Ziel des Theorieteils ist es, eine theoretische Grundlage für die Entwicklung eines Idealtypus der Beziehung zwischen Meritokratie und beruflicher Bildung schaffen. In diesem Sinne setzt sich der folgende Abschnitt allgemein mit Meritokratie auseinander und arbeitet davon ausgehend wichtige Aspekte heraus, die für eine theoretische Fundierung infrage kommen. Somit verengt sich der Fokus im Verlauf von Kapitel 2 zusehends, um zum Kern zu gelangen, der für das Erkenntnisinteresse der vorliegenden Arbeit wesentlich zu sein scheint. Dieser Kern wird anschließend in einen breiteren theoretischen Kontext gestellt.

Konkret beginnt Abschnitt 2.1 mit allgemeinen Hintergründen und theoretischen Grundlagen von Meritokratie, bevor er das zentrale meritokratische Prinzip, das Leistungsprinzip, dezidierter analysiert. Die Abhängigkeit der Leistungsdefinition von Beurteilungen und gesellschaftlich geteilten Werten führt zu einer theoretischen Betrachtung des Zusammenhangs zwischen Werten, Strukturen, Bildungssystem und Leistung.

2.1 (Bildungsbasierte) Meritokratie

2.1.1 Wesentliche ideengeschichtliche Aspekte von Meritokratie

Aus ideengeschichtlicher Sicht wird zwischen drei Strömungen unterschieden, aus denen sich die heutigen Vorstellungen von Meritokratie herausgebildet haben. Als erste Strömung nennt Goldthorpe jene der „carrière ouverte aux talents“ im 19. Jahrhundert, die in Zusammenhang mit Forderungen der Mittelklasse nach Reformen der staatlichen Administration stand. Man setzte sich dafür ein, vom Staat vergebene Stellen auf Basis von Performanz zu vergeben. Das Leistungsprinzip sollte die vorherrschenden Prinzipien des Nepotismus, der Patronage, der Bestechung und des Erkaufens ersetzen. Entsprechende Reformen führten dazu, dass die Stellen im öffentlichen Dienst zunehmend gemäß dem Bildungserfolg, dem Prüfungserfolg und dem Abschluss formalisierter Bildungsgänge vergeben wurden. Beförderungen wurden entsprechend leistungs- anstatt altersabhängig bewilligt (Goldthorpe 1996, 255–258).

Zweitens wurde durch die Entwicklung in westlichen Ländern hin zur Bildung der Massen das Thema der Selektion relevant. Die gesamtgesellschaftliche Wettbewerbsfähigkeit sollte dadurch optimiert werden, dass die Fähigkeitspotenziale der Mitglieder möglichst gut ausgeschöpft wurden. Dafür sollten Mechanismen etabliert werden, die den fähigsten Kindern, die am meisten davon profitieren würden, den (ausschließlichen) Zugang zur Sekundarstufe und eventuell noch „höherer“ Bildung erlaubten. In den frühen Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts wurde vor allem die Selektion auf Basis von Intelligenztests forciert, die als relativ zuverlässig und schnell durchführbar galten (Goldthorpe 1996, 256 ff.).

In den 1940er und 1950er Jahren schließlich waren es, drittens, amerikanische Vertreter der funktionalistischen Soziologie (Kingsley Davis, Wilbert E. Moore, Talcott Parsons), die die Idee des „achievement“ als Grundlage sozialer Ungleichheit theoretisch etablierten. Sie argumentierten, dass im Übergang zur Industriegesellschaft die erbrachte Leistung notwendigerweise eine Allokation auf Basis von askriptiven Merkmalen ersetze. Aufgrund technischer und wirtschaftlicher Rationalitätsüberlegungen sei es am funktionalsten, wenn diejenigen bestimmte Positionen ausfüllten, die es am besten könnten. Je nach gezeigter Leistung sollten demnach Positionen vergeben und auch belohnt werden. Die höhere Belohnung stelle einen Anreiz dar, um größtmögliche Leistung zu erbringen, was der Gesellschaft insgesamt diene und damit die Besserstellung der Leistungsfähigeren rechtfertige (Goldthorpe 1996, 256 ff.). Insgesamt sei für die Funktionalität der Gesellschaft eine soziale Schichtung notwendig, wobei die Allokation von Positionen auf Begabung und Ausbildung als Determinanten von Leistung beruhen müsse. Außerdem betonten sie die zunehmende Spezialisierung der arbeitsteiligen modernen Gesellschaft, die Spezialistentum belohnen müsse (Davis/Moore 1973, 397 f., 407).

Diese drei ideengeschichtlichen Linien stehen eng miteinander in Bezug. Die erste verbindet verantwortungsvolle Positionen mit Performanz. Bei der zweiten Idee werden Bildungszugänge im Sinne der Selektion mit Begabung verknüpft. Das dritte Verständnis bringt „achievement“ und Belohnung in Zusammenhang, indem postuliert wird, dass soziale Ungleichheit aufgrund von Unterschieden im „achievement“ legitim sei (Goldthorpe 1996, 257 f.; vgl. auch Becker/Hadjar 2011, 42 f.; Solga 2013, 22).

2.1.2 Der Meritokratiebegriff und seine theoretische Verortung

Den Begriff der Meritokratie führte Michael Young (1961) ein. Aufgrund seiner Beobachtungen von meritokratischen Entwicklungen in Großbritannien verfasste er eine dystopische Schrift. „Meritokratie“ als Neologismus schuf er dabei als Synthese aus den beiden Bestandteilen „meritum“ (= lat. für „Verdienst“) und „kratein“ (= griech. für „herrschen“). Daraus ergibt sich die Bedeutung von Meritokratie, nämlich Herrschaft nach Maßgabe von Verdiensten, also nach Leistung im Sinne von Meriten. In seinem satirischen Werk über die Zukunft der Gesellschaft Englands verwendete Young diesen Begriff nur für die oberste Schicht der regierenden Elite. Allerdings hat sich in der Literatur ein umfassenderer Begriffsgebrauch eingebürgert, bei dem unter einer Meritokratie eine Gesellschaft verstanden wird, die sich am meritokratischen Prinzip orientiert (vgl. Hoffer 2002, 435). Die vorliegende Arbeit schließt sich der gängigen Wortverwendung an.

Wie sich schon am Wortteil „-kratie“ erkennen lässt, wird Meritokratie per Definition als Herrschaftsordnung klassifiziert (Rittershofer 2007, 449). Herrschaft wird lexikalisch definiert als „dauerhafte und institutionalisierte Form der Ausübung von Macht“ (Rittershofer 2007, 313). Sie lässt sich nach unterschiedlichen Gesichtspunkten differenzieren:

nach der Zahl der Herrschenden (Monarchie, Oligarchie, Demokratie), nach Staatsoberhaupt (Monarchie, Republik), nach den Möglichkeiten politischer Mitwirkung (Diktatur, Demokratie) oder nach den herrschenden Standes- und Personengruppen (Aristokratie, Hierokratie, Gerontokratie). (Rittershofer 2007, 314)

Meritokratie ist der letzten Kategorie zuzurechnen – das Wort gibt an, wer herrscht, nämlich diejenigen, die Meriten (= Verdienste) vorzuweisen haben.

Nach Weber existieren in Reinform genau drei Typen von Herrschaft, die man als legitim bezeichnen kann (Weber 1968b, 215). Er kategorisiert sie an anderer Stelle in:

  1. 1.

    „Legale Herrschaft“: fußt „auf dem Glauben an die Legalität gesatzter Ordnungen und des Anwendungsrechts der durch sie zur Ausübung der Herrschaft Berufenen“.

  2. 2.

    „Traditionale Herrschaft“: gründet sich „auf dem Alltagsglauben an die Heiligkeit von jeher geltender Traditionen und die Legitimität der durch sie zur Autorität Berufenen“.

  3. 3.

    „Charismatische Herrschaft“: beruht „auf der außeralltäglichen Hingabe an die Heiligkeit oder die Heldenkraft oder die Vorbildlichkeit einer Person und der durch sie offenbarten oder geschaffenen Ordnung“ (Weber 2002, 124).

Meritokratie ist als eine Form legitimer Herrschaft einzuordnen, wobei sie historisch betrachtet als Sonderform legaler Herrschaft gelten kann. Nach Weber basiert legale Herrschaft auf Rationalität, sowohl Wert- als auch Zweckrationalität, also nicht auf „affektuellen“ oder „traditionalen“ Merkmalen, wie es bei der traditionalen bzw. charismatischen Herrschaft der Fall ist (Winckelmann 1952, 36).

Legale Herrschaft wird in der Literatur als die Herrschaftsform moderner Gesellschaften ausgewiesen (vgl. zum Beispiel Weber 1968a, 217). Der von Weber konstruierte Idealtypus legaler Herrschaft nennt sich „Bürokratie“ (Weber 1921, 126). Nach seinen Ausführungen gibt es verschiedene Typen legaler Herrschaft, die in der Realität nie in Reinform auftreten. Grundsätzliches Kennzeichen, das die unterschiedlichen Typen legaler Herrschaft verbindet, ist die Tatsache, dass herrschaftliche „Kompetenz auf gesatzten Regeln beruht und die Ausübung des Herrschaftsrechtes dem Typus legalen Verwaltens entspricht“ (Weber 1968b, 217). Solche Gesellschaften werden nicht primär von Herrschern regiert, sondern durch die erlassenen Regeln.

Die Herrschenden sind diejenigen, die die Einhaltung der Regeln garantieren bzw. bei Bedarf zum Wohle der Allgemeinheit neue Regeln aufstellen oder bestehende ändern oder eliminieren. Auch die Herrschenden selbst unterliegen, ebenso wie ihre Untergebenen, dem geltenden Recht. Sie handeln danach ohne Ansehen der Person und gehen rein sachlich und rational vor. Im Idealtypus legaler Herrschaft wird Herrschaft durch Verwaltungen ausgeübt. Dort arbeiten Menschen mit Wissen über die Regeln, die kraft Amtes bzw. Position die Autorität haben, die Regeln in einem klar abgesteckten Kompetenzfeld durchzusetzen. Sie erhalten ihre Positionen aufgrund entsprechender Fachqualifikationen, die sie erworben haben. Laut Weber gilt seine Beschreibung von Bürokratie sowohl für den Bereich öffentlicher Verwaltung als auch für kapitalistische Unternehmen. Auch bei Letzteren wird Herrschaft auf Basis von Verträgen durch Verwaltungen ausgeübt, durch diejenigen, die in Büros sitzen und für die Festlegung, Einhaltung und Ausführung der Regeln zuständig sind (Weber 1921, 124 ff., 551; Weber 1968b, 215 ff.). Generell implementieren moderne Gesellschaften Herrschaft bürokratisch durch Verwaltungsapparate, unabhängig davon, ob es sich um Demokratien handelt oder nicht (Weber 2002, 128). Welchen Platz Meritokratie in dieser Systematik einnimmt, zeigen die folgenden Abschnitte auf.

Die Herrschenden einer Meritokratie erhalten ihre Legitimität durch das meritokratische Prinzip und den Glauben an seine Legitimität, der sich in der Akzeptanz ihrer Konsequenzen ausdrückt (vgl. Hadjar 2008, 44–63). Laut Bukow und Llaryora besteht in modernen Industriegesellschaften ein Konsens darüber, das meritokratische Leistungsprinzip als Kernallokations-prinzip einzusetzen (Bukow/Llaryora 1988, 77 f.; vgl. auch Eder 2006, 110). Um für die nötige Transparenz zu sorgen und den Glauben an die Legitimität dieses Prinzips zu ermöglichen, braucht es Regelungen und Gesetze, in Webers Worten eine „gesatzte Ordnung“ (Weber 1921, 124), durch die Herrschaft zum einen ihre Legalität erlangt und zum anderen ausgeübt wird. Ohne diese Regelungen sind Meritokratien nicht denkbar, weil festgelegt sein muss, wie Leistung definiert und gemessen wird (Hagedorn 2013, 1) und unter welchen Voraussetzungen Status, Güter und (Macht-)Positionen vergeben werden. Für die Anwendung und Durchsetzung des Leistungsprinzips besteht die Notwendigkeit von Instanzen, die eine Überwachungs- und Zuweisungsfunktion übernehmen (Heckhausen 1974, 67), also einer Art Verwaltung.

