerung und Akademisierung dieser Bildungsart. Es ist ein Reflex der Politik, auf die Dysfunktionen des Systems, das inhaltlich zu wenig auf das Arbeitsleben vorbereitet, zu reagieren: Man versucht, die berufliche Bildung attraktiver machen, indem sie der allgemeinen angeglichen wird (s. hierzu Abschnitt 3.2.2.3.3.1 und 3.2.2.3.3.3).

Der Abschluss beruflicher Bildungsgänge auf Sekundarstufenniveau verliert durch die Inflation der Bildungszertifikate der „höheren“ Bildung an Wertigkeit. Die politisch erwirkte formale Durchlässigkeit entfaltet in der Realität wenig Wirkung. Berufliche Bildungswege versucht man als Schüler/-in zu umgehen. Sie sind nur die zweite Wahl für eine zweite Chance, im Wettbewerb um die besten Abschlüsse an den angesehensten Institutionen Boden gut zu machen. Auch wenn sie die von der Wirtschaft geforderte und von der Politik forcierte Praxisorientierung besser umsetzen als die allgemeinbildenden Zweige und formal gleichgestellt sind, weisen auch sie zahlreiche allgemeinbildende Inhalte auf und schneiden bei der Beurteilung ihres Werts in der Bevölkerung schlechter ab (s. hierzu Abschnitt 3.2.2.3.3.1). Nur den STS und IUT ist es, wie bereits dargelegt, durch ihre Selektivität gelungen, eine gewisse Akzeptanz zu erreichen.

Das Abrücken vom starren Festhalten an formalen Bildungswegen durch die Möglichkeit der Zertifizierung von Kompetenzen, die auf anderen Wegen erlangt wurden, hat ebenso wenig an der tradierten Werthierarchie der Bildungsabschlüsse gerüttelt wie vorige Versuche, den beruflichen Weg zu stärken (s. hierzu Abschnitt 3.2.2.3.3.3).

Somit hat sich die Selektivität des französischen Bildungssystems nach hinten verlagert, ist aber grundsätzlich erhalten geblieben, weil sich die Bewertung beruflicher gegenüber allgemeiner Bildungstypen insgesamt im Kern nicht gewandelt hat. Die Funktionsweise des gesellschaftlichen Systems ist grundsätzlich nach wie vor dieselbe – es weist die nach französischer Definition weniger Leistungsfähigen der beruflichen Bildung zu und erteilt durch die Allokation zum sozialen und beruflichen Status denjenigen Anerkennung, die möglichst allgemein und universell gebildet sind.

Die Unternehmen leisten ihren Beitrag zur Reproduktion der Werthierarchie durch ihre Beschäftigungs- und Beförderungspolitik, die Absolvent/-innen allgemeiner Studiengänge klar bevorzugt, wenn es um die Verteilung von Führungspositionen geht (s. hierzu Abschnitt 3.2.2.3.3.3).

Schlussendlich lassen sich vier Faktoren nennen, die das System auf Dauer reproduziert:

  1. 1.

    eine ausgeprägte Bildungsorientierung in Verbindung mit kulturellem Selbstbewusstsein, das der französischen Kultur an sich, und damit dem „Kultiviertsein“, einen hohen Stellenwert einräumt. Der Grad des „Kultiviertseins“ ist am Bildungsabschluss ablesbar, d. h. an seiner Höhe und der besuchten Bildungseinrichtung. Er besitzt eine symbolische Wertigkeit, der den sozialen Status sowie die Schichtzugehörigkeit determiniert.

  2. 2.

    eine deutliche Leistungsorientierung (in Zusammenhang mit 1.);

  3. 3.

    die französische Art, Leistung zu definieren;

  4. 4.

    die kulturell bedingten und anerkannten Werte und (allgemeinen) Kompetenzen, die im Schulsystem vermittelt werden.

3.2.2.3.4.2 Widerspiegelung des Bildungsideals und der Leistungsorientierung im Bildungssystem und der institutionellen Landschaft in Frankreich

Im vorliegenden Abschnitt werden T2, T3, T6 und T8 mit HB1 bis 3 verbunden (s. Anhang 1).

Nach den Erkenntnissen aus dem Theoriekapitel ergeben sich Systeme und ihre Strukturen aus dem Zusammenspiel von normativen Vorgaben, evaluativen und kognitiven Orientierungen sowie Akteurkonstellationen (s. hierzu Abschnitt 2.4, T2 und T3). Die spezifischen Strukturen der Bildungsorganisation sind dabei kompatibel mit kollektiven Werthaltungen (s. hierzu Abschnitt 2.4, T6). Diese wiederum kommen im Bildungsideal zum Ausdruck, als einem wichtigen Einflussfaktor für die Ausgestaltung von Bildungsplänen und Lernzielen, die letztlich die spezifizierten Erwartungen der Gesellschaft festhalten (s. hierzu Abschnitt 2.4, T8).

In Bezug auf die berufliche Bildung ist ihre Stellung im Bildungswesen Kennzeichen der ihr entgegengebrachten Wertschätzung. Vorgabe der französischen Kultur ist, dass zweckfreie Allgemeinbildung und Intellektualität gut sind, zweckdienliche Bildung hingegen schlecht(er). Bildungsinhalte, die abstrakt und theoretisch sind, werden als wichtig und wertvoll gewertet, zweckgebundene, auf Arbeitstätigkeiten ausgerichtete Inhalte indessen als geringwertig (s. hierzu Abschnitt 3.2.2.3.3.1 und 3.2.2.3.3.2). Durch das lange währende Verbot der Zünfte wurden wichtige Akteurinnen der beruflichen Bildung aus dem Spiel genommen. Den Unternehmen gelang es nicht, ihren Platz einzunehmen, und der Staat brauchte lange, bis er eingriff. Letzteres ist durch eine liberale Haltung zu begründen und durch die Einstellung, dass diese Art der Bildung (der unteren Schichten) unter der Würde der nationalen Bildung sei. Dass der Staat sich der beruflichen Bildung schließlich doch annahm, ist als Folge von systemischen Dysfunktionen zu sehen, die sich beispielsweise darin zeigt, dass der Wirtschaft qualifizierte Arbeitskräfte fehlten, große Intransparenz und Uneinheitlichkeit die berufliche Bildung und deren Abschlüsse bestimmten und die Jugendarbeitslosigkeit ein hohes Niveau erreichte. In der Literatur ist man sich einig, dass der beruflichen Bildung daher immer die Rolle des Stiefkindes zukam (s. hierzu Abschnitt 3.2.2.3.3.3).

Als zentral in seiner Bedeutung für den sozialen Status und die Karrierechancen ragt auch gegenwärtig das historisch bedeutsame allgemeine Abitur heraus, zu dem man auch das technische Abitur zählen kann (s. hierzu Abschnitt 3.2.2.3.3.2 und 3.2.2.3.3.3).

Bildungspläne werden in Frankreich den kulturellen Werten entsprechend sehr allgemein gehalten; Bildungsabschlüsse haben, je größer die nicht-allgemeinbildenden Anteile, eine desto niedrigere Stellung in der Bildungsabschlusshierarchie. Die Gesellschaft erwartet von ihrer Elite, dass sie abstrakt denken kann, reiches Allgemeinwissen hat, theoretisch geschult ist und somit flexibel einsetzbar. Die Selektionsinstrumente prüfen daher diese Fähigkeiten. Hohes Führungspersonal übernimmt normalerweise keine ausführenden, aber vielfältige Aufgaben und muss deshalb breit gebildet sein, jedoch keine Fertigkeiten der Arbeiter/-innen der niedrigsten Unternehmenshierarchiestufen vorweisen können (s. hierzu Abschnitt 3.2.2.3.3.1, 3.2.2.3.3.2 und 3.2.2.3.3.3).

Um der (Illusion der) Chancengleichheit willen reguliert der französische Staat zu einem hohen Grad zentralistisch die Leistungsbewertung in Form von Prüfungen. Die Definition guter Leistung ist relativ eng und findet zum Teil Ausdruck in Regelungen (wie jenen von Prüfungsinhalten bzw. -fächern und Bildungsplänen), zum Teil bleibt sie implizit; implizit insofern, dass die Unterrichtswirklichkeit nicht unbedingt den Vorgaben der Regierung entspricht. In der Unterrichtswirklichkeit und über die strukturellen Vorgaben wird die heranwachsende Generation leistungssozialisiert (s. hierzu Abschnitt 2.4, T6 und T8). Sie lernt zum einen die Wichtigkeit dessen, gute Leistung zu erbringen; denn nur so hat man gute Karriereaussichten und findet soziale Anerkennung, und nur auf diesem Wege stehen bestimmte Zugänge zu renommierten Bildungsinstitutionen offen. Zum anderen wird die Definition guter bzw. schlechter Leistung als Anforderung des Systems transportiert, indem nur bestimmte Fähigkeiten und Kenntnisse abgeprüft und als gut bewertet werden (s. hierzu Abschnitt 2.4, T3; 3.2.2.3.3.1, 3.2.2.3.3.2 und 3.2.2.3.3.3).

Über die Definition guter Leistung herrscht gerade in einem kulturhomogenen Land wie Frankreich große Einigkeit. Sie erscheint als natürlich gegeben (s. hierzu Abschnitt 2.4, T6 und 3.2.2.3.3.1). Der normative Handlungsrahmen fordert, einen möglichst hohen allgemeinen Abschluss zu erreichen und die beruflichen Bildungsgänge nach Möglichkeit zu umgehen (s. hierzu Abschnitt 2.4, T3; 3.2.2.3.3.1, 3.2.2.3.3.2 und 3.2.2.3.3.3). Wenn die Teilnahme an der Berufsbildung sich nicht vermeiden lässt, ist das nächste Ziel, sie als Übergang zurück ins allgemeine System zu nutzen. Selektive berufliche Kurzstudiengänge, die mehr Ansehen als die nicht-zugangsselektiven Universitäten genießen, bilden eine Ausnahme, da sie häufig von allgemeinen Abiturient/-innen besucht werden. Sie nutzen sie allerdings als Meilenstein auf dem Weg zu einem universitären Masterstudium. Auch wenn die beruflichen Bildungsgänge strukturell und formal an die allgemeinbildenden angeglichen wurden und nun bis in den tertiären Bildungssektor hineinreichen, zeigen ihre praxisorientierten Anteile und teilweise auch ihre alternierende Form ihre in den Augen der französischen Kultur geringere Wertigkeit an (s. hierzu Abschnitt 3.2.2.3.3.1 und 3.2.2.3.4.1).

Der kulturelle Konsens darüber, was gute Leistung ausmacht (s. hierzu Abschnitt 2.4, T3 und T6), erschwert es der Politik, die intendierte Anpassung des Bildungssystems an die Bedarfe der Wirtschaft umzusetzen. Fehlende Praxisorientierung wird derart hergestellt, dass alternierende Bildungsgänge auf immer höheren Bildungsniveaus eingerichtet werden. Die allgemeinen Bildungsgänge bleiben in ihrem Kern unangetastet. Dieses Verhalten trägt der tradierten Einstellung Rechnung, die Wirtschaft dürfe sich das Bildungswesen nicht zum Diener machen und deshalb keinen Einfluss darauf nehmen. Zaghafte Versuche, praktische Elemente in der allgemeinen Bildung zu etablieren, stoßen auf Vorbehalte bei der Lehrerschaft und sind eher beratend oder verschaffen Erfahrungen in Betrieben. Sie sind nicht darauf ausgerichtet, tätigkeitsspezifische Kompetenzen zu generieren (s. hierzu Abschnitt 3.2.2.3.3.3).

Wie Bourdieu und Passeron belegen, orientiert sich die französische Mittelschicht stark an den Werthaltungen der Oberschicht und versucht unter Einsatz hoher Anstrengung, sich die Inhalte und Kompetenzen anzueignen, die dort angesehen und geschätzt sind (Bourdieu/Passeron 2007, 35 f.). Dies ist ihr Mittel, einen sozialen Aufstieg zu realisieren, und ein aktiver Beitrag, die bestehenden Systemstrukturen zu festigen (s. hierzu Abschnitt 2.4, T3). Indessen gelingt es der Elite nachweislich, sich zu reproduzieren, weil sie durch die Ausrichtung der Mittelschicht auf die Werte der Oberschicht ihr Kapital einsetzen kann, das sie von der Mittelschicht abhebt (vgl. zum Beispiel Bourdieu/Passeron 1971; Winkler 2017, 53–57). Teilweise äußert sich dies in sichtbaren Strukturen, teilweise laufen Prozesse subtil hinter den Strukturen ab. Die Anwendung des Leistungsprinzips erscheint in Frankreich als höchst legitim, bietet es doch den unteren Schichten (scheinbar) Aufstiegsmöglichkeiten. Diskutiert wird in Zusammenhang mit der Reproduktion der sozialen Ungleichheit nicht das Leistungsprinzip als solches, sondern die mangelnde Chancengleichheit. So sind zahlreiche Versuche der Politik zu beobachten, diese zu fördern, insbesondere durch die Angleichung der beruflichen Bildung an die Allgemeinbildung und die Schaffung alternativer Wege, höhere Abschlüsse zu erreichen (s. hierzu Abschnitt 3.2.2.3.3.1).

3.2.2.3.4.3 Die Leistungsbewertung in Frankreich

Im vorliegenden Abschnitt werden T4 und T5 mit HB1 bis 3 verbunden (s. Anhang 1).

Wie aus dem Theoriekapitel hervorgeht, sind sowohl bewertende Lehrpersonen als auch Lernende an die vom System vorgegebenen Normen gebunden. Bei der Leistungserbringung versucht demnach ein/-e Schüler/-in, eine nach den vorherrschenden Normen gute Leistung zu erbringen; die Lehrkraft bewertet diese Leistung nach Maßgabe der rechtlichen und sozialen Normen. Der rechtliche Rahmen lässt einen gewissen Spielraum zu, in dem subjektive Einschätzungen zum Tragen kommen, die unter anderem durch soziale Normen und gesellschaftliche Prägungen gesteuert werden (s. hierzu Abschnitt 2.4, T4).

Leistungsbewertung findet in Frankreich mithilfe relativ starr geregelter Zugangs- und Abschlussprüfungen statt, die eine möglichst große Objektivität und Chancengleichheit garantieren sollen (s. hierzu Abschnitt 3.2.2.3.3.1 und 3.2.2.3.4.2). Ihr Zweck ist es, die Leistungsfähigkeit der Prüflinge festzustellen, die nach französischem Verständnis eng mit ihrer Begabung zusammenhängt (s. hierzu Abschnitt 3.2.2.3.3.1). Daher ist in Prüfungen nicht nur von Bedeutung, was jemand objektiv weiß und kann, sondern auch, wie er sein Wissen kommuniziert und ob es erlernt oder eher auf natürliches Talent zurückführbar zu sein scheint. Hier kommt das subjektive, gesellschaftlich geprägte Empfinden des bzw. der Bewertenden ins Spiel. Kompetenzen bzw. Talentfächer, die nur bedingt erlernbar sind, spielen folgegerecht eine große Rolle: Synthesen konstruieren, logisches Denken auf hohem Niveau, sprachliche Fähigkeiten, formale Regeln anwenden. Zusätzlich ist ein umfangreiches Allgemeinwissen essentiell (s. hierzu Abschnitt 3.2.2.3.3.2).

Generell sind Prüfungen in Frankreich als streng und selektiv bekannt. Häufig weisen sie hohe Durchfallquoten auf (s. hierzu Abschnitt 3.2.2.3.1.3, 3.2.2.3.2.4 und 3.2.2.3.3.1). Das Bildungssystem fordert von den Lernenden entsprechend der Definition von guter Leistung abstrakte, intellektuell anspruchsvolle, theoretische Kenntnisse. Nur als „niedrig“ angesehene Bildungszweige der beruflichen Bildung befassen sich mit anderen, vermeintlich einfacheren Inhalten, wobei auch hinsichtlich der Prüfungsinhalte der beruflichen Bildung von einer Akademisierung gesprochen wird (s. hierzu Abschnitt 3.2.2.3.3.1). Die äußerst anspruchsvollen Zugangsprüfungen an den Grandes écoles testen neben dem allgemeinen Wissen sprachliche und rhetorische Fähigkeiten sowie intellektuelle Kompetenzen. Bei den Abiturprüfungen des allgemeinen und technischen Abiturs stehen sprachlich-rhetorische und analytische Fähigkeiten im Vordergrund. Jeder Prüfling muss eine Prüfung in Philosophie ablegen, außerdem werden die Kompetenzen in den beiden gewählten Kernfächern geprüft. Bei einer Präsentationsprüfung müssen die Fähigkeit des Denkens in Zusammenhängen sowie Präsentationskompetenz unter Beweis gestellt werden. Die Abiturprüfungen werden vom Bildungsministerium inhaltlich und terminlich fixiert. Auch hinsichtlich des mittleren Bildungsabschlusses gilt, dass hauptsächlich allgemeine Kenntnisse und Fähigkeiten zum Bestehen erforderlich sind (s. hierzu Abschnitt 3.2.2.3.3.2).

Bildungsentscheidungen sind abhängig von den wertbestimmten Vorgaben des Bildungssystems (s. hierzu Abschnitt 2.4, T4). In Frankreich folgt daraus, dass man versucht, beruflich orientierte Bildungsgänge zu vermeiden, vor allem in der Sekundarstufe. Ihre Abschlüsse gelten als Ausweis geringer Leistungsfähigkeit. Darüber herrscht ein gesellschaftlicher Konsens. Dieser wird dadurch gefestigt, dass sich als leistungsstark eingeordnete Schüler/-innen für allgemeine Bildungsgänge entscheiden und als leistungsschwach bekannte Schüler/-innen den beruflichen Bildungsgängen zugeführt werden (s. hierzu Abschnitt 3.2.2.3.3.1).

Die Inhalte der nationalen Lehrpläne entsprechen weitgehend den gesellschaftlichen werthierarchischen Überzeugungen, die allgemeine Kompetenzen über berufliche, tätigkeitsspezifische setzen (s. hierzu Abschnitt 3.2.2.3.3.1). Sie werden vom Bildungsministerium verabschiedet, das auch die Zertifizierungshoheit über die Bildungsabschlüsse innehat (s. hierzu Abschnitt 3.2.2.3.3.1, 3.2.2.3.3.2 und Anhang A3.4). Maßnahmen der Politik, die auf die Verminderung der Dominanz bestimmter Fächer gerichtet waren, können als Produkt der Machtverhältnisse eingeordnet werden (s. hierzu Abschnitt 2.4, T5). Sie haben aber kaum an der Wertbasis gerüttelt, die abstrakten, theoretischen, analytischen Fähigkeiten, die sowohl beim Erlernen der alten Sprachen als auch in der Mathematik essentiell sind, den Vorrang gibt (s. hierzu Abschnitt 3.2.2.3.1.4, 3.2.2.3.3.2 und 3.2.2.3.4.1). Da die Abiturprüfung einen starken Akzent auf sprachliche Fähigkeiten legt, ist ihr traditionell großes Gewicht weiterhin formell sichtbar. Auf Rufe aus der Wirtschaft, die Bildung praxisorientierter zu gestalten, reagierte die Regierung in den letzten Jahrzehnten mit der Alternance-Politik, die den Betrieb als Lernort mehr einbezog. Außerdem baute sie den Bereich der beruflichen Bildung aus, sodass nicht nur ein berufliches Abitur, sondern auch ein beruflicher Bachelor an der Universität mittlerweile Teil des französischen Bildungssystems sind (s. hierzu Abschnitt 3.2.2.3.2 und 3.2.2.3.3.1). Sie bleiben aber als Gegenparts der allgemeinen Bildung minderbewertet (s. hierzu Abschnitt 3.2.2.3.3.1).

