1.1 Die Randständigkeit beruflicher Bildung als Teil des doppelten Wertschätzungsproblems der beruflichen Lehrerbildung in der Ukraine und ihre Relevanz

Die etablierte international vergleichende Berufsbildungsforschung widmet sich der Aufgabe, „für spezifische nationale oder supranationale Problemlagen in erzieherisch relevanten sozialen Bezugsfeldern sensibel zu werden“ (Deißinger/Frommberger 2010, 343). Osteuropa und der post-sowjetische Teil Mitteleuropas bleiben dabei trotz der geografischen Nähe zu Deutschland in der deutschen berufs- und wirtschaftspädagogischen Literatur weitgehend ausgespart. Es finden sich nur wenige Beiträge über die berufliche Bildung in diesen Ländern; und dies, obwohl die berufliche Bildung nach Anweiler (1981) historisch gesehen in den damaligen sowjetischen Ländern ein tragendes Element des Bildungswesens ausmachte. Ein großer Teil dieser Staaten verfügt über eine Sowjetvergangenheit. Da die Sowjetregierung in vielerlei Hinsicht zu westeuropäischen Ländern gegensätzliche ideologische Ausrichtungen verfolgte, bieten sich hochinteressante und relevante Vergleiche an. Gerade in der Unterschiedlichkeit kann ein gegenseitiger Gewinn liegen, denn eine Kontrastierung ermöglicht eine analytische Schärfung bestehender Deskriptionen unterschiedlicher, regionsspezifischer Arten der beruflichen Bildung.

Ein mittel-/osteuropäisches Land, dem in der Berufs- und Wirtschaftspädagogik bisher kaum Aufmerksamkeit geschenkt wurde, ist die Ukraine. Seit dem Übergang zur Marktwirtschaft zu Beginn der 1990er Jahre kämpft das Land um wirtschaftliche Stabilität. Sowohl in der Vergangenheit als auch in der Gegenwart wirken sich externe und interne Ereignisse und Problemlagen negativ auf die wirtschaftliche Situation aus:

  • Die Finanzkrise 2008 traf die Ukraine hart (vgl. zum Beispiel Becker/Raza 2008, 104 f.; Gabrisch 2008; Åslund/Barth 2010).

  • Aufgrund der Krim-Annexion und der Kämpfe in der Ostukraine ist die politische Lage angespannt (vgl. zum Beispiel Luchterhandt 2014; Pradetto 2014).

  • Das revolutionsbereite Volk setzt sich gegen die korrupten Eliten zur Wehr (Simon 2005; 2014).

Als Land mit großem Reichtum an äußerst fruchtbaren Böden und an Bodenschätzen (Rudenko/Botschkowska 2009, 122; Kappeler 2019, 17 ff.) gehört die Ukraine nur bedingt zu den Ländern, die zur Wohlstandssicherung auf ihren Wissensschatz und -vorsprung angewiesen sind. Vielmehr sind es praktisch orientierte Berufe, die für die ukrainische Wirtschaft von großer Relevanz sind. Jedoch zeigen Statistiken, dass Akademiker/-innen den Arbeitsmarkt überschwemmen, deren Fähigkeiten häufig nur wenig den Bedarfen der Arbeitgeber/-innen entsprechen. Gleichzeitig mangelt es an qualifizierten Arbeiter/-innen mit einer soliden Berufsausbildung. Zudem befindet sich die ukrainische Arbeitsproduktivität statistisch auf geringem Niveau (Suprun et al. 2012; vgl. auch Del Carpio et al. 2017; MES 2017–2019c; ETF 2019b). Insofern ist der Ausbau des ukrainischen Berufsbildungssystems, und darin inbegriffen der beruflichen Lehrerbildung, eine dringliche Angelegenheit für dieses Land (vgl. Suprun et al. 2012, 9 f.; ETF 2017c, 8 f.).

