Den Ausgangspunkt der nachfolgenden theoretischen Eingrenzung bildet der zentrale Gegenstand dieser Untersuchung – die politische Partizipation (vgl. Abschnitt 2.1). Nach einer definitorischen Präzisierung werden Strukturierungsmerkmale politischer Beteiligung dargelegt, die Verbreitung verschiedener Partizipationsformen in der Bundesrepublik skizziert und mögliche Probleme einer sozial verzerrten Teilhabe identifiziert. Im zweiten Teil werden die zentralen Erklärungsansätze politischer Beteiligung erörtert und deren Vorzüge sowie Schwierigkeiten diskutiert (vgl. Abschnitte 2.2, 2.3, 2.4). Die theoretische Auseinandersetzung bildet schließlich die Basis für das Forschungskonzept dieser Untersuchung, das im dritten Kapitel entwickelt wird.

2.1 Politische Partizipation

Politische Partizipation ist einer der Schlüsselbegriffe politikwissenschaftlicher Forschung; es gibt kaum ein Konzept, welches im politisch-demokratischen Feld häufiger thematisiert und analysiert wird. Dieser besondere Stellenwert wird anschaulich durch Formeln wie „Wer Demokratie sagt, meint Partizipation“ untermauert (van Deth 2009: 141). Tatsächlich bezeichnet Demokratie verbaliter die Herrschaft des Volkes und erhebt damit eine aktive Bürgerschaft zur notwendigen Grundvoraussetzung jener Regime. In diesem Sinne ist politische Partizipation einerseits unabdingbares Fundament funktionsfähiger Demokratien, andererseits ein in der Verfassung verankertes Recht.Footnote 1 Obgleich ein allgemeiner Konsens über die Notwendigkeit und den Wert politischer Beteiligung besteht, herrscht mitunter große Uneinigkeit darüber, „was unter P. konkret zu verstehen ist, auf welche Art und Weise die Beteiligung des Bürgers erfolgen, auf welche Bereiche sie sich erstrecken, welcher Zweck mit der P. verbunden sein kann oder soll“ (Schultze 1995: 396 f.; Abk. im Orig.). Daher ist es vor der weiteren wissenschaftlichen Beschäftigung mit politischer Partizipation zielführend, den Begriff für die Zwecke dieser Untersuchung einzugrenzen und zu definieren.

2.1.1 Bestimmung des Partizipationsbegriffs

Etymologisch vom spätlateinischen participatio stammend, bedeutet Partizipation wörtlich sowohl Teilnahme als auch Teilhabe (vgl. Schultze 1995: 396). Wie diese Teilhabe nun aber konkret aufgefasst wird, ist abhängig von definitorischen Ab- und Eingrenzungen. Abzugrenzen ist die politische Beteiligung zunächst von einer sozialen Beteiligung. Jene gesellschaftliche Teilhabe, oder auch soziales Engagement, umfasst ein breites Spektrum verschiedenartiger Aktivitäten im Rahmen formeller und informeller Gruppierungen des Freizeitbereichs. Diese Tätigkeiten werden „unentgeltlich, freiwillig und gemeinsam mit anderen ausgeführt [und] dienen dazu, an der Gestaltung kollektiver Angelegenheiten mitzuwirken“ (Gabriel/Völkl 2008: 270). Primär auf soziale Unterstützung und Integration zielend, wird die Beeinflussung politischer Angelegenheiten explizit aus der Definition ausgeschlossen. Es ist allerdings anzumerken, dass die Übergänge zwischen politischer und sozialer Beteiligung oftmals unscharf und fließend sind, was eine eindeutige Abgrenzung erschwert (z. B. die Mitarbeit in einer Bürgerinitiative oder Interessengemeinschaft).

Eine Eingrenzung ist ferner im Hinblick auf das zugrundeliegende Demokratieverständnis vorzunehmen, da je nach theoretischem Ansatz unterschiedliche Ansprüche, Anforderungen und Aspekte von politischer Partizipation in den Vordergrund rücken. So ist entsprechend der Auffassungen von Demokratie als Methode (liberale Demokratietheorien) oder als Herrschafts- und Lebensform (partizipatorische/deliberative Demokratietheorien) zwischen einem instrumentellen und einem normativen Partizipationsverständnis zu differenzieren (vgl. Schultze 1995: 397). In der instrumentellen Auslegung wird politische Partizipation definiert als „those legal activities by private citizens that are more or less directly aimed at influencing the selection of governmental personnel and/or the actions they take“ (Verba et al. 1978: 46). Makrotheoretisch dient politische Partizipation damit der Legitimation von Herrschaft und auf der Mikroebene der Artikulation und Durchsetzung persönlicher Interessen (vgl. Schultze 1995: 397 f.). Da die individuelle Beteiligung in diesem Verständnis dem allgemeinen Rationalitätsprinzip des Homo oeconomicus unterliegt, mögen niedrige Beteiligungsraten als Zufriedenheit mit dem politischen System und eine hohe Beteiligung entsprechend als Krisenphänomen interpretiert werden. Der Gehalt dieser Auslegung wird im Zusammenhang mit einer sozial ungleichen Beteiligung weiter zu diskutieren sein (vgl. Hebestreit 2013: 64 f.; Abschnitt 2.1.4). Im normativen Verständnis ist politische Partizipation hingegen nicht nur output-orientiert, als Mittel zum Zweck gedacht, sondern vielmehr „Ziel und Wert an sich“ (Schultze 1995: 398). Eine politische Teilhabe ist damit nicht nur auf die Erreichung persönlicher Interessen ausgerichtet, sondern explizit auch auf die individuelle Selbstverwirklichung, die Identifikation mit den verknüpften Zielen und die gemeinschaftliche Integration. Entsprechend ist politische Partizipation im normativen Sinn stark outcome- und „konsensorientiert, kommunitär und expressiv“ (ebd.: 398).

In Einklang mit der führenden Forschungsperspektive liegt dieser Arbeit ein instrumentelles Verständnis politischer Beteiligung zugrunde, sodass der Fokus primär auf die Hervorhebung von Interessen und weniger auf intrinsische Motive politischer Teilhabe gelegt wird. Angelehnt an Kaase (1992a: 429) werden unter politischer Partizipation im Folgenden „jene Verhaltensweisen von Bürgern verstanden, die sie alleine der [sic!] mit anderen freiwillig mit dem Ziel unternehmen, Einfluß [sic!] auf politische Entscheidungen zu nehmen“. Entlang dieser Definition sind vier zentrale Elemente abzuleiten, die im Allgemeinen als Konsens einer instrumentellen Auffassung politischer Beteiligung gelten (vgl. van Deth 2003: 170 f., 2009: 143 f.). Erstens wird politische Partizipation mit Personen in ihrer Rolle als Bürgerin oder Bürger verknüpft und eine hauptberufliche Beschäftigung mit Politik aus der Definition ausgeschlossen. Zweitens bezieht sich politische Teilhabe auf Tätigkeiten, die eine Person aktiv ausüben muss. So ist „einfach nur fernzusehen oder zu behaupten, auf Politik neugierig zu sein, (…) noch keine Partizipation“ (van Deth 2009: 143).Footnote 2 Drittens fallen nur freiwillige Handlungen unter den Partizipationsbegriff und keine Aktivitäten, die aufgrund gesetzlicher Bestimmungen oder Zwang durchgeführt werdenFootnote 3. Viertens ist eine politische Teilhabe nicht auf einzelne Politikfelder, -bereiche oder -stadien beschränkt, sondern betrifft das politische System als Ganzes.

Zusammengefasst folgt diese Arbeit einer instrumentellen Auslegung politischer Partizipation und begreift Beteiligung als beabsichtigte Einflussnahme auf politische Entscheidungen oder Prozesse. Die Möglichkeiten jener Interessendurchsetzung sind in der Praxis äußerst vielfältig. In der wissenschaftlichen Auseinandersetzung ist es jedoch weder zweckmäßig, jede politische Willensäußerung als politische Partizipation zu fassen noch wird es der politischen Wirklichkeit gerecht, den Begriff, wie in früherer Forschung üblich, für die Beteiligung an Wahlen zu reservieren (vgl. Gabriel/Völkl 2005: 528 f., 2008: 270; van Deth 2009: 141). Aus diesem Grund wird im folgenden Abschnitt ein Überblick über die verschiedenen Formen politischer Teilhabe und deren Strukturierung erarbeitet. Diese Darstellung bildet zugleich den Ausgangspunkt für die Auswahl der Beteiligungsformen zur empirischen Analyse; eine eindeutige Listung erfolgt in Abschnitt 4.3.1.

2.1.2 Theoretische und empirische Klassifizierungen

In den Anfängen empirischer Partizipationsforschung wurden unter den Begriff der politischen Beteiligung einzig Tätigkeiten gefasst, die grundlegend und kollektiv akzeptiert waren. Infolgedessen beschränkten sich Untersuchungen weitestgehend auf wahl- und parteibezogene Aktivitäten sowie den Austausch zwischen Bürgerschaft und offiziellen Behörden (vgl. van Deth 2009: 146). Spätestens zu Beginn der 1970er Jahre wurde jedoch ein Prozess in Gang gesetzt, der von Kaase (1982) als partizipatorische Revolution charakterisiert wird. Zentrale Kennzeichen dieser Entwicklung sind eine strukturelle Ausdifferenzierung des Partizipationsangebotes sowie kontinuierliche Ausweitung der Bürgerbeteiligung in Richtung unkonventioneller Einflussmöglichkeiten (vgl. Barnes/Kaase et al. 1979). Infolge des erweiterten Handlungsspielraums vergrößerte sich auch das Spektrum der empirischen Partizipationsforschung immens, sodass van Deth (2003: 175) Anfang des 21. Jahrhunderts rund 70 Aktivitäten listen kann, die in empirischen Studien als politische Partizipation gewertet werden. Um dieses beachtliche Repertoire politischer Handlungsformen zu strukturieren, wurden im Zeitverlauf unterschiedliche Klassifikationsmerkmale herangezogen, die sich aus theoretischen oder empirischen Argumenten speisen und im Folgenden kurz skizziert werden.Footnote 4

In der theoretischen Auseinandersetzung haben vor allem die Kriterien (1) Verfasstheit, (2) Legalität, (3) Legitimität, (4) Konventionalität und (5) Direktheit Bedeutung erlangt, die sich im Weiteren in nicht überschneidungsfreie und daher miteinander kombinierbare Dichotomien überführen lassen (vgl. Kaase 1992a, 1997: 160 ff.; Gabriel/Völkl 2005: 531; Steinbrecher 2009: 39–42).

(1) Verfasst versus unverfasst: Dieses Merkmal differenziert politische Beteiligungsformen hinsichtlich ihrer institutionellen Verankerung. Als verfasst werden jene Aktionsformen bezeichnet, die „z. B. in das Grundgesetz oder in eine Gemeindeordnung“ eingebettet sind (Kaase 1992a: 429). Sie laufen folglich nach allgemeinverbindlichen Regeln ab und umfassen klassischerweise die Beteiligung an Wahlen und anderen Abstimmungen. Hingegen finden unverfasste Partizipationsformen außerhalb eines verfassungsmäßigen oder gesetzlichen Rahmens statt (z. B. die Beteiligung in einer Bürgerinitiative). Sie entstehen in organisierten oder auch spontanen Mobilisierungsprozessen und sind durch offenere Zugangsbedingungen, mehr Gestaltungsmöglichkeiten, aber auch höhere Beteiligungskosten gekennzeichnet. Aufgrund der institutionellen Einbettung stellt die Verfasstheit ein zeitlich stabiles Merkmal dar.