Bezüglich der beruflichen Bildung ist festzuhalten, dass ihre Inhalte vergleichsweise allgemein gehalten sind (s. hierzu Abschnitt 3.2.2.3.2). Bei der Apprentissage im Speziellen wirken jedoch verschiedene Stakeholder bei der Ausgestaltung mit und es kam zu einer Anpassung der Inhalte an regionale Bedürfnisse der Wirtschaft (s. hierzu Abschnitt 3.2.2.3.3.3), was als Durchsetzung bestimmter Akteurinteressen interpretiert werden kann (s. hierzu Abschnitt 2.4, T5).

3.2.2.3.4.4 Der Einfluss leistungsbasierter Hierarchien auf die Kommunikation zwischen Wirtschafts- und Bildungssystem in Frankreich

Im vorliegenden Abschnitt wird T7 mit HB1 bis 3 verbunden (s. Anhang 1).

Zwischen den Teilsystemen der Wirtschaft und der Bildung finden aus funktionalen Gründen Prozesse der Kommunikation und der gegenseitigen Anpassung statt. Eine Funktion des Bildungssystems ist die fachliche Vorbereitung der nachwachsenden Generation auf die Anforderungen des Wirtschaftssystems und die Selektion junger Menschen nach deren Leistungsfähigkeit auf Grundlage des Sekundärcodes besser bzw. schlechter. Gleichzeitig hat das Bildungssystem die Funktion, kulturell als wichtig erachtete, vermittelbare Aspekte weiterzugeben (s. hierzu Abschnitt 2.4, T7).

Das Anliegen des französischen Bildungssystems ist vor allen Dingen die Weitergabe der culture générale. Die ihr zugrundeliegende Idee der zweckfreien Bildung steht der zweckgerichteten Vorbereitung auf wirtschaftliche Bedürfnisse diametral entgegen (s. hierzu Abschnitt 3.2.2.3.3.1). Aus diesem Grund kommt das Bildungssystem seiner Funktion der Bereitstellung qualifizierter Mitarbeiter/-innen nur unzureichend nach. Kontinuierliche Klagen von Seiten der Betriebe bewirkten Versuche der Politik, mehr Praxisorientierung ins Bildungssystem zu implementieren und die berufliche Bildung als genuin qualifikationsorientiert in ihrem Ansehen zu stärken. Oftmals bestand die Annäherung von Schule und Wirtschaft jedoch nicht in qualifikatorischen Maßnahmen, sondern vielmehr im Kennenlernen von Betrieben und Hilfen bei der Berufsorientierung. Lehrpersonen empfinden es als Beleidigung, zweckgerichtetes Wissen vermitteln zu sollen. So wird versucht, die Bildung vor dem Einfluss der Wirtschaft zu schützen (s. hierzu Abschnitt 3.2.2.3.3.3 und 3.2.2.3.4.2). Die berufliche Bildung selbst durchlief Verallgemeinerungsprozesse und gilt mit Ausnahme des CAP ebenfalls als praxisfern (s. hierzu Abschnitt 3.2.2.3.2 und Anhang A3.2). Damit bezieht sich die selektive Leistungsbewertung im Bildungssystem nicht auf wirtschaftsgerichtete Inhalte und Kompetenzen, sondern auf die dort vermittelten Komponenten der culture générale, die als Ausweis des Talents begriffen werden (s. hierzu Abschnitt 3.2.2.3.3.2). Die Funktion der beruflichen Bildung, mittlerweile auf unterschiedlichsten Bildungsniveaus verfügbar, hat sich verschoben: Im Mittelpunkt steht nicht Förderung beruflicher Handlungskompetenz, sondern die Karrierisierungsfunktion, über die ein möglichst „hoher“ Bildungsabschluss realisiert werden soll (s. hierzu Abschnitt 3.2.2.3.3.1).

Die Rekrutierungs- und Beförderungsstrategien der Unternehmen dokumentieren, dass diese Bildungszertifikate als Nachweise der Leistungsfähigkeit akzeptieren. Bildungszertifikate sind Kommunikationsmittel zwischen Bildungs- und Wirtschaftssystem. Für höhere Posten sind „höhere“ Abschlüsse notwendig, obere Führungspositionen ohne Hochschulzertifikat unerreichbar (s. hierzu Abschnitt 3.2.2.3.3.3). Organisatorisch-funktional haben sich die Betriebe an die Situation angepasst: Führungspersonal bekommt solche Aufgaben und Funktionen, für die sie vom Bildungssystem gut ausgebildet wurden, auch wenn sie kaum über ausführende Tätigkeiten und spezifische Details von Produktions- bzw. Arbeitsabläufe Bescheid wissen. Spezifische Bereiche werden Absolvent/-innen der beruflichen Bildung oder Ungelernten überlassen, während Führungskräfte flexibel eingesetzt werden und als höherwertig betrachtete Arbeit, nämlich geistige, verrichten (s. hierzu Abschnitt 3.2.2.3.3.1, 3.2.2.3.3.2 und 3.2.2.3.3.3). Die im Bildungswesen hervorgehobenen mathematischen Kenntnisse korrespondieren mit der französischen Art der Entscheidungsfindung, die sich in hohem Maße auf quantitative Analysen stützt. In Zusammenhang mit der hohen Zahl an Akademiker/-innen existieren in französischen Unternehmen vergleichsweise viele Hierarchieebenen und übergeordnete Stellen (s. hierzu Anhang A3.5). In der Schule nicht gelernte, aber in der Wirtschaft benötigte Kompetenzen müssen die Unternehmen in Anlernphasen selbst vermitteln. Zudem sind sie verpflichtet, ihren Mitarbeiter/-innen regelmäßig Fortbildungen zu finanzieren, die letztlich die Lücken des Bildungssystems zu schließen versuchen (s. hierzu Abschnitt 3.2.2.3.3.3).

3.2.2.3.5 Ergebnis: die gesuchte französische Wertlogik (Schritt 4)

Ordnet man nun Werte, Wertträger, Wertigkeiten und Werthaltungen in Zusammenhang mit strukturellen Ausprägungen logisch an, so lässt sich auf Grundlage der obigen Analyse folgende Wertlogik für Frankreich formulieren:

  1. 1.

    Im Bildungssystem Frankreichs wird im Kern die Bildung als Wert hochgehalten. Wahre Bildung ist nicht zweckdienlich, sondern entspricht der culture générale.

  2. 2.

    Die hohe Wertigkeit der Bildung bedingt eine starke Bildungsorientierung.

  3. 3.

    Als Ausdruck des Gebildetseins, dessen Voraussetzung nach französischer Auffassung Begabung ist, werden ganz bestimmte Leistungen als Wertträgerinnen akzeptiert, die streng und häufig geprüft werden. Dazu gehören folgende Faktoren: abstrakte, intellektuell anspruchsvolle, theoretische, möglichst universell einsetzbare Kenntnisse und Fähigkeiten, die Fähigkeit, formale Regeln einzuhalten und sich gewählt auszudrücken, Problemlösefähigkeit, autonomes Denken und Urteilsbildung, sittliche Lebensführung sowie Geschichtsbewusstsein. Bei der Leistungserbringung umfasst eine gute Leistung Leichtigkeit, eine Art Virtuosität, die keine Anstrengung bei der Leistungserbringung erkennen lässt, Originalität sowie Distinguiertheit, die sie durch ihren Glanz und ihre Feinheit vom Durchschnitt abhebt. Eine berufsfachliche Spezialisierung oder körperliche Arbeit gehören ausdrücklich nicht zu einer guten Leistung, sind sie doch Ausdruck minderer Intelligenz.

  4. 4.

    Erbrachte Leistung bekommt als Ausdruck des Gebildetseins eine hohe Wertigkeit. Dadurch entsteht eine große Leistungsbereitschaft.

  5. 5.

    Die Leistungsfähigen und bestimmte Bildungsinstitutionen gelten als Wertträger des Werts der Bildung.

  6. 6.

    Nur wer seine auf französische Art definierte Leistungsfähigkeit im Bildungssystem unter Beweis stellt, hat aufgrund seiner hohen Wertigkeit Zugang zum Bildungsadel. Die Zugehörigkeit zum Bildungsadel zeigt den sozialen Status an und entscheidet großteils über den beruflichen Rang, also die Wertigkeit des Leistungserbringers bzw. der Leistungserbringerin als Wertträger/-in.

  7. 7.

    Das Bildungssystem zertifiziert die Wertigkeit über Zeugnisse, die so eine symbolische Bedeutung bekommen.

  8. 8.

    Bildungsabschlüsse werden als vertikal geordnet verstanden, wobei zwischen elitären, besseren Bildungswegen, die zum Bildungsadel und zu guten Karriereperspektiven führen, und niedrigeren unterschieden wird, die es zu vermeiden gilt, nämlich die beruflichen, denn als besonders wertvoll erweisen sich möglichst „hohe“ Bildungsabschlüsse von möglichst renommierten Bildungsinstitutionen. Je wertvoller der Abschluss, desto allgemeiner seine gelehrten bzw. in der Zugangsprüfung abgefragten Inhalte.

  9. 9.

    Somit impliziert das Bildungssystem eine Werthaltung, die beruflicher Bildung eine geringe Wertigkeit attestiert. Lediglich zur Zeit der Zünfte und während der Phase der Institutionalisierung der beruflichen Bildung, also vor der Öffnung des Abiturs im Zuge der Förderung der Chancengleichheit, ist eine vergleichsweise hohe Wertigkeit beruflicher Abschlüsse anzunehmen.

  10. 10.

    Da die Geringachtung und Vermeidung beruflicher Bildung zu Problemen im Wirtschaftssystem führt, versucht die Regierung, die berufliche Bildung aufzuwerten.

  11. 11.

    Sie tut dies, indem sie die berufliche Bildung inhaltlich und strukturlogisch dem geachteten allgemeinen Bildungswesen anpasst.

  12. 12.

    Dadurch wird berufliche Bildung zur schlechteren Allgemeinbildung und die Haltung, zweckdienliche Bildung als minderwertige Bildung anzusehen, wird reproduziert.

Die beschriebene Wertlogik hat Auswirkungen auf das Bildungssystem und das Wirtschaftssystem bzw. darauf, wie sie sich aneinander anpassen. Auf der einen Seite steht der Staat als Verantwortlicher für das Bildungssystem, in das auch die berufliche Bildung integriert wurde. Auf der anderen Seite befinden sich die Betriebe, die Bildung traditionell nicht als ihr Gebiet begreifen. Vielmehr besagt das kulturelle Bildungsideal, dass die Schule, d. h. in erster Linie die allgemeinen Bildungswege, sich vor dem Einfluss der Wirtschaft, die zweckdienliche Bildung verlangt, schützen muss. Das Bildungssystem richtet sich also prinzipiell nicht nach den Bedürfnissen der Wirtschaft. Seine Qualifizierungsfunktion erfüllt es, indem es einerseits möglichst universell einsetzbare Führungskräfte „produziert“, die gut abstrakt denken können und mathematisch sowie sprachlich versiert sind. Andererseits bildet es die leistungsschwachen Schüler/-innen spezifischer aus. An diesem Punkt wurden die Unternehmen über alternierende Bildungsgänge in einem gewissen und eingeschränkten Rahmen als Lernorte in die Bildung reintegriert. Für diese Klientel ist es eher zu rechtfertigen und weniger anstößig, Betriebe Teile der Ausbildung übernehmen zu lassen, die spezifischer ist, weil die entsprechenden Schüler/-innen „höhere“ Bildung nicht begreifen. Im Sinne der Chancengleichheit und des Eingehens auf Forderungen der Wirtschaft, denen beschäftigungsfähige Fachkräfte fehlen, hat man den beruflichen Bildungszweig ausgebaut, sodass ein beruflicher Bachelorabschluss mittlerweile möglich ist. Allerdings ist es die Logik des allgemeinen Bildungswesens, die die schulische berufliche Bildung bestimmt. Einen „Eigenwert“ (Bernhard 2017, 330) gesteht man ihr nicht zu. Um überhaupt als legitim anerkannt zu werden, braucht sie Anteile der allgemeinen Bildung; um möglichst attraktiv zu sein, muss die Durchlässigkeit zum allgemeinen Bildungswesen gewährleistet und die Ähnlichkeit zu allgemeinbildenden Zweigen groß sein. Deshalb versuchte die Politik, die berufliche Bildung anziehender zu gestalten, indem sie sie völlig in das allgemeine Bildungssystem integriert. Dadurch, so resümieren Deißinger et al. (2011, 407), hat die berufliche Bildung ihre Funktion eingebüßt, für den Arbeitsmarkt zu qualifizieren. D’Iribarne und d’Iribarne folgern:

Letztlich sind es die traditionellen Werte, die eine tiefgreifende Veränderung des französischen Bildungssystems zugunsten einer mehr wirtschaftsorientierten Bildung, wie sie mit verschiedenen Reformen angestrebt wurde, verhindern. Es handelt sich vor allem um die Traditionen der großen und symbolischen Bedeutung bestimmter akademischer Abschlüsse und der Geringachtung beruflicher Bildung. (d‘Iribarne/d‘Iribarne 1999, 26 f.)

Selektiert wird auf Grundlage der französischen Leistungsdefinition, die keine tätigkeitsbezogenen Kompetenzen umfasst und sich auf die culture générale konzentriert, die im Fokus der Lehraktivitäten des Bildungssystems steht. Durch die Vergabe von Zertifikaten, die den Grad der Leistungsfähigkeit formell bestätigen, kommt das Bildungssystem seiner Selektionsfunktion nach. Entscheidend ist dabei die in Prüfungen erbrachte Leistung. Durch die große Bedeutung der Prüfungsergebnisse für den weiteren Verlauf von Bildungs- und Berufskarrieren kommt es zu einer Ausrichtung des Unterrichts auf die Prüfungserfordernisse. Dadurch wird die Selektionsfunktion des Bildungssystems stark betont und drängt andere Funktionen in den Hintergrund.

Bei der Personalauswahl verlassen sich die Unternehmen auf die Bewertung der Leistungsfähigkeit durch das Bildungssystem, ausgedrückt in Zertifikaten. Alle Abschlüsse bekommen einen Platz in Abschlusshierarchien, die Niveaus und Ränge unterscheiden. Sie korrespondieren mit beruflichen Positionsebenen, zu denen meist nur Zugang hat, wer einen Abschluss auf entsprechendem Niveau vorlegen kann. In ihrer Organisation passen sie sich daran an, was ihnen das Bildungssystem liefert. Sie verlangen von Führungskräften keine Spezialkenntnisse und definieren ihre Funktionen so, dass die Kompetenzen, die sie mitbringen, dienlich sind.

Damit wird deutlich, dass dem französischen Ausbildungssystem eine eigenständige Grundausrichtung im Sinne einer Brückenfunktion zwischen Bildungs- und Beschäftigungswesen fehlt, die sich von ,Sinnreferenzen‘ löst, die entweder im Erzeugungs- oder aber im Verwertungsraum beruflicher Qualifikationen verankert sind. Im französischen Falle rekurriert die ,Sinnreferenz‘ auf die Vorstellung einer über den akademischen Bildungsweg vermittelten Karrierisierungsfunktion des Schulwesens. (Deißinger/Ott, 2010, 500)

Infolge der Rekrutierungsstrategien der Unternehmen und aufgrund des symbolischen Werts von Bildungszertifikaten versuchen Schüler/-innen einen möglichst „hohen“ und anerkannten Abschluss zu erreichen und präferieren in der Regel allgemeine Bildungsgänge, die in der Hierarchie weit oben stehen. Ihnen ist es wichtig, in der Schicht der Führungskräfte anzukommen, die einem Stand mit gewissem Status und Privilegien gleichkommt:

Was in Japan die Gruppenorientierung ist, ist in Frankreich die Solidarität der Elite, eine Gruppe ähnlich denkender Menschen, die in Bereichen wie Wirtschaft und Politik die Oberhand haben. (Barsoux/Lawrence 1991, 66)

Hierbei gelingt es der Elite trotz aller Bemühungen der Politik, die tatsächlich Leistungsfähigen objektiv auszulesen, sich seit Generationen zu einem hohen Prozentsatz zu reproduzieren, denn die Solidarität bedingt Netzwerke und verschafft Vorteile bei der Jobsuche.

3.2.3 Idealtypische Wertlogik des Zusammenhangs zwischen bildungsbasierter Meritokratie und beruflicher Bildung und ihre struktur-funktionalen Ausprägungen

Mithilfe der Ergebnisse aus den Länderanalysen Japans und Frankreichs wird im Folgenden eine idealtypische Wertlogik konstruiert (s. Abschnitt 3.2.3.1), die mit den Strukturen der beruflichen Bildung in einer idealtypischen Meritokratie verknüpft wird (s. Abschnitt 3.2.3.2). Es wird hierbei von einer rein bildungsbasierten Meritokratie ausgegangen, die im Rahmen der vorliegenden Arbeit jedoch nicht im Detail erarbeitet und beschrieben werden kann. Das Hauptaugenmerk liegt auf dem gesuchten Zusammenhang zwischen Meritokratie und beruflicher Bildung. Vorgehensbeschreibungen finden sich jeweils am Beginn der Abschnitte 3.2.3.1 und 3.2.3.2. Abschnitt 3.2.3.3 gibt ergänzende Hinweise zur konkreten Konzipierung des Idealtypus, da in der Darstellung des Idealtypus weitgehend auf begründende Erläuterungen, warum welche Einzelerscheinungen wie integriert wurden oder auch nicht, verzichtet wird. Die nachfolgende theoretische Einordnung (Abschnitt 3.2.3.3.1) stellt den Bezug zu Literatur her, die in Zusammenhang mit im Idealtypus angesprochenen Aspekten steht. Darüber hinaus werden einige Schlussfolgerungen abgeleitet, um der Relevanz des Themas für die Gesellschaft Rechnung zu tragen.