Meritokratie als Form von Bürokratie kommt nach Windolf bereits bei Weber vor, dessen Aussagen Windolf so interpretiert, „daß die Modernisierung des Staatsapparates ohne ein geschultes ‚Fachbeamtentum‘ nicht gelingen kann und daß meritokratische Formen der Statuszuweisung eine unvermeidliche Folge von Bürokratisierung sind“ (Windolf 1990, 151). Frommberger zufolge wird „die Durchsetzung meritokratischer Prinzipien als komplementärer Prozess einer fortschreitenden Bürokratisierung und Rationalisierung in westlichen Industriegesellschaften“ angesehen (Frommberger 2009, 2). Diese Entwicklung deutet Windolf als „Übergang von einem feudalen Verwaltungsapparat in eine ‚meritokratische‘ Bürokratie“, wie er beispielsweise in Großbritannien, Frankreich, Japan und den USA stattgefunden hat (Windolf 1990, 154). Auch andere Autoren verknüpfen Bürokratie und Meritokratie: Dahlström spricht von einer „merit-based bureaucracy“ (Dahlström et al. 2012, 658), Cornell und Lapuente von „meritocratic bureaucracies“ (Cornell/Lapuente 2014, 1286), Charron et al. von „bureaucratic meritocracy“ (Charron et al. 2016, 89), Thiemann von einer „meritokratischen Ausbildung der Bürokraten“ (Thiemann 2017, 484), Bogumil et al. von dem „weberianisch-meritokratischen Bürokratiemodell“ (Bogumil et al. 2011, 151).

Nach Georg und Sattel besteht die meritokratische Logik in der für jegliche moderne Gesellschaft charakteristischen Verknüpfung zwischen Bildungserfolg und Beschäftigungswesen, wobei Differenzen von Laufbahnen und Abschlüssen im Bildungswesen eine entsprechend unterschiedliche Positionierung auf dem Arbeitsmarkt rechtfertigen (Georg/Sattel 2006, 125 f.). Damit geben sie die gängige Meritokratiedefinition in der Berufs- und Wirtschaftspädagogik wieder, die eine Definition im engeren Sinne darstellt. Diese kommt der Verknüpfung von fachlicher Qualifizierung und Berufspositionen, die, wie oben bereits erwähnt, bei Weber unter dem Begriff der Bürokratie läuft, sehr nahe: Es gilt demnach, dass in Bürokratien das Bildungswesen und der Beschäftigungssektor derart verbunden sind, dass die Vergabe von Berufspositionen auf Grundlage von Qualifikationen erfolgt. Das Bildungspatent als zentrales Verteilungswerkzeug, die ‚Fachprüfung‘ und die Förderung von „‚Auslese‘ der Qualifizierten aus allen sozialen Schichten“ mit der darauf basierenden Bildung einer herrschenden Elite werden von Weber als Kennzeichen bürokratischer Herrschaft ausgegeben (Weber 2002, 576). Diesbezüglich steht eine trennscharfe theoretische Differenzierung von Meritokratie und Bürokratie noch aus.Footnote 1

In der Soziologie ist zusätzlich zur Definition von Meritokratie im engeren Sinne eine Definition im weiteren Sinne gebräuchlich. Sie befindet sich, so lässt sich Heckhausen interpretieren, auf einer abstrakteren Ebene als die Definition, die Georg und Sattel verwenden. Auf Bildungstitel stellt sie nicht zwingend ab, weil sie lediglich davon ausgeht, dass das Leistungsprinzip als Allokationsmechanismus angewendet wird, um „Chancen, Vergütungen, Status usf.“ aufgrund von „Leistungsqualifikationen“ als verdient zu verteilen (Heckhausen 1974, 71).

Meritokratie im engeren Sinne, auf welcher der Fokus der vorliegenden Arbeit im Sinne des Erkenntnisinteresses liegt, repräsentiert letztlich einen Teil der Konsequenzen von Meritokratie im weiteren Sinne. Um den Hintergrund und die größeren Zusammenhänge der Mechanismen zu verstehen, die in einer Meritokratie im engeren Sinne ablaufen, ist eine Einbettung in eine weiter gedachte Meritokratie notwendig. Demzufolge erklärt der nächste Abschnitt, 2.1.3, zuerst Meritokratie als Ideal, das von Meritokratie im weiteren Sinne ausgeht. Anschließend rückt mit der Theorie der bildungsbasierten Meritokratie ein theoretischer Ansatz in den Mittelpunkt, der an Meritokratie im engeren Sinne anknüpft. Neben einer Erläuterung ihrer zentralen Aussagen beleuchtet Abschnitt 2.1.3 ihre praktische Umsetzung und damit einhergehende Schwierigkeiten, vor allem, was die Rolle des Bildungswesens bei der Umsetzung des Leistungsprinzips angeht.

2.1.3 Das meritokratische Ideal, die Rolle des Bildungswesens und Probleme bei der Umsetzung des Leistungsprinzips

Das meritokratische Ideal ist auf zwei Ebenen idealistisch. Zum einen stellt es eine als wünschenswert betrachtete Idealvorstellung der gesellschaftlichen Allokation in Verbindung mit bestimmten Normen und Werten dar, die als gut und gerecht akzeptiert werden. Zum anderen ist Meritokratie in der Theorie das Modell einer vollkommenen Meritokratie, das Teile der Realität ausblendet. Beide Ebenen gehören zusammen, da sich die Akzeptanz und Legitimität von Meritokratie als normatives Ideal aus dem speist, was die Theorie über jenes Ideal kolportiert.

Zentrales Kennzeichen des meritokratischen Ideals ist es, dass über das Leistungsprinzip Macht, knappe soziale Positionen und Güter verteilt werden (Gruber 2016, 14; Arzberger 1988, 24; Hadjar 2008, 44). Das Leistungsprinzip wird als basale Norm moderner Gesellschaften angesehen, das Einfluss auf sämtliche soziale Subsysteme nimmt (Neckel et al. 2005, 368; Dröge et al. 2008, 7; Gruber 2016, 17) und „tief eingeschrieben in unser Verständnis von Gerechtigkeit“ ist (Gruber 2016, 17). Es steht dafür, sich nicht auf alternative, askriptive Merkmale zu stützen, die als ungerecht und illegitim beurteilt werden. Dazu gehören zum Beispiel familiäre, ethnische oder soziale Herkunft, Finanzkraft der Familie, Beziehungsnetzwerk, Geschlecht, Religionszugehörigkeit, Klassenprivilegien, Popularität etc. (Young 1961, 49; Dröge et al. 2008, 7; Matei/Popa 2010, 1; Hadjar 2015, 153). Im Gegensatz zu diesen Merkmalen steht das Leistungsprinzip als Verteilungsgrundlage für Chancengleichheit (Becker/Hadjar 2017, 33 f.). In einer idealen Leistungsgesellschaft gilt, dass

  1. 1.

    Vermögen, Macht und Status ausschließlich über das Leistungsprinzip vergeben werden;

  2. 2.

    das Leistungsprinzip als Legitimitätsprinzip vollkommen von allen Mitgliedern der Gesellschaft akzeptiert wird;

  3. 3.

    die „Zweck-Mittel-Rationalität“ vollkommen erfüllt ist, das heißt Leistung vollkommen effizient eingesetzt wird (Arzberger 1988, 26).

Die Anwendung des Leistungsprinzips zur Vergabe von Positionen in der Gesellschaft zielt auf die Bildung einer leistungsfähigen Elite bzw. eine Allokation von Menschen zu gesellschaftlichen Aufgaben entsprechend ihrer Leistungsfähigkeit. Dabei werden die Positionen als hierarchisch gedacht und mit einem bestimmten Einkommen verbunden, das mit der Höhe der Position steigt. Der monetäre Anreiz stellt, so die Theorie, die Motivation zur maximalen Leistungserbringung sicher, die dem Wohle aller Angehörigen einer Gesellschaft dient. Sofern die „Beherrschten“ an seine Legitimität glauben, begründet und legitimiert das Leistungsprinzip also soziale Ungleichheit, was im Idealfall zutrifft (Hadjar 2008, 45; Hondrich 1984, 292; Hoffer 2002, 436; Schimank 2018, 20). Gesellschaftsmitglieder akzeptieren demnach Differenzierungen des Vermögens, Einkommens und sozialen Ansehens unter der Voraussetzung, dass sie durch Unterschiede hinsichtlich Talent, Verdienst, Kompetenzen, Motivation und Anstrengung zustande kommen (Young 1961; Matei/Popa 2010, 3).

Um die optimale Besetzung von Stellen zu ermöglichen und die Leistungsfähigen auszulesen, braucht es eine allgemein akzeptierte Definition von Leistung, die möglichst objektive Messung derselben und eine anerkannte, valide Leistungsbescheinigung (vgl. Hagedorn 2013, 1). Aus einer systematischen Betrachtung von Leistung durch Ricken (2018, 46 f.) lassen sich fünf Aspekte von Leistung ableiten, die in einer idealen Meritokratie erfüllt sein müssen:

  1. 1.

    Leistung muss unter Aufbringung eines persönlichen Einsatzes entstanden sein (vgl. auch Schimank 2018, 19 ff.; Schlie 1988, 64).

  2. 2.

    Leistung muss „auf eine gesellschaftliche Ordnung bezogen“ sein, d. h. der Gesellschaft nützen und für sie von Wert sein (vgl. auch Neckel et al. 2008, 46; Schimank 2018, 21).

  3. 3.

    Leistung muss individuell zurechenbar sein (vgl. auch Neckel et al. 2008, 46).

  4. 4.

    Leistung muss durch Vergleich bestimmbar sein.

  5. 5.

    Leistung muss belohnt werden – sie beinhaltet einen „Anspruch auf eine Gegenleistung“ (vgl. auch Neckel et al. 2008, 46).

In der Literatur findet sich ein Diskurs zum meritokratischen Leistungsbegriff (Kingston 2006, 112–118; Hadjar 2008, 44 f.; Hoffer 2002, 135 f.), der sich mit der Frage auseinandersetzt, wie Leistung beschrieben, gemessen und beurteilt wird bzw. werden sollte. Insbesondere geht es um eine Präzisierung des meritokratischen Leistungsbegriffs von Young. In seinem Entwurf einer Meritokratie besteht die Elite der Gesellschaft aus den kognitiv Leistungsstärksten, die eine fachliche Ausbildung inklusive einheitlicher, allgemeiner Grundbildung in „Philosophie, Verwaltung, Naturwissenschaften und Soziologie“ genossen haben (Young 1961, 24 f.). Den Leistungswert definiert Young als den „Wert der Leistung des Arbeitnehmers für den Arbeitgeber“ (Young 1961, 21). Er formuliert für Meritokratien an anderer Stelle die vielzitierte Formel: Intelligenz („IQ“) plus Einsatz der Persönlichkeit („effort“) ist gleich Leistungswert („merit“) (Young 1961, 127; Young 1994, 378; vgl. auch Kingston 2006, 112). In dieser Definition bleibt die fachliche Komponente außen vor.

Es wird darauf hingewiesen, dass neben dem klassischen IQ auch andere kognitive Fähigkeiten relevant für die Leistungserbringung im Sinne der demonstrierten Performanz (der Leistungswert bei Young) sein können. Entscheidend sind demnach, vor allem aus Perspektive der Arbeitgeber/-innen, Kriterien zur Bestimmung der ökonomischen Produktivität und damit von Gewinnen (Kingston 2006, 112; Neckel et al. 2005, 368; vgl. auch Hadjar 2008, 45). Als Prädiktoren der Produktivität gelten in einer breiteren definitorischen Fassung des Leistungswerts die „kognitiven Fähigkeiten“, bestehend aus „IQ, Wissen, Kompetenzen“, sowie die im Bildungssystem erreichten und zertifizierten Abschlüsse inklusive der Zensuren und allgemeine Persönlichkeitseigenschaften, die mit der Leistungserbringung im Job in Verbindung stehen (Hadjar 2008, 45; vgl. auch Kingston 2006, 112 f.). Offen bleibt die Frage danach, ob es sich bei dem erwähnten Wissen als Teil der kognitiven Leistungsfähigkeit um berufsfachliches oder eher allgemeines Wissen handelt. Während bei der funktionalistischen Schichtungstheorie bzw. Elitetheorie (Davis/Moore 1973; Eswein 2005, 17) fachliche Spezialisierung noch eine große Bedeutung hat, wird ihr in der aktuelleren Literatur, die eher empiriebasiert argumentiert, kaum Aufmerksamkeit geschenkt. Bezüglich der Persönlichkeitseigenschaften werden nach Dröge und anderen bei Beurteilungsverfahren von betrieblicher Seite verstärkt Teamfähigkeit, soziale Kompetenz, Kreativität und Selbstverantwortung geprüft. Generell lässt sich eine Tendenz hin zur Output-Bewertung bzw. Bewertung von äußerlich sichtbarer, dargebotener Leistung beobachten (Dröge et al. 2008, 9 f.; Neckel/Dröge 2002, 101; Schäfer/Thompson 2015, 12; vgl. auch Schäfer 2018, 29), da neben dem Input das Ergebnis als wesentlicher Teil der Leistung betrachtet wird (Neckel et al. 2004, 142). Neckel et al. zeigen auf, dass das Leistungsprinzip im Spätkapitalismus mit dem Markt verbunden wird und vermehrt der Marktwert einer Leistung bzw. eines Leistungsergebnisses zur relevanten Bewertungsgröße wird (Neckel et al. 2004, 146; vgl. auch Ricken 2018, 49). Dies gilt vor allem für Leistungen, die in am Markt aktiven Betrieben erbracht wurden, und weniger für erbrachte Leistungen im Bildungswesen. Mit Matei und Popa lässt sich schließen, dass überwiegend derjenige Ansatz nachdrücklich befürwortet wird, der „merit“ als eine Kombination aus Intelligenz, Studium, Ausbildung und eventuell Einstellung und Anstrengung versteht (Matei/Popa 2010, 3).