(2) Legal versus illegal: In dieser Klassifikation werden politische Aktivitäten nach ihrem Rechtsstatus unterteilt. Entsprechend gelten Beteiligungsformen, die den aktuell gültigen Rechtsnormen entsprechen, als legal und jene, die gegen gültige Gesetze verstoßen, als illegal. In der zweiten Kategorie wird darüber hinaus häufig zwischen „nicht unmittelbar gewaltsamen, wenn auch gewaltaffinen Akten des zivilen Ungehorsams (z. B. Hausbesetzungen) und der direkten politischen Gewalt gegen Personen und Sachen“ unterschieden (Kaase 1992a: 429). Diese Dichotomie weist erkennbar Überschneidungen zum Merkmal der Verfasstheit auf, da alle verfassten Beteiligungsformen gleichzeitig auch legal sind. Dies bedeutet umgekehrt aber nicht, dass alle unverfassten Formen zwingend illegal sein müssen. Beispielsweise ist die Kontaktaufnahme zu Politikerinnen und Politikern nicht rechtlich verankert, trotzdem aber legal. Da diese Dichotomie auf rechtlichen Zuschreibungen basiert, die sich im Zeitverlauf durchaus wandeln können, ist sie als zeitlich weniger stabil einzustufen.

(3) Legitim versus illegitim: Das Legitimitätskriterium zielt auf eine moralische Komponente der politischen Beteiligung. So werden legitime Aktivitäten von einer bestimmten Gruppe oder auch der gesamten Gesellschaft als moralisch gerechtfertigt akzeptiert, wohingegen illegitime Beteiligungsformen jenen Wertvorstellungen widersprechen. Dabei können Legitimitätszuschreibungen durchaus in Widerspruch zu gesetzlichen Regelungen stehen. Beispielsweise können legale Demonstrationen von weiten Bevölkerungsteilen als illegitim gewertet (z. B. Pegida-Demonstrationen) oder illegale Besetzungen als legitimes Mittel der politischen Willensäußerung angesehen werden (z. B. Protest gegen Studiengebühren). Legitimitätsbewertungen sind somit äußerst subjektiv, abhängig vom sozialen Kontext und zudem vergleichsweise rasch veränderbar.

(4) Konventionell versus unkonventionell: Das Konventionalitätskriterium geht auf Barnes, Kaase et al. (1979) zurück und kombiniert Elemente der Verfasstheit und Legitimität. Entsprechend summiert Kaase (1992b: 148) unter konventioneller Partizipation jene Beteiligungsformen, die „mit hoher Legitimitätsgeltung auf institutionalisierte Elemente des politischen Prozesses (…) bezogen sind“. Als unkonventionell gelten hingegen alle unverfassten und illegitimen Formen politischer Partizipation. Da viele der ursprünglich unkonventionellen Beteiligungsformen im Zeitverlauf jedoch zu einem festen Bestandteil politischer Ausdrucksmöglichkeiten herangewachsen sind, erwies sich diese Dimension als zunehmend problematisch.

(5) Direkt versus indirekt: Das Strukturierungsmerkmal der Direktheit differenziert Formen politischer Partizipation in Abhängigkeit ihrer Mittelbarkeit. Während über direkte Aktivitäten unmittelbar Einfluss auf politische Entscheidungen ausgeübt werden kann, ist über indirekte Aktionsformen lediglich mittelbar Einfluss zu nehmen. In der Bundesrepublik Deutschland überwiegen zahlenmäßig eindeutig die indirekten Formen politischer Partizipation; direkte Möglichkeiten finden sich beispielsweise im elektoralen Bereich bei Direktwahlen oder anderen Abstimmungen.

Während jene theoretischen Klassifikationen im Wesentlichen auf Plausibilitätsannahmen beruhen, basieren empirische Typologien auf statistischen Tests, die politische Aktivitäten aufgrund systematischer Ähnlichkeiten gruppieren. Zu Beginn der empirischen Strukturierung überwogen zahlenmäßig eindimensionale Konzepte, wobei wesentlich Milbrath (1965) zu nennen ist. Er hierarchisiert politische Beteiligungsformen anhand des jeweils zu investierenden Aufwandes und entwirft auf dieser Grundlage die sogenannte Partizipationspyramide. An deren Basis finden sich jene Aktivitäten, die mit relativ geringen Kosten und Aufwendungen zu realisieren und entsprechend weit in der Bevölkerung verbreitet sind (z. B. Wählen). An der Spitze ordnen sich hingegen Partizipationsformen, die eines hohen persönlichen Einsatzes bedürfen und somit im Allgemeinen deutlich seltener genutzt werden (z. B. Parteimitarbeit). Da Milbrath jedoch einzig wahl- und parteibezogene Aktivitäten berücksichtigt, wird dieses Modell der Komplexität und Vielschichtigkeit politischer Partizipation nicht (mehr) gerecht. Infolgedessen haben sich mit der Zeit verstärkt mehrdimensionale Konzepte durchgesetzt, wobei besonders die Systematik von Verba und Nie (1972) anzuführen ist. Die Autoren fokussieren nicht nur die Höhe des Aufwandes einer politischen Teilhabe, sondern beziehen zusätzlich verschiedene qualitative Merkmale ein, die im Einzelnen die Art der Einflussnahme, die politische Reichweite und das Konfliktpotenzial der Handlung betreffen. Aus der Kombination dieser Merkmale identifizieren sie schließlich vier distinkte Partizipationssysteme (voting, campaign activity, citizen-initiated contacts, cooperative activity), anhand derer sich spezifische Aktivitäten systematisieren lassen (vgl. Verba/Nie 1972: 44–55). Obgleich in der Partizipationsforschung mehrheitlich positiv aufgenommen, ist an diesem Modell der enge Fokus auf legale Formen politischer Beteiligung zu kritisieren. Den fehlenden Bezug auf neuere und neue Möglichkeiten politischen Engagements aufgreifend, konstruiert die Forschergruppe um Barnes und Kaase (1979) schließlich eine erweiterte Partizipationssystematik. Anhand der theoretischen Dimensionen Verfasstheit und Legitimität entwickeln sie ein wiederum zweidimensionales Konzept politischer Beteiligung und führen erstmals die Unterscheidung konventionell/unkonventionell ein. Während sie verfasste und legitime Formen der konventionellen Partizipation zuordnen, werden unkonventionelle Formen in dieser Studie primär über ihre Einschätzung der Illegitimität charakterisiert. Tatsächlich durchmischen sie in der zweiten Kategorie aber Legitimitäts- und Legalitätsgeltungen, sodass diese weiter aufzubrechen sei (vgl. Gabriel/Völkl 2005: 535; Kaase 1997: 162; Uehlinger 1988: 132).

Auf die Erkenntnisse und Mängel der Political Action Studie von Barnes, Kaase et al. aufbauend, plädiert Uehlinger (1988: 221) im Weiteren für die Verwendung der Legalität als wegweisendes Gliederungskriterium, da diese im Vergleich zur Legitimität eindeutige Unterscheidungen zwischen den Partizipationsformen ermöglicht und zudem weniger dem aktuellen Zeitgeist unterliegt. Auf der Grundlage gültiger Rechtsnormen entwirft er eine fünfkategoriale Typologie politischer Partizipation, in die sich das Merkmal der Konventionalität in modifizierter Form einfügen lässt (vgl. Tabelle 2.1). Interpretiert als Staatsbürgerrolle, parteiorientierte und problemspezifische Partizipation, ziviler Ungehorsam und politische Gewalt bilden jene Kategorien klar voneinander differenzierbare und unabhängige Typen politischer Beteiligung, die sich auch im Zeitverlauf als äußerst stabil erwiesen haben.

Tabelle 2.1 Typologie politischer Partizipation

Erst in der jüngeren Vergangenheit fordert nun das Aufkommen der Online-Beteiligung eine Anpassung beziehungsweise Erweiterung dieser Partizipationstypologie heraus. Zweifellos bietet das Internet vielfältige Möglichkeiten, Einfluss auf den politischen Prozess zu nehmen. In der Partizipationsforschung herrscht aber noch kein Konsens darüber, wie diese Beteiligungsmöglichkeiten analytisch in das Feld einzuordnen sind. Zunächst besteht Uneinigkeit darüber, welche digitalen Aktivitäten überhaupt als politische Beteiligung zu werten sind. Einerseits ist in Einklang mit der in Abschnitt 2.1.1 erarbeiteten Definition anzunehmen, dass „online activities (…) can be accommodated in the concept of political participation as long as they are directed at the expression of a political motive“ (Hosch-Dayican 2014: 343). Andererseits fällt eine Abgrenzung zur politischen Kommunikation, die grundsätzlich keine politische Partizipation darstellt, schwer. Denn „these activities are by definition communicative“ (ebd.: 343). Eine weitere Uneinheitlichkeit existiert im Hinblick auf die Bewertung digitaler Einflussmöglichkeiten, die entweder als funktionale Äquivalente zur Offline-Beteiligung oder als distinkter Typus politischer Partizipation betrachtet werden (vgl. Gibson/Cantijoch 2013: 714; Oser et al. 2013: 98; Theocharis 2015).

Aus Plausibilitätsgründen wäre im theoretischen Strukturierungsmodus durchaus eine weitere Dichotomie vorstellbar, welche Online- und Offline-Formen politischer Beteiligung kontrastiert. Im Sinne der empirischen Typenbildung und Re-Strukturierung bisheriger Modelle bedarf es jedoch weiterer Forschung, die sich mit beiden Modi politischer Teilhabe auseinandersetzt. Ungeachtet der noch bestehenden Notwendigkeit zur Konkretisierung wird in der weiteren Auseinandersetzung der Tatsache Rechnung getragen, dass digitale Möglichkeiten heute einen nicht unwesentlichen Bestandteil politischer Beteiligung ausmachen und insofern in der Untersuchung zu berücksichtigen sind (vgl. Abschnitt 4.3.1).

2.1.3 Gesellschaftliche Verbreitung und Entwicklung

Wie im vorherigen Abschnitt dargestellt, haben sich die Möglichkeiten politischer Einflussnahme im zeitlichen Verlauf vervielfacht. Allerdings impliziert ein gesteigertes Angebot allein noch keine häufigere Nutzung desselben durch die Bevölkerung. Um die Bedeutung verschiedener Teilhabeformen bewerten zu können, wird an dieser Stelle der Blick auf deren historische Entwicklung und aktuelle Verbreitung gerichtet.

In Bezug auf die legal-konventionelle Beteiligungsform des Wählens (Staatsbürgerrolle) ist zunächst festzuhalten, dass sich die Wahlbeteiligung in der Bundesrepublik im internationalen Vergleich traditionell auf einem sehr hohen Niveau bewegt; im Durchschnitt beteiligen sich seit 1949 rund 83 % der Deutschen an den Parlamentswahlen (vgl. Abbildung 2.1). Die elektorale Beteiligung unterliegt im Zeitverlauf jedoch zum Teil deutlichen Schwankungen, wobei sich grob zwei Phasen identifizieren lassen. In der ersten Phase von 1949 bis 1976 nimmt die Wahlbeteiligung stetig zu und erreicht in der ersten Hälfte der 1970er Jahre schließlich Werte jenseits der 90 %-Marke. An diese Höchstwerte schließt sich die zweite Phase an, die durch einen rückläufigen Trend gekennzeichnet ist und im Wahljahr 1990 ihren ersten Tiefstand erreicht (77,8 %). Die Auswirkungen der deutschen Wiedervereinigung und der geringeren Beteiligungsquoten in Ostdeutschland bieten für diesen Befund nur eine teilweise Erklärung. So können die wesentlich geringeren Bevölkerungszahlen jener Gebiete das Gesamtergebnis allenfalls in Tendenzen beeinflussen (vgl. Der Bundeswahlleiter 2018: 6–11). Gleichwohl deutet die durchweg schwächere Beteiligung in den neuen Ländern darauf hin, dass „das Kernelement der Staatsbürgerrolle, die Stimmabgabe bei Wahlen, in Westdeutschland besser institutionalisiert und breiter akzeptiert ist“ (Gabriel/Völkl 2005: 541).