3.2.3.1 Idealtypische Wertlogik einer bildungsbasierten Meritokratie hinsichtlich der Wertigkeit von Leistungen im Bildungssystem und die Rolle der beruflichen Bildung (Schritt 5, Teil 1)

Im ersten Schritt wird nachfolgend die idealtypische Ausprägung der Leistungswertzuschreibung im Bildungswesen einer Meritokratie erläutert. Besondere Aufmerksamkeit gilt dabei der zugrundeliegenden idealtypischen Wertlogik des Zusammenhangs zwischen Meritokratie und beruflicher Bildung. Hierzu wurden die beiden für Japan und Frankreich auf Grundlage der empirischen Phänomene und ihrer theoretischen Einbettung festgestellten Wertlogiken parallel betrachtet und abstrahiert. Auf konkrete Hinweise auf realtypische Merkmale oder Literaturbelege wird verzichtet, da hier auf idealtypischer Ebene argumentiert wird und die Einfügung und Auslassung einzelner Elemente Teil eines wechselseitigen Konstruktionsprozesses sind. Auch wenn sich der Idealtypus aus Realtypen speist, muss er ein in sich logisches und widerspruchsfreies Gebilde sein, das sich, auch aufgrund der „einseitigen Steigerung“, von der Realität abhebt (s. hierzu Abschnitt 3.1.1).

Zunächst lässt sich unter Rückbezug auf die theoretische Basis dieser Arbeit (s. Kapitel 2) daran erinnern, dass das Bildungssystem kulturell bestimmte Werte vermittelt und repräsentiert. Aus ihnen setzt sich die Definition von Leistung, die das Bildungssystem transportiert, zusammen, und auf ihrer Grundlage erfolgt die Leistungssozialisation. Grundlegendes Prinzip bildungsbasierter Meritokratie ist das Leistungsprinzip, das dazu dient, Vermögen und Status zu verteilen. Vermittler bei der Allokation von Menschen zu Positionen und Status sind Bildungszertifikate, die als Leistungsfähigkeitsnachweis dienen. Wertlogisch hat dies auf idealtypischer Ebene folgende Auswirkungen:

  1. 1.

    In Meritokratien wird Leistung aufgrund des Leistungsprinzips selbst zur Wertträgerin der gelehrten Werte. Das heißt in der Konsequenz, dass das Leistungsprinzip bedingt, dass Leistung wertvoll ist. Als Wertträgerin wird der Leistung im Vergleich zu anderen Werten an sich eine hohe Wertigkeit zuteil, weil über das Leistungsprinzip verteilt wird. Dadurch wird Leistungsfähigkeit zu einem relevanten Wert, der eng mit den individuellen Zukunftsaussichten verknüpft ist. Wertträger/-innen von Leistungsfähigkeit können Personen, Bildungsinstitutionen und Betriebe sein.

  2. 2.

    Die Wertigkeit der Wertträger/-innen von Leistungsfähigkeit basiert auf dem kulturellen Konsens dessen, was eine gute Leistung darstellt. Im „reinen“ Typus von Meritokratie gibt es eine einheitliche Leistungsdefinition, die übergreifend Gültigkeit hat.

  3. 3.

    Es entstehen Werthierarchien von Bildungsgängen, Bildungseinrichtungen, Bildungszertifikatsinhaber/-innen, Betrieben und Positionen in Betrieben. Personen werden anhand der Stellung der besuchten Bildungseinrichtungen, des besuchten Bildungsgangs und der absolvierten Bildungsabschlüsse zu Positionen in Betrieben und sozialen Status zugeordnet. Dabei ist die studierte Fachrichtung im Sinne einer fachspezifischen, passgenauen Vorbereitung nicht relevant. Bildungseinrichtungen erhalten dann viel Prestige, wenn viele ihrer Absolvent/-innen den Zugang zu den hochrangigen Bildungseinrichtungen schaffen bzw. sie bei den hochrangigen Betrieben in hohen Positionen unterkommen.

  4. 4.

    Bildungseinrichtungen und Bildungsgänge konkurrieren um Prestige und versuchen, möglichst hohe Plätze in den Rankings zu erhalten. Dafür ist es wichtig, die Leistungsfähigen zu selektieren. Durch die Vielzahl und den Anspruch der durchgeführten Prüfungen, die den Unterricht bestimmen, und die Relevanz des individuellen Abschneidens in Tests erhält die Selektion eine dominierende Funktion.

  5. 5.

    Um selektieren zu können, misst und bewertet das Bildungssystem die Leistungen seiner Teilnehmer/-innen. Hierfür werden allgemeine Kompetenzen bewertet (s. hierzu auch Abschnitt 3.2.3.3.3). Dies hat zwei Gründe. Eine Testung berufsfachlicher, tätigkeitsspezifischer Kompetenzen würde, erstens, eine horizontale Differenzierung der Inhalte erfordern und damit eine Vergleichbarkeit und vertikale Einordung von Leistungen und Leistungserbringer/-innen ausschließen. Nur innerhalb von Spezialisierungen wäre eine Hierarchisierung möglich. Zudem können Schüler/-innen nicht leistungsbasiert auf spezialisierte Fachrichtungen zugeteilt werden, bevor sie diese überhaupt erlernt haben und es konkrete Anhaltspunkte bzw. Nachweise über die spezifische Leistungsfähigkeit gibt. Daher ist es funktionaler, die allgemeine Leistungsfähigkeit zu prüfen (und erst nach deren Nachweis fachbezogen auszubilden, sei es an Elitehochschulen oder im Betrieb).

    Zweitens hat das Bildungssystem unter anderem die Aufgabe, kulturelle Inhalte und Werte zu vermitteln (Enkulturationsfunktion; vgl. Fend 2008, 52 ff.). Sie bilden den Rahmen, in dem Leistung gemessen wird, die überdies kulturell definiert wird. Leistungsfähigkeit ist somit kulturabhängig. Idealtypisch betrachtet erkennen Gesellschaften eine Leistungsdefinition als legitim an, die kognitive Intelligenz als entscheidenden Faktor ansieht. Entsprechend werden „höhere“ Bildungsgänge so konzipiert, dass nur die kognitiv Intelligenten und Lernbereiten sie erfolgreich bewältigen können. Variabel ist hierbei, inwieweit Anstrengung zu einer guten Leistung gehört oder nicht und inwiefern Talent eine Rolle spielt. In beiden Fällen bleiben für die „Dümmeren“ bzw. „Faulen“ kognitiv weniger anspruchsvolle Inhalte und Kompetenzen, die in „niedrigeren“ Bildungsgängen der beruflichen Bildung gelehrt werden. Als anspruchsvoll werden allgemeinbildende, theoretische Inhalte und Aufgaben wahrgenommen. Auch technische, wissenschaftsorientierte Bildungsgänge, die ebenfalls intellektuelle und nicht tätigkeitsbezogene Leistung belohnen, können in Meritokratien einen recht hohen Stellenwert haben. Sie sind als intellektuell durchaus anspruchsvoll, aber nicht auf konkrete Tätigkeiten ausgerichtet, unter den allgemeinbildenden und über den beruflichen Bildungsgängen eingeordnet. Fachliche, praxisorientierte Bildung hat eine geringe Wertigkeit und wird aus der Leistungsdefinition des Bildungssystems weitgehend ausgeschlossen.

    Sowohl zugunsten der Vergleichbarkeit von Leistung als auch aufgrund seiner Enkulturationsfunktion vernachlässigt das Bildungssystem seine Qualifikationsfunktion für den Arbeitsmarkt und überlässt deren Erfüllung zunehmend den Betrieben.

  6. 6.

    Das Bildungssystem transportiert durch die Kompetenzen, die in Prüfungen verlangt werden, die Inhalte, die gelehrt werden, und deren Zusammenhang mit Bildungsniveaus und Prestigehierarchien von Bildungsgängen und -einrichtungen eine Werthaltung, die impliziert, dass allgemeine Bildung über tätigkeitsspezifischer, berufsfachlicher Bildung steht. Aufgrund der kulturellen Bedeutung der „höheren“ Inhalte und der hohen Wertigkeit von Leistungsfähigkeit als Wert erhalten Bildungszertifikate eine quasi-moralische Wertigkeit. Abschlüsse signalisieren nicht nur die Leistungsfähigkeit, sondern auch die damit verbundene Wertigkeit eines Menschen. Folge ist eine Überbewertung von formalen Bildungsgängen und -titeln, die wiederum Konsequenzen dafür hat, nach welchen Kriterien Bildungsentscheidungen und betriebliche Personalentscheidungen getroffen werden.

  7. 7.

    Rekrutierungsstrategien von Unternehmen beinhalten, diejenigen für „höhere“ Aufgaben einzustellen, die vom Bildungssystem als leistungsfähig gekennzeichnet wurden, also „höhere“ Abschlüsse haben. Da man Leistung nur bedingt messen kann, schenken die Betriebe den Bildungszertifikaten als potenziell guten Prädiktoren der Leistungsfähigkeit Glauben. Daran passen sie die Strukturierung der Unternehmen an. Menschen mit anderen Begabungen oder Leistungspotenzialen als den im Bildungssystem geforderten und als Leistung anerkannten, die für die Wirtschaft sehr wertvoll sein könnten, kommen über bestimmte Positionen nicht hinaus, solange das kulturelle, im Bildungssystem gelernte Leistungsverständnis dominiert.

    Es findet eine Aushöhlung des meritokratischen Prinzips statt, weil das Wirtschaftswesen gezwungen ist, sich auf die Selektion des Bildungssystems zu verlassen. Letzteres zertifiziert aber nicht die beruflichen Fähigkeiten, sondern ein bestimmtes intellektuelles Leistungspotenzial und löst sich, was die „höheren“ Bildungsgänge anbelangt, von seiner Qualifikationsfunktion (eine Ausnahme können die „höchsten“ Bildungsgänge nach abgeschlossener Selektion bilden).

  8. 8.

    Bildungsgänge und -einrichtungen, die in der Hierarchie unten stehen, werden mit geringen Karrierechancen assoziiert, weil sie für ihre Teilnehmer/-innen Ausweis geringer Leistungsfähigkeit sind. Bildungsgänge und -einrichtungen der beruflichen Bildung werden bei Bildungsentscheidungen möglichst vermieden. Sie entsprechen inhaltlich nicht dem, was kulturell mit guter Leistung in Verbindung steht. Somit kommt es zu einer Negativselektion, die ausgewiesen leistungsschwache Schüler/-innen den unteren (beruflichen) Bildungsarten zuordnet und sie nicht zu „höheren“ Bildungsgängen zulässt. Qualifikationen auf Sekundarniveau verlieren an Wertigkeit, da diejenigen Bildungszertifikate wertvoll sind, die karrieretechnisch die besten Chancen eröffnen, also jene der „höheren“, tertiären Bildung. Die Negativselektion verstärkt das geringe Ausmaß der Wertigkeit beruflicher Bildung, was die Karrierechancen ihrer Absolvent/-innen weiter schmälert.

  9. 9.

    Das Bildungssystem passt sich der Wirtschaft an, die bevorzugt Generalist/-innen einstellt, die vom Bildungssystem als leistungsstark etikettiert wurden. Denn der Stellenwert der Bildungseinrichtungen hängt davon ab, als wie leistungsfähig ihre Absolvent/-innen gelten.

  10. 10.

    Dadurch werden berufsfachliche Inhalte weiter abgewertet und aus dem Bildungssystem verdrängt. Berufliche Bildung verliert ihre Bedeutung mit Zunahme der Zertifikatinhaber/-innen „höherer“ Bildungsgänge. Diese gibt es vermehrt, weil Bestrebungen, Chancengleichheit zu schaffen, zu mehr formaler Durchlässigkeit und einem insgesamt „höheren“ gesellschaftlichen Bildungsniveau führen. Außerdem werden eher beruflich ausgerichtete Bildungsgänge auf Hochschulniveau eingerichtet. Diese bleiben allerdings unter der Wertigkeit der allgemeineren, weil sie Anschlüsse an die geringwertige berufliche Bildung auf Sekundarschulniveau sind, an der nur die Leistungsschwachen teilnehmen. Um sie aufzuwerten, werden sie inhaltlich und strukturell an die Logik des allgemeinbildenden Systems angepasst und werden zu einer schlechteren Art der Allgemeinbildung.

  11. 11.

    Menschen ohne Bildungstitel geraten ans Ende der Wertigkeitspyramide. Auch Zertifikatsinhaber/-innen von Abschlüssen „niedrigerer“ Bildungsgänge erhalten aus gesellschaftlicher Sicht eine geringe menschliche Wertigkeit. Das Selbstwertgefühl wird mit Leistung verknüpft, diese mit dem Bildungstitel und infolgedessen sind Selbstwertgefühl und Bildungstitel verbunden, woraus eine große (übersteigerte) Leistungsorientierung resultiert, der alles untergeordnet wird, um gesellschaftliche Anerkennung zu finden. Die Leistungsorientierung korrespondiert mit Bildung als Wert und Bildungszertifikaten als Wertträgern. Weil Leistung in bildungsbasierten Meritokratien mit Bildungstiteln verbunden ist, entsteht eine Bildungsorientierung. Dies führt zu einem Statuswettbewerb, der sich unabhängig von der Angebotssituation am Arbeitsmarkt entwickelt. Berufliche Bildung hat vor allem eine soziale Funktion, die beinhaltet, leistungsschwächeren Schüler/-innen einen Bildungsabschluss zu ermöglichen. Dadurch wird sie nicht als leistungsfähig anerkannt und stellt keine echte Alternative für leistungsstarke Schüler/-innen dar.

Insgesamt findet wertlogisch in einer idealtypischen Meritokratie eine Abwertung beruflicher Bildung statt. Grund dafür ist insbesondere die durch das Leistungsprinzip notwendig gewordene Bewertung von Leistungen, die deren Vergleichbarkeit voraussetzt. Dadurch werden verschiedene Bildungsarten verglichen und es wird ihnen eine bestimmte Wertigkeit zugesprochen, sodass sie nicht gleichberechtigt nebeneinander existieren können (s. hierzu auch Abschnitt 3.2.3.3.3). – Es sei denn, sie gleichen sich aneinander an und geben ihre Unterschiedlichkeit auf. Berufliche Bildungsgänge nehmen schlechtere Ränge in der Bildungshierarchie ein als allgemein orientierte, da sie als intellektuell anspruchsloser gelten und ihnen ihre Praxisorientierung eine profane Färbung verleiht. Die Werthaltung, berufliche Bildung im Vergleich zur allgemeinen Bildung als minderwertig einzustufen, reproduziert sich durch die Negativselektion der beruflichen Bildung. Strukturell gerät die berufliche Bildung an den Rand des Bildungssystems oder verschwindet komplett. So sie noch existiert, übernimmt sie immer mehr eine kompensatorische Funktion, wie der nächste Abschnitt deutlich macht. Nur für die Frühphase der Implementierung des Leistungsprinzips, in der strenge Selektionsmechanismen greifen und nur wenige ein „höheres“ Bildungsniveau als das eines Berufsabschlusses erreichen, kann die berufliche Bildung von einer vergleichsweise großen Wertschätzung profitieren.

3.2.3.2 Idealtypische Strukturen und Funktionen beruflicher Bildung in einer bildungsbasierten Meritokratie in drei Phasen (Schritt 5, Teil 2)

In Gesellschaften, die bildungsbasiert nach dem meritokratischen Prinzip vorgehen und die allgemeine Leistungsfähigkeit als relevante Größe einsetzen (s. hierzu Abschnitt 3.2.3.1), können hinsichtlich des Bildungssystems idealtypisch einige spezifische strukturelle Merkmale angeführt werden. Ihre Ausprägung verändert sich mit Fortschreiten der Meritokratie. Zur Beantwortung der Frage nach den konkreten, mit der idealtypischen Wertlogik korrespondierenden Strukturen der beruflichen Bildung werden deshalb unterschiedliche idealtypische Phasen von Meritokratie betrachtet. Auf diese Weise kann die Entwicklung des Verhältnisses von Meritokratie und beruflicher Bildung idealtypisch nachvollzogen werden. Empirische Grundlage dieses Teils sind die Ergebnisse aus den Analysen der Beispiele Japans und Frankreichs. Es wird versucht, Einzelerscheinungen und strukturelle Merkmale aus diesen beiden Ländern (s. hierzu Abschnitt 3.2.2) unter Berücksichtigung historischer Aspekte idealtypisch zu verbinden und dabei nicht-meritokratische Einflüsse auszuklammern. Manche Phänomene, die in den untersuchten Ländern vorzufinden sind, haben ihre Ursache nicht ausschließlich im meritokratischen Prinzip, zum Beispiel die Bildungsexpansion. Insofern die meritokratische Logik jedoch einen Beitrag dazu geleistet oder bestimmte Entwicklungen befeuert hat, wird dies aufgezeigt, ohne auf die anderen Gründe einzugehen. Ein Idealtypus stellt ein ins Extrem gedachtes Gebilde dar, das sich von der Realität bewusst abhebt und in sich widerspruchsfrei ist. Somit kann es im Rahmen der Idealtypisierung erforderlich werden, Merkmale hinzuzufügen, die so nicht unbedingt aus Frankreich oder Japan bekannt sind.

Als idealtypische Phasen von bildungsbasierter Meritokratie lassen sich grob drei Phasen unterscheiden, die sich durchaus überlagern können. Die oben wertlogisch begründete untergeordnete Rolle der beruflichen Bildung lässt sich unter anderem an bestimmten Strukturen und der Distribution von Zuständigkeiten und Funktionen verschiedener Akteur/-innen und (Sub-) Systeme erkennen. Im Folgenden werden die strukturellen Ausprägungen in Verbindung mit der Steuerung von Bildung bzw. beruflicher Bildung konkreter als bislang in ihrer idealtypischen Form erklärt und mit der Übernahme von Funktionen verknüpft. Außerdem werden Bezüge zur idealtypischen Wertlogik hergestellt. Phase 1 beschreibt die Beziehung zwischen beruflicher Bildung und Meritokratie während der Anfänge der Implementierung des meritokratischen Prinzips, in der von einer kleinen Elite und strenger Selektion ausgegangen wird. In Phase 2 sind ausgeweitete Wirkungen des nun etablierten meritokratischen Prinzips zu beobachten, wobei Anstrengungen unternommen werden, es langfristig zu erhalten. Dies wirkt sich auch auf die berufliche Bildung aus. Phase 3 ist dadurch gekennzeichnet, dass die Meritokratie in einem Maße fortgeschritten ist, dass Anpassungen angestrebt werden, die funktionelle Probleme kompensieren oder beheben sollen. Die vorhandenen Schwierigkeiten beziehen sich unter anderem auf die Stellung der beruflichen Bildung bzw. fachspezifischen Qualifizierung. Es zeichnet sich eine eventuelle Abkehr vom meritokratischen Prinzip ab.

Tabelle 3.2 fasst die Ergebnisse übersichtsartig zusammen, bevor jede der drei Phasen einzeln ausführlicher erläutert wird. Die Tabellenspalten wurden aus den oben verwendeten Wirklichkeitsdimensionen abgeleitet.