Um die berufliche Lehrerbildung in der Ukraine zu stärken, führten mehrere Institutionen aus der Ukraine, Deutschland, Spanien und Österreich in der Zeit von Oktober 2016 bis Oktober 2018 unter dem Akronym ITE-VETFootnote 1 gemeinsam ein EU-gefördertes Erasmus + -Kapazitätsaufbauprojekt durch. Die Koordination übernahm der Lehrstuhl für Wirtschaftspädagogik I der Universität Konstanz unter Leitung von Prof. Dr. Dr. h.c. Thomas Deißinger. Bedarfsanalysen und Hintergrundrecherchen offenbarten ein „doppeltes Wertschätzungsproblem“ der beruflichen Lehrerbildung in der Ukraine. Es äußert sich zum einen in einer Geringschätzung des Lehrerberufs. Zum anderen leidet die berufliche Bildung als solche an fehlender sozialer Akzeptanz.

Seit dem Ende der Sowjetunion hat der Lehrerberuf in der Ukraine seine vormals gute Reputation weitgehend verloren (Koshmanova/Ravchyna 2008, 147 f.; Kutsyuruba 2011, 296; Borkach 2013, 528; Bąk 2014, 65; Kutsyuruba/Kovalchuk 2015, 41). Hierfür existiert eine Vielzahl an Gründen. Die Lehrerbildung ist nach wie vor in dem theoretischen Paradigma totalitären Denkens der Sowjetzeit verhaftet (Koshmanova/Ravchyna 2008, 137, 154; Kutsyuruba 2011, 302). Die methodische Ausrichtung gilt als überholt (Gresham/Ambasz 2019, 6). Aufgrund der mangelnden Attraktivität des Lehrberufs fehlt es an Nachwuchs und die Lehrerschaft überaltert (ETF 2017c, 9; Gresham/Ambasz 2019, 19 f.). Über Pädagogische Universitäten weiß man, dass sich dort tendenziell leistungsschwächere Abiturient/-innen einschreiben, die kaum Alternativen haben (Gresham/Ambasz 2019, 19). 40 % der aktiven Lehrpersonen haben ein Alter von mindestens 55 Jahren erreicht (Gresham/Ambasz 2019, 20), sodass ein großer Anteil der berufstätigen Lehrer/-innen zur Sowjetzeit ausgebildet wurde. Die Nachwuchssorgen hängen unter anderem mit dem geringen Lohnniveau zusammen. Ein Lehrergehalt reicht kaum, um den Lebensunterhalt zu bestreiten, sodass viele zusätzlich andere Jobs ausüben (Koshmanova/ Ravchyna 2008, 148; Kutsyuruba 2011, 302; Kavtseniuk et al. 2015, 20 f.; Klein 2018, 119). Damit haben sie einen Anreiz, sich die Lehrtätigkeit so einfach wie möglich zu gestalten, um Zeit für andere Arbeitsstellen zu sparen (Koshmanova/Ravchyna 2008, 148). Viele Lehrkräfte haben den Bildungsbereich verlassen, um in der Wirtschaft mehr Geld zu verdienen (Hellwig/Lipenkowa 2007, 812; Kutsyuruba 2011, 296). Bezüglich Lehrer/-innen an beruflichen Schulen ist von einem Motivationsproblem die Rede (ETF 2019a, 64). In der Lehrerbildung setzt man den Akzent auf theoretische Inhalte (Koshmanova/Ravchyna 2008, 55), während für Schulpraktika gewöhnlich sechs Wochen angesetzt werden (Borkach 2013, 154). Der geringe Praxisanteil lässt kaum darauf hoffen, dass die Absolvent/-innen in der Lage sind, guten Unterricht zu halten. Auch die Mehrbelastung und das niedrige Motivationsniveau sind einer hohen Unterrichtsqualität abträglich, was einen weiteren Beitrag zum geringen sozialen Prestige der Lehrer/-innen leistet.