Die Messung von Leistung ist im Allgemeinen vom Stand der Wissenschaft und Technik abhängig (vgl. zum Beispiel Young 1961, 91–101, 127 f.; Angermuller/Maeße 2015, 74). In einer idealen Meritokratie kann sie objektiv und zuverlässig festgestellt werden. Sie muss sowohl im Bildungssystem gemessen werden, um die Leistungsfähigen auszulesen, als auch im Beschäftigungssystem, in dem sich die Teilnehmenden stets beweisen müssen, um ihre Positionen zu rechtfertigen. Da der Kontext der Leistungserbringung in diesen beiden Systemen stark variiert, muss Leistung jeweils unterschiedlich definiert und gemessen werden.

Generell hat das Bildungssystem bei der Feststellung der Leistungsfähigkeit in meritokratischen Gesellschaften eine Schlüsselstellung inne und fungiert als Selektionsorgan, denn, so Solga, „meritokratische Selektion“ gründet sich auf Verdienste wie „Bildungskarrieren, Schulnoten, Bildungsabschlüsse und Qualifikationen“ (Solga 2013, 22). Dies führt uns zur Meritokratie im engeren Sinne, bei der die Verknüpfung zwischen Berufspositionen und Bildungszertifikaten als Leistungsnachweise im Brennpunkt steht. In der Hauptsache Daniel Bell (1972; 1976), in Zusammenhang mit Studien zur postindustriellen Gesellschaft, und andere amerikanische Soziologen entwickelten in den 1960er und 1970er Jahren die einflussreiche Theorie der bildungsbasierten Meritokratie (Goldthorpe 2003, 234; Goldthorpe 1996, 261). Das zugehörige Modell veranschaulicht die Funktion des Bildungswesens in der bildungsbasierten meritokratischen Idealvorstellung und stellt eine theoretische Grundlage für die Operationalisierung der Messung des gesellschaftlich umgesetzten Grades von Meritokratie zur Verfügung. Von folgendem Zusammenhang, der sich als Dreieck darstellen lässt, wird hierbei ausgegangen: Die Klassenherkunft (= Class origin, O) befindet sich links, die Spitze des Dreiecks bildet der höchste Bildungsabschluss (= Educational attainment, E), rechts ist die Klassenallokation (= Class destination, D) (Goldthorpe 2003, 234). In einer Meritokratie gilt demnach, dass der Zusammenhang zwischen dem Bildungserfolg in Form des höchsten Bildungsabschlusses eines Individuums (E) und der Klassenallokation des Individuums (D) über die Zeit zunimmt. Grund dafür ist, dass die soziale Selektion durch das Bildung- und Beschäftigungssystem erfolgt. Selektionskriterium ist die individuelle Leistung, primär ausgedrückt durch formale Qualifikationen. Es wird versucht, die Potenziale eines jeden Individuums zu entwickeln und zum Wohle der Allgemeinheit auszuschöpfen. Deshalb wird im Sinne der Chancengleichheit Bildung für alle gefördert. Damit wird der Zusammenhang zwischen der Klassenherkunft (O) und dem höchsten Bildungsabschluss (E) schwächer. Im Zeitverlauf ist die Klassenallokation (D) immer weniger abhängig von der Klassenherkunft (O), sodass dieser Zusammenhang durch die zunehmende Bedeutung des höchsten Bildungsabschlusses (E) als Mediator verschwindet. In diesem Szenario nimmt soziale Mobilität stetig zu. Sollte dies nicht der Fall sein, sind die Gründe dafür legitim, da sie in der erbrachten Leistung eines Individuums liegen. Es ist vor allem das Versprechen von Chancengerechtigkeit und Reduktion der Reproduktion sozialer Ungleichheit, was Meritokratie dabei attraktiv und legitim erscheinen lässt. Insgesamt stellt das meritokratische Dreieck ein in sich plausibles Szenario dar, in dem die Forderungen nach gesellschaftlicher Effizienz und sozialer Gerechtigkeit vereinigt werden (Goldthorpe 2003, 234 f.).

Um seine Selektionsfunktion in einer meritokratischen Gesellschaft zuverlässig ausüben zu können, muss es dem Bildungswesen gelingen, Leistungen möglichst effektiv zu zertifizieren. Nur dann ist es denkbar, das meritokratische Prinzip seiner Idealform möglichst nahekommend umzusetzen. Deshalb sollte das Bildungswesen „hochselektiv sein, um das knappe Gut besonderer Talente […] optimal zu fördern“ (Müller/Mayer 1976, 25; vgl. auch Becker 2011, 86). Das heißt, dass nur diejenigen zur „höheren“ Bildung zugelassen werden, die eine entsprechende Leistungsfähigkeit aufweisen (Goldthorpe 1996, 255 ff.). Sie werden idealiter möglichst früh ausgelesen und im Bildungsprozess von Leistungsschwächeren getrennt. Über Institutionen des Bildungssystems wird erbrachte Leistung in Form von Prüfungen, die benotet werden, gemessen. In einer idealen Meritokratie gelingt es dem Bildungssystem, die Messkriterien der Objektivität, Validität und Reliabilität zu erfüllen, sodass, so Becker, askriptive Merkmale die Bewertung nicht verzerren, sondern alleine die Leistung selbst zählt (Becker 2011, 86). Die Abschlüsse von Bildungsgängen werden zertifiziert (Meulemann 1995, 209), wobei die Zertifikate eine Signalwirkung entfalten, indem sie potenziellen Arbeitgeber/-innen anzeigen, wie leistungsfähig und kompetent eine Person in welchem Bereich ist (Georg/Sattel 2006, 128). Laut Hoffer ist in einem meritokratischen Bildungswesen die akademische Leistung („academic performance“) entscheidend für Bildungszugänge. Das Beschäftigungswesen selektiert Bewerber/-innen streng nach den erreichten Bildungstiteln („earned credentials“) (Hoffer 2002, 435). Berufspositionen werden hierarchisch gruppiert und korrespondieren mit Bildungsabschlüssen, die ebenfalls nach ihrem Wert beurteilt und klassifiziert werden. Für eine bestimmte Berufsposition ist damit ein Bildungsabschluss auf einer bestimmten Ebene der Bildungsabschlusshierarchie notwendig. Sowohl Status als auch Einkommen werden über Bildungszertifikate als „sozioökonomische wie auch soziokulturelle Währung“ (Ott 2015, 222) vergeben.

Die Befunde der Forschung zur Umsetzung des meritokratischen Ideals in der Realität ergeben, dass sich das meritokratische Prinzip nicht wie von Theorieseite erwartet gestaltet. Dem meritokratischen Prinzip wird ein „herrschaftserhaltender Charakter“ zugeschrieben (Gruber 2016, 16; Eswein 2005, 19 f.), der letztlich in Oligarchien zu münden droht (Gruber 2016, 16; Hayes 2012, 59; Young 1961). Neben Bourdieu und Passeron (1971) beklagen zahlreiche Autoren und Studien, dass Meritokratie die Reproduktion sozialer Ungleichheit begünstige (vgl. zum Beispiel Stefanidou 2014; Hoffer 2002, 440; Winkler 2017, 89; Hadjar 2008, 46 ff.; Becker 2011; Ditton 2016; Becker 2006; Solga 2013; Kingston 2006). Letztlich ist es in der Realität entgegen dem meritokratischen Ideal doch die soziale Herkunft, die über Bildungschancen, den Berufserfolg und damit auch das Einkommen und den sozialen Status entscheidet (Hadjar 2008, 47; Becker 2003; Becker 2006; Boudon 1974). Gründe hierfür liefern vor allem konflikt- und machttheoretische Ansätze sowie Untersuchungen, die das Leistungsprinzip als solches problematisieren.

Zabeck zufolge stellt das Leistungsprinzip bestimmte Regeln auf, denen soziale Interaktionen folgen. Es strukturiert also soziale Interaktionen auf eine ganz bestimmte Weise. Dabei wird es immer in wertendem Sinn verwendet (Zabeck 1972, 81). Das heißt, das Leistungsprinzip legt fest, welche soziale Interaktionen gut (bzw. besser) oder schlecht (bzw. schlechter) sind.

Es wird postuliert, dass die Definition von Leistung in der Wirklichkeit von den Machtverhältnissen und dem gegebenen Kontext, in dem sie angewendet wird, abhängt. So ist zu erklären, dass in Meritokratien immer wieder zu beobachten ist, dass konkrete Gruppen Vorteile und andere Nachteile aus der Anwendung des meritokratischen Leistungsprinzips ziehen (Miller 1996, 279 f.; Gruber 2016, 17 f.; Eswein 2005, 85). Eine von mehreren Ursachen sieht Solga in einer stattfindenden „Entpersonifizierung der Definition von Leistung“. Damit meint sie, dass Leistung an sich als etwas Persönliches angesehen und die Qualität der erbrachten Leistung auf das Individuum zurückgeführt wird. Jedoch wird dabei nicht berücksichtigt, dass das Aufstellen der Kriterien zur Ermittlung von Leistungsfähigkeit in Bildungseinrichtungen eine Aufgabe von Mitgliedern der höheren Schichten darstellt, die potenziell eigene Interessen verfolgen. Außerdem unterliegt die Bewertung von Leistung, die durch ihre Kompetenzbasierung im Gewand der Objektivität erscheint, „sozial strukturierten Wahrnehmungsprozessen“ der bewertenden Personen (Solga 2013, 29 f.).

Heid fragt veranschaulichend nach der Vergleichbarkeit von Leistungen „populärer Profisportler völlig verschiedener Sportarten“ mit denen „des Omnibusfahrers, der Mutter (kleiner) Kinder, der (Nacht-)Schwester im Altenheim oder in einer beliebigen Klinik und mit den Leistungen des Immobilienmaklers, des Verkehrspolizisten“ (Heid 1992, 104).

Es zeichnet sich ab, dass die strukturelle Ausprägung einer meritokratischen Gesellschaft von der Definition ihrer zentralen Kategorie, der Leistung, abhängt. Welcher Leistung durch die sozialen Prozesse welche Wertigkeit zugeschrieben wird, entscheidet über die WertigkeitFootnote 2 von Bildungsabschlüssen und kann die Gestaltung der Strukturen des Bildungswesens stark beeinflussen. Deshalb werden an dieser Stelle der Leistungsbegriff, die Leistungsentstehung sowie die Leistungsbewertung in Zusammenhang mit dem Bildungssystem ausführlicher thematisiert.

2.2 Der Leistungsbegriff und seine Abhängigkeit von Wertzuschreibungen und Wertlogiken

2.2.1 Leistung als Ausdruck einer sozial determinierten Handlungsbewertung und ihr Bezug zum Bildungssystem

Schon in einer ihrer relativ ursprünglichen BedeutungenFootnote 3 besitzt „Leistung“ (bzw. „leisten“) eine soziale Konnotation, die auf die Erfüllung einer Schuldigkeit verweist (Ricken 2018, 45; Adelung 1807, Sp. 2021 f.) und diesen Terminus bis heute prägt. Auch wenn sich das Begriffsverständnis im Laufe der Zeit hin zu einer Betonung der Handlungsfähigkeit und Selbstverantwortlichkeit der Leistungserbringung verschoben hat (Reh et al. 2015, 51; Schlie 1988, 55), steht Leistung nach wie vor in Zusammenhang mit einer zu leistenden Pflicht: Der Leistungsbegriff impliziert, dass in einer arbeitsteiligen Gesellschaft jeder einen Beitrag zu leisten hat. Die Gesellschaft stellt, in der Intention, ihre eigene Funktionalität zu wahren, an ihre einzelnen Mitglieder den Anspruch der Leistungserfüllung, wobei der Inhalt der Leistungsanforderung durch die Gesellschaft selbst definiert wird (vgl. Zabeck 1972, 83).

Schlie bezeichnet Leistung, wie sie in modernen Gesellschaften verstanden wird, in seiner Untersuchung ihrer Ideengeschichte als „sozial determiniert“, da die Maßstäbe, anhand derer sie bewertet wird, Folge sozialer Aushandlungsprozesse sind (Schlie 1988, 63). „Any notion of merit is culture dependent“, heißt es ähnlich bei Kingston (2006, 113). Wenn die Definition von Leistung gesellschafts- bzw. kulturabhängig ist, dann ist sie nicht allgemeingültig feststehend, sondern variiert, weil Gesellschaften bzw. Kulturen sich voneinander unterscheiden. Aufgrund der Differenz gesellschaftlicher bzw. kultureller Setzungen existiert also keine generelle, übergreifende Definition von Leistung. Dementsprechend bemängelt Zabeck die fehlende Exaktheit des Begriffs der Leistung und hält ihn für untauglich für Beschreibungen, da ihn eine „Interpretationsbedürftigkeit“ auszeichne (Zabeck 1972, 81; vgl. auch Bünger et al. 2017, 8; Nerowski 2018, 230 ff.).