Tabelle 3.2 Übersicht über den Idealtypus des Zusammenhangs zwischen beruflicher Bildung und Meritokratie

Phase 1: Einführung des meritokratischen Prinzips

Die erste Phase fällt historisch mit der Überwindung feudaler Systeme und dem Voranschreiten der Industrialisierung zusammen. Die Alphabetisierung dehnt sich aus und Bildung wird für alle sowohl angeboten als auch verpflichtend gemacht. Es werden berufliche Bildungsgänge etabliert und ausgebaut, die zunächst reichlich Zulauf erfahren. Die berufliche Bildung übernimmt die Funktion, als Bildung für die unteren Schichten zu dienen. Um die Reproduktion der Eliten zu verhindern bzw. Angehörigen der unteren Schichten Aufstiegschancen zu sichern, wird auf Druck des Volkes hin das Leistungsprinzip eingeführt. Mittel der Eliten, sich weiterhin von der Masse abzuheben, ist ihre Kultiviertheit, die sie unter anderem in allgemeinen, auf kognitive Intellektualität und Allgemeinwissen gerichteten Bildungsgängen erwerben, die der Masse zunächst verschlossenen sind. Körperliche Arbeit überlassen die Eliten der Arbeiterklasse. Ihr Bildungsideal, das das „höhere“ Bildungswesen als Bildung der Elite dominiert, ist das Ideal der zweckfreien Bildung. Entsprechend werden Bildungspläne ausgestaltet und Fächer gewichtet. Die Kernfächer sind eben jene, die die Wertvorstellungen der Elite transportieren und mit ihrem Bildungsideal übereinstimmen. Offizielle Kriterien zur Bewertung von Leistung fehlen. Die Lehrpersonen entscheiden darüber unter Rückgriff auf ihr kulturell geprägtes Leistungsverständnis.

In der ersten Phase, in der das meritokratische Prinzip erst etabliert wird und sich noch entfalten muss, existiert eine klare Trennung zwischen beruflicher Bildung und allgemeiner Bildung. Der Abschluss einer Berufsausbildung ist der höchste Abschluss, der auf dem beruflichen Weg möglich ist, und hat keinen Anschluss an das „höhere“ allgemeinbildende Schulsystem. Allgemeine Bildung ist die „höhere“ Bildung, verbunden mit einem höheren Status und der Zugehörigkeit zu Elite. Für die unteren Schichten ist die berufliche Bildung eine gute Möglichkeit, einen sozialen Aufstieg zu realisieren, wenn auch nicht bis zu den höchsten Positionen. Daher hat tätigkeitsspezifische, berufsfachliche Bildung eine relevante, gesellschaftlich anerkannte Wertigkeit. Es wird früh selektiert, wobei die besten Schüler/-innen aufs Gymnasium gehen, alle anderen verteilen sich auf berufliche Bildungsgänge oder verlassen die Schule ohne Abschluss und treten früh in Beschäftigungsverhältnisse ein. Im Gegensatz zur beruflichen Bildung gibt es im allgemeinbildenden Sektor „höhere“ Bildungsabschlüsse wie Abitur und Hochschulzertifikate, die allerdings Gebühren kosten oder von der Masse nicht erworben werden können, da die Heranwachsenden zur Existenzsicherung beitragen müssen.

Für die allgemeine Bildung ist der Staat in Gestalt des Bildungsministeriums zuständig. Der Zugang an den Selektionsschwellen ist lange nicht reguliert, da Vermögen und soziale Herkunft darüber entscheiden. Mit Durchsetzung des Leistungsprinzips übernehmen Abschlusszeugnisse die Selektion.

Wirtschaft und Bildung sind gut aufeinander abgestimmt. Neben der Selektionsfunktion kommt das Bildungssystem auch der Qualifikationsfunktion nach.

Da in der beruflichen Bildung die Qualifikationsfunktion im Zentrum steht, sind Unternehmen als Lernorte und/oder bei der inhaltlichen Ausgestaltung involviert. So es ein Kammerwesen gibt, sind auch die Kammern in der beruflichen Bildung aktiv. Einheitliche und transparente Regelungen des Bereichs der beruflichen Bildung sind in dieser Phase des Ausbaus und expandierenden Wachstums des Bildungssystems kaum vorzufinden. Die berufliche Bildung ist stark tätigkeitsbezogen, praxisnah und anwendungsorientiert.

Unternehmen rekrutieren für die höchsten Führungspositionen diejenigen mit den höchsten Bildungsabschlüssen. Beförderungen und Aufstiege innerhalb von Unternehmen sind ohne Hochschulabschluss möglich, da es mehr Führungspositionen als Hochschulzertifikatinhaber/-innen gibt. Eintritte in Unternehmen ohne Bildungsabschluss sind auf den unteren Hierarchieebenen sowohl möglich als auch üblich.

Mit der fast völlig umgesetzten Bildung für alle auf Sekundarstufenniveau am Ende von Phase 1 versuchen immer mehr Schüler/-innen, den Zugang zum Gymnasium und zur höheren Bildung zu erreichen. Es entsteht Handlungsdruck, den Besuch höherer allgemeiner Bildungsgänge, der zur Voraussetzung für hohe Posten geworden ist, für eine größere Anzahl an Schüler/-innen bzw. unabhängig von der finanziellen Ausstattung der Herkunftsfamilie zu öffnen.

Phase 2: Bildungsexpansion und Marginalisierung beruflicher Bildung

Im Übergang von der ersten zur zweiten Phase wird gegen vorherrschende Chancenungleichheit vorgegangen. Man ist bestrebt, mehr Durchlässigkeit zu erzielen, um die anfänglich scharfe Selektion abzumildern. Nur so kann das meritokratische Prinzip seine Legitimität wahren, da es nicht nur auf der Selektion nach Leistungsfähigkeit, sondern auch auf der (wahrgenommenen) Gleichheit der Chancen am Ausgangspunkt der Bildungslaufbahn fundiert. Es kommt in Phase 2 zu einer Bildungsexpansion, in deren Nachhut die berufliche Bildung massiv an Bedeutung einbüßt.

Im Sinne der Gewährung von Chancengleichheit wird Bildung kostenlos und Förderungsmöglichkeiten für Studierende aus kapitalschwachen Familien werden angeboten. Der Staat steuert das Bildungssystem zentral, um möglichst gleiche Bedingungen und eine objektive Selektion zu erreichen. Das Gymnasium und im weiteren Verlauf auch die Hochschulen erfahren eine Öffnung. Mit Fortschreiten der Meritokratie erfolgt eine Bildungsexpansion und der Bildungsstrom verlagert sich zunehmend auf die höher angesehenen allgemeinbildenden Schultypen. Die strikte und frühe Trennung zwischen beruflicher und allgemeiner Bildung wird nach und nach überwiegend aufgehoben: Auf Sekundarniveau führt man Einheitsschulen mit geregelten, staatlich anerkannten Abschlusszertifikaten ein, um eine vorzeitige Selektion zu vermeiden. Lediglich auf der zweiten Sekundarstufe bleiben berufliche Abschlüsse erhalten, um denjenigen einen Abschluss auf diesem Niveau anzubieten, die ihn in der Einheitsschule nicht bewerkstelligen können. Für das gesamte allgemeine, staatliche Bildungswesen werden einheitliche Curricula implementiert, um die Voraussetzungen der Leistungserbringung anzugleichen und erbrachte Leistungen vergleichbar zu machen. Allen soll die gleiche allgemeine Bildung als Basis ihres Lebens zuteilwerden. Also verzichtet man in der einheitlichen Sekundarstufe auf berufsfachliche Inhalte, die zudem eine horizontale Differenzierung entgegen des Gesamtschulprinzips erfordern würden. Es setzt sich das Bildungsideal der Gymnasien und Hochschulen durch, berufsfachliches und tätigkeitsbezogenes Wissen verlieren massiv an Wertigkeit. Der Staat gibt Kriterien zur Leistungsbewertung vor und versucht, Prüfungen zu objektivieren. Hierzu verwendet er eine Leistungsdefinition, die kompatibel mit den kulturellen Wertvorstellungen ist. Dabei muss er solche Kriterien ausschließen, die nicht objektiv messbar sind, oder Einschränkungen der Objektivität der Ergebnisse in Kauf nehmen. Der Zugang zur beruflichen Bildung ist mit schlechteren Noten möglich, die Hochschulreife nur für die Leistungsstärkeren. Jedoch werden Brücken zwischen der beruflichen und allgemeinen Bildung geschaffen. Zertifikate der beruflichen Bildung erhalten eine Berechtigungsfunktion durch Anschlüsse nach oben, das heißt an „höhere“ allgemeinbildende Abschlüsse. Dadurch entschärft sich die Selektion zumindest auf formaler Ebene – auf Kosten der Qualifikationsfunktion der beruflichen Bildung. Um als Vorstufe zu höheren Bildungsgängen dienen zu können, müssen die Inhalte der beruflichen Bildung angepasst werden und erhalten eine allgemeinere Ausrichtung. Sie integrieren zunehmend nicht tätigkeitsbezogene, zweckungebundene Elemente.

Bildungszertifikate übernehmen eine Signalfunktion, indem sie die allgemeine Leistungsfähigkeit anzeigen. Zum einen versprechen höhere Abschlüsse bessere Karriereaussichten und einen höheren Status. Zum anderen haben immer mehr Heranwachsende durch die verbesserten Anschlussmöglichkeiten und die spätere Selektion die Möglichkeit, höhere Abschlüsse zu machen. Dadurch verlieren berufliche Bildungszertifikate – und andere Zertifikate auf derselben Niveaustufe – merklich an Wertigkeit. Das Bildungssystem wird zu Gunsten der Ermöglichung individueller Karrieren funktionalisiert. Es setzen sich im System andere Formen der Selektion durch, die nicht in der äußerlichen, aber in der inneren Strukturierung des Bildungssystems selektiv wirken. Dies hängt damit zusammen, dass das Funktionserfordernis der Selektion weiterhin gegeben ist, auch wenn die Durchlässigkeit zwischen allgemeiner und beruflicher Bildung verbessert wird. Letzteres ändert nicht automatisch die ursprünglichen kulturellen Werthaltungen. Sie können sich potenziell erhalten, indem sie sich auf anderen Wegen, das heißt durch andere Strukturen, durchsetzen. Für den Zugang zu „höheren“ Bildungsgängen müssen nun Aufnahmeprüfungen bestanden werden. Je selektiver eine Zugangsprüfung, desto größer das Renommee der Bildungseinrichtung. Es entwickeln sich in hohem Maße ausdifferenzierte Hierarchien der Bildungseinrichtungen. Oben stehen jene, die die meisten Absolvent/-innen bei den angesehensten Betrieben oder weiterführenden Institutionen unterbringen können. Je höher der Abschluss, desto besser die Chancen und desto höher der Status. Also versuchen die Heranwachsenden, ein Abitur zu erwerben. Um den schlechteren Schüler/-innen die Option einzuräumen, diesen signifikanten Abschluss zu erreichen, führt man die berufliche Hochschulreife ein. Im weiteren Verlauf der Bildungsexpansion gewinnt der Besitz eines akademischen Abschlusses an Bedeutung. Infolgedessen verlagert sich die Selektion insgesamt immer weiter nach hinten.

Als Leistung zählt nur das, was das Bildungssystem verlangt. Die Leistungssozialisation bedingt die Anerkennung und Legitimation dieses Leistungsverständnisses als gesellschaftlichen Konsens. Leistung ohne Bildungstitel wird wertlos, Bildung im formalen Bildungswesen bedeutsam. In der Konsequenz nehmen Status-, Leistungs- und Bildungsstreben zu. Bildungsabschlüsse bekommen eine übersteigerte, symbolische, quasi-moralische Wertigkeit und werden zu Indikatoren der menschlichen Wertigkeit ihrer Inhaber/-innen. Die Definition von Leistung ist relativ eng und gleichzeitig allgemein. Sie fokussiert sich auf Allgemeinwissen und kognitive Intelligenz als maßgeblich für die allgemeine Leistungsfähigkeit, die eine berufsfachliche Definition von Leistung ausschließt und die Karriereaussichten bestimmt. Man orientiert sich bei der Schulwahl nicht an den Neigungen und Interessen oder der Nachfrage am Arbeitsmarkt, sondern am Prestige von Studiengängen. Dabei zählen die Titel des akademischen Bildungswesens am meisten; bestimmte kulturell anerkannte Fächer zählen mehr als andere, da sie als anspruchsvoller eingeschätzt werden. Diejenigen der beruflichen Bildung sind vergleichsweise wertlos und werden immer mehr zurückgedrängt. Es entwickelt sich eine Negativselektion in der beruflichen Bildung, die sich zu einem Auffangbecken für Bildungsverlierer/-innen entwickelt. Berufliche Bildungsgänge haben nur durch ihre Berechtigungsunktion eine Relevanz und verkommen zur schlechteren Allgemeinbildung. Die eigentliche Selektionsfunktion übernimmt die allgemeine Bildung, wodurch die allgemeine Leistungsfähigkeit zur entscheidenden Determinante für den Zugang zur „höheren“ Bildung wird. Letztlich wächst nicht nur die Zahl der Inhaber/-innen der Hochschulreife und von Hochschulzertifikaten, sondern auch der Schulabbrecher/-innen, die den einseitigen Anforderungen des Bildungssystems nicht genügen und/oder dem Leistungsdruck nicht standhalten.

Die Unternehmen passen ihre Rekrutierungsstrategien an und reagieren auf die Flut an Absolvent/-innen mit hohen Abschlüssen, indem sie ihre Postenhierarchien an die des Bildungssystems angleichen und ausdifferenzieren. Für Angestellte ohne Abitur ist ein interner Aufstieg nicht mehr vorgesehen, da es ausreichend Besitzer/-innen dieses Abschlusses gibt, die im Gegensatz zu Absolvent/-innen der beruflichen Bildung nicht als leistungsschwach bzw. faul gelten. Damit verfestigt sich die Verbindung zwischen dem Niveau des Bildungszertifikats und der Berufsposition. Längere Anlernphasen im Betrieb werden zum Standard für neu unter Vertrag genommene Hochschulabsolvent/-innen, die für Führungsstellen vorgesehen sind, da ihnen das fachliche und betriebsspezifische Wissen fehlt. Darüber hinaus werden die Aufgaben dieser Stellen so definiert, dass sie von den flexiblen Generalisten, die das Bildungssystem produziert, besetzt werden können. Aus der beruflichen Bildung ziehen sich die Betriebe zurück, da die Nachfrage gering ist, ein Investment sich deswegen nicht mehr lohnt und das allgemeine Bildungssystem „bessere“, leistungsfähigere und -willigere Arbeiter/-innen zur Verfügung stellt. Für anspruchslose ausführende Tätigkeiten werden Ungelernte, für die die Lohnkosten gering sind, angestellt und am Arbeitsplatz eingewiesen. Überdies wächst mit der ansteigenden staatlichen Regulierung des Bildungssystems und der vom Staat forcierten Adaption der Logik der allgemeinen Bildung in der beruflichen die Einstellung, es sei Aufgabe des Staates, die Jugend auszubilden. Mit dem Bedeutungsverlust der beruflichen Bildung büßen auch die Kammern ihren Einfluss auf die Gestaltung des Bildungswesens ein.

Der Wirtschaft fehlen qualifizierte Facharbeiter/-innen und am Arbeitsmarkt entsteht ein Nachfrageüberhang an Fachkräften, weil nicht genug Schüler/-innen berufliche Bildungsgänge besuchen. Dies begünstigt die Ausbreitung von Beziehungsnetzwerken elitärer Bildungseinrichtungen, großen Unternehmen und Angehörigen der oberen Schichten, die bei der Vermittlung von sehr guten Arbeitsplätzen greifen. Im Bildungssystem geht es nicht um Qualifikation für Berufe, sondern darum, bei möglichst angesehenen Bildungseinrichtungen Zugang zu finden und Inhalte zu erlernen, die von hohem Prestige sind, weil nicht jeder sie kognitiv verstehen und erfassen kann und sie kulturell anerkannt sind. Ob sie in der Wirtschaft brauchbar sind, ist nicht von Interesse. Sie werden als Prädiktoren wirtschaftlicher Leistungsfähigkeit uminterpretiert und genutzt, während die Beschäftigungsfähigkeit der Absolvent/-innen begrenzt ist. Von Seiten der Politik wird die berufliche Bildung vernachlässigt. Eventuell kommt es zu einer Verschiebung der Kompetenzen, sodass die berufliche Bildung, die nur noch marginal existiert, dem Arbeits- bzw. Wirtschaftsministerium zugeteilt wird, das sie als Instrument der kompensatorischen Arbeitsmarktpolitik nutzt. Andernfalls ist es auch denkbar, dass die berufliche Bildung als solche komplett verschwindet und die Betriebe sie durch längere, strukturierte Anlernphasen ersetzen.

Mit Anwachsen des Werts von Bildungstiteln weitet sich das Bildungsangebot aus. Es gründen sich Bildungsinstitutionen auf verschiedenen Niveaustufen, in erster Linie auf post-sekundärem und tertiärem Level. Sie füllen den lange Zeit leeren Zwischenraum zwischen Bildung für die Elite und Bildung für die Masse. Insbesondere technisch orientierten Studiengängen gelingt es, eine Art Brücke zur Wirtschaft herzustellen. Zum einen ist diese Art Bildung als wissenschaftsorientiert, geistig anspruchsvoll, komplex, aber nicht tätigkeitsbezogen wie die berufliche Bildung kompatibel mit dem kulturellen Leistungsverständnis. Zum anderen beinhaltet sie eine gewisse Anwendungsorientierung, die sich nicht auf einzelne Arbeitsschritte oder ausführende Tätigkeiten bezieht, aber Wissen und Kompetenzen produziert, die in der Wirtschaft dienlich sind.

Private Bildungseinrichtungen verzeichnen eine Bedeutungszunahme. Sie werden von wohlhabenderen Eltern genutzt, um Leistungsdefizite ihrer Sprösslinge durch Nachhilfe zu beheben oder ihnen Vorteile bei der Vorbereitung auf Aufnahmeprüfungen zu verschaffen. Zudem bieten private Träger/-innen Vollzeitschulen als Alternativen zum staatlichen Bildungswesen an, sodass einerseits leistungsschwächere Schüler/-innen die Selektion umgehen und ein bestimmtes Abschlussniveau realisieren können. Manche dieser Schulen bringen es andererseits zu einem großen Prestige und überflügeln die staatlichen Schulen, sodass sie als Einrichtungen für besonders leistungsstarke Schüler/-innen dienen.

Vermögende Familien, deren Kinder Opfer der Selektion werden, aber den elterlichen Status für sich erhalten sollen, beginnen, ihr Kapital einsetzen, um illegal Bildungstitel oder erfolgreiche Aufnahmeprüfungen zu kaufen.

In der zweiten Phase ist das erfolgreiche Bestehen der Zugangsprüfungen zu den besten Hochschulen als Ausweis höchster allgemeiner Leistungsfähigkeit anerkannt. Inhalte an Elitehochschulen können je nach Historie also ein höheres Maß an praxisorientierten Elementen aufweisen, weil die Leistungsfähigkeit als bewiesen gilt. Die Noten der Abschlusszeugnisse dieser Einrichtungen haben kaum Relevanz. Gleiches gilt für Doktortitel. Mit der weitgehenden Verallgemeinerung der beruflichen Bildung passt sich die das Bildungssystem den Betrieben an, deren Strukturen für Führungsposten Generalisten erfordern. Dadurch wird die gängige Leistungsdefinition zementiert.