Wie der Lehrerberuf an sich erfährt auch die berufliche Bildung als Teil des zentralistisch vom Staat gesteuerten Bildungssystems aktuell wenig gesellschaftliche Anerkennung (Želudenko/Sabitowa 2015, 854 f.; MES 2017–2019c; ETF 2019a, 41; Friedman/Trines 2019; Kooperation international 2019). Dies zeigt sich unter anderem in Statistiken, die der Ukraine einen international sehr hohen Bildungsstand nachweisen, der sich in einer hohen Anzahl an Akademiker/-innen äußert (s. Abbildung 1.1). Währenddessen wird die berufliche Bildung als Auffangbecken für Sozial- und Leistungsschwache verstanden (Kooperation international 2012; Suprun et al. 2012, 18; Želudenko/Sabitowa 2015, 862; Del Carpio et al. 2017, 92; ETF 2017c, 6; Radkevych et al. 2018, 131 f.). Von der starken Orientierung an der beruflichen Bildung während der UdSSR ist nicht mehr viel übriggeblieben. Seit dem Ende der Sowjetunion gingen die Zahlen ukrainischer Jugendlicher, die sich für den berufsbildenden Weg entschieden, in großem Ausmaß zurück (Gebel/Noelke 2011, 30; Kavtseniuk et al. 2015, 49 f.; SSC 2018, 124–129; Friedman/Trines 2019), obwohl eine Hybridqualifikation existiert, die einen berufsqualifizierenden Abschluss und die Hochschulreife umfasst (Kooperation international 2019). Grund für die Randständigkeit der beruflichen Bildung ist unter anderem die Wichtigkeit von Bildungszertifikaten, insbesondere von Hochschulabschlüssen (Gorobets 2008, 98; Libanova et al. 2013, 39 f.).

Abbildung 1.1
figure 1

Bildungsstand der ukrainischen Bevölkerung mit einem Alter von mindestens 15 Jahren mit tertiärer Bildung (unvollständig und abgeschlossen) im Vergleich zu ausgewählten Ländern, 1980–2010, in %. (Datenquelle: World Bank Group 2020)

In der beruflichen Lehrerbildung scheinen sich die beiden Stränge des Wertschätzungsproblems zu kreuzen, glaubt man den geringen Zahlen an Absolvent/-innen, die den Weg in den Lehrberuf an beruflichen Schulen finden. Gleichzeitig bleiben mit aktuell etwa 3 000 unbesetzten Lehrerstellen in der beruflichen Bildung 9 % vakant (Melnyk 2017. 3.3; ETF 2019a, 14) – und dies trotz der gesunkenen Schülerzahlen.

Da eine ausführliche Betrachtung beider Problemstränge den Rahmen einer Dissertation sprengen würde, ist eine Schwerpunktsetzung notwendig. Beide Stränge sind von großer gesellschaftlicher Relevanz. Im vorliegenden Fall fällt die Entscheidung für die Wertschätzung beruflicher Bildung. Grund dafür ist, dass die berufliche Bildung in der Disziplin der Berufs- und Wirtschaftspädagogik eine zentralere Position einnimmt. Forschung zum Lehrerberuf befindet sich auf einer Ebene, die Überschneidungen mit der Berufs- und Wirtschaftspädagogik aufweist, die berufliche Bildung befindet sich hingegen innerhalb des berufs- und wirtschaftspädagogischen Betrachtungsbereichs. Somit ist der zu erwartende Beitrag zur Forschung der Disziplin potenziell größer, wenn die Wertschätzung der beruflichen Bildung thematisiert wird anstatt jener des Lehrerberufs.

1.2 Die Wertschätzung beruflicher Bildung als Teil des Meritokratiediskurses in der Berufs- und Wirtschaftspädagogik

Einige Merkmale des ukrainischen Bildungssystems, die mit der Wertschätzungsproblematik der beruflichen Bildung verknüpft sind, erinnern an Aspekte des Meritokratie-Diskurses in der deutschsprachigen Berufs- und Wirtschaftspädagogik: eine hierarchische Ordnung des Bildungssystems und von Bildungsabschlüssen; eine Bildungsexpansion zugunsten der akademischen und auf Kosten der beruflichen Bildung; eine Marginalisierung beruflicher Bildung; eine große Bedeutung von Bildungszertifikaten für den sozialen Status und die Berufsposition; eine zentralistische, staatlich dominierte Steuerung des Bildungssystems (vgl. Hörner 1994; Georg 1998; Frommberger 2009; 2012; Ott 2015; Deißinger 2019). Diese Parallelen legen den Ansatz nahe, das Wertschätzungsproblem der beruflichen Bildung in der Ukraine mit Blick auf die meritokratische Denkfigur zu untersuchen.