In Anlehnung an Heid (1992; 2012) lassen sich die Mechanismen der Leistungsentstehung und ihre soziale Determiniertheit detaillierter erläutern. Sein Ausgangspunkt besteht in der These, Leistung an sich, als Größe außerhalb des Mentalen, sei nicht existent (Heid 2012, 4). Er betont zunächst die Abhängigkeit der Leistung von konkreten Inhalten (Heid 2012, 1). Dies lässt sich gut am Beispiel Schule illustrieren. Zur Leistungsfeststellung werden Klassenarbeiten geschrieben. Schüler/-innen erbringen ihre Leistung, indem sie die Aufgaben der Klassenarbeit bearbeiten, die bestimmte Inhalte überprüfen. Ihre Leistung steht also in Bezug zu konkreten Inhalten, ohne die die Leistungserbringung nicht möglich wäre. Weiter umreißt Heid Leistung als bewertetes Verhalten:

Leistung ist kein beobachtbares Verhalten, keine (allein) aus diesem Verhalten ableitbare Größe und auch keine Eigenschaft eines Verhaltens, sondern das Resultat der Beurteilung eines Verhaltens. Zu Leistungen ,werden‘ konkrete Handlungen (rechnen, schreiben, sägen, heilen, töten, demonstrieren etc.) dadurch, dass sie als Leistungen bewertet und anerkannt werden. (Heid 2012, 2)

An anderer Stelle formuliert Heid, dass Leistung ausschließlich „im Modus der Attribuierung menschlichen Handelns“ besteht (Heid 1992, 92), also darin, dass bestimmten Handlungen bestimmte Eigenschaften zugeschrieben werden. Ein Handlungsprozess oder -ergebnis wird erst durch Attribuierung zu einer Leistung (Heid 1992, 92, vgl. auch Kalthoff 1996, 108 f.; Zabeck 1972, 83; Hitzler 2003, 780 f.; Schäfer 2015, 153).

In anderen Worten bedeutet dies, dass eine Handlung nicht automatisch eine Leistung ist. Eine Handlung kann aber zu einer Leistung werden, wenn sie jemand bewertet. Es ist also die Bewertung, die eine Handlung zu einer Leistung macht. Ein Beispiel hierfür ist ein Fußballspieler, der seinem Mitspieler den Ball zupasst. Dieser Pass ist zunächst nichts anderes als eine Handlung. Wird nun vom Trainer bewertet, ob der Pass gut oder schlecht war, wird die Handlung des Passens zu einer Leistung. Der Pass war dann nicht nur eine Handlung, sondern eine gute oder schlechte Leistung des Passgebers.

Übereinstimmend belegen Studien zum Thema Leistung und Leistungsbewertung in der Schule (z. B. Gellert/Hümmer 2008; Zaborowski et al. 2011; Gellert 2013; Breidenstein/Thompson 2014; Bünger et al. 2017), dass Leistung „systematisch und situativ in Praktiken eigens als Leistung allererst hervorgebracht wird und insofern immer wieder neu hergestellt werden muss“ (Ricken 2018, 52). Die Feststellung und Bewertung von Leistung entbehrt dadurch der Gütekriterien der Objektivität, Reliabilität und Validität, wie weitere Studien über die Praxen der Leistungserfassung und der Benotung in der Schule nahelegen (Ingenkamp 1995; Ziegenspeck 1999; Breidenstein/Thompson 2014, 90; Schäfer/Thompson 2015, 10 f.; Schäfer 2018, 12). Bei der Leistungsbewertung können ungleiche Voraussetzungen durchaus berücksichtigt werden. Zum Beispiel kann man einbeziehen, dass Menschen über unterschiedliche Ausbildungen verfügen und damit bei der Leistungserbringung in Arbeitskontexten unterschiedliche Voraussetzungen aufweisen. Leistung kann jedoch „unmöglich allein sachlich und funktional“ bestimmt werden (Rothe 1981, 22). Dies liegt unter anderem daran, dass ungleiche Voraussetzungen nicht immer auf eine gemeinsame Vergleichsbasis gebracht werden können. Dennoch ist laut Rothe daraus nicht zu schließen, dass Leistung vollkommen „willkürlich“ bewertet wird (Rothe 1981, 22), denn bei der Anerkennung von Handlungen als Leistung werden Bewertungskriterien bzw. Richtlinien eingesetzt, auf die sich der Bewertende bezieht (Heid 1992, 92; Heid 2012, 4). Durch diese inhalts- bzw. kriteriengebundene Bewertung wird eine Handlung zur Leistung und ist damit das Ergebnis einer Handlungsbeschreibung oder der Messung einer Handlung mithilfe eines Qualitätsmaßstabs (Heid 1992, 92, vgl. auch Heckhausen 1974, 48 ff.; Blankenburg 1980, 220; Rheinberg 1981, 511 f.).

In unserem Beispiel des Fußballspielers, der einen Pass spielt, legt der Trainer als Bewertender bestimmte Kriterien zugrunde, anhand derer er darüber entscheidet, ob er den Pass als gut oder schlecht einschätzt. Solche Kriterien können sein, ob der Pass ungenau ist oder präzise, ob es ein öffnender Pass ist, der einem Spielzug eine neue Wendung gibt, oder ein unnötiger Sicherheitspass nach hinten, der einen möglichen Konter unterbindet usw. Bei einem Torschuss könnten Bewertungskriterien die Geschwindigkeit des Balles oder die Platziertheit des Schusses sein, oder ob der Ball den Weg ins Tor findet oder nicht. Bei der Bewertung bezieht der Trainer auch die individuellen Voraussetzungen des Passgebers ein, also ob es sich beispielsweise um einen Anfänger handelt oder um einen erfahrenen Spieler.

Der Qualitätsmaßstab, mit dessen Hilfe Handlungsbewertungen vollzogen werden, ist ein Produkt aus Werten und Normen der Gesellschaft, die in der Regel nicht diskutiert, sondern als „natürlich“ angenommen werden (Heid 2012, 5; s. hierzu Abschnitt 2.3) bzw. „herrschaftlich gesetzt“ sind (Rothe 1981, 21 f.). Letzteres heißt konkret, dass diejenigen, die herrschende Positionen innehaben, die Definitions- und Sanktionsmacht darüber besitzen, was als Leistung definiert wird, und diese Definition zum Beispiel über Curricula durchsetzen können (Heid 2003, 5 f.; s. hierzu auch Abschnitt 2.1; vgl. hierzu auch Solga 2013, 29 f.).

Bezieht man dies wieder auf das Beispiel des Fußballs, so hat der Trainer in seiner übergeordneten Position als Vorgesetzter der Mannschaft eine gewisse Definitions- und Sanktionsmacht. Er kann beispielsweise eine offensive Taktik vorgeben und Rückpässe zum Torwart generell als schlecht deklarieren. Damit spielt er seine Definitionsmacht aus. In diesem Fall könnte er zum Beispiel einen Pass, der zwar nicht ankommt, aber zumindest den Versuch darstellt, einen weiter vorne postierten Mitspieler zu erreichen, als besser bewerten als einen Rückpass zum Torwart, der bei diesem ankommt. Hält sich ein Spieler nicht an die Vorgaben und spielt viele Rückpässe zum Torwart, kann der Trainer reagieren und ihn sanktionieren, indem er ihn auswechselt.

Bei der Beurteilung von Leistung ist eine gewisse Subjektivität unvermeidlich, weil sie von einem Subjekt durchgeführt wird. Hinzu kommt die Situationsspezifität von Leistung, die es unmöglich macht, sie zu standardisieren (Goldthorpe 1996, 270 ff.). Übertragen auf unser Beispiel aus dem Fußball bedeutet Subjektivität, dass möglicherweise ein Trainer strenger bewertet als ein anderer. Für den einen mag ein im Ansatz guter, aber nicht beim Mitspieler ankommender Passversuch Teil einer guten Leistung sein, während für den anderen nur erfolgreiche Versuche, die bei einem Mitspieler ankommen, zählen. Situationsspezifität kann im Beispiel bedeuten, dass sich Situationen, in denen Pässe gespielt werden, möglicherweise stark unterscheiden. Für manche Pässe hat der Spieler etwa mehrere Sekunden Zeit, für andere nur den Bruchteil einer Sekunde, weil er von Gegenspielern unter Druck gesetzt wird. Im letzteren Fall ist es natürlich viel schwieriger, einen guten Pass zu spielen.

Obgleich der Schule der Auftrag zugedacht ist, gesellschaftliche Positionen anhand des Leistungsprinzips gerecht zuzuweisen, kann sie Leistung unmöglich auf objektive Weise feststellen (Schäfer/Thompson 2015, 9). Benutzt werden „nur bestimmte, objektivierbare Kriterien“ (Gruber 2016, 18; vgl. auch Stojanov 2015, 140; Waldow 2019, 255), weil auf dieser Basis transparente Vergleiche möglich sind. Schäfer nennt zwei Kernoperationen, die stattfinden, um Leistung als solche deklarieren zu können: eine „dekontextualisierende Abstraktion“ und eine „quantifizierende Lesart“. Bei ersterer geht es darum, dass eine Handlung aus ihrem Kontext herausgelöst werden muss, um sie einem einzelnen Individuum als Leistung zurechnen zu können, wobei von der konkreten Situation und den Verflechtungen mit sozialen und persönlichen Bedingungen und Signifikanzen abstrahiert wird. Die Verantwortung für die zu Buche stehende Leistung wird dem Individuum zugeschrieben. Bei der zweiten wird ebenfalls abstrahiert: Qualitative Aspekte werden quantifiziert, um einen sozialen Vergleich zu ermöglichen, dessen Funktion darin besteht, Einzelne unterschiedlich in der Gesellschaft positionieren (Schäfer 2018, 34 f.). Um Zeugnisse und Bildungstitel ausstellen zu können, wird erbrachte Leistung im und durch das Bildungswesen quantifiziert und sowohl in eine metrische Skala (durch Vergabe von Zensuren) als auch eine ordinale Skala (durch Bildung von Rangfolgen von Abschlüssen) überführt (Angermuller/Maeße 2015, 70 ff.). Folge davon ist, dass Bildungsprozesse formalisiert und mit Codes versehen werden, die sich anhand von Katalogen auslesen lassen (Solga 2013, 32). Das Leistungsprinzip als vermeintlich „gerechtes“ Verteilungsprinzip setzt auf Vergleiche, die den Zweck haben, Differenzen zu erfassen [um Selektion zu ermöglichen, Anm. d. Verf.], dadurch aber „Ungleiches als gleich und Gleiches als verschieden“ darstellen (Schäfer 2018, 32), denn das Vorgehen bei der Leistungsfeststellung und -bewertung berücksichtigt nicht die vorhandene Mehrdimensionalität von Leistung, die Vergleiche prinzipiell kaum zulässt. Auch die Ausgangsbedingungen werden nicht beachtet oder verrechnet (Schimank 2018, 28 ff.).

Ein Beispiel für eine „dekontextualisierende Abstraktion“ wäre eine Klassenarbeitssituation. Klassen bestehen aus Schüler/-innen mit teilweise sehr unterschiedlichen familiären Hintergründen und Lebenssituationen. So kann es sein, dass eine Schülerin, die die Klassenarbeit schreibt, wohlbehütet aufwächst und Eltern hat, die intensiv mit ihr für die Klassenarbeit gelernt haben. Ein Schüler, der ebenfalls an der Klassenarbeit teilnimmt, könnte aus schwierigen Familienverhältnissen kommen, die von ihm verlangen, Verantwortung für seine Geschwister zu tragen, und es ihm nicht erlaubt haben, sich in Ruhe auf die Klassenarbeit vorzubereiten. Trotzdem schreiben beide dieselbe Klassenarbeit. Da die Umstände der Kinder nicht bei der Aufgabenstellung in Klassenarbeiten beachtet werden können und Leistung individuell zugeordnet werden muss, um sie vergleichen zu können, wird die Leistung herausgelöst aus ihrem weiteren Kontext betrachtet, indem die Bedingungen außerhalb des Klassenzimmers nicht berücksichtigt werden. Im Rahmen der Klassenarbeit ist die erbrachte Leistung individuell zuweisbar, weil sie im selben Raum unter denselben Bedingungen anhand derselben Aufgaben erbracht wurde. Dass zum Beispiel in der Leistung der Schülerin auch die ihrer Eltern steckt, die mit ihr gelernt haben, wird durch die Dekontextualisierung übergangen. Durch die Punkteverteilung in der Klassenarbeit wird die erbrachte Leistung der Schüler/-innen quantifiziert, das heißt, qualitative Schülerantworten werden in Punktzahlen ausgedrückt, in Punkteskalen überführt und so vergleichbar gemacht. Nehmen wir an, die Schülerin und der Schüler erreichten dieselbe Punktzahl. In diesem Fall wird ihre Leistung gleich bewertet, obwohl der Schüler aufgrund seiner schwierigen Rahmenbedingungen eigentlich mehr „leisten“ musste, um dieselbe Punktzahl zu erreichen wie seine Klassenkameradin. Ohne die Dekontextualisierung und die Quantifizierung wäre aber ein Vergleich der Leistungen der Schülerin und des Schülers nicht zu bewerkstelligen.