Phase 3: Förderung beruflicher Bildung und/oder Einführung praxisbezogener Elemente im Bildungssystem

Bemühungen um eine Stärkung beruflicher Bildung, so sie als Teil des Bildungssystems überhaupt noch existiert, sind idealtypisch in einem bestimmten Stadium vorhersehbar, weil die Funktionszusammenhänge der Systeme es erfordern. Durch die Orientierung an allgemeiner und akademischer Bildung entsteht ein Vakuum an der Stelle der ursprünglichen beruflichen Bildung, weil die fachliche Qualifikation auf dieser Ebene fehlt. Die Wirtschaft klagt über die mangelnde Beschäftigungsfähigkeit der Arbeitnehmer/-innen, sodass die Politik die berufliche Bildung, insofern sie noch als Teil des Bildungssystems existiert, fördert, um sie attraktiver zu gestalten. Die Maßnahmen haben geringe Erfolgsaussichten, weil berufliche Bildung kaum nachgefragt wird und mit dem Bildungsideal und den gesellschaftlichen Wertvorstellungen nicht vereinbar ist. Nach wie vor bieten berufliche Abschlüsse vergleichsweise schlechte Karriereaussichten, da die Betriebe ihre Organisation und ihr Rekrutierungsverhalten an das Bildungssystem und dessen Hierarchien assimiliert haben. Also werden berufliche Abschlüsse akademisiert, das heißt berufliche Abschlüsse auf Bachelorniveau im Hochschulbereich etabliert – und die Selektion damit zumindest teilweise noch weiter nach hinten verlagert. Dadurch schreitet die Anpassung beruflicher Bildungsgänge an die Logik des allgemeinbildenden Schulsystems fort. „Höhere“ berufliche Abschlüsse werden formal den allgemeinen gleichgestellt und ihre Bezeichnungen entsprechend den im allgemeinen Schulsystem üblichen Titulaturen gewählt. Nichtsdestoweniger bleibt informell die Hierarchie der Bildungsgänge und Fächer erhalten, da sie Teil der kulturellen Werthaltung ist. Die beruflichen Hochschulabschlüsse werden größtenteils als Übergänge zu allgemeinen Abschlüssen auf Masterniveau genutzt, nicht als Berufsvorbereitung. Da sie Anschluss an allgemeine Masterstudiengänge bieten, müssen sie inhaltlich recht allgemein gehalten werden und unterstehen dem Bildungsministerium. Den „höheren“, allgemeinbildenden Studiengängen gelingt es derweil, ihren Status durch strenge Auswahlverfahren in Form von Aufnahmeprüfungen und/oder Zwischenprüfungen zu wahren. Berufliche Hochschulzertifikate sind somit schwerpunktmäßig berechtigungsorientiert und verbleiben als zweitklassige Allgemeinbildung.

Zur Verbesserung der Praxisorientierung des Bildungssystems beinhalten entsprechende Versuche von Politik und Wirtschaft vor allem Betriebspraktika, bei denen in der Regel nicht betriebliches Lernen im Vordergrund steht. Vielmehr geht es um ein Kennenlernen der Arbeitswelt, von der sich das Schulsystem mit seinen vorwiegend theoretisch-abstrakten Inhalten weit entfernt hat, und das Knüpfen von Kontakten. Eine qualifikatorische Ausrichtung würde bedeuten, tätigkeitsbezogen und zweckgebunden auszubilden, was nicht als „Bildung“ akzeptiert und als unwürdig eingeordnet wird, gerade für allgemeinbildende Bildungstypen. Auch wenn diejenigen, die von eher beruflich oder technisch orientierten, „höheren“ Bildungszweigen herkommen, in der Wirtschaft gute Einstellungschancen haben, bleiben die Arbeitgeber/-innen bei ihrer Strategie, für die höheren Ebenen vorwiegend Absolvent/-innen aus allgemeinbildenden Studiengängen zu rekrutieren. Daher werden die Beförderungsoptionen der Absolvent/-innen eher beruflich ausgerichteter, höherer Bildungsgänge eingeschränkt, wodurch sie an Attraktivität einbüßen. Dies gilt vor allem für berufliche Hochschultypen, die in ihrer Wertigkeit unter den technischen, die relativ allgemein, kognitiv anspruchsvoll und abstrakt gehalten werden können, angesiedelt sind.

Elitehochschulen, die in starkem Wettbewerb untereinander stehen, können in Phase 3 verstärkt Bemühungen ergreifen, sich wirtschaftsnäher und praxisorientierter aufzustellen. Voraussetzung dafür ist die Willigkeit von Unternehmen, die Absolvent/-innen solcher Programme bevorzugt für die höchsten Positionen einzustellen. Da die Selektion an dieser Stufe abgeschlossen ist, würde dies die Zertifikate nicht entwerten.

Die letzten verbliebenen, aufgrund der Negativselektion von leistungsschwächeren Schüler/-innen besuchten beruflichen Abschlüsse im Bereich der Sekundarstufe II werden abgeschafft oder dienen nur noch als Zwischenzertifikate auf dem Weg zur Hochschulreife. Eine Ausnahme besteht in der Schaffung von Angeboten für die steigende Zahl der Schulabbrecher/-innen und als sehr leistungsschwach gekennzeichneten Jugendlichen, die in berufsspezifischen Ausbildungen minderwertige Zertifikate erlangen können. Diese Art Bildung ist als Gegenpol praxisorientierter Elitehochschulbildung anzusehen. Auch hier ist die Selektion bereits abgeschlossen und dadurch betriebsnähere Bildung legitim. Bei dieser Art der Ausbildung ist es denkbar, kooperative Unternehmen als zweite Lernorte einzubeziehen. Sie sparen sich dadurch mit staatlicher Unterstützung Anlernzeit ein und bekommen für bestimmte, „niedrige“ Tätigkeiten qualifizierte Mitarbeiter/-innen zur Verfügung gestellt. Sie müssen aus funktionaler Perspektive nicht zentralistisch durch den Staat gesteuert werden, sondern können dezentralisiert von unterschiedlichen Institutionen betreut und ausgestaltet werden. Die ursprüngliche berufliche Bildung, die umfassend fachlich auf die Berufswelt vorbereitet, ist als solche nicht mehr vorzufinden.

Auf Seiten der Unternehmen werden für Führungsposten, auch der mittleren Ebenen, nur Hochschulzertifikatsinhaber/-innen eingestellt; das Abitur verliert an Bedeutung und dient eher der Berechtigung für den Zugang zu Hochschulen denn als Abschlusszertifikat der schulischen Laufbahn. Interne Aufstiege in Betrieben sind ohne Hochschulabschluss nicht mehr möglich, da genügend Inhaber/-innen akademischer Bildungstitel verfügbar sind, um die vorhandenen Stellen zu besetzen. Für ausführende Tätigkeiten ist kaum Personal vorhanden. Die eher „nachqualifizierenden“ beruflichen Abschlüsse für die Leistungsschwächsten können den Bedarf nicht decken, Überqualifizierte sind vorhanden, aber teuer. Um die fehlenden Kenntnisse der Angestellten hinsichtlich berufsfachlicher Aspekte zu vermitteln, werden sie auf Fort- und Weiterbildungen geschickt, wodurch dieser Sektor einen Teil der Qualifikationsfunktion des restlichen Bildungssystems übernimmt. Angesichts der weit fortgeschrittenen Verallgemeinerung des Bildungssystems werden von privaten, staatlichen oder öffentlichen Trägern sehr spezifische, relativ kurze Fort- und Weiterbildungen für genau definierte Tätigkeiten ausgerichtet.

Aufgrund des extrem hohen Wettbewerbs um Bildungstitel und hohe Posten kommt es zu einer weiteren Ausbreitung und Verfestigung elitärer Netzwerke, die Zugehörige anderer Schichten ausschließen. Außerdem werden finanzielle Mittel zum generationsübergreifenden Statuserhalt durch Kauf von Prüfungsergebnissen und Bildungstiteln eingesetzt.

In Phase 3 sind politische Maßnahmen, die eine Abkehr vom bildungsbasierten meritokratischen Prinzip darstellen und die Dysfunktionen des Systems beheben sollen (zum Beispiel Zertifizierung informeller und non-formaler Kompetenzen) sachlogisch.

Eine Steigerung des Werts von Doktortiteln ist unter der Voraussetzung, dass zur weiteren Förderung der Chancengleichheit eine weitere Öffnung der Hochschulen, vor allem der Elitehochschulen, für größere Schülerzahlen durchgesetzt wird, eine Option. In dem Fall ist idealtypisch mit der Einrichtung beruflicher Masterabschlüsse zu rechnen.

3.2.3.3 Erläuterungen, theoretische Einordnung und Implikationen des Idealtypus (Schritt 6)

3.2.3.3.1 Zum Verhältnis des Idealtypus zum japanischen und französischen Realtypus und ergänzende Bemerkungen

Grundlage des konstruierten Idealtypus waren zwei Länder, von denen angenommen wurde, dass sie einem „reinen“ Typus von Meritokratie recht nahekommen. Es ist davon auszugehen, dass der Einbezug weiterer solcher Länder eine Verfeinerung in Form einer noch differenzierteren und exakteren Ausarbeitung ermöglichen würde. Eventuell könnte man an bestimmten Punkten eine Typenbildung oder das Aufzeigen von weiteren Varianten in Betracht ziehen, sollten sich andere meritokratische Länder sehr von Japan und Frankreich unterscheiden. Für die vorliegende Arbeit und die beabsichtigte Untersuchung des ukrainischen Realtypus dürfte der konstruierte Idealtypus über ein ausreichendes Analysepotenzial verfügen, weil er größere Zusammenhänge auf der Makroebene aufzeigt, von denen nicht erwartbar ist, dass sie sich bei einer Hinzunahme weiterer Länder als Grundlage der Idealtypuskonstruktion ändern würden. Es ist davon auszugehen, dass der Idealtypus ein gewisses Maß an Universalität birgt und nicht unbedingt von politischen und wirtschaftlichen Grundformen abhängig ist, solange diese ideologisch dem bildungsmeritokratischen Prinzip nicht per se entgegenstehen. So weist zum Beispiel Anweiler darauf hin, dass „[die] gesellschaftspolitischen Grundsätze Gleichheit der Bildungschancen sowie Förderung aller und Auswahl der Besten […] für demokratische wie sozialistische politische Systeme“ Anwendung finden (Anweiler 1969, 197).

Die für Japan und Frankreich konstruierten Wertlogiken und ihre strukturellen und systemlogischen Entsprechungen (s. Abschnitt 3.2.2.2 und 3.2.2.3) sind nicht alle auf eine meritokratische Orientierung zurückzuführen. Deswegen wurde versucht, solche Aspekte im Idealtypus nicht zu berücksichtigen. Im Falle Japans handelt es sich hierbei hauptsächlich um die Gruppenorientierung. Sie führt zu einer „Beziehungsgesellschaft“, die, darauf weist Coulmas hin, in dieser Eigenschaft nicht als „meritokratisch“ zu betiteln ist. „Meritokratisch“ ist hingegen die japanische „Bildungsganggesellschaft“ (Coulmas 2003, 179). Beziehungsgesellschaft und Bildungsganggesellschaft verursachen widersprüchliche Szenarien zwischen Gruppenbezug und Konkurrenzdruck (Schubert 1997, 404; Drinck/Schletter 2016, 146). Systemisch hat Japan einen Weg gefunden, beide zu vereinen, indem die Leistungsmotivation aus der Hoffnung auf die Aufnahme in eine bestimmte Gruppe mit einem bestimmten Status gezogen wird. Während die regulären Schulen vor allem in der Primarstufe und durchaus auch in der Mittelschule die Gruppenorientierung fördern, fordern die Vorbereitungsschulen von den Lernenden Leistung ein (vgl. Schubert 1997, 400–404). Die Organisation von Unternehmen ist ebenfalls gruppenorientiert, wodurch die Unternehmen von der Vorbereitung durch das Bildungssystem profitieren, auch wenn die gelehrten Inhalte wenig mit den Arbeitstätigkeiten übereinstimmen (s. hierzu Abschnitt 3.2.2.2.4.4 und 3.2.2.2.5).

Die Einführung der Zertifizierung non-formal und informell erlangter Kompetenzen, wie sie in Frankreich einhergehend mit einer Outcome-Orientierung auftritt, interpretiert Ott als „Abkehr“ von der meritokratischen Logik (Ott 2015, 233 ff.). Hierbei werden Kompetenzen zertifiziert, die nicht im regulären Bildungssystem erlernt wurden und nicht auf normierte Bildungsgänge und Bildungstitel mit einem bestimmten Prestigerang zurückgehen. Folgerichtig sind sie nicht als „bildungsbasiert“ meritokratisch im eigentlichen Sinne zu begreifen (s. hierzu Tabelle 3.2, letzte Zeile).

Ergänzend muss ferner darauf hingewiesen werden, dass sowohl in Japan als auch in Frankreich jenseits der offiziellen Bildungspläne und Lernziele Inhalte transportiert werden, die Einfluss auf die Leistungsbewertung haben können und in den sichtbaren strukturellen Eigenschaften von Meritokratien nicht unbedingt zum Ausdruck kommen. Im Falle Japans handelt es sich hierbei um den oben dargestellten „heimlichen“ Lehrplan; in Frankreich sind es subjektive Komponenten von Leistung, wie deren Virtuosität und Leichtigkeit. Aus soziologischer Sicht lässt sich dies über die Habitus-Theorie bzw. die Theorie der Sozialen Praxis verstehen (vgl. Bourdieu/Passeron 1971; Bourdieu 1976; Bourdieu/Passeron 2007; Bourdieu 2010). In Zusammenhang mit Meritokratie wird die stattfindende Reproduktion sozialer Ungleichheit durch diese Theorien erklärbar. Da sich der „heimliche“ Lehrplan und der „französische“ Habitus der Elite bzw. der Mittelschicht auf allgemeinbildende bzw. kulturbildende Aspekte beziehen, begünstigen sie keineswegs einen etwaigen Einschluss beruflicher, fachspezifischer Bildung in Bildungspläne. Die genannten Theorien erklären vielmehr die Beobachtung, dass politische Maßnahmen der Stärkung beruflicher Bildung in Form von Berücksichtigung berufsfachlicher Inhalte in der Unterrichtsrealität nicht umgesetzt werden.

Generell korrespondieren die kulturell in Japan und Frankreich verankerten Werte sehr gut mit der meritokratischen Logik, weshalb sich Meritokratie dort in hohem Maße entwickeln und ausdifferenzieren konnte. Insbesondere die hohe Lernbereitschaft, die Leistungs- sowie Statusorientierung und das hierarchische Denken entsprechen dem meritokratischen Prinzip. Die hohe Bedeutung der Anpassungsfähigkeit und der loyalen Unterordnung in Japan, die durch die nach wie vor vorhandenen Überreste militärischer Praktiken in den Schulen erlernt werden, bewirken die Akzeptanz des hierarchischen Leistungsprinzips, das sich in der Selektivität des Bildungssystems durch die Aufnahmeprüfungen und in der Verteilung von Karrierechancen nach Bildungserfolg äußert.

Die historisch und traditionell etablierte, stark zentralistische Steuerung durch den Staat, wie sie in den Bildungssystemen Japans und Frankreichs Anwendung findet, stellt einen weiteren wichtigen Faktor bei der hochgradigen Etablierung meritokratischer Strukturen dar. Föderalistisch verwaltete Bildungssysteme neigen weniger zur Hierarchisierung von Bildungsgängen, wie Zymek (2014, 62) aufzuzeigen weiß, weil sie auf einzelne Verwaltungsbezirke begrenzt sind, wodurch kaum nationale Eliteeinrichtungen entstehen. Umgekehrt argumentiert erklärt die Tatsache, dass in Meritokratien zur Legitimierung der Herrschaft Chancengleichheit gefördert werden muss (s. folgender Absatz), die Notwendigkeit einer zentralistischen staatlichen Steuerung des Bildungswesens: „Chancengleichheit kann […] nur eine nationale Erziehung garantieren, die sich souverän über alle regionalen, sozialen, kulturellen und religiösen Unterschiede hinwegsetzt“ (Ritzenhofen 2005, 14; vgl. auch d‘Iribarne/d‘Iribarne 1999, 34; Frommberger 2009, 2).

Abbildung 3.8
figure 8

Das meritokratische Kontinuum: das Leistungsprinzip zwischen Chancengleichheit und Elitenbildung

Wie im theoretischen Hintergrund (s. Abschnitt 2.1.2) gezeigt, gehört Meritokratie zu den legitimen Herrschaftsformen. Als legitime Herrschaftsform ist für Meritokratien die Legitimität des meritokratischen Prinzips und damit seine gesellschaftliche Akzeptanz ein Grundpfeiler seiner dauerhaften Existenz. Mittel zu diesem Zweck ist die Förderung von Chancengleichheit, die deswegen im obigen Idealtypus als Teil und nicht etwa als Antitendenz des selektiven meritokratischen Elitismus behandelt wird. Chancengleichheit und Elitenbildung werden als Gegenpole verstanden, die innerhalb von Meritokratien ein Kontinuum aufspannen, auf dem eine gewissen gesellschaftliche Balance erreicht und gehalten werden muss, wenn eine Meritokratie langfristig erhalten bleiben soll (s. Abbildung 3.8).

Tabelle 3.3 stellt gegenüber, welche Merkmale Bildungssysteme jeweils aufweisen müssten, wenn sie entweder extrem auf (Chancen-)Gleichheit oder auf Elitenbildung und Selektion ausgerichtet wären.

Tabelle 3.3 Vergleich der Eigenschaften von Bildungssystemen nach ihrer Ausrichtung

Historisch gesehen, zumindest was Japan und Frankreich anbelangt, wandert der „Regler“ normalerweise von weit rechts immer weiter nach links, also von der Elitenbildung in Richtung Chancengleichheit (symbolisiert durch den Pfeil mit durchgezogener Linie). Theoretisch ist auch eine Bewegung in Richtung Elitenbildung denkbar, zum Beispiel, wenn aufgrund von Maßnahmen zur Förderung der Chancengleichheit kaum Selektion stattfindet. Befindet sich der „Regler“ zu weit rechts, ist keine Legitimität der Meritokratie mehr gegeben und sie wird instabil; befindet er sich zu weit links, findet wenig bis keine Selektion statt und der Unterschied zwischen Elite und Masse verschwimmt bis zur Unkenntlichkeit, sodass nicht mehr von einer Meritokratie gesprochen werden kann. Es muss zugleich zumindest ein gewisses Maß an Durchlässigkeit und Selektivität vorhanden sein, um von einer legitimen Meritokratie sprechen zu können. Dies wurde bei obiger Idealtypuskonstruktion beachtet.