Abbildung 2.1
figure 1

(Anmerkungen: Ab 1990 nach dem Gebietsstand der Wiedervereinigung (Gesamt). Quelle: Eigene Darstellung, nach: Der Bundeswahlleiter 2018: 8)

Entwicklung der Beteiligung an Bundestagswahlen, 1949–2017 (in Prozent)

In den 2000er Jahren setzt sich der Negativtrend zunächst fort und kulminiert im Jahr 2009 in einem historischen Tiefstand von 70,8 %. Seitdem ist allerdings wieder ein leichter Anstieg der durchschnittlichen Wahlbeteiligung zu verzeichnen. Deutlich unter den Raten der nationalen Wahlen liegen traditionell die Wahlbeteiligungsquoten der Landtagswahlen sowie der Abstimmungen zum Europäischen Parlament, wobei auch hier jeweils rückläufige Beteiligungswerte zu vermelden sind (vgl. Deutscher Bundestag 2016: 6 ff.).

Auch für die Parteimitgliedschaften als weitere legal-konventionelle Beteiligungsform (Parteiorientierte Partizipation) ist ein kontinuierlicher und teils dramatischer Negativtrend festzustellen (vgl. Abbildung 2.2). Tatsächlich hat sich die Gesamtzahl der Parteimitgliedschaften im Zeitraum von 1990 (2.409.624) bis 2017 (1.200.460) beinahe exakt halbiert. Ein detaillierter Blick auf die einzelnen Parteien demonstriert einen Mitgliederschwund für fast alle herangezogenen politischen Parteien, der sie aber in einem unterschiedlich starken Ausmaß ereilt. So hat die LINKE trotz des Zusammenschmelzens von PDS und WASG die größten relativen Mitgliedereinbußen hinzunehmen und verzeichnet 2017 rund 78 % weniger Parteimitglieder als 1990. Im Vergleich dazu haben die CDU (−46 %) und die SPD (−53 %) in diesem Zeitraum rund die Hälfte ihrer Mitglieder verloren. Es ist allerdings darauf hinzuweisen, dass diese Parteien mit Bezug auf die absoluten Häufigkeiten mit Abstand die größten Mitgliederverluste zu beklagen haben (SPD: −500.250; CDU: −363.699). Entgegen des allgemeinen Trends können die GRÜNEN in der gleichen Periode einen Mitgliederzuwachs von 57 % verbuchen, was das Abschmelzen der gesamten Mitgliedschaften allein jedoch nicht kompensieren kann. So ist schlussendlich zu vermerken, dass Ende der 2010er Jahre nur noch etwa 1,5 % der deutschen Bevölkerung in politischen Parteien organisiert ist und die parteiorientierte Partizipation demnach kein verbreitetes Mittel mehr darstellt, um Einfluss auf den politischen Prozess zu nehmen.

Abbildung 2.2
figure 2

(Anmerkungen: Die Primärachse bezieht sich auf die Gesamtanzahl der Parteimitgliedschaften, die Sekundärachse auf die einzelnen politischen Parteien. *Veränderungen der Parteimitgliedschaften 2017 zu 1990. Quelle: Eigene Darstellung, nach Niedermayer 2018: 6)

Entwicklung der Parteimitgliedschaften, 1990–2017 (absolute Häufigkeiten)

Demgegenüber ist die Stimmabgabe bei Wahlen trotz der dargestellten Entwicklungen immer noch die Beteiligungsform, die von der Allgemeinheit am häufigsten genutzt wird. Ein Vergleich der relativen Häufigkeiten verschiedener politischer Aktivitäten illustriert diesen Stellenwert anschaulich (vgl. Tabelle 2.2). Da nicht-elektorale und -parteibezogene Partizipationsformen in der Regel nicht objektiv zu messen sind, basiert diese Aufstellung auf Umfragedaten der allgemeinen Bevölkerungsumfrage der Sozialwissenschaften (ALLBUS). So geben im Jahr 2018 rund 87 % der Befragten an, sich in ihrem Leben schon einmal an einer Wahl beteiligt zu haben. Vergleichbar hoch ist einzig die Quote derer, die berichten, jemals ihre politische Meinung kundgetan zu haben (80 %). Allerdings bezieht sich diese Aktivität explizit auf Äußerungen im Bekanntenkreis und am Arbeitsplatz und stellt gemäß der in Abschnitt 2.1.1 entwickelten Definition keine politische Beteiligung dar. Im Feld der problemspezifischen Partizipation kristallisiert sich ferner die Beteiligung an Unterschriftensammlungen als relevante Form politischer Willensäußerung heraus (58 %), für die sich überdies eine zunehmende Bedeutung im Zeitverlauf abzeichnet. Als weitere legal-unkonventionelle Formen bejahen in der jüngsten Umfrage noch vergleichsweise viele Befragte eine Beteiligung an kritischen Konsumhandlungen (37 %), öffentlichen Diskussionen (32 %) und genehmigte Demonstrationen (29 %). Insbesondere die Teilnahme an genehmigten Demonstrationen erfährt einen stetigen Zuwachs, was als zunehmende gesellschaftliche Akzeptanz dieser Aktivität zu deuten ist.

Tabelle 2.2 Entwicklung politischer Partizipationsformen, 1988–2018 (in Prozent)

Die übrigen politischen Beteiligungsmöglichkeiten werden von, zum Teil deutlich, weniger als 20 % der Befragten angeführt, wobei vor allem Tätigkeiten aus der Gruppe des zivilen Ungehorsams, wie Blockaden, Besetzungen oder nicht genehmigte Demonstrationen, überaus selten wahrgenommen werden. Diesbezüglich erscheint zum einen ein Zusammenhang zwischen Beteiligungsrate und Legalität, was mutmaßlich auch den Effekt der sozialen Erwünschtheit begünstigt, wahrscheinlich. Zum anderen mag auch die Höhe der persönlichen Investition ursächlich für die geringen Zustimmungswerte verantwortlich sein. Dieses Argument bietet zudem eine Erklärung für die seltene Nennung der Parteimitarbeit (7 %), deren Aufwand ebenfalls verhältnismäßig hoch ausfällt (vgl. Milbrath 1965). Insgesamt bestätigen die Befunde eine grundsätzliche Ausweitung der politischen Partizipation, die vor allem den legal-unkonventionellen Bereich betrifft. Dort deutet sich ein grundlegender Bedeutungswandel in der Gesellschaft an, infolgedessen jene Formen in das kollektiv akzeptierte Repertoire politischer Einflussnahme aufgenommen wurden. Ebenso beansprucht jedoch der Befund, dass die „politische Beteiligung – mit Ausnahme von Wahlen – in demokratischen Staaten nicht sehr weit verbreitet ist“ (van Deth 2009: 149; Herv. im Orig.) weiterhin Gültigkeit. In der Konsequenz hat die Ausweitung politischer Beteiligungsmöglichkeiten nicht zu einer vergleichbar verbreiteten Wahrnehmung dieses Angebotes geführt. Daran anschließend ist nun zu klären, welche Folgen sich aus einem gering(er)en Beteiligungsniveau für die Demokratie ergeben können, wobei der Fokus auf die tatsächlich am Partizipationsprozess beteiligten Personengruppen gelegt wird.

2.1.4 Soziale Ungleichverteilung als demokratischer Risikofaktor

Grundsätzlich ist ein geringes Beteiligungsniveau nicht zwingend als negativ für die Funktionsfähigkeit einer Demokratie zu werten, sondern kann im Gegenteil eine allgemeine Zufriedenheit mit dem politischen System symbolisieren. Mit Verweis auf die Rationalitätsannahme wird eine Beteiligung nur dann als notwendig erachtet, wenn Veränderungen angestrebt werden (vgl. Abschnitt 2.1.1). In der Realität stellt Unzufriedenheit aber keinen derart wirkungsvollen Indikator für die politische Teilnahmebereitschaft dar wie es die Theorie unterstellt. So belegt etwa Schäfer (2010b: 2 f.; Herv. im Orig.), dass die „Wahrscheinlichkeit zu wählen bei den Zufriedenen wie auch bei den politisch Aktiven höher als bei den Unzufriedenen und Inaktiven liegt“ und liefert somit empirische Hinweise, die gegen eine euphemistische Interpretation geringer Beteiligungszahlen sprechen. Vielmehr sind es eindeutig nicht die Unzufrieden, „nicht die Opfer gesellschaftlicher Prozesse oder gesellschaftliche Randgruppen, die sich überdurchschnittlich stark politisch beteiligen“ (van Deth 2009: 154; Herv. im Orig.). Tatsächlich gehört die vergleichsweise geringe Teilhabewahrscheinlichkeit jener einkommens- und bildungsschwächeren Personengruppen längst zu den unumstrittenen Befunden der empirischen Partizipationsforschung (vgl. Schäfer et al. 2013, 2010b; van Deth 2009: 154; Abschnitte 2.2, 2.3).

Im Kontext politischer Wahlen ist darüberhinausgehend dokumentiert, dass diese soziale Ungleichverteilung maßgeblich mit einer geringen durchschnittlichen Wahlbeteiligung konvergiert. So impliziert eine sinkende Wahlbeteiligung eine zunehmende soziale Verzerrung politischer Wahlen, weil sich zuerst diejenigen aus dem politischen Geschehen zurückziehen, die aufgrund ihrer sozioökonomischen Lage eigentlich am dringlichsten auf kollektive Zusammenarbeit angewiesen sind (vgl. Schäfer 2010b: 3; Schäfer/Schoen 2013: 100; Tingsten 1975 [1937]; Verba/Nie 1972).Footnote 5 Angesichts dieser Feststellung stellt sich die Frage, ob alle Formen politischer Beteiligung eine vergleichbare soziale Schieflage aufweisen. Das Szenario sozial ungleicher Wahlen wöge nämlich weniger schwer, wenn andere Teilhabeformen dieses Ungleichgewicht ausgleichen können (vgl. Schäfer 2010a: 136 ff.).

Einschlägig wird unter dem Stichwort der Substitutionsthese die Idee diskutiert, die sinkende Relevanz konventioneller Einflussmöglichkeiten könne durch den Aufstieg unkonventioneller Formate kompensiert werden. In dieser Argumentationslinie wird eine Abkehr von tradierten Formen als Ausdruck kritischer Distanz interpretiert, die der individuellen Lebenswirklichkeit nicht mehr gerecht werden, und die „Hinwendung zu neuen Partizipationsformen (…) als Beleg für eine intakte, lebendige Demokratie angesehen“ (Schäfer 2010b: 3 f.). Politische Beteiligung nimmt in dieser Lesart nicht ab, sondern verändert lediglich ihre Form. Empirische Befunde widersprechen jedoch eindeutig dem Bild eines Substitutionsverhältnisses. Zum einen sind alternative Partizipationsformen mehrheitlich nur schwach in der Bevölkerung verbreitet, sodass sie die tradierten Mittel bislang nicht ersetzen, sondern bestenfalls ergänzen können (vgl. Abschnitt 2.1.3). Zum anderen werden legal-unkonventionelle Beteiligungsformen von sozial schwächeren Personengruppen besonders selten genutzt, wobei folgender Zusammenhang gilt: „Je anspruchsvoller das Beteiligungskriterium, desto niedriger ist deren Engagement“ (Schäfer 2010b: 3 f.). Entsprechend weist die Teilnahme an Wahlen als überaus niedrigschwellige Partizipationsform noch die geringste soziale Verzerrung auf, wohingegen der Aufschwung nicht-institutionalisierter Beteiligungsmöglichkeiten die soziale Kluft zusätzlich vertieft (vgl. Schäfer 2010a: 137 ff.; Schäfer/Schoen 2013: 100 ff.).