Zabeck macht auf einen logischen Fehler aufmerksam, der neben den von ihm gemeinten Beförderungsmechanismen auch die Zuteilung von schulisch Qualifizierten zu Arbeitsstellen betrifft. Zunächst wird, so Zabeck, die theoretische Annahme gemacht, dass durch die Anwendung des Leistungsprinzips die optimale Allokation von Menschen mit Qualifikationen zu beruflichen Positionen mit bestimmten Funktionen geschehe. Realiter hingegen werden Posten auf Basis von Leistungen vergeben, die woanders, außerhalb dieser Funktion, erbracht wurden (Zabeck 1972, 96). Auch für das Bildungswesen gilt, dass die dort beurteilten Leistungen in anderen Zusammenhängen erbracht werden als im Beschäftigungswesen. Konkret heißt das, dass Lernende in Bildungsprozessen Leistungen erbringen, die bewertet werden. Die Aufgaben, die zur Leistungsfeststellung im Bildungssystem dienen, unterscheiden sich jedoch meist stark von den Aufgaben, die Angestellte in Unternehmen erfüllen müssen. Somit ist fraglich, inwiefern die vom Bildungssystem gemessene Leistung einer Person mit ihrem tatsächlichen beruflichen Leistungspotenzial korrespondiert. Ähnlich stellt sich die Situation bei Beförderungen dar. Die Aufgaben, die jemand nach einer Beförderung zu bewältigen hat, sind andere als diejenigen, die er bzw. sie zuvor erfüllen musste. Somit ist fraglich, inwiefern die vor der Beförderung erbrachte Leistung ein verlässlicher Prädiktor der zukünftigen Leistung sein kann. Hoffer berichtet analog, dass immer wieder kritisiert wird, dass bei Eignungstests oft nicht die Fähigkeiten getestet würden, die dem Inhalt einer Arbeitsstelle entsprächen (Hoffer 2002, 436). Nach Müller und Mayer ist es Aufgabe des Bildungssystems, neben fachlichen auch kulturelle Kompetenzen zu vermitteln (Müller/Mayer 1976, 9). Die Art Leistung, die von Arbeitgeber/-innen beurteilt wird, muss also von der Art Leistung, wie sie von Bildungsinstitutionen bewertet wird, unterschieden werden (Voswinkel/Kocyba 2008, 24). Sind die Maßstäbe, anhand derer im Bildungswesen Leistung gemessen wird, noch relativ homogen, so folgt mit dem Übergang ins Beschäftigungswesen eine „abrupte Einengung“ auf entsprechende Arbeitsgebiete, die sich untereinander teilweise sehr unterscheiden (Heckhausen 1974, 75). Trotzdem werden in bildungsbasierten Meritokratien Bildungstitel und Berufspositionen miteinander verknüpft.

Was in einer Gesellschaft als Leistung gilt, eignen sich Kinder und Jugendliche im Rahmen ihrer „Leistungssozialisation“ an, innerhalb derer sie lernen, welches Wissen, welche Kompetenzen und welches Verhalten als gute Leistung anerkannt werden. Vermittelt wird ihnen das Leistungsverständnis von ihrer Umgebung (Fend 2008, 78; Heid 2012, 4). Zu lernen, sich selbst im Spiegel dessen zu betrachten, was die Gesellschaft als Leistungsnorm vermittelt, ist ein Prozess, der im Bereich der Schule in Bezug auf Heranwachsende aller sozialen Schichten stattfindet (Ricken 2018, 55). In diesen Normen enthalten sind bestimmte Sichtweisen, Werte und Muster der Sinngebung. Sie finden bei der Leistungsbewertung durch die Interessen und Motive bzw. Werthaltungen der bewertenden Subjekte einen Ausdruck (Rothe 1981, 21 f.; Kalthoff 1996, 107 f.; Heid 2012, 5; Ricken 2018, 51). In den Leistungsnormen und -bewertungen kommen bezogen auf Bildung und Beschäftigung „Gewichtungen und Wertungen“ bezüglich „körperlicher und geistiger Arbeit“ oder verschiedener Ausbildungsformen oder Verantwortlichkeiten in Berufspositionen zum Tragen (Rothe 1981, 22).

Beispielsweise sind in deutschen Grundschulen Mathematik und Deutsch Hauptfächer. Sie besitzen als solche die größte Relevanz für die Grundschulempfehlung. Hat nun zum Beispiel ein Schüler schlechte Noten in den Hauptfächern, aber sehr gute Noten in den als weniger wichtig erachteten Fächern Sport und Musik, so gilt er als schlechterer Schüler als eine Schülerin, die in den Hauptfächern mit sehr guten Noten aufwartet, aber in Sport und Musik schlechter abschneidet. Die Schülerin wird also eine bessere Grundschulempfehlung erhalten. So bekommen die Schüler/-innen vom Schulsystem vermittelt, welche Art Leistung als besser bzw. wichtig und welche als schlechter bzw. unwichtig angesehen wird. Ferner umfassen praktische Lerninhalte in den Curricula von Haupt- und Realschulen in der Regel einen weitaus größeren Anteil als am Gymnasium. Das heißt, die als leistungsstark angesehenen Schüler/-innen befassen sich weniger mit praktischen Inhalten und mehr mit theoretischem, abstraktem Stoff. Dadurch vermitteln die Strukturen den Schüler/-innen, dass die Erledigung praktischer Aufgaben im Vergleich zum Lösen theoretischer Aufgaben eine minderwertige Leistung darstellt.

Überleitend lässt sich sagen, dass Interessen, Motive, Werthaltungen, Sinngebungsmuster und subjektive Überzeugungen an der Bewertung von Leistung beteiligt sind (vgl. zum Beispiel Kalthoff 1996; Zaborowski et al. 2011; Gellert 2013; Breidenstein/Thompson 2014). Der Leistungsbegriff umfasst deshalb sowohl eine soziale als auch eine subjektive Komponente (vgl. Nicht/Müller 2017, 64 f.). Sowohl die soziokulturelle als auch die subjektive Komponente der Leistungsbewertung sind geprägt durch sozial bzw. kulturell vermittelte Vorstellungen der Wertigkeit von Handlungen (vgl. Heid 2012, 5). Die gesellschaftliche Idee von Leistung rekurriert folglich auf ein geteiltes Wertesystem. Mit der Leistungsdefinition steht und fällt die Wertigkeit bestimmter als Leistung deklarierter Handlungen. Infolgedessen wird angenommen, dass der zu untersuchende Kern, der über die Bedeutung beruflicher Bildung in Meritokratien entscheidet, darin besteht, welche Wertigkeit bestimmten Bildungsabschlüssen als Nachweisen erbrachter Leistungen im Vergleich zu anderen Bildungsabschlüssen zugeschrieben wird. Daher folgt nun eine Betrachtung des Wertbegriffs als Grundlage der Definition und Bewertung von Leistung.

2.2.2 Werte als Basis der sozial determinierten Definition und Bewertung von Leistung

Aus soziologischer Sicht sind es Werte, die Handlungen steuern. Es gibt zahlreiche, auch kontroverse, Abhandlungen darüber, was Werte sind und ob sie definierbar sind oder nicht. Nach der häufigsten Verwendung des Begriffs in der neueren Literatur stellen Werte einen Maßstab dar, der das Handeln steuert und eine Grundlage bildet, auf der Entscheidungen für oder gegen bestimmte Handlungsweisen getroffen werden können (Friedrichs 2011, 752). Eine differenzierte Begriffsbestimmung findet sich beispielsweise bei Heid und bei Kraft, auf den sich Heid vielmals bezieht (Kraft 1951; Heid 2006). Da Heid Werte und Normen in Hinblick auf berufliche Bildung analysiert, bietet sich der Rückgriff auf ihn und seine Primärquelle an.

Kraft verwendet folgendes Beispiel: „Treu“ ist ein Wertprädikat, der zugehörige Wert ist Treue, ein treuer Freund ist ein Wertträger bzw. eine treue Freundin eine Wertträgerin (Kraft 1951, 17 f.). Das Verhältnis von Wert und Wertträger/-in lässt sich dementsprechend wie folgt charakterisieren: „Der Gegenstand, dem ein Wert zugeschrieben wird, ist der Wertträger; der Wert, der ihm zugeschrieben wird, spricht ein Wertprädikat aus“ (Kraft 1951, 12). Letzteres zeigt an, wie wertvoll etwas ist (Kraft 1951, 12). Das heißt in anderen Worten, dass der Prozess der Wertzuschreibung beinhaltet, dass, ausgehend von einem Wert, einem Wertträger bzw. einer Wertträgerin ein Wertprädikat zugeschrieben wird, das dem Wertträger bzw. der Wertträgerin attestiert, den besagten Ausgangswert zu besitzen, weil er bzw. sie bzw. es die entsprechende Eigenschaft, die das Wertprädikat beschreibt, aufweist. Anhand des Wertprädikats wird bestimmt, wie wertvoll der Wertträger bzw. die Wertträgerin ist, also welchen Wert er bzw. sie bzw. es besitzt. Damit wird die zweifache Begriffsverwendung von „Wert“ deutlich: Etwas kann einen Wert haben oder einen Wert darstellen (Schluß 2015, 8; vgl. Bohlinger 2013, 29 f.). Nach Krafts Terminologie ist etwas, das Wert hat, an sich kein Wert, sondern ein/-e Wertträger/-in, dem bzw. der ein Wert zugeschrieben wird (Kraft 1951, 10).

Werte, so Kraft weiter, unterscheiden sich in ihrer Sachlichkeit. Nimmt man das Beispiel der Höflichkeit, so können verschiedene Menschen unter diesem Begriff unterschiedliche Inhalte dessen einordnen, was genau sie als höflich empfinden (Kraft 1951, 14). So ist beispielsweise in manchen Kulturen das Herausstrecken der Zunge eine höfliche Begrüßung, während es in anderen Kulturkreisen als Affront empfunden wird.

Darüber hinaus lassen sich Werte in verschiedene Klassen einteilen (Kraft 1951, 15). Eine Wertklasse besteht aus einem Bündel an Wertbegriffen. Diese Wertbegriffe können zum Beispiel Eigenschaften einer Person bezeichnen, die allesamt Auskunft über ihre Leistungsfähigkeit bzw. -unfähigkeit geben und deshalb eine Wertklasse bilden. Hierzu gehören Beispiele wie „fleißig, faul, klug, dumm, scharfsinnig, leichtgläubig, geistreich“ und andere. Jede Wertklasse besitzt also eine Eigenart, die sich beschreiben lässt, einen „sachlichen Gehalt“, durch den sie sich von anderen Wertklassen unterscheiden lässt (Kraft 1951, 16). Dieser Gehalt ist zunächst neutral, ohne Angabe dessen, ob er als negativ oder positiv angesehen wird. Es ist der „Wertsinn“, durch den bestimmt wird, was gut, schlecht, hervorragend usw. ist und was einen Wert als solchen ausmacht (Kraft 1951, 17 f.). Heid nennt den Wertsinn die „wertende Komponente“ (Heid 2006, 35). Werte sind einer Logik folgend miteinander verbunden, die angibt, welche höherwertig und welche geringerwertig einzuschätzen sind. Dies ist dann möglich, wenn sich mehrere Werte auf dasselbe Kriterium beziehen, sodass eine Einschätzung erfolgen kann, welcher Wert ein Mehr oder Weniger des Kriteriums besitzt. Das Kriterium beruht auf einem Wertmaßstab, der „überindividuell innerhalb einer Kultur aufgestellt“ wird (Kraft 1951, 21–27). Im Vergleich von Werten bzw. der Inbezugsetzung zu Maßstäben entsteht also eine Wertigkeit. Ein Beispiel hierfür ist die Frage nach der Gleichwertigkeit beruflicher und allgemeiner bzw. akademischer Bildung (vgl. Bohlinger 2013, 30 f.; Pilz 2019, 406 f.).

Werte geben Orientierung für Verhalten, indem sie anzeigen an, was gut ist. Normen hingegen vermitteln, was gesollt ist (vgl. Heid 2006, 34). Beide sind häufig in habitualisierter oder institutionalisierter Form auffindbar (vgl. Heid 2006, 34) und können deshalb gesellschaftliche Funktionen, auch innerhalb von Systemen, übernehmen. Gemäß Heid sind Werte selbst nicht beobachtbar – sie drücken sich gleichwohl in Wertungen aus, die man erfassen kann, sobald jemand zu etwas wertend Stellung bezieht (Heid 2006, 36). Werthaltungen, auch Wertorientierungen genannt, sind dann vorhanden, wenn jemand über längere Zeit hinweg die Bereitschaft besitzt, mit einer bestimmten Wahrscheinlichkeit zu einer bestimmten Bewertung von Sachverhalten zu gelangen, indem er bzw. sie ein bestimmtes Prinzip anwendet (Heid 2006, 37). Werte werden im Rahmen der Sozialisierung erlernt und haben Einfluss auf die Voraussetzungen und Kriterien der „Qualifikationsver- und -bewertung“ (Heid 2006, 39 ff.).