Für Berufs- und Wirtschaftspädagog/-innen mag es überraschend erscheinen, dass der Idealtypus davon ausgeht, dass eine idealtypische Meritokratie in Phase 2 auf Sekundarniveau eine Einheitsschule umfasst, gilt doch die meritokratische Logik als Logik der Selektivität und der scharfen Trennung beruflicher und allgemeiner Bildung (vgl. Frommberger 2009, 2 ff.). Zwei Faktoren müssen hier beachtet werden: Zum einen durchlaufen Meritokratien prozesshaft unterschiedliche Phasen, sodass Strukturmerkmale nicht an sich (ideal-)typisch meritokratisch sind, sondern lediglich (ideal-)typisch pro Phase vorkommen. Zum anderen sollte man, wie oben schon erläutert, berücksichtigen, dass Meritokratie langfristig der Legitimierung durch Förderung von Chancengleichheit bedarf (vgl. Solga 2013). Die Förderung der Chancengleichheit sowie die Bemühungen zur Stärkung der beruflichen Bildung führen sowohl idealtypisch als auch in Japan und Frankreich zu Formen von praxisorientierteren Bildungsgängen, literaturseitig oft als „Verberuflichung“ bzw. „vocationalization“ der allgemeinen bzw. akademischen Bildung bezeichnet (vgl. zum Beispiel Grubb/Lazerson 2005; Giret et al. 2011; Deißinger 2015; Ziegler 2015), die sehr unterschiedliche Formen annehmen kann. Es stellt sich in diesem Zusammenhang die Frage, ob berufliche Bildung hierdurch nach ihrer Marginalisierung in Zusammenhang mit der meritokratischen Logik wieder an Akzeptanz und Bedeutung gewinnt. Für eine Antwort auf diese Frage muss eine tiefere Analyse stattfinden, inwiefern Titel von Bildungsgängen, die eine Praxisorientierung suggerieren, auch einen entsprechenden Inhalt aufweisen, und ob Praxiselemente nicht eher ein Kennenlernen der Arbeitswelt ohne bildenden Charakter darstellen, wie wir es an den Beispielen Japan und Frankreich gesehen haben. Auch muss in Betracht gezogen werden, ob praxisorientierte Abschlüsse mit allgemeinen gleichwertig sind – nicht formal, sondern in der gesellschaftlichen Anerkennung und bei der Rekrutierung bzw. Zuweisung von Rängen in Unternehmenshierarchien. Überdies kann in vielen Fällen, die unter „Verberuflichung“ laufen, treffender von einer Akademisierung der beruflichen Bildung gesprochen werden. So schreiben Grubb und Lazerson in Bezug auf die Vereinigten Staaten von einem „vocationalism in higher education“, der dazu führe, dass Bildungsgänge mit einem Bachelor abschlössen, die berufliche Inhalte vermittelten, für deren Erlernen ein oder zwei Jahre genügten (Grubb/Lazerson 2005, 20). Das heißt, berufliche Bildung findet auf akademischem Level statt, wo auch eine „niedrigere“ Qualifizierung ausreichend wäre, was aus europäischer Perspektive einer Akademisierung gleichkommt (vgl. Deißinger/Ott 2016).

Der vorliegende idealtypische Entwurf geht ferner davon aus, dass die berufsbezogene qualifikatorische Logik als entscheidendes Allokationsprinzip bürokratisch ist: In Webers bürokratischem Idealtypus gründet die Verbindung zwischen Bildungsabschluss und Berufsposition in der Annahme, dass aufgrund der Fachlichkeit, ausgewiesen durch einen Befähigungsnachweis, bestimmte Positionen fachlich, nicht aufgrund der allgemeinen Leistungsfähigkeit, ausgefüllt werden können. Fachlichkeit folgt dem Qualifizierungsprinzip, nicht dem Leistungsprinzip, und korrespondiert nicht mit vertikalem Denken, es sei denn, es findet innerhalb eines Faches statt. In bildungsbasierten Meritokratien ist eine Verbindung zwischen dem Niveau des Bildungszertifikats und dem Niveau der Berufsposition charakteristisch, die unabhängig von der Übereinstimmung der studierten Fachrichtung mit dem beruflichen Fachgebiet ist. Von Bedeutung ist das Bildungsniveau, gemessen anhand der kulturell determinierten Skala der Bildungsgänge. Die meritokratische Logik weist Individuen aufgrund der allgemeinen Leistungsfähigkeit, zertifiziert durch das Bildungssystem, Posten zu. Leistungsfähigkeit wird an kognitiven, intellektuellen Fähigkeiten festgemacht, zu denen auch technische gehören können, nicht an fachlichen, tätigkeitsbezogenen, weil nur durch eine allgemeine Leistungsfähigkeitsmessung eine vertikal ausdifferenzierte Hierarchie möglich ist. Lediglich nach der Selektion nach allgemeiner Leistungsfähigkeit mögen berufsvorbereitende Aspekte eine Rolle spielen, wie idealtypisch in Phase 3 ausgewiesen. Funktionelle Mängel im Gesamtsystem führen hier ab einem gewissen Entwicklungsstadium zum Versuch, mehr fachliche und berufspraktische Aspekte in Bildungsgänge zu integrieren (s. hierzu ausführlicher Abschnitt 3.2.3.3.3).

Hinsichtlich der Bildungsexpansion und der damit in Verbindung stehenden Inflation von Bildungstiteln wurde bislang nur der Beitrag des meritokratischen Prinzips thematisiert. Zusätzliche Ursachen, die in der Literatur zur Sprache kommen, werden unten besprochen (s. hierzu Abschnitt 3.2.3.3.5).

Mit Blick auf die Hinwendung zum Egalitären bzw. Elitären besteht, wie Große betont, ein Zusammenhang mit der wirtschaftlichen Lage. Egalitarismus wird typischerweise in Zeiten des Wirtschaftswachstums, wenn viele Fachkräfte benötigt werden, hervorgehoben. Elitenbildung wird in Zeiten der Rezession gefördert, in denen weniger Fachkräfte benötigt werden und deshalb eine schärfere Selektion sinnvoll erscheint (Große 2008, 201).

Die Bildungsexpansion verursacht eine in der Literatur bekannte Entwicklung, bei der das Bildungssystem seiner Selektionsfunktion immer weniger nachkommen kann, weil immer mehr Menschen höhere Abschlusszertifikate erwerben. Daher setzen Betriebe bei der Rekrutierung zunehmend auf alternative Verfahren zur Ermittlung der Leistungsfähigkeit von Bewerber/-innen (Kronig 2007, 51). Da dies eine Loslösung von der bildungsbasierten Meritokratie im Sinne einer engen, allokationsdeterminierenden Verknüpfung von Bildungsabschlüssen und Berufspositionen bedeutet, wurde dieser Prozess nicht in den Idealtypus einbezogen.

Die Eigenschaften des idealtypischen Bildungssystems einer idealtypischen bildungsbasierten Meritokratie unterscheiden sich deutlich vom meritokratischen Grundgedanken der „gerechten“ Selektion auf Basis des Leistungsprinzips. Teilweise sind gerade Phänomene, die das Ideal von Meritokratie zu vermeiden wünscht, aus idealtypischem Blickwinkel als „meritokratisch“ zu bezeichnen. Die beiden Pole der Gleichheit und der Elitenselektion sorgen bisweilen für Disbalancen: Während die Etablierung von Selektionsmechanismen Chancengleichheit verhindert, vereitelt die Förderung von Chancengleichheit eine scharfe Selektion. Das Ergebnis sind zugleich durchlässige und selektive Bildungssysteme, bei denen die Grenzen zwischen Bildungsgängen, -typen, und -arten, die in ausdifferenzierte Hierarchieordnungen eingruppiert werden, verschwimmen. Da in bildungsbasierten Meritokratien Bildungstitel als Nachweis der allgemeinen Leistungsfähigkeit verwendet und eng mit Karrierechancen und dem erreichbaren Status verknüpft werden, sind sie von außerordentlicher Wertigkeit. Logische Konsequenz sind Versuche, das Leistungsprinzip zu umgehen. Im Endeffekt treten gerade solche Phänomene wie starke Netzwerke der Elite und Korruption auf, die das meritokratische Prinzip als normativ-idealistischer Gegenentwurf unfairer Verteilungsmechanismen unterbinden wollte.

3.2.3.3.2 Einseitige Betrachtungsweisen und Ambivalenzen des meritokratischen Prinzips und seiner Umsetzung

Die Erkenntnis, dass Meritokratie bisweilen fördert, was sie zu verhindern sucht, ist nicht überraschend, ordnet man sie neben Resultaten der existierenden Meritokratieforschung ein: Auch die Reproduktion sozialer Ungleichheit ist ein Effekt, der in Meritokratien durch zahlreiche Studien nachgewiesen wurde, obwohl das meritokratische Ideal sie gerade ausschließt und auf soziale Mobilität nach oben und unten abzielt (s. hierzu Abschnitt 2.1.3). In Youngs (1961) Fiktion von Meritokratie entwickelt diese sich am Ende zu einer Oligarchie, in der die Elite imstande ist, systematisch soziale Mobilität auszuschließen und sich generationenübergreifend fortzupflanzen.

Nach Bell (1972) kann es in der Realität keine „reine“ Meritokratie geben, da jene, die zu den höheren Schichten gehörten, immer versuchten, der nachfolgenden Generation ihre Position weiterzugeben, indem sie entweder ihren Einfluss nutzten oder sie mit vorteilsbringendem kulturellem Kapital ausstatteten. Die Vorbedingung der Chancengleichheit kann nicht erfüllt werden, solange wie in Meritokratien bewusst soziale Ungleichheit herbeigeführt wird.

Es wird postuliert, dass die Definition von Leistung in der Wirklichkeit von den Machtverhältnissen und dem gegebenen Kontext, in dem sie angewendet wird, abhänge. So sei zu erklären, dass in Meritokratien immer wieder zu beobachten sei, dass konkrete Gruppen Vorteile und andere Nachteile aus der Anwendung des meritokratischen Leistungsprinzips zögen (vgl. Miller 1996, 279 f.; Eswein 2005, 85; Gruber 2016, 17 f.).

Die Reproduktion sozialer Ungleichheit wird eng mit Bildungsungleichheit verknüpft, die beinhaltet, dass bestimmte soziale Gruppen, was den Zugang zur „höheren“ Bildung angeht, benachteiligt werden (vgl. Müller/Mayer 1976; Shavit/Müller 1998; Becker 2006; Mayer et al. 2007, 247; Becker 2011; Müller/Pollak 2016). Damit ist in der realen Meritokratie die normative Voraussetzung, die besagt, dass Vermögen, Macht und Status ausschließlich über das Leistungsprinzip vergeben werden (Arzberger 1988, 26), verletzt. Betrachtet man Meritokratie idealtypisch, so ist es ein Kennzeichen von Meritokratie, dass sie produziert, was sie normativ vermeiden möchte.

Für die berufliche Bildung erweist sich der hierarchisierende Charakter des meritokratischen Prinzips als problematisch, weil er horizontale Differenzierung kaum zulässt und vertikale Rangfolgen generiert. Eine Mixtur aus historischen, soziokulturellen und funktionalen Ursachen ist dafür verantwortlich, dass der beruflichen Bildung gegenüber allgemeiner und akademischer Bildung ein inferiorer Status zugewiesen wird. Insofern berufliche Bildung akademisch ist, gilt die Überlegenheit der allgemeinen akademischen Bildung im Sinne nicht tätigkeitsbezogener Bildung.

Meritokratieforscher/-innen sind in aller Regel Akademiker/-innen, die als solche vom meritokratischen Bildungssystem profitiert haben bzw. eine Position an der Spitze der Bildungshierarchie erreicht haben. Es wird vor allem bei empirischen Meritokratie-Untersuchungen in den allermeisten Fällen implizit davon ausgegangen, dass akademische Bildung höherwertig ist als berufliche, und problematisiert, dass prozentual nur wenige Arbeiterkinder ein Studium beginnen. Der „reale“ Grad von Meritokratie in einer Gesellschaft, so Hoffer, wird in Studien anhand von Daten zur Herkunft, zu Ergebnissen von Tests der kognitiven Leistungsfähigkeit, zu Bildungsabschlüssen und Berufserfolg gemessen (Hoffer 2002, 435). Die Option, dass jene, die sich für eine Berufsausbildung anstelle eines Studiums entscheiden, einen gleichwertigen oder gar besseren Weg wählen (vgl. hierzu Billett 2014), scheint es nicht zu geben. Ein Studium wird als Königsweg aufgefasst. Dabei könnte man ein Studium auch wertfrei zum Beispiel als Weg für intellektuell überdurchschnittlich Begabte begreifen, der nicht besser oder wertvoller sein muss als der Weg der beruflichen Bildung für beispielsweise überdurchschnittlich handwerklich oder vielseitig Begabte. Insofern gilt es als Problem, wenn anteilsmäßig nur wenige Arbeiterkinder ein Studium anstreben und absolvieren.

Die Organisation des Bildungswesens und der Arbeit sowie die Gestaltung von Übergängen zwischen Bildungsgängen und Beschäftigung und ihre Standardisierung sind abhängig von Normen und Regularien, die generell gesellschaftlich anerkannt werden. Sie sind Resultate „kollektiver und individueller Werthaltungen und Präferenzen“ (Georg/Sattel 2006, 126). Die „soziale Ordnung von Bildungsinstitutionen“ wird scheinbar unhinterfragt als eine „eigentümliche Faktizität“ hingenommen (Schäfer/Thompson 2015, 26). Selbst im Diskurs der Bildungshistoriker/-innen über Leistungsbewertungspraktiken im Schulwesen erscheint der Leistungsbegriff als naturgegeben und nicht etwa als historisch wandelbar (Reh et al. 2015, 37). Insofern reflektiert der Meritokratie-Diskurs häufig die Definition von Leistung und Erfolg nur unzureichend und akzeptiert den kognitiven Intelligenzquotienten als gegebene Grundvoraussetzung und Indikator hoher Leistungsfähigkeit. Auf wissenschaftlicher und gesellschaftlicher Ebene wird die bildende Wertigkeit von Lernprozessen mit tätigkeitsspezifischen Inhalten und Kompetenzzielen, unter anderem durch die Vorgaben der strukturellen Gestaltung des Bildungs- und Beschäftigungswesens, häufig geleugnet (vgl. Nida-Rümelin 2016, 22 f.).

Begabungen und Leistungen außerhalb des Bereichs der relativ eng gefassten kognitiven Intelligenz bleibt die Anerkennung versagt. – So ist es nicht verwunderlich, dass Bildungstitel der nichtakademischen beruflichen Bildung realiter tendenziell gegenüber anderen, als höher angesehenen Titeln wie Studienabschlüssen abgewertet werden (Collins 1979, 128; Angermuller/Maeße 2015, 74).

Währenddessen empfindet man das Leistungsprinzip als solches als legitim (vgl. Fend 2008, 46 f.; Stojanov 2011, 160) und damit verhältnismäßig gerecht.

Dementgegen bezeichnet Stojanov die durch die Anwendung des Leistungsprinzips erforderliche Selektion durch das Bildungswesen als moralisch nicht zu rechtfertigen (Stojanov 2011, 165, 172 f.). Aus seiner philosophischen Sicht widerspricht es dem Gedanken der Bildungsgerechtigkeit als der „Ermöglichung der Entwicklung der Autonomiefähigkeit bei allen Educanden“ (Stojanov 2011, 171). Diese sei nicht gegeben, wenn Fähigkeitspotenziale von Kindern in der Schule schon sehr früh auf eine bestimmte Art der Leistungserbringung eingegrenzt werden würden. Auch der Bildungsauftrag der Schule im Sinne der Förderung autonomer Persönlichkeiten werde ausgeblendet, wenn eine Auslese nach Maßgabe des Leistungsprinzips erfolge, das der freien Persönlichkeitsentwicklung, die auch außerhalb vordefinierter Inhalte stattfinden müsse, im Wege stehe (Stojanov 2011, 171; vgl. auch Nida-Rümelin 2016, 22 f.).

3.2.3.3.3 Definitorische Abgrenzung zwischen bürokratischer und meritokratischer Logik auf Basis des Gegensatzes zwischen Fach- und Kulturmensch

Max Weber unterscheidet zwischen einem Fachmenschentum, das er der Bürokratie zurechnet, und einem Kulturmenschentum, mit dem es in Widerstreit stehe. Die Frage nach dem Fach- und Kulturmenschentum berührt letztlich die „alte“ Frage nach der Bildungswirksamkeit fachlicher bzw. berufsspezifischer Bildung. Sie lässt sich auf den Gegensatz der Begriffe „Bildung“ und „Qualifikation“ zuspitzen (vgl. zum Beispiel Deutscher 2019, 96 ff.) und hat in der Vergangenheit für rege bildungstheoretische Diskurse gesorgt. Für die vorliegende Arbeit genügt es, die Weber‘sche Unterscheidung zu nutzen, um Meritokratie präziser theoretisch zu erfassen und die Differenzen zur Bürokratie herauszuarbeiten. Sie dient außerdem zur Fundierung der bei der Idealtypuskonstruktion gewählten Setzung, dass es in Meritokratien zu einer kulturell internalisierten Werthaltung kommt, die die Wertigkeit tätigkeitsbezogener fachlicher Bildung negiert.

Das Kulturmenschentum beschreibt Weber als Ausdruck einer bestimmten kulturellen Prägung, deren Erziehung ein Ziel habe, das zähle:

nicht der ,Fachmensch‘, sondern […] der ‚kultivierte Mensch‘. Der Ausdruck wird hier gänzlich wertfrei und nur in dem Sinne gebraucht: daß eine Qualität der Lebensführung, die als ‚kultiviert‘ galt, Ziel der Erziehung war, nicht aber spezialisierte Fachschulung. Die […] kultivierte Persönlichkeit war das durch die Struktur der Herrschaft und die sozialen Bedingungen der Zugehörigkeit zur Herrenschicht geprägte Bildungsideal. Die Qualifikation der Herrenschicht als solcher beruhte auf einem Mehr an ‚Kulturqualität‘ [...], nicht von Fachwissen. […] Hinter allen Erörterungen der Gegenwart um die Grundlagen des Bildungswesens steckt an irgendeiner entscheidenden Stelle der durch das unaufhaltsame Umsichgreifen der Bürokratisierung aller öffentlichen und privaten Herrschaftsbeziehungen und durch die stets zunehmende Bedeutung des Fachwissens bedingte, in alle intimsten Kulturfragen eingehenden Kampf des ‚Fachmenschen‘-Typus gegen das alte ‚Kulturmenschentum‘. (Weber 1921, 578)

Weber bestätigt damit die oben im Idealtypus getroffene Annahme, dass sich das Bildungsideal der Elite auf Kultiviertheit bezieht. Als Medium zur Abgrenzung von der Nicht-Elite klammert es fachliche, das heißt beschäftigungsorientierte, Bildung aus und wendet sich der Allgemeinbildung zu.