Die Berufs- und Wirtschaftspädagogik greift bei der Thematisierung von Meritokratie meist auf soziologische Ansätze zurück. Prominentestes Beispiel sind die arbeits- und bildungssoziologischen Texte von Lutz (1979; 1986) über die „meritokratische Logik“, wie sie in Frankreich zum Tragen kommt, und seine Befunde, die in die Entwicklung der Theorie der gesellschaftlichen Effekte einflossen. Meritokratie selbst steht in berufs- und wirtschaftspädagogischen Texten in aller Regel nicht im Zentrum des Erkenntnisinteresses, sondern wird eher am Rande gestreift, wenn Phänomene untersucht werden, die auf eine meritokratische Orientierung zurückgeführt werden. Zu diesen Phänomenen gehören zum Beispiel die Bildungsexpansion, Akademisierungsprozesse, die Durchlässigkeit zwischen beruflicher und akademischer Bildung sowie die Berechtigungsfunktion beruflicher Bildung. In der Berufs- und Wirtschaftspädagogik ist Meritokratie in einem engeren Sinne rezipiert worden, als Verknüpfung des Bildungswesens bzw. von zertifizierten Abschlüssen aus diesem mit hierarchisch gedachten beruflichen Positionen. So versteht Frommberger unter Verweis auf Lutz (1979) unter Meritokratie die „Verbindung von schulischen Abschlüssen und beruflichen Positionszuweisungen“ (Frommberger 2009, 2). Eine meritokratische Steuerung des Bildungswesens beinhaltet ihm zufolge neben Selektionsmechanismen eine strikte Trennung verschiedener Arten von Bildung und deren hierarchische Anordnung. Dabei wird berufliche Bildung unterhalb von allgemeiner bzw. akademischer Bildung eingruppiert und eher von Jugendlichen mit „niedriger“ sozialer Herkunft besucht. Die in vielen Gesellschaften stattfindende Reproduktion sozialer Ungleichheit ruft Forderungen nach mehr Durchlässigkeit im Bildungssystem und Förderung der Attraktivität der beruflichen Bildung hervor. Um Chancengerechtigkeit zu erwirken, wird die Vergabe von Hochschulberechtigungen in der beruflichen Bildung verlangt (Frommberger 2009, 2 ff.; Frommberger 2012, 171).

Auch Georg thematisiert Meritokratie in Verbindung mit hierarchischen Klassifizierungen von Bildungsabschlüssen. Hier ist die Rede von einer Verdrängung „fachspezifischer Qualifizierung“ (Georg 1998, 63; vgl. auch Hörner 1994, 291). Dies wird vor allem für Bildungssysteme diskutiert, die kein eigenständiges System der beruflichen Bildung aufweisen, das als gleichberechtigt neben anderen Systemen existieren könnte und eine eigene Sinnreferenz besäße (Georg 1998, 63; Deißinger 2001b, 11).

In Bezug auf das als meritokratisch bekannte Frankreich wird die zentralistische Steuerung des Schulwesens durch den Staat betont, außerdem Tendenzen zur Theoretisierung und zur Höherwertung allgemeiner bzw. akademischer Bildung gegenüber beruflicher bzw. praxisbezogener Bildung (Hörner 1994, 294; Greinert 1999, 33 ff.; Deißinger/Frommberger 2010, 347). In der französischen Hierarchie der Bildungsabschlüsse rangiert der Fachabschluss einer Berufsfachschule auf einer Stufe mit einer abgebrochenen Schulbildung am Gymnasium. Da berufliche Bildungsgänge (Lehre und Berufsfachschule) kein Abitur voraussetzen, werden sie als geringwertig angesehen (Hörner 1994, 288). Ott nimmt in ihrer Doktorarbeit über Frankreich ebenfalls auf die meritokratische Logik Bezug, vor allem im Hinblick auf die relative Geringschätzung beruflicher Bildungsgänge (Ott 2015, 222–233). Deißinger erkennt in der Logik des französischen Bildungssystems eine „meritokratische“ anstelle einer etwaigen „qualifikatorischen“ Denkfigur; die Berechtigungsfunktion des Bildungssystems, inklusive der beruflichen Bildung, dominiert demnach die fachliche Qualifikation, die sich an den Bedürfnissen des Arbeitsmarktes orientiert (Deißinger 2001b, 11 f.).