Die spezifischen Regeln, nach denen Werte, Wertträger/-innen und Werthaltungen miteinander in Beziehung gesetzt werden, werden in der vorliegenden Arbeit als „Wertlogik“ gefasst. Wie gesehen, werden Werte innerhalb von Kulturen anhand eines in der Kultur gültigen Maßstabes aufeinander bezogen, sodass Handlungen Wert im Sinne einer Wertigkeit oder Wertschätzung verliehen wird. Die Wertklasse, in der es um Leistungsfähigkeit geht, ist dabei für die vorliegende Fragestellung von besonderer Relevanz. Der gesellschaftlich anerkannte Leistungswert, dem bestimmte Werthaltungen zugrunde liegen, zeigt sich zum Beispiel in der Stratifizierung des Bildungssystems und der Wertigkeit von Bildungsabschlüssen. Georg und Sattel zufolge bestimmt die Stratifizierung die vertikale und horizontale Differenzierung von Bildungsgängen und den „Grad der Trennung von allgemeiner und beruflicher Bildung sowie die Zugangsselektion zu den beruflichen Ausbildungsgängen“ (Georg/Sattel 2006, 126 f.). Dies deutet darauf hin, dass ein Zusammenhang zwischen Werten, Handlungen und (systemischen) Strukturen existiert, der für das Erkenntnisinteresse der vorliegenden Arbeit relevant ist. Es ergibt sich zunächst die Frage danach, wie sich Werte generell in strukturellen Mechanismen der gesellschaftlichen Differenzierung äußern und welche Rolle dabei das Bildungssystem spielt. Wie der folgende Abschnitt zeigt, übernimmt in diesem Zusammenhang der Leistungsaspekt eine wichtige Funktion.

2.3 Zum Zusammenhang zwischen Werten von Akteur/-innen und Strukturen des Bildungssystems

Wie erläutert, werden Handlungen auf Basis von Werten ausgeübt. Schimank bezieht in seinen Ausführungen ein, dass es verschiedene Akteur/-innen gibt, deren Handlungen zusammenwirken. Aus ihren Handlungen entstehen mehr oder weniger stabile Muster, die zu Strukturen werden. Dadurch geben sie den Rahmen für weitere Handlungen vor, wodurch Strukturen reproduziert werden (Schimank 2010, 16). Strukturen kommen unter bestimmten Voraussetzungen als Systemstrukturen vor, so auch im für uns relevanten Bildungssystem.

In der Soziologie unterscheidet man unter anderem akteurtheoretische und systemtheoretische Ansätze. Akteurtheorien haben gemeinsam, dass sie versuchen, menschliches Handeln unter der Prämisse sozialer Interdependenz zu analysieren und die Sinnhaftigkeit sozialer Handlungen, die von Akteur/-innen ausgeführt werden, zu erschließen (Alexander 1982, 71; Kron/Winter 2009, 41).Footnote 4 Es stehen also die Handelnden im Mittelpunkt, die miteinander interagieren.

Systemtheoretische Ansätze haben gemeinsam, dass sie von der Existenz von Einheiten ausgehen, die voneinander abgrenzbar sind. Diese Einheiten besitzen bestimmte Organisationsstrukturen, die aus Elementen bestehen, die in Beziehung zueinander stehen und sich wechselseitig beeinflussen. In neueren systemtheoretischen Ansätzen wird vor allem betont, dass es einen Unterschied zwischen einem System und seiner Umwelt gibt, wobei das System das „Innere“ beschreibt, während die Umwelt die davon abgrenzbare Außenwelt darstellt, von der das System abhängig ist. Analysiert wird der Aufbau der inneren Ordnung von Systemen hinsichtlich Strukturen und Funktionsweisen, außerdem Aspekten der Planung und Steuerung (Ziemann 2009, 469 f.). Demnach stehen Systeme als Einheiten im Fokus, die die Gesellschaft organisieren, wobei sie miteinander interagieren und jeweils bestimmte Funktionen erfüllen. Eichmann zufolge geht man grundsätzlich davon aus, dass es ein kennzeichnendes Merkmal moderner Gesellschaften ist, dass sie aus TeilsystemenFootnote 5 bestehen, die bestimmte zu erfüllende Funktionen unter sich aufteilen und sich so spezialisieren, dass sie ihre Funktionen erfüllen können. Man nennt dies funktionale Differenzierung bzw. Spezialisierung (Eichmann 1989, 7).

In seinem Text über die Reproduktion funktionaler Differenzierung integriert Schimank (2009) diverse soziologische Perspektiven, vorwiegend akteur- und systemtheoretische Überlegungen. Ausgehend von einer systemtheoretischen Perspektive erläutert er die funktionale Differenzierung der Gesellschaft. Ihre Reproduktion zeigt er anhand einer akteurtheoretischen Perspektive auf, indem er sich unter Einbezug von Werten der langfristigen Verfestigung von Strukturen widmet. Letztlich führt er die Reproduktion der funktionalen Differenzierung über den akteurtheoretischen Ansatz auf die Charakteristika des Homo sociologicus zurück (Schimank 2009, 203). Der Homo sociologicus kennzeichnet sich dadurch, dass er sein Handeln an bestehenden Normen und Erwartungen ausrichtet (Schimank 2016, 49), nicht etwa an Nutzenüberlegungen (Schimank 2016, 83). Aufgrund der Thematisierung von Systemen, Strukturen und deren Zusammenhang mit Werten, die ja das Handeln von Akteur/-innen steuern, eignet sich der Text als Basis dafür, beschreiben zu können, wie sich ein bestimmter Wertschätzungsgrad von Bildungsarten langfristig in Gesellschaften etabliert und fortdauert. Da Schimank nicht an allen erklärten Punkten spezifisch auf das Bildungssystem eingeht, werden ergänzend Aspekte aus Fends Neuer Theorie der Schule (2008) und anderen Quellen verwendet, wobei auch der Leistungsaspekt zur Sprache kommt.

Schimank führt die Ordnungen von Systemen und ihre funktionale Differenzierung auf „evaluative Orientierungen“ von Akteur/-innen zurück (Schimank 2009, 194). Das heißt, er begründet die Art und Weise, wie Systeme geordnet sind, und die Funktionsaufteilung zwischen den Systemen mit wertenden Ausrichtungen (also „evaluativen Orientierungen“ oder an anderer Stelle auch „evaluativen Deutungsstrukturen“; Schimank 2009, 194) von Handelnden. Evaluative Orientierungen stehen für kulturell konstruierte Werte und Maßstäbe, anhand derer Mitglieder einer Kultur ihre Entscheidungen treffen bzw. an denen sie ihre Handlungen ausrichten (Endruweit/Lüdtke 2013, 492). Den Akteur/-innen stellen die evaluativen Orientierungen einen Rahmen zur Verfügung, aus dem sie ableiten, „was in einer Situation erstrebenswert ist“ (Schimank 2009, 194). Sie sind vergleichbar mit den „Wertsphären“ bei Weber, die sich aufgrund ihrer unterschiedlichen Regeln, denen sie folgen, unterscheiden (Schwinn 2001, 154–207; Schimank 2009, 194). Denkt man in Systemen, so äußern sich die „evaluativen Orientierungen“ in Teilsystemen als sogenannte binäre Codes; denkt man in Wertsphären, äußern sie sich in sogenannten Leitwerten. Die binären Codes bzw. Leitwerte legen fest, worauf es bei Handlungen in Teilsystemen bzw. Wertsphären ankommt, und steuern das Zusammenwirken der Handlungen der involvierten Akteur/-innen (Schimank 2009, 194). In Bourdieus differenzierungstheoretischer Denkweise bzw. Terminologie gibt es in jedem „Feld“ (statt „System“, da offener gedachtFootnote 6), in dem Handlungen stattfinden, eine jeweils eigene, spezifische „illusio“ (statt eines binären Codes oder Leitwerts), die unter anderem die Wertigkeit von Handlungen festlegt und an der sich die Akteur/-innen orientieren (Bourdieu et al. 1999, 360–365; Schimank 2009, 194). Evaluative Orientierungen werden zu Illusiones bzw. binären Codes, wenn sie in großem Maße auf der Sach- und Zeitebene generalisiert und in zahlreichen unterschiedlichen, jedoch auf einen Bereich begrenzten, Situationen angewendet werden können. Sie verfügen in ausdifferenzierter Form über ein hohes Maß an Kraft, die Gesellschaft zu ordnen, weil sie Handlungen bestimmen und eine „absolute – umfassende und unhinterfragte – Deutungshoheit“ besitzen (Schimank 2009, 194 f.). Binäre Codes fixieren Handlungen in ihrer Wertigkeit und haben innerhalb ihres jeweiligen Teilsystems „unbedingte Geltung“ (Schimank 2009, 196). Dies wird deutlicher, wenn wir das Beispiel des Bildungssystems betrachten.

Weil das Bildungssystem in der Gesellschaft die Funktion hat, Gesellschaftsmitglieder zu selektieren, benennt Luhmann als binären Code des Bildungssystems zunächst die Unterscheidung zwischen „besser“ und „schlechter“ (Luhmann 2008, 195; vgl. auch Eichmann 1989, 80 f.). Wie Kurtz herausarbeitet, bezeichnet Luhmann (2002) in seiner späteren Schrift „Das Erziehungssystem der Gesellschaft“ einen anderen binären Code als entscheidenden Code des Bildungssystems, nämlich „vermittelbar/nicht-vermittelbar“. Dies lässt sich mit der Annahme begründen, dass im Bildungssystem die Wissens- und Wertevermittlung im Vordergrund steht. Der binäre Code „besser/schlechter“ fungiert jedoch als „Zweitcodierung“, insofern die Aneignung von Wissen und Werten beurteilt wird, das heißt, die Selektionsfunktion zum Tragen kommt (Kurtz 2007, 241). Bei der theoretischen Spezifizierung, die von zwei binären Codes des Bildungssystems ausgeht, werden mehr Funktionen des Bildungssystems berücksichtigt. Fend zufolge übt das Bildungssystem neben der Selektionsfunktion, die in Zusammenhang mit der Allokationsfunktion steht, auch andere Funktionen aus, wie zum Beispiel die der Qualifikation, Enkulturation und Integration (Fend 2008, 52 ff.). Bei ihnen steht die Vermittlung fachlicher, kultureller und staatsbürgerlicher Kenntnisse im Mittelpunkt, wenngleich meist verbunden mit der im Lehr- und Lernprozess stattfindenden Selektion durch die Bewertung der Leistungen der Lernenden (Fend 2008, 134). Als Logik des Bildungssystems expliziert Fend die „Differenz von Wissen und Nichtwissen“, womit es sich von der ökonomischen Logik der Nutzenmaximierung und der wissenschaftlichen Logik der Wahrheitsfindung unterscheidet (Fend 2008, 134). Diese grundlegende Logik, die zwischen Wissen und Nichtwissen unterscheidet, kombiniert mit der von Fend erwähnten Funktion des Bildungssystems, fachliche, kulturelle und staatsbürgerliche Kenntnisse zu vermitteln, korrespondiert mit Luhmanns Annahmen. Zum einen betrifft dies die Annahme, dass die Wissens- und Wertevermittlung die wesentliche Aufgabe des Bildungssystems darstellt und der übergeordnete binäre Code des Systems „vermittelbar/nicht-vermittelbar“ lautet. Zum anderen ist der Vermittlungsprozess nach Fend mit der Bewertung von Leistung verknüpft. Dies bestätigt die Annahme Luhmanns, dass es im Bildungssystem einen Sekundärcode gibt, der in „besser“ und „schlechter“ einteilt.