Zusammenfassend ist aus dem Rückgang konventioneller und dem partiellen Anstieg unkonventioneller Partizipation eine soziale Schieflage politischer Teilhabe abzuleiten. Dieser Umstand fordert das Ideal der politischen Gleichheit heraus, bewirkt die „Durchsetzung nicht-repräsentativer politischer Interessen und gefährdet auf Dauer die Lebenschancen der Demokratie“ (van Deth 2009: 155). So haben ressourcenschwache Personengruppen aufgrund ihrer politischen Passivität systematisch schlechtere Aussichten, von der politischen Elite bemerkt zu werden. Derartige Debatten über die Folgen politischer Ungleichheit bleiben jedoch so lange unvollständig, wie die Ursachen einer sozial ungleichen Teilhabe nicht eindeutig geklärt sind (vgl. Schäfer et al. 2013: 9; Steinbrecher 2009: 56). Auf dieser Basis gilt es im Folgenden zu explizieren, warum sich insbesondere sozial schwächere Personengruppen eher selten am politischen Prozess beteiligen.

2.2 Klassische Erklärungsansätze politischer Partizipation

Die Suche nach einer Erklärung für politische Aktivität besitzt in der Partizipationsforschung eine lange Tradition, wobei im Zeitverlauf eine Vielzahl unterschiedlicher Faktoren und Modelle herangezogen wurde. In der Literatur lassen sich grundlegend zwei Perspektiven identifizieren, die nunmehr als klassische Erklärungsansätze aufzufassen sind. Beide Herangehensweisen stützen sich auf Individualfaktoren, um primär das Wahlverhalten von Personen zu untersuchen, lassen sich jedoch auch auf andere Beteiligungsformen übertragen. Im Folgenden werden zunächst sozialstrukturelle und daran anschließend rationale Erklärungsansätze politischer Beteiligung dargelegt.

2.2.1 Sozialstrukturelle Ansätze

In der Tradition sozialstruktureller Ansätze wird das politische Partizipationsverhalten einer Person auf individuelle Merkmale und Eigenschaften zurückgeführt. Den Grundstein für diese Forschungslinie legt die Gruppe um Paul Lazarsfeld mit ihrer Studie The People’s Choice (1944) zu individuellem Wahlverhalten und -präferenzen. Auf Basis ihrer Untersuchungen können sie zusammenfassend zeigen, dass sowohl die Bereitschaft zu Wählen als auch die ideologische Ausrichtung der Wahl auf soziodemografischen (Alter, Geschlecht, Religionszugehörigkeit) und insbesondere sozioökonomischen Merkmalen (Eigentum, Besitz, Auftreten und Sprache) beruhen (vgl. Lazarsfeld et al. 1969: 51–62, 75–84). Während für die Wahlpräferenzen mehr die subjektiv gefühlte Schichtzugehörigkeit ausschlaggebend ist, wird die Wahlteilnahme überwiegend durch den objektiven sozioökonomischen Status bestimmt, wobei das politische Interesse als Vermittler zwischen beiden Größen fungiert. So tragen Schulbildung und ökonomischer Status maßgeblich und unmittelbar zur Entwicklung politischen Interesses bei, welches wiederum die Wahlteilnahme positiv beeinflusst. Da die Studie jedoch primär deskriptiv angelegt ist, hält sie insgesamt nur wenige haltbare Erklärungen für die gefundenen Zusammenhänge bereit.

Aufbauend auf diesen Erkenntnissen hat sich die Berücksichtigung sozioökonomischer Merkmale zunehmend als Standard in der empirischen Partizipationsforschung etabliert. Dabei verweisen neuere Untersuchungen vor allem auf die Arbeit von Verba und Nie und das im Rahmen ihrer Studie Participation in America (1972) entwickelte sozioökonomische Standardmodell (SES-Modell). Den Autoren kommt zum einen der Verdienst zu, die traditionsreiche Forschung um den Zusammenhang zwischen sozioökonomischen Ressourcen und politischer Partizipation erstmals zu einem einheitlichen Konzept systematisiert zu haben. Zum anderen limitieren sie politische Partizipation nicht mehr auf wahl- und parteibezogene Aktivitäten, sondern beziehen weitere Beteiligungsformen in ihre Untersuchung ein (vgl. Verba/Nie 1972: 44 ff.; Abschnitt 2.1.2). Konzentriert ausgedrückt bestätigen sie empirisch den Befund, dass „[c]itizens of higher social and economic status participate more in politics“ (ebd.: 125). Der sozioökonomische Status wird dabei über die objektiven Kriterien Bildung, Einkommen und Berufsstatus operationalisiert, wobei diese Dimensionen naturgemäß positiv miteinander korreliert sind. Im Weiteren nehmen die Autoren keinen direkten Zusammenhang zwischen sozialem Status und politischer Beteiligung an, sondern verweisen auf indirekte Prozesse zwischen diesen Konstrukten. Gemäß ihrer Einschätzung verfügen statushöhere Personen aufgrund ihrer Fähigkeiten und ihres Wissens über ein hohes Bewusstsein für sowie Pflichtgefühl gegenüber politischen Angelegenheiten. Zudem sind sie durch ihre kommunikativen Fähigkeiten in der Lage, sich mit anderen Partizipierenden auszutauschen und effektiv mit ihnen zu interagieren. Ebenso fördere ein hoher Sozialstatus die Entwicklung politischer Orientierungen und Einstellungen sowie das politische Selbstbewusstsein (vgl. ebd.: 126). Demnach ist nicht der sozioökonomische Status an sich entscheidend für eine politische Aktivität, sondern erst dessen Übersetzung in kognitive Ressourcen (vgl. Gabriel/Völkl 2005: 564). Der Zusammenhang zwischen Status und politischer Beteiligung lässt sich somit auf folgende Formel bringen: „Higher socioeconomic status increases political participation by increasing the civic orientations – involvement, efficacy, skills – of citizens“ (Verba/Nie 1972: 134).

Obgleich der enormen empirischen Durchschlagskraft des sozioökonomischen Standardmodells – der positive Zusammenhang zwischen sozioökonomischen Ressourcen und politischer Partizipation gilt heute als basal –, mangelt es dem Konzept an einer grundlegenden theoretischen Erklärung. So gestehen auch die beteiligten Forscher ein, dass das SES-Modell zwar hervorragend dazu geeignet ist, die politische Partizipation einer Person vorherzusagen, aber „it is theoretically deficient in failing to specify the mechanism that links socioeconomic status to political participation“ (Verba et al. 1995: 280; vgl. auch Brady et al. 1995: 272). Letztlich scheint die Einführung der sogenannten civic attitudes als erklärende Faktoren mehr auf intuitiven denn überprüften Annahmen zu beruhen. Offen bleibt in diesem Zusammenhang zudem, ob sich ein politisches Pflichtgefühl, Bewusstsein oder Orientierungen allein aus einem hohen sozioökonomischen Status ableiten oder ob nicht auch ressourcenschwächere Personengruppen diese Einstellungen entwickeln können. Auch die Kausalrichtung des Zusammenhangs ist nicht abschließend geklärt. Zwar spricht vieles für die Beeinflussung der politischen Beteiligung durch eben jene Ressourcen, aber zumindest auf einer theoretischen Ebene ist der umgekehrte Kausalzusammenhang ebenfalls plausibel. Denn möglicherweise kann eine politisch aktive Person ihre erlernten Fähigkeiten auch in anderen Feldern, wie zum Beispiel dem Beruf, erfolgreich einsetzen (vgl. Verba et al. 1978: 68).

Insgesamt bietet das SES-Modell keine hinreichend überzeugende Erklärung für eine sozial verzerrte Partizipation, da es letztlich mehr dem Beschreiben beziehungsweise Vorhersagen politischer Beteiligung denn kausaler Erörterungen dient.

2.2.2 Rationale Ansätze

Rationale Erklärungsansätze liefern eine Theorie menschlichen Handelns, deren Ursprung in der Ökonomie liegt und auf Webers Idealtypus der Zweckrationalität verweist (vgl. Weber 2010 [1922]).Footnote 6 Im vorliegenden Kontext wurde der Ansatz vor allem durch die Arbeiten von Downs und Olson beeinflusst und konnte sich schließlich insbesondere in den USA zu einer der dominierenden Theorien der Politikwissenschaften entfalten.

In seiner Economic Theory of Democracy (1957) überträgt Downs zentrale Annahmen des ökonomischen Handlungsmodells auf das politische Feld und legt damit das Fundament für eine ökonomische Sichtweise auf die Politik und die in der politischen Arena Handelnden. Im Zentrum seiner Theorie steht die Prämisse, dass sich politisch Agierende, wie Parteien, Politikerinnen und Politiker oder die Wählerschaft, gleich rational agierender Beteiligte auf dem Markt verhalten (vgl. Arzheimer/Schmitt 2014: 340). Der Grundgedanke dabei ist relativ schlicht: Individuen handeln immer und ausschließlich rational. Sie entsprechen idealtypisch dem Homo oeconomicus, verfügen demnach über vollständige Informationen und können auf dieser Basis optimale Entscheidungen treffen. Unter Abwägung von Präferenzen, Anreizen und Restriktionen wählen sie stets die Handlungsoption mit dem subjektiv günstigsten Ergebnis (vgl. Buchstein 2012: 24 f.; Diekmann/Voss 2004; Opp 1983: 31–41). Unter diesen Voraussetzungen findet eine Beteiligung am politischen Prozess ausschließlich dann statt, wenn die politische Aktivität bei möglichst geringen Kosten den individuellen Nutzen erhöht und/oder den eigenen Zielen dient (vgl. Opp 1986: 87, 1989: 7 f.).

In The Logic of Collective Action (1965) erweitert Olson diese Annahmen im Hinblick auf rationales Gruppenhandeln. Er widerlegt die gängige These, dass aus rational handelnden Individuen ebenso rational handelnde Gruppen erwachsen und prägt daraufhin das Dilemma kollektiven Handelns. Demgemäß impliziert ein für alle Beteiligten positives Ziel nicht, dass alle „ihr Handeln auf die Erreichung des Gruppenzieles richten werden, selbst wenn sie völlig rational im Eigeninteresse handeln“ (Olson 1998: 2). Zentral ist an dieser Stelle wiederholt das Kosten-Nutzen-Axiom. Bei politischen Aktivitäten sind die Kosten immer individueller Natur und betreffen persönliche Investitionen von Ressourcen wie Zeit, Geld oder Aufwand. Hingegen ist der Nutzen in der Regel kollektiver Art; öffentliche Güter, wie innere Sicherheit oder Umweltschutz, stehen grundsätzlich allen Gesellschaftsmitgliedern zur Verfügung. Von der Allgemeinheit produziert, ist der eigene partizipative Beitrag nicht zwingend erforderlich und unter der Prämisse nutzenmaximierenden Kalküls sogar vollkommen irrational. Da auch ohne eine eigene Beteiligung (keine Kosten) die Vorteile von Kollektivgütern (Nutzen) abgeschöpft werden können, stellt das Trittbrettfahren für die oder den Einzelnen die optimale Handlungsstrategie dar (free rider-Problematik). Sofern sich nun alle Gruppenmitglieder rational verhalten, wird das kollektive Gut nicht produziert. Spieltheoretisch wird eine solche Situation als Gefangenendilemma beschrieben: Obwohl alle Beteiligten ein Interesse an der Erzielung des besten Gesamtergebnisses haben, kommt es aufgrund individuellen Rationalitätshandelns nicht zustande (vgl. vgl. Finkel 2008: 23; Lüdemann 2001: 47; Olson 1998: 15, 33; Putnam 1993: 165).