Fachliche Qualifizierung ist ein bürokratisches Prinzip, das auf eine möglichst gute Vorbereitung für eine Beschäftigung in einem bestimmten Feld abzielt, um wirtschaftlich effizient arbeiten zu können: Bei Weber gründet sich der „bürokratische Herrschaftsapparat“ auf „Fachschulung, arbeitsteiliger Fachspezialisierung und festem Eingestelltsein auf gewohnte und virtuos beherrschte Einzelfunktionen in planvoller Synthese“ (Weber 1921, 570). Die allgemeine kognitive Leistungsfähigkeit scheint dabei kaum von Belang zu sein. Vielmehr steht der Gedanke im Vordergrund, dass es für die Ausübung von Beschäftigungen eine fachliche Vorbereitung braucht, um sich die Fähigkeiten für einen bestimmten Beruf oder Arbeitsplatz anzueignen. Die Leistungsfähigkeit wird also als Resultat eines strukturierten Lernprozesses gesehen, weniger als Ergebnis persönlicher Potenzialausschöpfung. Selektion erfolgt aufgrund von Fachqualifikation, nicht aufgrund von allgemeiner kognitiver Intelligenz (vgl. Weber 1921, 127, 551–554).

Der von Weber beschriebene Widerstreit der Ideale des Kultur- bzw. Fachmenschen endet, so die Einschätzung bei obiger Idealtypuskonstruktion, in bildungsbasierten Meritokratien zugunsten des Kulturmenschen: In bildungsbasierten Meritokratien werden, erstens, intentional Eliten gebildet; das heißt, es wird hierarchisiert. Dadurch müssen sowohl eine Abgrenzung (zwischen Elite und Nicht-Elite und im Verlauf auch Zwischenstufen) als auch eine Bewertung (von Bildungsabschlüssen und Fächern) stattfinden, die zu Werthierarchien von Fächern, Bildungsgängen und Abschlüssen – sowie deren Inhaber/-innen – führen. Ricken schätzt die Zurechenbarkeit von Leistung zum einzelnen Individuum in Zeiten „fortgeschrittener Arbeitsteilung und zunehmender beruflicher Spezialisierung“ als kaum umsetzbar ein (Ricken 2018, 48). Durch die Verbindung von Leistung und Lohn sowie die Schließung höherer Bildungsgänge für weniger Leistungsfähige (Goldthorpe 1996, 255 ff.) ist die Klassifizierung und Vergleichbarkeit von Leistung jedoch Voraussetzung für die Funktionsfähigkeit von Meritokratien (s. Abschnitt 2.1.3). Insofern ist eine Orientierung an der allgemeinen Leistungsfähigkeit als kognitiver Intelligenz (plus Anstrengung) hinsichtlich der praktischen Umsetzung des Leistungsprinzips folgerichtig, was eine Loslösung von der Qualifikationsfunktion impliziert. Der Kulturmensch favorisiert auch jenseits rationaler Überlegungen und praktischer Umsetzbarkeit historisch gesehen ein Bildungsideal, das auf kognitiver Intelligenz und Zweckfreiheit der Inhalte basiert. Kultiviertheit war in der Geschichte das, worüber sich die Elite in zahlreichen Gesellschaften distinguiert hat (Weber 1922; Lenhart 1986, 532), sodass in diesem Denken und der zugehörigen Pädagogik das hierarchische, aufteilende, elitäre Denken schon angelegt ist. Es offenbart sich zwischen der kulturellen und fachlich-spezialisierten Ausrichtung ein grundsätzlicher Unterschied, den Bourdieu wie folgt umreißt: Kulturell integrierender Unterricht ist ‚allseitig‘ und bereitet auf einen ‚allseitigen‘ Status vor. Spezialisierter Unterricht entgegen vermittelt „spezifische Kenntnisse und Fertigkeiten“ und bringt dadurch eine Vielzahl an spezialisierten Schulen hervor (Bourdieu 2001, 98). Das Fachprinzip folgt also einer Logik, bei der horizontale Differenzierung nach fachlichem, berufsbezogenem Inhalt und Arbeitsteilung entscheidend sind. Fachliche Leistung wird nicht durch die Kultur, sondern durch die Wirtschaft definiert. Meritokratische, hierarchisierende und leistungsorientierte Formen der Differenzierung sind, im reinen bürokratischen Typus gedacht, nur innerhalb von Fächern möglich, wobei die Leistungsfähigsten eines beruflichen Faches als die Qualifiziertesten für einen bestimmten Tätigkeitsbereich gesucht werden (vgl. Weber 1921, 576). Es herrscht nach dieser Logik schlicht kein Bedarf an vertikaler Gliederung einzelner Fächer.

Zweitens unterliegt die Definition von Leistung, wie in Abschnitt 2.2 gezeigt, kulturellem Einfluss, wodurch meritokratische Systeme kulturorientiert sind. Sie ist nicht etwa Ausdruck und Folge fachlicher Effizienzüberlegungen. Vielmehr tritt sie als natürlich gegeben auf und wird in der Regel von der Gesellschaft und damit den Systemmitgliedern als Akteur/-innen auf unterschiedlichen Ebenen nicht hinterfragt oder rein zweckrational ermittelt. Somit bringt das Leistungsprinzip kulturell definiert Leistungsfähige hervor, die Kulturmenschen sind.

Drittens verfügt das Kulturmenschentum neben der Festlegung der Leistungsdefinition über ein zweites „Einfallstor“ ins Bildungswesen: Bildungssysteme haben nicht nur die Aufgabe, für Berufe vorzubereiten, sondern auch jene, zu enkulturieren (Fend 2008, 52 ff.). Aus diesem Grund unterliegt das Bildungssystem immer kulturgegebenen Werten, Werthaltungen und Einflüssen, die Curricula jenseits von tätigkeitsbezogenen, fachlichen Kalkülen prägen. Eswein stellt der ‚Kultivationspädagogik‘ die ‚Fachschulung‘ gegenüber (Eswein 2016). Diese beiden Bildungsarten gehören zu den Bildungsidealen des Kultur- bzw. Fachmenschen, die Weber erwähnt. Die meritokratische Logik stimmt deutlich besser mit dem Ideal des Kulturmenschen und der Kultivationspädagogik als mit jenem des Fachmenschen und der Fachschulung überein, sodass in Meritokratien das Kulturmenschentum die Oberhand gewinnt bzw. sich Meritokratie besser in Ländern entfalten kann, die eher kultur- statt fachorientiert vorgehen. Daher sollten Fachmensch und Fachprinzip als dominantes Allokationsprinzip theoretisch bei der Bürokratie, Kulturmensch und Leistungsprinzip als dominantes Allokationsprinzip bei der Meritokratie verortet werden.

Der Widerstreit zwischen Fach- und Kulturmensch kristallisiert in der Frage nach der Bedeutung und Wertschätzung von beruflicher Bildung als fachbezogener Bildung im Gegensatz zu jener von Allgemeinbildung als kulturbezogener Bildung. Neigt sich die Waage zugunsten des Kulturmenschen, was idealtypischerweise in Meritokratien der Fall ist, so verliert die vom Fachmenschentum geprägte berufliche Bildung an Wertschätzung. Deißinger stellt die „meritokratische“ Denkfigur der „qualifikatorischen“ unmittelbar gegenüber. Er hebt hervor, dass in Meritokratien das Berechtigungswesen im Mittelpunkt steht, das fachliche, beschäftigungsorientierte Qualifikationen in den Hintergrund drängt (Deißinger 2001b, 11 f.; s. hierzu auch Abschnitt 1.1.2). Das allgemeinbildende System folgt nicht der qualifikatorischen, sondern der kultivatorischen Logik. Durch die Einführung des Leistungsprinzips muss das Fachprinzip mit dem Kulturprinzip konkurrieren. Da Leistung kulturell definiert wird und das Bildungssystem auf den ersten Stufen kulturell bildet und nicht fachlich, dominiert die kultivatorische Logik. Im Regelfall kann sie sich außerdem besser mit den kulturell vorherrschenden Werten verbinden, die der Allgemeinbildung den Vorrang geben. Somit ist die meritokratische Logik eine Logik der „Hierarchisierung“ und der „zunehmenden Marginalisierung fachspezifischer Qualifizierung“ (Georg 1998, 63; vgl. auch Hörner 1994, 291), das sich durch die Abschlussorientierung immer mehr von der fachlichen Ausbildungsabsicht der Bürokratie abkehrt. Während, wie bei Weber gesehen, in Bürokratien die fachliche Qualifikation für eine Berufsposition im Mittelpunkt steht, ist es in bildungsbasierten Meritokratien der Gedanke, sich eine Position und die entsprechende Vergütung durch Leistung verdienen zu müssen, die sich in der Höhe des Bildungsabschlusses ausdrückt (s. Abschnitt 2.1.3).

Auf den Punkt gebracht basiert obiger Idealtypus auf der Annahme, dass die Kulturmenschorientierung mit der meritokratischen Logik korrespondiert, die Fachmenschorientierung nicht oder nur in eingeschränktem Maße. Dadurch ist es wahrscheinlich, dass sich in Ländern, in denen eine Werthaltung vorherrscht, die dem Kulturmenschentum entspricht, das meritokratische Prinzip viel stärker durchzusetzen vermag. Länder, die den Fachmenschen mehr wertschätzen, lassen eher andere Prinzipien zu. Eine strukturelle Durchsetzung des meritokratischen Prinzips kann auf Dauer nur bestehen, wenn das Kulturmenschentum das Fachmenschentum dominiert. Auch wenn das Kulturmenschentum vor der Anwendung und Durchsetzung des meritokratischen Prinzips als Werthaltung in einer Gesellschaft schon existiert hat, so ist doch anzunehmen, dass sich diese oder eine ähnliche Haltung auch mit dem Fortschreiten der strukturellen Wirkung der meritokratischen Logik entwickelt hätte, wäre sie noch nicht präsent gewesen.

Sowohl vom Fach- als auch vom Kulturmenschen zu unterscheiden ist der Berufsmensch, der an dieser Stelle der Vollständigkeit halber genannt werden soll. Er stellt eine Sonderform dar, die sich pädagogisch mit beruflicher Bildung im engeren Sinne deckt. Wie Deißinger und Frommberger (2010, 347) sowie Frommberger (2012, 170 f.) herausarbeiten, besitzt das Berufsprinzip eine breitere, über den Qualifizierungsgedanken hinausgehende Sinnreferenz als das Fachprinzip.

Fachbezogene Formen von Herrschaft sind durchaus denkbar. Sie äußern sich in Konstrukten, die unter dem Terminus der Technokratie bekannt sind: Wie in Meritokratien steht der Intellekt im Vordergrund, da die Fachlichkeit auf einer starken Wissenschaftsorientierung beruht und auf bestimmte intellektuelle Leistungen, die das Endziel des technischen Fortschritts haben, ausgerichtet ist. Die technokratische Fachlichkeit ist daher in der Konsequenz kaum tätigkeits- oder beschäftigungsbezogen, sondern darauf, die technische Leistung von Maschinen zu optimieren, nicht menschliche Leistung und Fähigkeiten (vgl. Berndt 1982, 11 ff.). Somit ist auch bei Technokratien davon auszugehen, dass berufliche Bildung im weiteren Sinne höchstens als „niedrigere“ Form der Bildung existiert. Wie Berndt aufzeigt, ist Technokratie empirisch und ideell mit antidemokratischen Ideen und Planwirtschaft verbunden. Es steht nicht die Elitenbildung auf Basis des Leistungsprinzips im Vordergrund, sondern die Herrschaftsübernahme durch wissenschaftlich bzw. technisch geschultes Personal, das politische Entscheidungen streng nach technischen und wissenschaftlichen Gesichtspunkten trifft. Dadurch findet eine einseitige Fokussierung auf das Ingenieurwesen statt (vgl. Berndt 1982, 11 ff.).

3.2.3.3.4 Die Trennung praktischer und geistiger Arbeit als Basis der Marginalisierung beruflicher Bildung in bildungsbasierten Meritokratien

Ein Grund dafür, weshalb Kultur- und Fachmenschentum als Gegensätze interpretiert werden, liegt darin, dass viele Kulturen (berufs-)fachliche, konkrete, tätigkeitsbezogene, zweckdienliche Erziehung in ihren Wertschätzungshierarchien an das untere Ende setzen. Beschäftigungsbezogene Fachlichkeit ist kein Teil dessen, was kulturelle Anerkennung erfährt. Dies ist genuin keine Folge einer meritokratischen Orientierung, sondern erklärt eher die reale Umsetzungsweise des meritokratischen Prinzips. Wie im vorigen Abschnitt erläutert, korrespondiert eine solche Werthaltung sehr gut mit einer hierarchisch gedachten Leistungslogik. Um die Ursache bzw. Wurzel dieses kulturellen Phänomens zu verstehen, vermag eine kurze historische sowie philosophische Betrachtung der Trennung körperlicher und geistiger Arbeit sowie der sozialen Klassentrennung Aufschluss zu geben.

Wie Dewey erklärt, manifestiert sich eine „tiefe Kluft“ zwischen „den abstrakten und allgemeinen Begriffen“ der Philosophie und „den praktischen und konkreten Einzelheiten der Berufsbildung“. Philosophen haben in der Vergangenheit Begriffe wie „Arbeit und Muße, Theorie und Praxis, Körper und Geist, Geist und Welt“ kontrastiert, und dies äußert sich „in der Gegenüberstellung von allgemein-kultureller und beruflicher Bildung“ (Dewey 1993, 397). Letztere führte historisch betrachtet zu einer Aufgliederung des Schulsystems. Ein Zweig war für die niedrigeren Schichten konzipiert, denen die Rolle der Diener/-innen an der Gesellschaft zugewiesen wurde und die entsprechend beruflich gebildet wurden. Für die obere Schicht war die allgemeine, kulturell als wertvoll und überlegen verstandene Bildung vorgesehen (Dewey 1993, 397, 410 f.). Die Aufspaltung des Bildungswesens in diese zwei Teile „heißt aber die Schulen herabwürdigen zu einem Mittel, um die alten Gegensätze von Arbeit und Muße, Kultur und Dienst, Geist und Körper, herrschender und geleiteter Klasse in die neue demokratische Gesellschaft hineinzutragen“ (Dewey 1993, 410 f.). Insofern interpretiert Dewey den institutionalisierten Gegensatz zwischen allgemeiner und beruflicher Bildung als „Bewahrung aristokratischer Ideale der Vergangenheit“ und damit eine „Fortführung der alten sozialen Klassentrennung mit ihrem Gegenstück, einem geistigen und moralischen Dualismus“ (Dewey 1993, 412; vgl. auch Billett 2014).

Die Idee der Differenzierung zwischen ‚freier Erziehung‘ und ‚beruflicher‘ bzw. ‚praktischer Erziehung‘ datiert Dewey auf die griechische Antike. Sie hängt mit der Dienstbarkeit der unterschiedlichen Klassen zusammen (Dewey 1993, 329 f.).

Dewey beschreibt die Unterscheidung wie folgt:

Diesen beiden Arten der Betätigung und der Unterscheidung zwischen dienender und freier Betätigung (Kunst und Wissenschaft) entsprechen zwei Typen der Bildung: die niedere oder mechanische und die freie oder geistige Bildung. Die einen werden durch geeignete praktische Übung darin geschult, gewisse Dinge zu tun, mechanische Werkzeuge zu gebrauchen und damit technische Erzeugnisse herzustellen oder persönliche Dienste zu leisten. Diese Schulung ist lediglich Sache der Gewöhnung und der technischen Fertigkeit; ihre Methode ist Wiederholung und Beflissenheit der Hingabe, nicht Erweckung und Förderung des Denkens. Freie oder geistige Bildung dagegen strebt danach, die Intelligenz für ihre eigentliche Aufgabe heranzubilden: für das Erkennen. (Dewey 1993, 332 f.)

Dieser kulturell verankerte, nach Dewey (1993, 342) sozial und geschichtlich bedingte, Gegensatz zwischen nutzen- und kulturorientierter Bildung verhindert, dass Meritokratie das erreichen kann, was sie eigentlich erreichen möchte – eine „gerechte“ Verteilung von Vermögen, Status und Positionen auf Basis eines „gerechten“ Prinzips. Leistung erweist sich in ihrer kulturellen Determiniertheit dafür als ungeeignet.

Die kulturelle Definition von Leistung in Meritokratien steht eng mit der kulturellen Einordnung von Berufen in Beziehung. Hope und Goldthorpe (1974) und in der Folge Erikson und Goldthorpe (1992, 38 f.) entwickelten eine siebenstufige Skala, in der sie die Wertschätzung unterschiedlicher Berufe in modernen Gesellschaften aufzeigen, indem jeder Beruf einer von sieben hierarchisch angeordneten Klassen zugeordnet wird (I Service Class, II Routine non-manual workers, III Petty bourgeoisie, IV Farmers, V Skilled workers, VI Non-skilled workers, VII Agricultural labourers). Sie ist Zeichen der weitverbreiteten Höherachtung geistiger und kognitiv komplexer Arbeit im Vergleich zu praktischer bzw. körperlicher Arbeit und spiegelt die von Dewey skizzierte Unterscheidung der entsprechenden Bildungsarten wider. Die Einteilung geht zurück auf eine Drei-Klassen-Gliederung mit „non-manual workers“ an der Spitze, gefolgt von „farm workers“ und am Ende „manual workers“. Sie korrespondiert mit der von Kreckel (2004, 89 ff., 97) beschriebenen „Prestigeordnung“ moderner Gesellschaften, die besagt, dass bestimmte (Berufs-)Gruppen wichtiger und höhergestellt sind als andere. Der Zugang zu diesen Gruppen erfolgt über Qualifikationen, wobei die Höhe der Berufsposition mit der Höhe des Einkommens verbunden ist. Basis der Prestigeordnung ist die „meritokratische Triade moderner marktwirtschaftlicher Gesellschaften […] aus Bildung, Beruf und Einkommen“ (Hadjar 2008, 49). Klassifizierungen wie ISCO, ISCED, ESCO und EQF fundieren angesichts ihrer gegenseitigen Abhängigkeit ebenfalls auf der meritokratischen Triade und tragen dazu bei, dass aus Beschreibungen von Berufen und Bildungsabschlüssen Bewertungen werden (vgl. Bohlinger 2019). Der überaus breite, internationale Länderbezug dieser Schemata rechtfertigt die Übernahme der zugrundeliegenden kulturell verankerten Werte, die sich immer weiter ausbreiten (vgl. Nida-Rümelin 2014, 17), in unsere idealtypische Betrachtung.