Schimank zufolge gibt es auf verschiedenen Ebenen „Programme“, die dazu dienen, die jeweiligen binären Codes von Teilsystemen zu operationalisieren und Akteur/-innen Leitlinien für ihre Handlungen zur Verfügung zu stellen. Um den vorherrschenden Code herum existiert in Teilsystemen jeweils eine „Programmstruktur“, die „selbstreferentiell geschlossen“ ist. Außerhalb dieser primären Struktur sind sekundäre Programme angesiedelt, die sich auf „fremdreferentielle Elemente“ beziehen, also auf Elemente außerhalb des Teilsystems und seiner eigenen funktionalen Logik. Programmstrukturen bestehen aus drei Segmenten. Sie umfassen die beschriebenen „evaluativen Orientierungen“ als „Wollensvorgaben“, „kognitive Orientierungen“ sowie „normative Vorgaben“ (Schimank 2009, 197 f.). Was unter evaluativen Orientierungen zu verstehen ist, haben wir bereits erläutert. Kognitive Orientierungen zielen auf die Rolle ab, die bestimmte Kennzeichen einer Situation für den Handelnden spielen (Endruweit 2013, 492). Sie helfen, aus einer Vielzahl an Aspekten die relevanten Tatbestände und ihre Bezüge und Wirkungen zu erkennen (Schimank 2009, 198). Die kognitiven Orientierungen entsprechen Essers Beschreibung von „kulturellen Bezugsrahmen“. Demnach sind im Gedächtnis von Akteur/-innen in Übereinstimmung mit der Kultur, der sie angehören, „psychische Systeme“ gespeichert. Letztere bestehen in „mentalen Modellen“, die „typische Situationen“ abbilden, und dienen als Handlungsanleitungen, die Esser als „Handlungsskripte“ bezeichnet (Esser 2000, 35). Normative Vorgaben als Segment einer Programmstruktur sind dafür zuständig, anzugeben, wie gehandelt werden soll. Sie manifestieren sich als „institutionalisierte Erwartungsstrukturen“ in Gesetzen und formalen sowie informellen Normen (Schimank 2009, 197 f.). Normen wiederum geben Handlungsrichtlinien vor, die aus bestimmten Wert- und Zielvorstellungen resultieren und Akteur/-innen helfen, sich zu orientieren (Lamnek 2002, 386 f.). Somit bilden normative Vorgaben soziokulturelle Richtschnüre. Alle drei Segmente der Programmstruktur eines Teilsystems unterliegen dem Einfluss der Kultur und ihrer Werte.

Wie eine solche Programmstruktur aussehen kann, zeigen Luhmanns Ausführungen zum Bildungssystem. Luhmann beschreibt Programme in Bezug auf die Selektionsfunktion des Bildungssystems und den Code „besser/schlechter“, ohne wie Schimank zwischen primären und sekundären Programmstrukturen zu unterscheiden. Innerhalb des Bildungssystems (bei Luhmann „Erziehungssystem“) sind die Programme dafür verantwortlich, die zu lernenden Bildungsinhalte festzulegen bzw. Lernziele zu definieren. Die Programme können, müssen aber nicht, an das Wirtschaftssystem angeschlossen werden. Das heißt, Bildungspläne für bestimmte Bildungsgänge können inhaltlich an Berufen bzw. in der Wirtschaft benötigten Fertigkeiten ausgerichtet werden. Es können je nach Ausprägung aber auch Verknüpfungen zu anderen Bezugssystemen bestehen, die in Verbindung mit Erziehung stehen und „gesellschaftliche Anforderungen“ an das Erziehungssystem stellen (Luhmann 2008, 196 f.). „Im Selektionskontext des Erziehungssystems kann alles mit allem verknüpft werden, vorausgesetzt, daß es bewertet wird“ (Luhmann 2008, 197), denn die Bewertung an sich reicht aus, um selektieren zu können, unabhängig davon, was genau bewertet wird.

Wie Fend in Anlehnung an Luhmann erläutert, kommunizieren Teilsysteme (als Subsysteme des als übergeordnet gedachten Gesamtsystems der Gesellschaft) untereinander und passen sich gegenseitig an. Dies geschieht, indem Erwartungen anderer Teilsysteme in die eigene Funktionalität einbezogen und integriert werden. Auf diese Weise versuchen Teilsysteme, sich als solche zu erhalten (Fend 2008, 131). Das Bildungssystem kommuniziert laut Fend mit der Wirtschaft und der Politik (Fend 2008, 131). Die Qualifikationsfunktion des Bildungssystems kann man demnach als Folge einer Angliederung an das Beschäftigungssystem begreifen. Jedoch bestimmen, so lässt sich schließen, auch die anderen Funktionen des Bildungssystems über die Inhalte, die dort vermittelt werden, wodurch die Orientierung an der Wirtschaft an Relevanz verlieren kann. Hier kommt der Code der „Vermittelbarkeit/Nicht-Vermittelbarkeit“ zum Tragen, der weit über den Berufsbezug hinausgeht. Je nachdem, welche Anschlüsse an andere Teilsysteme bestehen, können die Vermittlungsgegenstände des Bildungssystems variieren, womit der Inhalt der zu erbringenden Leistung und ihre Bewertung divergiert.

Schimank unterstreicht explizit die Bedeutung von Akteurkonstellationen für die Entstehung stabiler Strukturen und handlungsleitender Prägungen. Die Anordnung und das Verhältnis von Akteur/-innen und ihr Zusammenspiel sind ebenso entscheidend wie die oben benannten evaluativen und kognitiven Orientierungen sowie normativen Vorgaben (Schimank 2009, 199 f.; vgl. auch Mayntz/Scharpf 1995; Mayntz 1997, 199). Aus den Wechselwirkungen dieser vier Elemente ergibt sich die oft lange überdauernde Ausprägung der funktionalen Differenzierung einer Gesellschaft, die sich beispielsweise in unterschiedlichen Schultypen im Bildungssystem und bestimmten Konkurrenzsituationen äußert. Insgesamt lässt sich beobachten, dass verschiedene Gesellschaften sehr unterschiedliche Strukturausprägungen und Kontingenzmaße aufweisen, sich dabei jedoch „die Codes als sich dauerhaft identisch reproduzierende Kerne“ nicht unterscheiden (Schimank 2009, 199 f.). Das heißt, dass in der Regel die Teilsysteme von verschiedenen Gesellschaften dieselben Codes aufweisen, ihre Strukturierung aber bisweilen stark divergieren kann.

Die Akteur/-innen eines Teilsystems sind daran gebunden, dem jeweiligen Code zu folgen, da sie sonst nicht Teil des Systems sein bzw. bleiben können (Schimank 2009, 203). Sie unterliegen dem „funktionalen Imperativ“ (Esser 2000, 77). Diesen nehmen sie in der Regel jedoch nicht als solchen wahr, weil er als natürlich erscheint. Er diktiert ihnen die Einschätzung von Situationen und ihr Vorgehen, ohne dass bei ihnen Zweifel entstünden, da die Kontingenz gesellschaftlicher Strukturen verschleiert wird. Dadurch reproduziert sich der Code immer wieder aufs Neue und erweist sich als äußerst langlebig (Schimank 2009, 203–206). Es entsteht eine „Objektivierung sozialen Wissens“ (Vollmer 1996, 316). In anderen Worten verlangen Teilsysteme von ihren Teilnehmenden bestimmte Handlungsweisen. Diese werden durch die Strukturen der Teilsysteme vermittelt, die sich am Code des Teilsystems und seinen Funktionen ausrichten. Die Akteur/-innen hinterfragen die Vorgaben des Systems nicht, weil sie durch das System geprägt sind und seine Vorgaben als richtig wahrnehmen bzw. sich nicht dessen bewusst sind, dass es eventuell Handlungsalternativen gäbe. Auf diese Weise stützen sie mit ihren Handlungen das System und seinen Code, wodurch dieser sich reproduziert.

Sowohl aufgrund von vorgegebenen Normen und Erwartungen sowie einem „Bedürfnis an basaler Erwartungssicherheit“ als auch von Nutzenüberlegungen, die im Rahmen evaluativer und normativer Vorgaben stattfinden, ordnen sich Akteur/-innen der „kulturellen Leitidee“ von teilsystemischen Codes unter (Schimank 2009, 210). Dies gilt unter anderem für das Bildungssystem mit seinen Abschlüssen, von denen ein bestimmter Nutzen erwartet wird (Schimank 2009, 210). Bildungsabschlüsse können eine Norm darstellen, an die unter anderem Erwartungen bezüglich Karriere, Status und gesellschaftlicher Anerkennung geknüpft sind. Da, so Schimank, gleich gerichtete Handlungen, die der Logik des im Kontext der Handlung anzuwendenden Codes folgen, aggregiert und Situationen der Systemlogik entsprechend interpretiert werden, kommt es zu einer Reproduktion von Systemstrukturen, bei der die Absichten und Praktiken einzelner Akteur/-innen irrelevant sind (Schimank 2009, 209). Dies macht Aussagen und Folgerungen auf einer allgemeineren Ebene als der individuellen möglich.

Von großer Wichtigkeit für den Erhalt des sozialen Systems der Gesellschaft sind Institutionen. Institutionen stellen „soziale Einrichtungen“ dar, die als leitende Instanzen der Gesellschaft fungieren und ihren Bestand als System sichern (Lipp 2002, 246). Um selbst bestehen zu können, sind sie auf „Werte und gemeinsame Deutungsmuster“ angewiesen (Fend 2008, 28). Diese vermitteln sie weiter, indem sie Einfluss auf die „soziale Kognition“ nehmen. Durch den Einfluss der Institutionen auf die Kognitionen von Akteur/-innen lenken sie, was Akteur/-innen überhaupt als Handlungsoptionen wahrnehmen. Dadurch limitieren sie die Handlungsoptionen von Akteur/-innen (Vollmer 1996, 316). Bezogen auf die Aufgaben des Bildungssystems widmen sich seine Institutionen dem Ziel der „Internalisierung von kulturellen Grundüberzeugungen“ und der „Weitergabe von Wissen und Fertigkeiten“, die das Wesen ihrer Organisation bestimmen (Fend 2008, 29). „Sie arbeiten an der ‚Seele‘ von Heranwachsenden, an ihren mentalen Strukturen und an ihrem Wertsystem“ (Fend 2008, 29 f.; vgl. auch Solga 2005, 43). In aller Regel wird dabei auf Instrumente wie Lehr- bzw. Bildungspläne zurückgegriffen, die regeln, was genau vermittelt werden soll. Sie verkörpern, was die Gesellschaft erwartet und fordert, und spezifizieren „gesellschaftliche Wertvorstellungen“ (Fend 2008, 31). Diese repräsentieren ein bestimmtes Bildungsideal, das unter dem Einfluss von Religion und Politik steht (Cummings 2003, 36 f.; vgl. auch Kuper/Thiel 2010, 487).

2.4 Schlussfolgerungen aus dem theoretischen Hintergrund

Die soeben gewonnenen Erkenntnisse aus der Zusammenfügung akteur- und systemtheoretischer Perspektiven und ihrer Bedeutung hinsichtlich des Bildungssystems verweisen auf den Aspekt der Leistung, der vorgängig behandelt wurde. Insbesondere wurde als Sekundärcode des Bildungssystems der Code „besser/schlechter“ bestimmt, der einen leistungsbezogenen Code darstellt, weil er Leistungen als besser bzw. schlechter einordnet. Im Folgenden werden die Erkenntnisse aus den Abschnitten 2.1, 2.2 und 2.3 zusammengeführt und vertiefend durch weitere Zitate komplementiert. Die so gewonnenen Schlussfolgerungen dienen als theoretisches Fundament der weiteren Analysen.

  • Theorieschlussfolgerung 1 (T1): Leistung und Bildung stehen in zweierlei Hinsicht in enger Beziehung mit kulturellen Werthaltungen. Zum einen unterliegt der Leistungsbegriff, wie Heid (1992; 2012) aufzeigt, in seiner Definition der kulturellen Vorstellung von guter bzw. schlechter Leistung, die im Rahmen der Leistungssozialisation internalisiert wird. Durch die Umwelt, in der ein bestimmtes Leistungsverständnis verwendet wird, wird der nächsten Generation das kulturell determinierte Leistungsverständnis gelehrt (Fend 2008, 78; Heid 2012, 4). Diese Vorstellung geht auf die Inhalte zurück, die von den Definitions- und Sanktionsmächtigen als leistungsrelevant vertreten werden (Heid 2012). Zum anderen hat das Bildungssystem als solches unter anderem die Aufgabe, Kultur und deren „Deutungssysteme“ und „Kompetenzen“ zu vermitteln (Fend 2008, 179). Beide Aspekte sind über die Selektionsfunktion des Bildungssystems miteinander verbunden, weil das Bildungssystem das, was es den Lernenden vermittelt, überprüft und es mithilfe des Codes „besser/schlechter“ (Luhmann 2002; Kurtz 2007, 241; Luhmann 2008) als erbrachte Leistung bewertet.

  • T2: Systeme und ihre Ordnungen werden im Kern von kulturell begründbaren Mustern und Werten bestimmt, auf deren Basis Akteur/-innen Situationen bewerten und Handlungen ausführen (Schimank 2009, 194). Aus dem Zusammenspiel von Akteurkonstellation, normativen Vorgaben und evaluativen sowie kognitiven Orientierungen ergibt sich die Reproduktion der Ausdifferenzierung des Bildungssystems in unterschiedliche Schultypen. Im Kern sind die Codes der Bildungssysteme als Teilsysteme moderner Gesellschaften gleich, ihre Ausprägung kann sich jedoch aufgrund differierender Kontingenzniveaus beträchtlich unterscheiden (Schimank 2009, 199 f.). Laut Heckhausen können „Regelungsmechanismen“ bei der Umsetzung des Leistungsprinzips auf einem Kontinuum zwischen „frei“ und „starr“ angesiedelt werden. Sie äußern sich in unterschiedlichen Arten von Regulierungen, wie zum Beispiel Gesetzen, Ordnungen und Bestimmungen sowie der Einsetzung von Bewertungsgremien oder übergeordneten Personen und der Schaffung von Wettbewerbssituationen (Heckhausen 1974, 89).