Rational Choice-basierte Ansätze liefern zwar theoretisch konsistente Erklärungen für eine politische Teilhabe, scheitern ihrerseits jedoch an der empirischen Erklärungsleistung (vgl. Brady et al. 1995: 272; Verba et al. 1995: 280). Denn entgegen der dargestellten Annahmen beteiligen sich Menschen an der Produktion kollektiver Güter und somit auch am politischen Geschehen. In der Wahlforschung wird dieses Phänomen mit dem Paradox of Voting umschrieben, demnach Individuen an Wahlen teilnehmen, obwohl der Wahlakt Kosten verursacht und der instrumentelle Nutzen gegen null strebt (vgl. Arzheimer/Schmitt 2014: 351 f.; Goerres 2010: 276). Diesbezüglich argumentiert jedoch Opp (1986), dass Individuen auch auf Basis einer subjektiv erlebten Wirksamkeit handeln, die der objektiven nicht notwendigerweise entsprechen muss. So kann der instrumentelle Nutzen einer politischen Handlung durchaus höher eingeschätzt werden als er realiter ist. Darüber hinaus erweitert er die rationalen Entscheidungsmodelle und integriert neben materiellen Motiven zusätzlich soziale und moralische Anreizstrukturen, die auf „behavioral expectations of important others in the individual’s social network“ beruhen (Finkel 2008: 23). Da die Identifikation und Verbundenheit mit einer Gruppe und deren Erwartungen das individuelle Handeln steuern können, wird eine politische Aktivität wahrscheinlicher, wenn sich zentrale Personen aus dem sozialen Umfeld politisch beteiligen. Demnach beeinflussen reziproke Erwartungen und die soziale Kontrolle über gruppenkonformes Verhalten die individuellen Anreize für eine Beteiligung. Im Kontext sozialer Normen und Werte zeigt er außerdem, dass bereits die intrinsische Befriedigung, die Partizipationsnorm erfüllt zu haben, als individuelle Motivation dienen kann (vgl. Finkel 2008: 26; Opp 1986: 88 ff.).

Zusammenfassend stellen die klassischen Ansätze jeweils keine umfassende Erklärung politischer Partizipation zur Verfügung. Sozialstrukturellen Modellen fehlt eine fundierte theoretische Basis, die eine hohe Ressourcenausstattung mit einer positiven Partizipationsentscheidung verknüpft; der empirisch starke Zusammenhang lässt sich theoretisch nicht überzeugend begründen. Dagegen liefern rationale Ansätze theoretisch konsistente Erklärungen für eine politische Beteiligung, die sich aber empirisch nicht untermauern lassen. Eine einigermaßen belastbare Datenlage stellt sich erst unter zahlreichen Modifikationen ein. In diesem Sinne ist es kein Zufall, dass der erste Ansatz als Modell und der zweite als Theorie bezeichnet wird (vgl. Verba et al. 1995: 524). Im Folgenden wird nun ein Modell skizziert, das die klassischen Ansätze zu einem Erklärungskonzept zusammenfügt und dadurch unter anderem offenlegt, welche Anknüpfungspunkte die dargelegten Ansätze auch für diese Arbeit bereithalten.

2.3 Das Civic Voluntarism Model

Im Rahmen ihrer Studie Voice and Equality (1995) entwickeln Verba, Schlozman und Brady das Civic Voluntarism Model (CVM), welches die politische Teilhabe auf unterschiedliche Individualfaktoren zurückführt. Das CVM gilt in erster Linie als Weiterentwicklung des sozioökonomischen Standardmodells, dessen Erklärungsleistung jedoch durch die Anreicherung mit Elementen der Rational Choice-Theorie verbessert wird. Durch die Synthese der klassischen Ansätze können die jeweiligen Vorzüge genutzt und bestehende Mängel aufgefangen werden (vgl. Gabriel 2013: 394; van Deth 2009: 153; Verba et al. 1995: 280287). Betreffend die politische Partizipation wird ein breites Repertoire an Beteiligungsmöglichkeiten fokussiert, das von Wahlen, der Mitarbeit in politischen Institutionen, der informellen Zusammenarbeit bis zu Protesten und Demonstrationen reicht. Auf Basis einer Kombination aus Aufwand und Ertrag werden die Aktivitäten schließlich unter die vier Hauptformen Wählen, Kampagnen, Kontakte und Gemeinschaft gruppiert (vgl. Verba et al. 1995: 42–48, 72).

Zur Erklärung politischer Beteiligung setzen die Forschenden bei der Frage an, warum Personen nicht partizipieren und leiten daraus drei Bestimmungsgrößen ab: „[B]ecause they can’t; because they don’t want to; or because nobody asked“ (ebd.: 269). In erster Instanz wird die grundlegende Fähigkeit zur politischen Partizipation über die individuelle Ressourcenausstattung bestimmt (vgl. ebd.: 288–332; Abschnitt 2.3.1). Zweitens ist der Wille zur aktiven Teilhabe von persönlichen Motivationsstrukturen abhängig (vgl. ebd.: 334–368; Abschnitt 2.3.2) und drittens steuert die Einbindung in soziale Netzwerke politische Rekrutierungsprozesse (vgl. ebd.: 369–390; Abschnitt 2.3.3). Im Mittelpunkt des CVMs steht somit ein Zusammenschluss aus persönlichen Ressourcen und motivationalen wie sozialen Anreizstrukturen, die gemeinsam die individuelle Teilhabe am politischen Geschehen erklären. Obgleich die einzelnen Dimensionen im eigentlichen Sinn keine Innovationen darstellen, werden mit diesem Ansatz neue Aspekte, Blickwinkel und Verknüpfungen präsentiert, die auch für die Ziele dieser Untersuchung zentral sind und daher eine detaillierte Betrachtung erfordern (vgl. Aldrich 1997: 421; Gabriel/Völkl 2005: 564).

2.3.1 Partizipationsrelevante Ressourcen

Der erste Bestimmungsfaktor politischer Beteiligung verweist auf die individuelle Ressourcenausstattung und tangiert die elementare Befähigung zur politischen Willensäußerung (vgl. Verba et al. 1995: 270, 282). Die politische Relevanz sozioökonomischer Ressourcen ist empirisch hinreichend häufig belegt, wobei in Anlehnung an das sozioökonomische Standardmodell üblicherweise die Größen Bildung, Einkommen und beruflicher Status in den Fokus gerückt werden (vgl. z. B. Almond/Verba 1963; Barnes/Kaase et al. 1979; Gabriel 2013; Marsh/Kaase 1979; Milbrath 1965; Nie et al. 1969; Parry et al. 1992; Verba/Nie 1972; Verba et al. 1978). Mit dem Civic Voluntarism Model zielen die Forschenden nun auf eine Präzisierung dieses Ressourcenkomplexes: „[W]e define resources more concretely and treat their relationship to participation more comprehensively, probing their origins and investigating how they operate to facilitate participation“ (Verba et al. 1995: 270). So unterscheiden sie ausdrücklich zwischen dem sozialen Status, der maßgeblich für die Ausbildung der Ressourcen verantwortlich ist, und den Ressourcen selbst. Als partizipationsrelevante Ressourcenarten identifizieren sie schließlich (1) Geld, (2) Zeit und (3) civic skills.

(1) Geld: Die finanziellen Ressourcen werden klassisch über die Höhe des Familieneinkommens operationalisiert und korrelieren erwartungsgemäß positiv mit dem formalen Bildungsgrad und dem beruflichen Status. Da zumindest theoretisch keine Obergrenze dafür existiert, wie viel Geld eine Person auf dem Markt erzielen kann, ist das Einkommen in Gesellschaften sehr ungleich verteilt (vgl. Brady et al. 1995: 273; Verba et al. 1995: 289, 565). Bezogen auf politische Aktivitäten müssen ökonomische Ressourcen immer direkt aufgewendet werden; es ist beispielsweise „impossible to contribute to a campaign or other political cause without some discretionary income“ (Verba et al. 1995: 289). Angesichts der hohen empirischen Verknüpfung zu politisch motivierten Beiträgen und Spenden kommt dem Einkommen im CVM eine zentrale Bedeutung zur Erklärung politischer Beteiligung zu (vgl. ebd.: 515 f.). Darüber hinaus bleibt allerdings offen, wie nicht-spendenbezogene Beteiligungsformen theoretisch mit finanziellen Ressourcen verknüpft sind.

(2) Zeit: Im Vergleich zu den finanziellen Ressourcen korrespondiert die Zeit deutlich schwächer mit sozialen Statusvariablen und ist in der Gesellschaft weniger ungleich verteilt. So kann niemand über mehr als 24 Stunden am Tag verfügen und nichts für einen späteren Moment ansparen (vgl. ebd.: 289, 292 f., 301 f.). Gemessen über die Stunden „left over after accounting for time spent in an average day doing work for pay, doing necessary household work of all sorts, studying or going to school, and sleeping“ (Brady et al. 1995: 273; vgl. Verba et al. 1995: 289), ist die Verfügbarkeit freier Zeit gleichwohl an bestimmte Lebensumstände gekoppelt. Faktisch existieren Personengruppen, die über mehr freie Zeit als andere verfügen, wobei beispielhaft Personen in Ruhestand oder Arbeitslosigkeit zu nennen sind. Da nun alle politischen Aktivitäten einen gewissen zeitlichen Einsatz für sich beanspruchen und somit in direkter Konkurrenz zu nicht-politischen Tätigkeiten stehen, sollten jene Personen theoretisch eine überproportional hohe Beteiligungsrate aufweisen. In der Praxis mangelt es ihnen aber häufig an weiteren relevanten Ressourcen, sodass die frei verfügbare Zeit nur selten in eine politische Aktivität investiert wird (vgl. Gabriel/Völkl 2005: 564). Insgesamt ist die Ressource Zeit zwar grundsätzlich notwendig, um eine politische Handlung durchführen zu können, bietet allein aber keine hinreichende Erklärung für eine höhere Beteiligungswahrscheinlichkeit bestimmter Personengruppen (vgl. Verba et al. 1995: 514 f.).

(3) Civic skills: Die Einführung der civic skills stellt die wesentliche Modifikation am Ressourcengefüge des SES-Modells dar. Jene zivilen Ressourcen werden von den Forschenden als objektiv messbare Fähigkeiten einer Person verstanden, die kommunikative und organisationale Kompetenzen wie das Halten einer Rede, das Organisieren von Meetings oder das verbale Ausdrucksvermögen umfassen (ebd.: 304). Dabei handelt es sich um erlernte und verinnerlichte Kompetenzen, deren Aneignungsprozess in den formativen Jahren im familiären und schulischen Umfeld beginnt und in den Institutionen des Erwachsenenlebens (z. B. Arbeitsplatz, Kirche, Vereine und Organisationen) weiter fortschreitet (vgl. Brady et al. 1995: 273; Verba et al. 1995: 309 f.). Da zivile Fähigkeiten im Gegensatz zu Zeit und Geld durch ihren Einsatz nicht gemindert, sondern durch die kontinuierliche Anwendung fortwährend verstärkt werden, entsteht mit der Zeit ein gewisses Selbstverständnis und eine Selbstsicherheit mit deren Umgang. Im Weiteren lassen sich jene Kompetenzen direkt in den politischen Bereich transferieren, wo sie die individuellen Kosten und Hürden einer Beteiligung senken. So fällt es etwa Personen mit hohen verbalen Fähigkeiten leichter, auch politische Bedürfnisse zu formulieren und in den entsprechenden Kontexten zu artikulieren. Das persönliche Selbstvertrauen und die Selbstwirksamkeitserwartung ermöglichen einen effektiven Einsatz der Ressourcen Zeit und Geld, minimieren den Aufwand politischer Aktivitäten und steigern somit die Wahrscheinlichkeit politischen Engagements (vgl. ebd.: 304 f.). Da insbesondere die Art der beruflichen Tätigkeit die Verfügbarkeit an civic skills beeinflusst, ist diese Ressource sehr ungleich entlang sozialer Schichtungsmerkmale verteilt (vgl. ebd.: 313 f.).