3.2.3.3.5 Der Bedeutungsverlust beruflicher Bildung im Licht verschiedener Erklärungsmuster der Bildungsexpansion und ihr Bezug zur meritokratischen Logik

Dass berufliche Bildung in Meritokratien einen schweren Stand hat, hängt unter anderem mit dem Wertigkeitsverlust der entsprechenden Zertifikate zusammen. Nach Collins sind es die [durch das meritokratische Prinzip erklärbare, Anm. d. Verf.] Ausweitung des Bildungsangebots und die Bildungsexpansion, die für die Inflation des Werts von Bildungszertifikaten verantwortlich sind:

Credential inflation is largely supply driven, not demand driven; i.e. it is driven by the expansion of schooling, like a government printing more paper money; not from demand of the economy for an increasingly educated labor force. The opposing theory, that rising educational requirements have been determined by the functional requirements of jobs in the modern economy, does not hold up under the evidence. (Collins 2011b, 231)

Die Diversifizierung von Bildungssystemen kann demnach als Grund für die Bildungsexpansion angesehen werden, weil sie einer größeren Anzahl an Menschen „höhere“ Abschlüsse ermöglicht (Windolf 1986, 259 f.). Allerdings ist ihr Preis die Entwertung eines Teils von Zertifikaten (Windolf 1986, 246; vgl. auch Kronig 2007, 50), nämlich der „niedrigeren“. Dass Regierungen auf die Entwertung von Bildungstiteln oftmals wiederum, wie im Idealtypus dargestellt, mit einer weiteren Diversifizierung des Bildungssystems reagieren, wird literaturseitig bestätigt (Kronig 2007, 50). Zu einer Verstärkung der Abwertung beruflicher Bildung kann ein Effekt führen, den Alheit am Beispiel eines Dorfschullehrers beschreibt. Sein Sohn hat als Oberstudienrat einen „höheren“ Abschluss, mündet jedoch in dieselbe soziale Schicht ein. Grund ist, dass seine Position dadurch abgewertet wird, dass sie von jemandem wie ihm besetzt wird, der ursprünglich aus derselben Schicht kommt wie sein Vater (Alheit 1993, 57 f.; vgl. auch Kronig 2007, 50). In Übereinstimmung mit unserem Idealtypus erklärt Böhle: „Die Ausweitung höherer Bildung führt zur Durchsetzung eines Bildungsverständnisses, bei dem praktisches Handeln kaum mehr als Quelle für die Generierung von Wissen erscheint. […] Dabei führt die Ausweitung der Systeme höherer Bildung nicht nur zu einer ideologischen Abwertung und Ausgrenzung, sondern auch zur faktischen Zurückdrängung ‚anderen‘ Wissens und Handelns“ (Böhle 2010, 109).

In einem Text aus dem Jahr 1979 erläutert Burkhart Lutz die Ursachen der Bildungsexpansion in den Staaten West- und Mitteleuropas und ihre Konsequenzen für die berufliche Bildung. Damit bekräftigt und ergänzt Lutz auf Basis eines erweiterten regionalen Raumes die im Idealtypus geschilderten Ergebnisse hauptsächlich der zweiten Phase, die auf ähnliche Weise, aber vom meritokratischen Prinzip aus argumentiert, die wechselseitige Anpassung zwischen Bildungs- und Beschäftigungssystem skizzieren. Einen Grund des raschen Anstiegs der Studierendenzahlen sieht Lutz in politisch motivierten Veränderungen des Bildungssystems, deren Ziel mehr Chancengleichheit durch größere Durchlässigkeit gewesen ist. Folge war es, dass sich dort generell „der Hochschulzugang zur zentralen Schaltstelle des Bildungssystems“ entwickelte. Es kam zu einer Vertikalisierung der bislang horizontalen Differenzierung des Bildungswesens, weil nun alle Schüler/-innen gemeinsam bestimmte Stufen des Bildungssystems zu durchlaufen hatten (Lutz 1979, 639). Ausbildungsgänge, die ihrer Tradition nach berufsbezogen ausgestalten waren, wurden „nach Selbstverständnis, Curricula und Funktionszuweisung im Bildungssystem näher an das klassische Gymnasium herangerückt“, was sich ihrer berufsqualifizierenden Wertigkeit als abträglich erwies. Zahlreiche nicht-universitäre Lernstätten der „höheren“ Bildung wurden dem Hochschulsektor zugeschlagen und waren nur noch mit einem erfolgreichen Abschluss der Sekundarstufe II erreichbar (Lutz 1979, 640). Resultat der stark angewachsenen Zahl an Hochschulabsolvent/-innen waren Ungleichgewichte am Arbeitsmarkt. Die Arbeitslosenzahlen von Hochschulabgänger/-innen kletterten in die Höhe. Zunehmend wurden Zweifel an deren Beschäftigungsfähigkeit laut, die sich in Forderungen nach mehr Praxisorientierung des hochschulischen Bereichs äußerten (Lutz 1979, 644). Aufgrund des angeschwollenen Bildungsstroms hin zu den Hochschulen verschärften letztere ihre Selektion. Infolgedessen waren immer mehr Studierende gezwungen, ohne Abschluss abzugehen. Sie landeten auf dem Arbeitsmarkt, ohne ein berufsqualifizierendes Zertifikat vorweisen zu können. Ihnen gegenüber stand ein qualitativ und quantitativ verschlechtertes Angebot an „Nachwuchskräften mit einer berufspraktischen Qualifikation“, die außerhalb des Hochschulsektors erworben worden waren (Lutz 1979, 645).

Nach Lutz existieren in der Literatur in erster Linie zwei Erklärungsansätze für die Notwendigkeit der Bildungsexpansion, die er allerdings als unzulänglich einschätzt (Lutz 1979, 646). Erstens greift er die Argumentation auf, die Bildungsexpansion sei „ein Akt bewußten und geplanten gesellschaftlichen Fortschritts“, der politisch gewollt sei und in einer Demokratisierung des Schulwesens zugunsten der Chancengleichheit bestehe. Dagegen spricht Lutz zufolge, dass die Bildungsexpansion in bestimmten Ländern zeitgleich stattgefunden hätte, während in den jeweiligen Ländern unterschiedlich ausgerichtete Parteien mit unterschiedlichen Zielen regiert hätten. Als Fortschritt hinsichtlich der angepeilten Eindämmung des Ausmaßes der Reproduktion sozialer Ungleichheit könnten die politischen Maßnahmen nicht gedeutet werden, da diese statistisch nicht belegbar sei (Lutz 1979, 647–650). Zweitens nennt er das Argument der Notwendigkeit der Bildungsexpansion, „um einen volkswirtschaftlichen Bedarf an höherer Qualifikation zu decken“ (Lutz 1979, 647). Problematisch sei hierbei, dass die Richtung, in die die Bildungsexpansion steuerte, eben nicht praxisbezogen und auf die Deckung benötigter Qualifikationen ausgerichtet gewesen sei. Auch ließe sich die hier unterstellte kausale Beziehung zwischen Ausbau des Hochschulbereichs und Wirtschaftswachstum nicht nachweisen (Lutz 1979, 650–653). Auch wenn er die beiden Begründungsmuster nicht als völlig irrelevant zurückweist, bietet Lutz eine weitere Möglichkeit der Erklärung der Bildungsexpansion an, indem er die Interdependenz von Bildungs- und Beschäftigungssystem nachzeichnet. Zusammenfassend zählt er folgende Punkte als relevant für die Bildungsexpansion auf, wobei sein Ausgangspunkt auf der meritokratischen Verbindung von Bildungszertifikat und Karrierechancen gründet:

die Wahrnehmung der Beziehung zwischen Bildungsniveau und ungleichen Berufschancen, beruflichen und allgemeinen Lebenslagen und der hierdurch ausgelöste massenhafte Andrang zu herausgehobenen Bildungsabschlüssen;

die hiervon erzwungene Verschärfung und Differenzierung von Selektion im Bildungssystem mit dem Ziel, einen möglichst großen Teil der Schüler- und Studentenströme vor dem Eintritt in bzw. vor dem Abschluß von Studiengängen abzudrängen, die bisher zu besonders privilegierten Berufspositionen führten;

die damit verbundenen Veränderungen der Qualifikationsstruktur der Nachwuchsströme, in deren Zuge letzten Endes abgeschlossene, zu autonomer Tätigkeit befähigende berufliche Qualifikationen nur mehr – im Sinne der amerikanischen professionals – auf sehr hohem formalem Niveau existieren können, während alle anderen zukünftigen Arbeitskräfte allenfalls über generelle Befähigungen, nicht jedoch über spezifische berufliche Fertigkeiten und Kenntnisse verfügen;

die Reaktion der Beschäftiger auf diese veränderte Versorgungslage mit Arbeitskräften, wobei bloß betriebsspezifischen, durch Anlernung erworbenen Qualifikationen zentrale Bedeutung zukommt und Qualifikationsvermutung sowie Qualifizierungschancen beim Arbeitseinsatz tendenziell der im Bildungssystem zertifizierten relativen Leistungsfähigkeit kongruent werden;

endlich – den Regelkreis schließend – der in der Folgeperiode verstärkt auftretende Bildungsdruck, da nunmehr der Erfolg im Bildungssystem die Berufs- und Lebenschancen hochgradig konditioniert, wenn nicht determiniert. (Lutz 1979, 666 f.)

Gemäß Lutz sind die seinerzeit verfügbaren Erklärungsmuster der Bildungsexpansion nicht ausreichend, um die Frage nach ihren Ursachen final zu beantworten (Lutz 1979, 668 f.). Nach Meulemann waren neben politischen Motiven gesteigerte Bildungsaspirationen von Eltern und angewachsene Erwartungen von Arbeitgeber/-innen Auslöser der Bildungsexpansion (Meulemann 1995, 207). Die gefundene Wertlogik kann die gewachsenen Aspirationen und Erwartungen erklären und liefert einen weiteren Baustein zur Erfassung der Gründe für die Bildungsexpansion: Die Öffnung der Hochschulen bewirkte einen überproportionalen Anstieg der Akademikerzahlen, die weit über den wirtschaftlichen Bedarf hinausgehen. Sie trägt der gesellschaftlichen Leistungsorientierung, ihrer kulturell geprägten Leistungsdefinition und dem resultierenden quasi-moralischen, symbolischen Charakter von Bildungszertifikaten Rechnung – und dies realtypisch nicht nur in Europa, sondern auch im ostasiatischen Japan. Durch die meritokratische Verknüpfung der menschlichen Wertigkeit mit der Leistungsfähigkeit eines Menschen, ausgedrückt durch Bildungstitel, verliehen von Bildungseinrichtungen mit einem bestimmten Prestige, erhält allgemeine bzw. akademische Bildung eine wirtschaftlich und gesellschaftlich dysfunktional hohe Wertigkeit und eine überzogene, häufig ineffiziente Determinierungsmacht über Karrierechancen und Statusziele. Dies mündet in einem hohen Druck „von unten“ auf die Politik, Durchlässigkeit und Chancengleichheit zu fördern. Zum anderen impliziert es eine kulturelle Prägung, der auch Politiker/-innen unterliegen, ein Studium sei gegenüber der beruflichen Bildung die bessere Option und müsse möglichst vielen zugänglich sein. An dieser Logik orientieren sich auch Arbeitgeber/-innen hinsichtlich der Bewerberauswahl und Beförderungspraktiken.

3.2.3.3.6 Zur Marginalisierung beruflicher Bildung in Meritokratien und ihren Folgen

Unsere systematische Untersuchung des Zusammenhangs zwischen Meritokratie und beruflicher Bildung unterstreicht und begründet die Überbewertung von formalen Abschlüssen und die weitgehende Missachtung der Qualifikationsfunktion des Bildungssystems. Auch Deißinger kommt in einer Betrachtung von Meritokratie und Beruflichkeit zu dem Schluss,

dass sich Meritokratie in ihrer sich funktional verselbstständigenden Form so artikuliert, dass sie das Formale über das Inhaltliche hebt, will heißen: Es geht nicht um die Verwertbarkeit der Inhalte des Qualifizierungsprozesses, sondern vielmehr um die seines formalisierten Ergebnisses. (Deißinger 2019, 55)

Dabei werden die formalisierten Ergebnisse allgemeiner bzw. akademischer Bildungsgänge idealtypisch beruflichen Abschlüssen vorgezogen. Da die Stärke der beruflichen Bildung, nämlich für Arbeitstätigkeiten zu qualifizieren, in den Hintergrund tritt, kann laut der idealtypischen Konstruktion von einer Verdrängung beruflicher Bildung aufgrund der meritokratischen Logik gesprochen werden. Sie wird auch von Georg unterstellt, wenn er formuliert:

Die Mechanismen der schulsysteminternen Strukturierung und Hierarchisierung folgen der Logik der Meritokratie mit den bekannten Effekten einer zunehmenden Marginalisierung fachspezifischer Qualifizierung. (Georg 1998, 63; vgl. auch Georg/Sattel 2006, 147)

Im Zitat erwähnt Georg weitere Merkmale, die auch in unserem Idealtypus enthalten sind, nämlich, dass das meritokratische Prinzip eine Hierarchisierung von Bildungsarten und die Tendenz, berufliche Bildung in das „reguläre“ Bildungssystem zu integrieren, bewirkt. Aus der Perspektive der beruflichen Bildung erweist sich dies als ungünstig. Der bildungspolitische Reflex, einer Abwertung der beruflichen Bildung mit einer Anpassung und Schaffung von Anschlüssen an das allgemeinbildende System zu begegnen, um sie attraktiver zu machen, führt zu einem Fortschreiten der hierarchischen Ausdifferenzierung von Bildungsgängen, ohne die berufliche Bildung zu stärken (vgl. Euler 2015, 328 f.; Wheelahan 2016). Dies hat der Idealtypus klar gezeigt. Die Verbesserung der Durchlässigkeit zwischen beruflicher Bildung der Sekundarstufe und akademischer Bildung lässt den Eindruck zurück, berufliche Bildung sei nur eine Durchgangsstation auf dem Weg zu „höheren“ Meriten, und untergräbt die eigentliche Intention solcher Maßnahmen, das Prestige beruflicher Bildung anzuheben (vgl. Euler 2015, 324).

3.2.3.3.7 Zum Fachkräftemangel in Meritokratien und dem Berufsprinzip als Alternativansatz

Die ermittelte idealtypische Wertlogik vermag Argumente zu liefern, wo bislang gängige Erklärungen als mangelhaft erschienen. Insbesondere betrifft dies die Bildungsexpansion (s. Abschnitt 3.2.3.3.5), aber auch das Rekrutierungs- und Beförderungsverhalten von Betrieben, die in scheinbar paradoxer Weise für zentrale Posten Absolvent/-innen möglichst hoher Bildungsgänge einstellen, relativ unabhängig von ihrer inhaltlichen Qualifizierung. Hier üben die Negativselektion der beruflichen Bildung, die ihren Absolvent/-innen das Stigma geringer Leistungsfähigkeit verleiht, und die eigene, vom Bildungssystem vermittelte, kulturelle Prägung der Personalverantwortlichen (vgl. Fend 2008, 78; Heid 2012, 4) einen Einfluss auf die Entscheidungsfindung aus. Nach der neoklassischen Theorie wird ferner davon ausgegangen, der Markt regle Angebot und Nachfrage auf dem Beschäftigungsmarkt selbst (Dietz et al. 2012, 15; Apolte 2019, 269–277). Allerdings leiden Meritokratien aufgrund der Attraktivität „höherer“ Zertifikate und der steigenden Zugänglichkeit von Hochschulen unter Akademikerüberhängen. Trotz relativer guter Berufsaussichten und teilweise sehr guter Verdienstmöglichkeiten auf Facharbeiterniveau, die sich aus dem vielzitierten Facharbeitermangel ergeben, hält der allgemeine, internationale Trend zur Höherbildung nach wie vor an (vgl. Rauner 2010, 4 f.; Bremser et al. 2012, 11–14; Alesi/Teichler 2013; Severing/Teichler 2013). Wie der idealtypische Verlauf vermuten lässt, verschärft also eine konsequente Orientierung an der meritokratischen Denkfigur das Problem des Fachkräftemangels, weil Berufsausbildungen an Stellenwert einbüßen. Einen Beitrag zur Erklärung dieses Phänomens leistet die Leistungsfähigkeit als gesellschaftlicher Wert, der symbolisch für das Maß der sozialen Anerkennung steht. Hier befindet sich der Ansatzpunkt für Gedanken darüber, wie man den entstandenen Problemen begegnen kann.

Der Idealtypus unterstreicht die Aussagen von Achtenhagen und Grubb:

In countries without a dual system, a basic source of the status differential is that the highest-status occupations are associated with academic education and with the political, moral, and intellectual purposes that dominated prior to vocationalism (e. g., Labaree, 1996, for the United States). The dominant competencies are linguistic and mathematical, defined by the enkyklios paideia, and are taught in a relatively abstract form oriented to symbolic systems (like writing and mathematical notation). (Achtenhagen/Grubb 2001, 6)

Länder ohne Berufsprinzip und/oder eigenständiges Berufsbildungssystem, die extrem an das meritokratische Prinzip gebunden sind, laufen Gefahr, dass Abschlüsse aus dem Bereich der beruflichen Bildung kaum gesellschaftlich und am Arbeitsmarkt anerkannt werden.

Für Menschen, die aufgrund ihrer sozialen Herkunft mit suboptimalen Ausgangsvoraussetzungen ausgestattet sind und für die der Weg an eine Hochschule aufgrund der Rahmenbedingungen, die sie vorfinden, ungleich schwieriger ist als für andere, wird die große Bedeutung von Hochschulzertifikaten zum Nachteil. Sie werden leicht zu Verlierer/-innen des meritokratischen Systems, das von ihnen eine Art von Leistung einfordert, die sie nur schwerlich erbringen können. Gerade der brandaktuelle Aspekt des Zustroms von Flüchtlingen und Migrant/-innen, die selbst oder deren Kinder potenziell zu einer Menschengruppe gehören, die eingeschränkte Lebens- und Bildungschancen besitzt, verleiht dem Thema eine aktuelle Brisanz. Um die dadurch entstehenden Herausforderungen für die Gesellschaft bewältigen zu können und sicherzustellen, dass nicht Arbeitsmigrant/-innen und/oder Flüchtlinge jene Arbeiten verrichten, die am wenigsten geachtet werden, muss eine konsequente Anwendung des meritokratischen Prinzips infrage gestellt werden.

Als „Schutz“ vor den negativen Auswirkungen des meritokratischen Prinzips gilt das Berufsprinzip eines Berufsbildungssystems, das eigenständig neben dem allgemeinen koexistiert:

Diese relative Selbstständigkeit hält das Berufsbildungssystem zumindest bis zu einem gewissen Grad frei von den meritokratischen Effekten des hierarchisch gegliederten allgemeinen Bildungssystems einerseits und von den unmittelbaren Verwertungs- und Rentabilitätsansprüchen des einzelnen Betriebes andererseits. Mit beiden Teilbereichen steht das Berufsbildungssystem in einem dauernden Spannungsverhältnis. Das Berufskonzept sorgt für eine Distanzierung der Berufsausbildung gegenüber solchen Vereinnahmungsansprüchen und eröffnet die Möglichkeit für deren Ausbalancierung. (Georg/Sattel 2006, 129)

Ganz allgemein könnte die Idee in Betracht gezogen werden, das Berufsprinzip anstelle des meritokratischen Leistungsprinzips zu implementieren, da es auf eine bewusste Herbeiführung sozialer Ungleichheit verzichtet. Dafür müsste das Berufsprinzip auf aktuelle Erfordernisse abgestimmt werden und auf einer entsprechend aktualisierten Definition von „Beruf“ basieren.