Neben Frankreich-Studien, die die Thematik der Meritokratie aufgreifen, existiert ein Vergleich zwischen Japan und Deutschland. Hier nimmt Eswein jeweils einen Soll-Ist-Abgleich des Fortschritts des meritokratischen Ideals in Japan und Deutschland vor, der der vergleichenden Erziehungswissenschaft zugeordnet werden kann und Bezüge zur Berufs- und Wirtschaftspädagogik aufweist. Ihr Ziel ist es, Aussagen darüber machen zu können, ob die Mehrgliedrigkeit (wie in Deutschland) bzw. Eingliedrigkeit (wie in Japan) von Bildungssystemen ungleiche Zugangschancen von Jugendlichen unterschiedlicher sozialer Herkunft zur „höheren“ Bildung verursacht. Basis bilden Daten zum Bildungsabschluss, zur sozialen Herkunft und zum Elitestatus. Sie kommt zu dem Ergebnis, dass in beiden Ländern die soziale Herkunft sowohl den Bildungserfolg als auch die Zugehörigkeit zur Elite bestimmt, wobei sich die bildungspolitischen Anstrengungen beider Länder deutlich unterscheiden (Eswein 2005).

Aktuell widmet sich Deißinger in einem Beitrag der Frage, inwiefern es der Bildungspolitik Kanadas in der jüngeren Vergangenheit gelungen ist, die Kluft zwischen beruflicher und allgemeiner bzw. akademischer Bildung zu überwinden. Kanada dient dabei als Beispiel für ein angelsächsisches Land mit schwach ausgeprägter Infrastruktur in der beruflichen Bildung. Mit hybriden Ausbildungsformen wird dort versucht, die Wertschätzung beruflicher Elemente in der Bildungslandschaft zu erhöhen. Dadurch sollen die Dysfunktionen der meritokratischen Logik behoben werden, die einen Hochschulabschluss als unabdingbare Voraussetzung für eine erfolgreiche Berufslaufbahn kolportiert (Deißinger 2019).

Insgesamt existiert nach Kenntnis der Verfasserin keine systematische Analyse über den Zusammenhang zwischen Meritokratie und beruflicher Bildung, die die bekannten Effekte verbindet und den Ablauf skizzierter Entwicklungen präzisiert. Für die vorliegende Arbeit folgt daraus, dass erst grundlegend und systematisch der Zusammenhang zwischen Meritokratie und beruflicher Bildung untersucht werden muss, bevor Rückschlüsse auf die Ukraine gezogen werden können. Es sind zentrale und aktuelle berufs- und wirtschaftspädagogische Themen, wie zum Beispiel Akademisierung, Fachkräftemangel, Beschäftigungsfähigkeit, fachspezifische Qualifizierungsprozesse etc., die sich mit Meritokratie verbinden lassen. Angesichts der meritokratischen Leistungsorientierung moderner Gesellschaften und der meritokratischen Kopplung von Berufspositionen an formale Bildungsabschlüsse sind international Akademisierungsprozesse zu beobachten. Die berufliche Bildung hat oftmals einen schweren Stand und verliert an Zulauf, während der Fachkräftemangel wächst. Allerdings besitzt sie für bestimmte Sektoren des Beschäftigungsmarkts eine wichtige qualifizierende Aufgabe. Insofern erscheint das Unterfangen, den Zusammenhang zwischen Meritokratie und beruflicher Bildung in den Blick zunehmen, lohnenswert. Die nachfolgende Betrachtung des ukrainischen Falls erschließt berufsbildungsseitig ein bislang in der Disziplin recht unbekanntes Land und verheißt Aufschlüsse für die ukrainische Bildungspolitik, aber auch die EU-Politik, die an Einfluss auf die Ukraine gewinnt, seit diese das EU-Assoziierungsabkommen unterzeichnet hat. Nicht zuletzt stellt die Analyse von Problemlagen und deren Handhabung aus Ländern mit historisch-ideell völlig anderem Hintergrund eine wichtige Perspektive zur Verfügung, denn in manchen Bereichen sind Ausprägungen dort bereits mehr und extremer vorhanden, zum Beispiel was den Gleichheitsaspekt in der Bildung angeht. Daraus lassen sich beispielsweise erwartbare Effekte von Bildungsreformen ableitenFootnote 2. Dies ist jedoch nicht Ziel und Aufgabe der vorliegenden Arbeit, die zunächst das Forschungsfeld der beruflichen Bildung in der Ukraine erschließt, um eine Grundlage für etwaige Vergleiche in der Zukunft zu schaffen.