Die konzeptuellen Veränderungen am SES-Modell demonstrieren, wie im CVM Merkmale des sozioökonomischen Status mit Elementen der Theorie rationalen Handelns verknüpft werden. So stehen in dieser Erklärungsdimension primär die Kosten politischer Handlungen im Vordergrund, die in Form von Zeit und Geld direkt zu leisten sind (ebd.: 284; vgl. ebd.: 524 f.). Infolgedessen fallen die subjektiven Kosten einer politischen Aktivität umso höher aus, je weniger Ressourcen einer Person grundlegend zur Verfügung stehen. Demgegenüber reduzieren zivile Fähigkeiten ihrerseits die Kosten der politischen Einflussnahme, indem sie einen effizienten und effektiven Einsatz der übrigen Ressourcen ermöglichen. Auf dieser Basis kann schlüssig erläutert werden, warum sich ressourcenstarke Personen häufiger politisch engagieren können als ressourcenschwächere Personen. Im Folgenden ist jedoch zu zeigen, dass unter gewissen Umständen auch wenige Ressourcen in eine politische Handlung investiert werden.

2.3.2 Politische Motivation

Die Dimension der politischen Motivation zielt auf den persönlichen Willen zur politischen Beteiligung und bildet den „framework for a potent explanation of political activity“ (Verba et al. 1995: 334). Sie ergänzt den Ressourcenkomplex um Geld, Zeit, und Fähigkeiten und erklärt, warum eine Person, die aufgrund ihrer Ressourcenausstattung partizipieren kann, auch tatsächlich am politischen Geschehen teilhaben will (vgl. ebd.: 272, 343). So werden unter der politischen Motivation verschiedene psychologische Eigenschaften subsumiert, die gleich eines internen Stimulus darüber entscheiden, ob die verfügbaren Ressourcen in eine politische oder eine konkurrierende nicht-politische Aktivität investiert werden. Als politisch relevant charakterisieren die Forschenden in diesem Zusammenhang die Merkmale (1) politisches Interesse, (2) politische Wirksamkeit, (3) politische Informiertheit und (4) Stärke der Parteiidentifikation.

(1) Politisches Interesse: Das politische Interesse bildet ein zentrales Moment politischer Motivation, wobei die hohe Relevanz durch die Feststellung, dass „[f]or many years the terms political interest, involvement, and motivation have been used as synonyms“ herausgehoben wird (van Deth 1990: 276). Der mehrdeutige Begriff des Interesses ist dabei nicht auf ein rational angestrebtes Ziel bezogen, sondern beschreibt eine allgemeine Neugier an politischen Belangen und Entwicklungen. Zur Messung dieses Merkmals beurteilen die Befragten ihr persönliches Interesse für verschiedene lokale und nationale Angelegenheiten auf einer vierstufigen Skala (vgl. Verba et al. 1995: 345 f., 553). Demnach handelt es sich bei dem politischen Interesse um ein subjektives Konstrukt, dessen Wert für die politische Teilhabe durch zahlreiche empirische Studien belegt ist. Tatsächlich hängt „das Niveau politischen Interesses (…) mit jeder Variante der politischen Partizipation positiv zusammen“ (van Deth 2001a: 213).

(2) Politische Wirksamkeit: Die subjektiv erlebte Wirksamkeit vermittelt Personen die Überzeugung, mit ihren Handlungen politische Konsequenzen herbeiführen und den Status quo verändern zu können (Verba et al. 1995: 272). Dadurch ist diese Form der Selbstwirksamkeit ein überaus mächtiger Prädiktor der politischen Partizipation und beeinflusst die individuelle Entscheidung für politisches Engagement sogar stärker als die objektive Veränderungskraft. Das politische Selbstvertrauen variiert signifikant zwischen sozialen Gruppierungen und wird über vier Items operationalisiert, die Fragen zur internen und externen Wirksamkeit enthalten und mittlerweile als klassische Indikatoren anzusehen sind (vgl. ebd.: 346 f., 556; zum Überblick Vetter 1997).

(3) Politische Informiertheit: Mit der politischen Informiertheit werden individuelle Kenntnisse über aktuelle Themen, politische Ämter, das institutionelle und verfassungsrechtliche Gefüge sowie allgemein das politische System erfasst (vgl. Verba et al. 1995: 347, 554). Bei diesem Merkmal handelt es sich folglich um eine objektive Dimension der politischen Motivation, die sich auf den kognitiven Wissenstand einer Person bezieht und einen wirkungsvollen Faktor des politischen Verhaltens darstellt. So sinken mit zunehmendem Wissen über politische Inhalte und Themen die Informationskosten, die üblicherweise im Vorfeld einer politischen Teilhabe entstehen, und die eigene Beteiligung wird wahrscheinlicher.

(4) Stärke der Parteiidentifikation: Die Stärke der Parteiidentifikation wird mittels einer politischen Selbstverortung im nationalen Parteienspektrum erhoben, wobei jedoch weniger die ideologische Ausrichtung als vielmehr die Intensität der Bindung von Relevanz ist (vgl. ebd.: 348, 555). Das Ausmaß der Parteineigung gibt schließlich Auskunft über die Höhe des individuellen politischen Engagements und zeigt an, wie sehr sich eine Person grundsätzlich mit Politik beschäftigt. Übereinstimmend lässt sich für nahezu alle Partizipationsformen ein positiver Zusammenhang zur Stärke der Parteiidentifikation nachweisen (vgl. Gabriel 2004: 324 ff.).

Empirisch erweisen sich das politische Interesse, die politische Wirksamkeit und die politische Informiertheit als positiv und wechselseitig miteinander verbunden, wohingegen die Parteiidentifikation einzig mit dem politischen Interesse korreliert (vgl. Verba et al. 1995: 348). Wiederum alle Faktoren stellen jedoch einflussreiche Prädiktoren der politischen Beteiligung dar, wobei auch in diesem Fall wechselseitige Beziehungen angezeigt sind (vgl. ebd.: 367). Darüber hinaus offenbaren sich positive Assoziationen zwischen der Motivationsdimension und den vormals dargelegten Ressourcen. Eine Überlagerung der Ressourceneffekte durch die motivationalen Aspekte lässt sich in diesem Zusammenhang aber nicht nachweisen; vielmehr deutet sich eine Ergänzung derselben an: „Political participation, then, is the result of political engagement and resources“ (ebd.: 354; Herv. im Orig.). Einerseits sind partizipationsrelevante Ressourcen ohne eine entsprechende Motivation nutzlos, andererseits kann eine hohe politische Motivation auch den Einsatz knapper Ressourcen für eine politische Tätigkeit erklären.

2.3.3 Politische Rekrutierung

Den dritten Bestimmungsfaktor politischer Beteiligung bildet die Einbindung in soziale Netzwerke, wobei explizit nicht-politische Institutionen wie der Arbeitsplatz, die Kirche oder Freiwilligenorganisationen fokussiert werden (vgl. ebd.: 371 f.). Von Verba, Schlozman und Brady (1995: 369) als „windows on a wider world of civic life“ betrachtet, gehen in ihnen Prozesse vonstatten, die das politische Engagement einer Person anregen können. So beschreiben soziale Netzwerke einen Ort, an dem sowohl (1) politische Rekrutierungen stattfinden als auch (2) civic skills kultiviert werden.

(1) Politische Rekrutierung: Neben spontanem Engagement basiert ein nicht unwesentlicher Teil politischer Handlungen auf konkreten Partizipationsaufforderungen durch andere Personen (vgl. ebd.: 136–139). Dabei sind die Wahrscheinlichkeit sowie der Erfolg politischer Rekrutierungsversuche weder garantiert noch zufällig verteilt, sondern verlaufen in Abhängigkeit dreier Merkmale. Erstens fördert die persönliche Bekanntheit zur anfragenden Person die Erfolgsaussicht einer politischen Einladung. Zweitens beeinflusst der Lebensbereich, in dem die Anfrage gestellt wird, das Ergebnis politischer Rekrutierungsversuche. Da sich die Kontexte Nachbarschaft, Arbeitsplatz und Verein als besonders fruchtbar erweisen, ist zu vermuten, dass Nähe und persönlicher Kontakt auch in Zeiten computergestützter Rekrutierung ausschlaggebende Kriterien für die politische Mobilisierung bleiben (vgl. ebd.: 139–149). Drittens ist die Quantität der Anfragen maßgeblich von sozialstrukturellen Eigenschaften abhängig, wobei ressourcenreiche Personengruppen besonders häufig zu einer Mitwirkung eingeladen werden (vgl. ebd.: 149–157). Damit folgen die Rekrutierenden einer rationalen Strategie, die bewusst oder unbewusst darauf ausgerichtet ist, die Erfolgsaussichten ihrer Partizipationsanfragen zu erhöhen. Entsprechend richten sie sich gezielt an Personen mit einer hohen Ressourcenausstattung, partizipationsrelevanten Einstellungen und/oder vorheriger politischer Aktivität (vgl. ebd.: 156–159, 377–380). In Bezug auf ihre politischen Teilhabechancen sind statusschwache Bevölkerungsteile somit doppelt benachteiligt. Ihre ohnehin geringere Fähigkeit zur Partizipation wird durch ein systematisch schlechteres Rekrutierungspotenzial zusätzlich geschwächt.

(2) Civic skills: Im Erwachsenenalter bieten vor allem nicht-politische Institutionen wie der Arbeitsplatz, Verbände oder die Kirche einen Möglichkeitsraum zur Aneignung und Vertiefung ziviler Fähigkeiten. Zu denken ist hier etwa an das Aufsetzen von Schriftstücken, der Planung von Besprechungen und Veranstaltungen oder der Präsentation von Jahresabschlüssen. Durch ständiges Training werden diese Kompetenzen inkorporiert und lassen sich auch in der politischen Arena nutzbringend einsetzen. Folglich stellen soziale Netzwerke einen wesentlichen Nährboden zur Kultivierung politisch relevanter Fähigkeiten dar (vgl. ebd.: 282, 310; Abschnitt 2.3.1). Darüber hinaus kreieren sie günstige Rahmenbedingungen für den informellen Austausch und steigern auf diese Weise die politische Informiertheit: „Wherever people are brought together – in the office lunchroom, at a meeting of the union local, at a church picnic – they may chat about politics“ (ebd.: 370).

Zusammengefasst wirken soziale Netzwerke über Prozesse der Mobilisierung und Sozialisierung nachweisbar positiv auf die politische Partizipation einer Person und repräsentieren einen zentralen Bestandteil des CVM. Offen bleibt an dieser Stelle indes, welche Personengruppen auf welche Weise vernetzt sind und wie die Verbindung zwischen Ressourcen, Netzwerken und Partizipation im Detail gestaltet ist. Beispielsweise wird nicht geklärt, ob ressourcenreiche Personengruppen einzig auf Grundlage ihrer Ressourcen häufiger zu einer politischen Beteiligung eingeladen werden oder ob sie womöglich häufiger in einschlägigen Institutionen vertreten sind. Vergleichbares ist hinsichtlich der Kultivierung ziviler Fähigkeiten zu konstatieren.