  • T3: Es existiert ein kultureller Konsens darüber, was gute bzw. schlechte Leistung ist. Er erscheint als natürlich und wird in der Regel nicht hinterfragt (Heid 2012, 5). Dies lässt sich dadurch erklären, dass Leistung eine Anforderung des Systems an seine Akteur/-innen ist, der sie sich unterordnen, um nicht aus dem System ausgeschlossen zu werden. Systeme stellen für Akteur/-innen einen normativen Handlungsrahmen dar, der ihre Aktionen reguliert und in hohem Maße vorgibt. Die scheinbare Natürlichkeit systemischer Codes verhindert ein Nachdenken über andere Möglichkeiten und suggeriert die Nichtexistenz anderer Optionen (vgl. auch Solga 2005, 32 f.; Schimank 2009, 203). Folgt man Solga, so ist gerade bezüglich Meritokratien bekannt, dass nicht nur die „höheren“ Statusgruppen, sondern auch die niedrigeren aufgrund der Verinnerlichung der Leistungsdefinition, einhergehend mit einer meritokratischen Rhetorik in der Öffentlichkeit, aktiv zum Erhalt der bestehenden Strukturen beitragen (Solga 2005, 42–46; vgl. auch Waldow 2019, 256). Hinsichtlich Meritokratie heißt es bei Heckhausen: „Die Kopplungen [zwischen Qualifikation und Zuweisung, Anm. d. A.] beruhen auf geschichtlich gewordenen soziokulturellen Setzungen in vielerlei Lebens- und Tätigkeitsbereichen, die im Überzeugungswissen nicht nur der zuweisenden Instanzen, sondern auch der Empfänger als, selbstverständlich‘ und ,gerecht‘ erscheinen“ (Heckhausen 1974, 71). Das heißt, dass sowohl bei Instanzen, die Gesellschaftsmitgliedern Positionen zuweisen, als auch bei den Gesellschaftsmitgliedern selbst bestimmte Überzeugungen vorherrschen. Diese sind durch das soziale Zusammenleben innerhalb einer Kultur historisch gewachsen. Sie werden als legitim gebilligt, weil sie als fair und selbstverständlich wahrgenommen werden. Auf diese Weise ist verstehbar, dass das meritokratische Leistungsprinzip weithin als alternativlos akzeptiert wird, obgleich zum Beispiel Gruber (2016, 17) zufolge bereits nachgewiesen wurde, dass es nicht wie gewünscht funktioniert.

  • T4: Aufgrund der Mechanismen, die unter Abschnitt 2.2 und 2.3 beschrieben wurden, lässt sich sagen, dass sowohl bewertende Lehrpersonen als auch Lernende, die Leistung erbringen, an die bestehenden systemischen Normen gebunden sind. Dadurch ist die Leistungserbringung und ihre Beurteilung wertbestimmt. Überdies orientieren sich Bildungsentscheidungen an den Vorschriften und Logiken des Systems.

    In der schulischen Bewertungspraxis existiert nur in dem vom System zugelassenen Rahmen eine gewisse Freiheit des bewertenden Subjekts darin, welche Leistung es wie beurteilt. Sie ergibt sich aus der Kontingenz von Situationen, von der Schimank spricht (Schimank 2009, 199). Selbst die subjektive Komponente der Leistungsbewertung, bei der persönliche Überzeugungen und Werthaltungen einfließen (Nicht/Müller 2017, 64 f.), unterliegt gesellschaftlichen Prägungen durch die Umwelt des Subjekts, die es im Rahmen der Leistungssozialisation (Fend 2008, 78; Heid 2012, 4) erlernt hat. Letztlich findet entsprechend dem gesellschaftlichen Konsens über gute bzw. schlechte Leistung mit fast jeder neuerlichen Leistungsbewertung eine Reproduktion des Leistungsverständnisses statt, da die Leistungsbewertungen aggregiert werden. Wenn einzelne Akteur/-innen aus dem Rahmen fallen, ändert dies nichts an der Reproduktion des Systems und seiner Strukturen, weil das Handeln Einzelner im Verhältnis zum aggregierten übereinstimmenden Handeln anderer nicht ins Gewicht fällt (vgl. Schimank 2009, 209).

  • T5: Für die „offizielle“ Leistungsbeurteilung im Bildungssystem gibt es Kriterien, Richtlinien und Kataloge, die Leistungsnormen definieren und Standards vorgeben, an denen sich Beurteilende orientieren sollen (Heid 1992, 92; Solga 2013, 32). Außerdem werden Lehr- bzw. Bildungspläne erstellt, die den inhaltlichen Rahmen abstecken, innerhalb dessen Leistungen erbracht werden müssen. Sie entstehen auf Grundlage übereinstimmender Werthaltungen der Gesellschaft (Fend 2008, 31), können aber auch Produkt politischer Machtverhältnisse und der Durchsetzung von Interessen bestimmter Akteur/-innen sein (vgl. zum Beispiel Schimank 2009, 199 f.).

  • T6: Nach Georg und Sattel erfordern die Strukturen der Organisation des Bildungssystems, um als solche gesellschaftlich anerkannt zu werden, die Kompatibilität „kollektiver und individueller Werthaltungen und Präferenzen“ mit Akteurinteressen (Georg/Sattel 2006, 126). Die Definition von Leistung bzw. Erfolg wird von den Gruppen, die die Definitionsmacht haben, durchgesetzt und erhält generelle Gültigkeit, die durch „Zustimmung und Einverständnis“ gefestigt wird und nur deshalb auf Dauer bestehen kann, weil sie eine „sozial glaubhaft gemachte Fiktion“ darstellt (Hitzler 2003, 787). Am Beispiel der Leistungssozialisation (Fend 2008, 78; Heid 2012, 4) und der Prägung der Handlungen von Akteur/-innen durch Illusiones bzw. Codes (Bourdieu et al. 1999, 360–365; Schimank 2009, 194) zeigt sich, dass eine Internalisierung von (systemischen) Strukturen und den dort enthaltenen Wertorientierungen stattfindet, auch wenn sie ursprünglich nicht auf Basis gesellschaftlich geteilter Werte, sondern in Aushandlungsprozessen entstanden sind. Wie Heid gezeigt hat, erscheinen die Bezugsrahmen, die bei der Beurteilung von Leistung verwendet werden, als natürlich und stehen nicht zur Diskussion (Heid 2012, 5). Insofern lassen sich auch in Anbetracht der Auswirkungen von Akteurkonstellationen bei der Entstehung von (systemischen) Strukturen hinsichtlich des Status quo und des Reproduktionsprozesses Verbindungen mit kulturellen Werthaltungen herstellen. Allerdings können sie nicht mit einzelnen Strukturmerkmalen, wie zum Beispiel einzelnen Gesetzen, direkt in Zusammenhang gebracht werden, sondern müssen kompatibel mit einer zu findenden, übergreifenden Logik sein.

  • T7: Wirtschaftssystem und Bildungssystem kommunizieren miteinander (Fend 2008, 131). Sie passen sich aus funktionalen Gründen aneinander an (vgl. Luhmann 2008, 196 f.), wie auch die „Theorie der gesellschaftlichen Effekte“ bestätigt (vgl. Lutz 1991; Maurice 1991; Georg/Sattel 2006, 126). Dies kommt auf Seiten des Bildungssystems im Gedanken der fachlichen Qualifizierung und der Selektion nach Maßgabe des Leistungsprinzips zum Ausdruck. Die Leistung, die im Bildungssystem bewertet wird, und die Inhalte und Kompetenzen, die dort vermittelt werden, beziehen sich nicht etwa nur auf das Wirtschaftssystem und dessen Anforderungen. Da jedoch bei Lehr-Lern-Prozessen stets der Sekundärcode „besser/schlechter“ mitläuft, werden auch andere als auf die Wirtschaft bezogene Leistungen bewertet und fließen in den Selektionsprozess ein (vgl. Kurtz 2007, 241). Weil das Wirtschaftssystem sich auf die Selektion des Bildungssystems verlässt, muss es sich jenem insofern anpassen, dass es seine relativ umfassende Leistungsbewertung als prädiktiv für das berufliche Leistungspotenzial von Menschen auf dem Arbeitsmarkt ansieht.

  • T8: In Verbindung mit den Themen der Leistung und des Bildungswesens sind Bildungsideale, die Ziele von Bildung und Leistungsziele mitgestalten, zu beachten. Bedingt durch die Institutionalisierung kann es zur Abfassung von Lehr- bzw. Bildungsplänen kommen, die gesellschaftliche Erwartungen spezifizieren und auf deren Werten beruhen (vgl. Cummings 2003, 36 f.; Kuper/Thiel 2010, 487). Die am Bildungswesen beteiligten Institutionen setzen die Grenzen für Handlungsoptionen und deren Wahrnehmung durch die Teilnehmenden. Überdies geben sie kulturelle Werte weiter, indem sie die mentalen Strukturen der Heranwachsenden formen (vgl. Vollmer 1996, 316; Solga 2005, 43; Fend 2008, 29 f.).

Die angestellten Überlegungen zeigen deutlich die kulturelle Determiniertheit und damit auch Wertbezogenheit sowohl von Leistung als auch des Bildungssystems und seiner Ausdifferenzierung. Wie Bourdieu hervorhebt, lassen sich objektive und kognitive Strukturen aus theoretischer Sicht nicht trennen. Nur wenn man beide analysiert und aufeinander bezieht, kann man die Erklärungskraft entfalten, die man braucht, um Phänomene umfassend zu verstehen (Bourdieu 1996, 1). Die Funktionsfähigkeit von Systemen erklärt sich aus der Aggregation sozialer Handlungen, die zur Reproduktion von Systemstrukturen führen und das System über lange Zeit erhalten können. Sowohl normative Vorgaben als auch evaluative und kognitive Orientierungen sind an Werthaltungen und Wertungen rückgebunden, die Gesellschaftsmitglieder prägen. In den Worten Schuberts und in Bezug auf Erziehung: „Sowohl pädagogische Vorstellungen als auch pädagogische Handlungsweisen sind an kulturelle Kontexte gebunden […]. Diese Kontexte bestimmen die jeweiligen Erwartungen, sie liefern dominierende Werthaltungen oder Orientierungen“ (Schubert 2005, 29). Systeme produzieren Codes (Bourdieu et al. 1999) und Programme, die Handeln im System wertfixieren. Im Bildungssystem kommen die Werthaltungen bei der Definition von Standards und Regularien hinsichtlich zu erbringender Leistung und ihrer Bewertung zum Vorschein. Bezüglich der Frage nach der Wertigkeit beruflicher Bildung im Gegensatz zu allgemeiner bzw. akademischer Bildung wirken sich die implementierten kulturell konstruierten Wertlogiken, das heißt, Werte, die entsprechend kultureller Vorgaben angeordnet sind und miteinander auf kulturell bestimmte Weise in Beziehung stehen und Strukturen beeinflussen, aus. Sie legen fest, welche Schultypen welche Funktion übernehmen, und weisen ihnen ihren Stellenwert zu. Nach Pilz orientiert sich die Ausgestaltung von Prozessen der Vorbereitung auf die Arbeitswelt, in diesem Fall in Bezug auf Japan und Deutschland, „insbesondere an der Strukturierung sowie Wertigkeit innerhalb des Bildungs- und des Beschäftigungssystems“ (Pilz 2011, 289 f.). Mit Bourdieu etwas weiter gefasst, können sich Werte auch in Strukturen widerfinden, die nicht Teil von Systemen sind, sondern von Feldern, und einer „illusio“ folgen (Bourdieu et al. 1999, 360–65; Schimank 2009, 194). Weber spricht von „Wertsphären“, die je eigenen Gesetzen folgen (Schwinn 2001, 154–207; Schimank 2009, 194) und die man als eine Art Vorform von Systemen interpretieren kann, in der Werte nicht in dem Maße in sich reproduzierenden Strukturen verfestigt sind wie in Systemen.

Nachdem wir nun theoretisch analysiert haben, wie das Bildungssystem bzw. Strukturen des Bildungswesens auf einer allgemeinen Ebene mit dem Leistungsaspekt und Werthaltungen verknüpft ist bzw. sind, kann nun ein Bezug zur Wertschätzung beruflicher Bildung und deren Zusammenhang mit Meritokratie hergestellt werden. Insbesondere ist herauszufinden, welche Wertlogik Meritokratien hinsichtlich der Wertigkeit von Bildungsabschlüssen voraussetzen, wie sich die Wertlogik in Strukturen und Systemen äußert und in welchem Bezug sie zur Wertigkeit beruflicher Bildung in Meritokratien steht. Für dieses Vorhaben wurde die Methode der Idealtypuskonstruktion gewählt, die nachfolgend erörtert wird. Im Anschluss an eine allgemeine Betrachtung der Methode wird ein adäquates Vorgehen für die vorliegende Arbeit entwickelt.