1.3 Fragestellung und Vorgehensweise

Eine gängige Vorgehensweise der komparativen Berufsbildungsforschung ist es, „von der gewachsenen empirischen Vielfalt der nationalen Lösungsmuster zu abstrahieren, um damit zugleich ein heuristisches Instrumentarium für den internationalen Vergleich zu gewinnen“ (Deißinger/Frommberger 2010, 345). Dem schließt sich das Verfahren der vorliegenden Arbeit an, jedoch ohne Typologien zu intendieren. Ziel ist es, idealtypisch den Zusammenhang zwischen Meritokratie und beruflicher Bildung zu erforschen und dabei einen Bezug zur Wertschätzung beruflicher Bildung herzustellen. Es geht weniger um den Vergleich von einzelnen Nationen als um den Vergleich des (ukrainischen) Realtypus mit einem idealtypischen „meritokratischen“ Muster. Dessen Kriterien und Merkmale werden erarbeitet, um eine „quasi universelle Bezugsgröße für die Analyse und Beurteilung der Unterschiede und Gemeinsamkeiten“ (Deißinger/Frommberger 2010, 346) zu konstruieren, an der die Realität gespiegelt werden kann. Um der Unterschiedlichkeit nationaler Ausformungen von Berufsbildungssystemen und ihrer gesellschaftlichen Rolle Rechnung zu tragen, wird auch nach der „Wertlogik“ gefragt, die Meritokratien zugrunde liegt und sich in Strukturen äußert.

Aufgrund der angestellten Überlegungen zur Relevanz und Wertschätzung der beruflichen Bildung in der Ukraine und ihrem Bezug zum berufs- und wirtschaftspädagogischen Meritokratiediskurs lassen sich unter Berücksichtigung obiger Ausführungen zu methodischen Aspekten folgende Forschungsfragen formulieren:

Welche Funktion und Relevanz kommt der Orientierung an der meritokratischen Denkfigur mit Blick auf die Geringschätzung beruflicher Bildung in der Ukraine zu?

Teil 1

  1. 1.

    Um welche Wertlogik handelt es sich idealtypisch, wenn wir von Meritokratie sprechen?

  2. 2.

    Wie hängt diese Wertlogik idealtypisch mit den Strukturen beruflicher Bildung zusammen?

Teil 2

  1. 3.

    Inwiefern lassen sich die damit assoziierten Merkmale und Beschreibungsdimensionen mit Blick auf die Ukraine behaupten und identifizieren?

  2. 4.

    Welche Wirkungen und Empfehlungen ergeben sich daraus für die berufliche Bildung und ihren Kontext in diesem Land?

Der Forschungsgegenstand wird mithilfe eines qualitativ-explorativen Ansatzes erkundet. In einem ersten Schritt wird eine Literaturanalyse durchgeführt, die Meritokratie theoretisch verortet und den hier relevanten Forschungsstand der Meritokratieforschung wiedergibt. Dabei wird die empirische soziale Ungleichheitsforschung weitgehend ausgeklammert, da sie durch Fragestellungen gekennzeichnet ist, die vom vorliegenden Erkenntnisinteresse wegführen.