2.3.4 Relevanz und Kritik

Das Civic Voluntarism Model vereint zentrale Elemente der klassischen Ansätze zur politischen Beteiligung und steigert dadurch deren singuläre Erklärungsleistungen. So wird in Tradition der Rational Choice-Theorie argumentiert, dass für alle politischen Handlungen Kosten anfallen, denen jedoch in Abhängigkeit der individuellen Ressourcenausstattung (SES) unterschiedlich begegnet wird. Ausgehend von dieser Prämisse wird eine politische Beteiligung schließlich auf drei Bestimmungsgrößen zurückgeführt: Während die Ressourcen zunächst die grundlegende Partizipationsfähigkeit bestimmen, entscheiden motivationale Faktoren im Weiteren darüber, ob die verfügbaren Ressourcen auch tatsächlich in eine politische Tätigkeit investiert werden. Darüber hinaus entsendet das soziale Umfeld Rekrutierungsanfragen und sozialisiert partizipationsrelevante Fähigkeiten. Entsprechend fällt die individuelle Teilhabewahrscheinlichkeit immer dann hoch aus, wenn die Kosten einer politischen Beteiligung gedeckt werden können und die internen wie externen Anreize hinreichend hoch ausfallen. Aufgrund der theoretischen und empirischen Erklärungskraft kommt dem CVM insgesamt ein hoher Stellenwert in der politischen Partizipationsforschung zu (vgl. z. B. Armingeon 2007; Gabriel 2004, 2013; Gabriel/Völkl 2008; Lüdemann 2001; Steinbrecher 2009: 56–92; van Deth 2009).

Obgleich die wissenschaftliche Resonanz überwiegend positiv ausfällt, sind auch über dieses Modell einige kritische Anmerkungen zu formulieren. Zunächst verweisen die Forschenden selbst auf offene Fragen hinsichtlich der Kausalität sowohl zwischen den einzelnen Erklärungsfaktoren als auch zwischen Erklärungsfaktoren und abhängiger Variable. So ist beispielsweise unklar, ob sich politische Rekrutierungsanfragen ausdrücklich an statushohe Personen richten oder ob diese aufgrund ihrer Präsenz in relevanten Institutionen indirekt anvisiert werden. Ferner erscheint es zwar intuitiv überzeugend, dass politische Einstellungen das individuelle Engagement stimulieren, jedoch mögen umgekehrt auch gewisse politische Aktivitäten erst das politische Interesse oder Selbstbewusstsein entfachen (vgl. Verba et al. 1995: 276 f.). Auch in Bezug auf die politische Mobilisierung ist der inverse Prozess denkbar, demnach vergangenes politisches Engagement weitere Partizipationsaufforderungen nach sich zieht. Zur Maximierung persönlicher Rekrutierungserfolge erscheint diese Strategie durchaus zweckmäßig (vgl. Brady et al. 1999: 154 f.; Verba et al. 1995; 156–159, 370 f.). Obwohl Verba, Schlozman und Brady Wechselwirkungen zwischen den einzelnen Elementen bestätigen, überprüfen sie letztlich nicht, welche Kausalitätsrichtung der anderen überlegen ist, sondern setzen in ihrem Modell voraus, dass Motivation und Rekrutierung der politischen Partizipation vorausgehen.

Aldrich (1997) kritisiert hingegen primär die Reichweite des Erklärungsmodells. So subsumieren Verba et al. (1995: 72) diverse Beteiligungsmöglichkeiten unter die vier Hauptformen Voting, Campaign, Contact und Community und analysieren deren Zusammenhänge zu den drei Bestimmungsfaktoren. Damit beruhe das Modell auf der Prämisse, dass die unterschiedlichen Formen politischer Partizipation miteinander vergleichbar und anhand einer einzigen Theorie erklärbar sind. Tatsächlich beziehen sich die Forschenden zumeist sogar auf eine Overall Participation und fassen damit alle Formen zu einem globalen Phänomen politischer Teilhabe zusammen. Da die politische Beteiligung realiter jedoch ein hochkomplexes Gebilde ist, erkennt Aldrich (1997: 422) „limits to the explanation when phenomena that are too disparate are put together in the same set“. Eine weitere zentrale Schwachstelle des Modells identifiziert er in einer mangelnden Erklärung für aktives Engagement. Die gewählten Variablen stellen zwar eine notwendige Grundvoraussetzung dar, unter deren Abwesenheit eine politische Beteiligung sehr unwahrscheinlich ist. Jedoch sei damit noch nicht hinreichend geklärt, wann und unter welchen Umständen sich eine Person faktisch engagiert. Notwendig seien letztlich spezifischere Theorien für die verschiedenen Formen politischer Partizipation (vgl. ebd.: 422 f.). Bezogen auf die Relevanz der einzelnen Erklärungsmerkmale verweisen auch Verba, Schlozman und Brady (1995: 273 f., 362–364) auf Unterschiede zwischen den einzelnen Beteiligungsformen. Gleichzeitig betonen sie aber nachdrücklich, dass ihre Untersuchung nicht auf die Bereitstellung einer mustergültigen Erklärung für jede denkbare Partizipationsform zielt. Vielmehr streben sie an, ein Modell zu konstruieren, dass mit möglichst wenigen Variablen möglichst viel erklärt. Ein Modell, „that is simultaneously powerful and parsimonious“ (Verba et al. 1995: 274).

Trotz dieser kritischen Anfragen liefert das Civic Voluntarism Model relevante Anknüpfungspunkte für diese Arbeit. Zum einen eröffnet die Integration von Rational Choice-Elementen in das SES-Modell eine überzeugende Möglichkeit, individuelle Ressourcen theoretisch mit der politischen Partizipation zu verbinden. Zum anderen wird anschaulich dargelegt, wie die einzelnen Variablenkomplexe miteinander kombiniert werden können. Partizipationsrelevante Ressourcen, Einstellungen und soziale Netzwerke sind folglich nicht getrennt voneinander zu betrachten, sondern beeinflussen gemeinsam die politische Beteiligung. Vielversprechend erscheinen darüber hinaus die Charakterisierung nicht-politischer Netzwerke als relevante Politisierungsinstanzen und die bisher ungeklärte Frage, wie sich die soziale Vernetzung entlang sozialstruktureller Merkmale konstituiert. Diese Überlegungen bilden die zentralen Anschlusspunkte, die im dritten Teil dieser Arbeit spezifiziert werden. Dem vorangestellt sei im Folgenden die Illustration des Sozialkapitalansatzes, in welchem die sozialen Netzwerke ebenfalls eine herausragende Position einnehmen. In Ergänzung werden jedoch mit sozialen Normen, Werten und Vertrauen weitere kulturelle Faktoren berücksichtigt, denen im Civic Voluntarism Model kein Stellenwert zukommt.

2.4 Sozialkapital nach Putnam

„No democracy, and indeed no society, can be healthy without at least a modicum of this resource“

(Sander/Putnam 2010: 9)

„It’s not what you know, it’s who you know“

(verbreiteter Aphorismus; zit. nach: Woolcock/Narayan 2000: 225; Herv. im Orig.)

Ein weiterer Ansatz zur Erklärung politischer Partizipation lässt sich aus der jüngeren Sozialkapitalforschung ableiten. Obwohl das Konzept an sich keine Neuschöpfung ist, erlangte es erst in den 1990er Jahren seine gegenwärtige Prominenz. Ausgelöst durch Putnams Studie Making Democracy Work (1993) wird die Debatte um den Wert von Sozialkapital heute in nahezu allen westlichen Nationen geführt. Gemäß Putnam ist Sozialkapital als das Fundament demokratischer Gesellschaften anzusehen, als sozialer Kitt, der eine Gesellschaft zusammenhält. Dabei summiert er unter diesen Begriff all jenes, was Gesellschaftstheoretiker wie Aristoteles oder Tocqueville als Bürgertugenden oder Bürgergesellschaft skizziert haben und verknüpft erstmals Werte wie Gemeinschaft, Kooperation, Engagement und Vertrauen systematisch mit der Performanz demokratischer Systeme (vgl. Putnam/Goss 2001: 15). Diesen Ansatz hat er in zwei umfangreichen Studien und weiterführenden Aufsätzen theoretisch ausgearbeitet und empirisch überprüft (vgl. Abschnitte 2.4.2, 2.4.3). Zugespitzt lesen sich Putnams (2000: 290) Ergebnisse schließlich folgendermaßen: „Social capital makes us smarter, healthier, safer, richer and better able to govern a just and stable democracy“.

Derartige Aussagen, fundiert durch eine aufwendige Forschungsarbeit, begründen die Beachtung, die dieses Konzept insbesondere in den vergangenen Jahren erfahren hat. Eine Konsequenz dieser Präsenz ist jedoch eine begriffliche Überdehnung und Verwässerung im wissenschaftlichen Diskurs (vgl. van Deth 2001b: 280; Zmerli 2008: 17). Erschwerend kommt hinzu, dass der Begriff des sozialen Kapitals auf zum Teil sehr unterschiedliche Ursprünge und Strömungen rekurriert, die sich größtenteils parallel, aber unabhängig voneinander entwickelt haben (vgl. Putnam/Goss 2001: 17–19). Daher werden im Folgenden die bedeutendsten Konzepte sozialen Kapitals dargelegt und im Hinblick auf die zentralen Fragen dieser Arbeit bewertet.

2.4.1 Schlüsselwerke der Sozialkapitalforschung

Seinen Ursprung hat der Begriff Sozialkapital vermutlich bei Lyda J. Hanifan, der ihn 1916 zur Beschreibung von Erfolgen durch Gemeinschaftsbildung, wie dem Anstieg des Schulbesuches, einführt. Konzeptuell erfasst er mit sozialem Kapital

„those tangible substances [that] count for most in the daily lives of people: namely good will, fellowship, sympathy, and social intercourse among the individuals and families who make up a social unit“ (Hanifan 1916: 130, zit. nach Woolcock/Narayan 2000: 228).

Die Entdeckung der Bedeutung gemeinschaftlichen Engagements stellt zweifellos eine fortschrittliche und innovative Errungenschaft dar. Gleichwohl verschwindet der Begriff für längere Zeit wieder aus dem wissenschaftlichen Diskurs und wird erst im Verlauf der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts von mindestens sieben Theoretikerinnen und Theoretikern größtenteils unabhängig voneinander wiedererfunden (vgl. Putnam/Goss 2001: 17 f.; Woolcock/Narayan 2000: 229).Footnote 7 Als Schlüsselwerke der Sozialkapitalforschung sind dabei insbesondere die Arbeiten von Pierre Bourdieu (1983), James Coleman (1988, 1990) und Robert Putnam (1993, 2000) hervorzuheben. Denn erst bei ihnen „wird das Konzept explizit eingeführt und es werden Instrumente zu seiner Messung entwickelt“ (Friedrichs/Oberwittler 2007: 452), sodass der Begriff „für die Forschung fruchtbar gemacht, intensiv diskutiert und immer besser in seinen Kontextbezügen verstanden“ wird (Lippl 2007: 421). Für die Thematik dieser Arbeit hält vor allem der Ansatz von Putnam wesentliche Implikationen bereit und wird im Folgenden zwecks konzeptioneller Abgrenzung vor dem Hintergrund des alternativen Theorieangebotes diskutiert.