Als theoretischer Hintergrund dient eine Synthese sozialwissenschaftlicher Theorien, sodass die Argumentation ein sozialwissenschaftliches Fundament erhält, im Kern und ihrer Zielsetzung nach aber beruf- und wirtschaftspädagogischen Charakter annimmt (vgl. Hagedorn 2013, 2). Bei Weber als dem Urheber der Methode der Idealtypuskonstruktion werden zur Gewinnung eines übergeordneten Konstrukts soziale Regeln aufgestellt, die in der empirischen Realität Anwendung finden. Die Vorstellung der Existenz solcher Regeln ist Teil der von Weber begründeten verstehenden Soziologie. Das heißt, es wird im Sinne einer bestimmten Theorie nach einer bestimmten Regelhaftigkeit gesucht (vgl. Albert 2007, 69 f.). Analog stellen im vorliegenden Fall theoretische Betrachtungen den Rahmen für die durchzuführende Idealtypuskonstruktion zur Verfügung. Im nächsten Schritt werden mit Japan und Frankreich zwei Gesellschaften herangezogen, die sich stark am meritokratischen Prinzip orientieren und in zwei unterschiedlichen Kulturkreisen verortet sind. Hierbei wird der Zusammenhang zwischen Meritokratie und beruflicher Bildung in diesen Ländern herausgearbeitet. Die Ergebnisse werden anschließend mithilfe der Erkenntnisse aus der Theoriesynthese systematisch zusammengeführt und abstrahiert, um den gesuchten Zusammenhang idealtypisch zu beschreiben. Als Abschluss des ersten Teils werden die Resultate theoretisch eingeordnet.

Nachdem auf allgemeiner, theoretischer Ebene die nötigen Voraussetzungen geschaffen worden sind, wird der ukrainische Realtypus mittels einer Literatur- und Dokumentenanalyse rekonstruiert. Sie wird durch halbstandardisierte Gruppeninterviews mit ukrainischen Expert/-innen ergänzt, um die verbliebenen Literaturlücken zu schließen. Ein Vergleich mit dem idealtypischen Zusammenhang zwischen Meritokratie und beruflicher Bildung gibt Aufschluss darüber, inwiefern die gefundenen Mechanismen auch in der Ukraine greifen, also inwieweit Meritokratie als Grund für die geringe Wertschätzung beruflicher Bildung in diesem Land herangezogen werden kann. Hieraus werden schließlich Implikationen für die berufliche Bildung und die berufliche Lehrerbildung in der Ukraine gezogen.

Abbildung 1.2 stellt die genauere Konzeption der vorliegenden Arbeit als Übersicht dar.

Abbildung 1.2
figure 2

Gliederungskonzeption

Im Laufe der Analysen kommt die Sprache vermehrt auf den Gegensatz zwischen allgemeiner und beruflicher Bildung. Unter „Allgemeinbildung“ werden solche Fächer gefasst, die nicht tätigkeitsspezifisch oder berufsbezogen sind, also zum Beispiel Sprachen, Geschichte und Naturwissenschaften. Terminologisch wird vom „deutschen“ Verständnis der beruflichen Bildung als nichtakademischer fachlicher Qualifizierung der Sekundarstufe ausgegangen. Akademische, berufsbezogene Studiengänge werden in den Betrachtungen gleichwohl berücksichtigt und entsprechend gekennzeichnet.

Es wird zudem eine geschlechtergerechte Sprache verwendet. An Stellen, wo nur eine Geschlechtsform vorkommt, wie zum Beispiel bei historischen Betrachtungen, beziehen sich die Bezeichnungen auch nur auf das genannte Geschlecht. Beispielsweise hatten Angehörige des weiblichen Geschlechts in Japan lange Zeit nicht dieselben Rechte auf Bildung wie die des männlichen, sodass hier nur die männliche Form benutzt wird. Bei Komposita, wie zum Beispiel „Lehrerbildung“, „Akteurtheorie“ oder „schülerzentriert“, wird im Sinne der Lesbarkeit darauf verzichtet, geschlechtsneutral zu formulieren.

Kursive Hervorhebungen in direkten Zitaten sind auch in der zitierten Quelle kursiv gedruckt, wenn sie nicht als Hervorhebungen der Verfasserin gekennzeichnet sind.