2.4.1.1 Die Sozialkapitaltheorie Bourdieus

Pierre Bourdieu entwickelt sein Konzept von Sozialkapital im Rahmen einer Gesellschaftstheorie, die sich mit Mechanismen der Produktion und Reproduktion gesellschaftlicher Strukturen auseinandersetzt. Zu deren Analyse führt Bourdieu den Kapitalbegriff (wieder) ein und definiert Kapital eng am ökonomischen Verständnis als „akkumulierte Arbeit, entweder in Form von Materie oder in verinnerlichter, ‚inkorporierter‘ Form“ (Bourdieu 1983: 183; Herv. im Orig.). Gemäß seiner Auffassung dient Kapital in erster Linie der Aufrechterhaltung sozialer Positionen und verfestigt somit Strukturen sozialer Ungleichheit (vgl. ebd.: 183). Dabei übernimmt das soziale Kapital jedoch weder eine zentrale Position noch ist es als alleinstehend zu betrachten. Vielmehr bettet Bourdieu diese spezifische Form in ein umfassendes Konzept ein, das mehrere Kapitalformen integriert, die sich miteinander kombinieren und ineinander transformieren lassen (vgl. ebd.: 185; Häuberer 2011: 36). So sei die Analyse der sozialen Welt nur adäquat möglich, „wenn man den Begriff des Kapitals in allen seinen Erscheinungsformen einführt“ (Bourdieu 1983: 184; Herv. im Orig.).

Als erste Form betrachtet Bourdieu (1983: 185) das ökonomische Kapital, das direkt in Geld transformierbar ist und sich somit besonders zur Institutionalisierung von Eigentum eignet. Es ist weiter diejenige Kapitalform, die den übrigen Kapitalien zugrunde liegt, da jene direkt oder indirekt aus dieser Form resultieren und sich ihrerseits wieder in ökonomisches Kapital transferieren lassen. Schlussendlich sind sie aber nicht vollständig auf eine ökonomische Existenz zu reduzieren, sondern entfalten zusätzlich eigene Wirkungen (vgl. ebd.: 195–198). Als zweite Kapitalform identifiziert er das kulturelle Kapital, das in drei Zuständen auftreten und sonach in inkorporierter (Kognitive Kompetenzen), objektivierter (Kultureller Besitz) und institutionalisierter Form (Bildungszertifikate) vorliegen kann (vgl. ebd.: 185). Als dritte Form entsteht soziales Kapital analog zur dargelegten Kapitalauffassung aus Beziehungsarbeit in Gestalt eines permanenten Austausches zwischen mehreren Personen. Diese Austauschbeziehungen können sowohl materieller (z. B. Geld, Geschenke) als auch symbolischer (z. B. emotionale Unterstützung, Informationen) Natur sein (vgl. ebd.: 191–195). Mit seiner Konzeption von Sozialkapital stellt Bourdieu einen instrumentellen Charakter sozialer Beziehungen in den Vordergrund und expliziert, dass in Beziehungen, die einen mittelbaren oder unmittelbaren Nutzen versprechen, beständig investiert werden muss bis sich schließlich dauerhafte und auf Gegenseitigkeit beruhende Verpflichtungen entwickelt haben. In der Konsequenz sind nicht sämtliche soziale Beziehungen unter den Sozialkapitalbegriff zu fassen, sondern nur solche, die einen direkten monetären oder symbolischen Zugewinn versprechen und sich zudem über Tauschakte stabilisiert und institutionalisiert haben (vgl. ebd.: 192). Soziales Kapital besteht demnach in der Möglichkeit, innerhalb des eigenen Beziehungsnetzwerkes einen bestimmten Gegenwert für die eigene Investition zu erhalten. Entsprechend definiert Bourdieu soziales Kapital als die

„Gesamtheit der aktuellen und potentiellen Ressourcen, die mit dem Besitz eines dauerhaften Netzes von mehr oder weniger institutionalisierten Beziehungen gegenseitigen Kennens oder Anerkennens verbunden sind; oder, anders ausgedrückt, es handelt sich dabei um Ressourcen, die auf der Zugehörigkeit zu einer Gruppe beruhen“ (Bourdieu 1983: 191; Herv. im Orig.).

Sozialkapital umfasst somit sämtliche Ressourcen, die eine Person aus ihrem Beziehungsnetzwerk schöpfen kann. In der alltäglichen Auffassung ist es das Vitamin B; diejenigen Kontakte, die einem Jobofferten zukommen lassen, relevante Informationen bereithalten oder in die gewünschten Kreise einführen. Kurz gesagt ist Sozialkapital eine Beziehungsressource, die gleich ökonomischem oder kulturellem Kapital zur Erreichung individueller Ziele eingesetzt werden kann (vgl. Westle/Gabriel 2008: 23). Indem Bourdieu den Ressourcencharakter des Sozialkapitals hervorhebt, ist es nur folgerichtig, dass auch soziales Kapital zur Produktion und Reproduktion sozialer Ungleichheiten beitragen kann (vgl. Zmerli 2008: 34). So entsteht soziales Kapital aus ökonomischen oder kulturellen Investitionen und ist damit abhängig von der grundlegenden Kapitalausstattung einer Person. Bourdieu nimmt weiter an, dass die Kapitalvolumen der Mitglieder einer Gruppe aufgrund der Wechselseitigkeit der Austauschbeziehungen durch ein Minimum an objektiver Homogenität gekennzeichnet sein müssen. Infolgedessen finden sich vorwiegend sozialstrukturell ähnliche Menschen in einem Netzwerk zusammen. Da diese wiederum von der Ressourcenausstattung der jeweils anderen Netzwerkmitglieder profitieren, „übt das Sozialkapital einen Multiplikatoreffekt auf das tatsächlich verfügbare Kapital aus“, wodurch sich gesellschaftliche Strukturen verfestigen (Bourdieu 1983: 191).

Insgesamt kommt Bourdieu der Verdienst zu, den Begriff des sozialen Kapitals erstmals in systematischer Weise verwendet und in einen größeren theoretischen Kontext gesetzt zu haben (vgl. Westle/Gabriel 2008: 22; Zmerli 2008: 35). Allerdings nimmt das soziale Kapital bei ihm eine nachrangige Stellung ein und wird im Vergleich zum kulturellen Kapital nur oberflächlich behandelt. Neben dem hier vielfach zitierten Aufsatz Ökonomisches Kapital, kulturelles Kapital, soziales Kapital (1983) finden sich bei Bourdieu keine weiteren methodischen Beiträge zu diesem Konzept. Des Weiteren differenziert er weder verschiedene Formen sozialen Kapitals noch durchleuchtet er die Beziehungsnetzwerke, in denen Sozialkapital generiert wird, detaillierter. Mit Blick auf die Ziele dieser Untersuchung ist darüber hinaus die Konzentration auf den individuellen Nutzen, aus dem sich maximal gruppeninterne Vorteile ableiten lassen, problematisch. So lässt sich nicht überzeugend schlussfolgern, wie diese Ressource auch öffentlichen Interessen, wie etwa der Funktionsfähigkeit von Demokratien, dienen kann. Analog bleiben damit auch Verweise zur politischen Teilhabe überaus abstrakt. Letztlich bietet Bourdieus Konzeption von Sozialkapital nur wenige Anschlussmöglichkeiten für diese Arbeit. Ein relevantes Element findet sich jedoch in der grundlegenden Annahme einer Ressourcenabhängigkeit des sozialen Kapitals. Da dessen Genese eine gewisse Ausstattung mit ökonomischem und kulturellem Kapital voraussetzt, haben benachteiligte Bevölkerungsgruppen kaum Chancen, auf die soziale Ressource zuzugreifen, was ihre Möglichkeiten zusätzlich einschränkt (vgl. Westle/Gabriel 2008: 23). Dieser Grundgedanke ist in der Folge aufzugreifen und in das Forschungskonzept zu integrieren. Zuvor wird mit dem Ansatz von Coleman ein weiterer Klassiker der Sozialkapitalhistorie dargelegt.

2.4.1.2 Die Sozialkapitaltheorie Colemans

James S. Colemans Konzeption von Sozialkapital setzt bei theoretischen Defiziten soziologischer und ökonomischer Handlungstheorien an. So berücksichtigen soziologische Erklärungsstrategien ausschließlich den gesellschaftlichen Kontext und führen soziales Handeln auf internalisierte Werte und Normen zurück, wohingegen ökonomische Strategien die egoistische Nutzenmaximierung zur übergeordneten Handlungsmaxime erheben. Damit werden im ersten Ansatz individuelle Interessenlagen und im zweiten Ansatz die im sozialen Gefüge verinnerlichten Normen vernachlässigt. Unter Rückgriff auf das soziale Kapital integriert Coleman nun den sozialen Kontext in die Rational Choice-basierten Ansätze und versucht auf diese Weise eine Synthese zwischen Soziologie und Ökonomie zu schaffen (vgl. Coleman 1988: 97; Westle/ Gabriel 2008: 27 f.).

Gemäß rationaler Handlungstheorien besitzen die Agierenden Ressourcen, die sie im Idealfall vollständig kontrollieren können und an denen sie ein spezifisches Interesse haben. Coleman unterstellt nun, dass auch soziale Beziehungen eine Art Ressource für Individuen darstellen. Denn diese „handeln nicht unabhängig voneinander, Ziele werden nicht unabhängig erreicht und Interessen sind nicht vollständig eigennützig“ (Coleman 1991: 390). Mit diesen Ausführungen knüpft Coleman direkt an die Kritik Granovetters (1985) am neuen Institutionalismus an, der den Wert persönlicher Beziehungen für die Ausbildung von Normen und Vertrauen übersehe. Mit Blick auf soziale Beziehungsnetzwerke definiert Coleman Sozialkapital folgendermaßen:

„Social capital is defined by its function. It is not a single entity but a variety of different entities, with two elements in common: they all consist of some aspect of social structures, and they facilitate certain actions of actors – whether persons or corporate actors – within the structure. Like other forms of capital, social capital is productive, making possible the achievement of certain ends that in its absence would not be possible“ (Coleman 1988: 98).

An dieser Konzeption sind drei Aspekte hervorzuheben, die für Coleman von besonderer Relevanz sind. Erstens wird Sozialkapital nicht über seine Erscheinungsform definiert, sondern über seine Funktion. Damit wird Sozialkapital als spezifische Handlungsressource aufgefasst, die den beteiligten Personen zur Realisierung persönlicher Interessen dient (vgl. Coleman 1988: 101, 1991: 392, 394 f.). Zweitens verknüpft Coleman Sozialkapital, ähnlich wie Bourdieu, nicht mit einzelnen Personen, sondern mit deren Beziehungen. Sozialkapital hat demnach einen relationalen Wert, wird als immanenter Bestandteil von Beziehungsstrukturen verstanden und ist ein „Merkmal der Sozialstruktur (…), in die eine Person eingebettet ist“ (Coleman 1991: 409). Drittens ist soziales Kapital wie alle anderen Kapitalformen (z. B. Humankapital) produktiv, sodass mit dessen Hilfe Ziele erreicht werden können, die ohne dieses nicht möglich wären. Obwohl Sozialkapital im Gegensatz zu anderen Kapitalien kein Privateigentum darstellt und faktisch nicht veräußerlich ist, kann es auch auf individueller Ebene positive Effekte hervorbringen (vgl. ebd.: 409). Diese Wirkungen manifestieren sich in den verschiedenen Formen sozialen Kapitals, die Coleman als (1) Verpflichtungen und Erwartungen, (2) Informationen und (3) soziale Normen beschreibt (vgl. Coleman 1988:102–105, 1991: 395–407).

(1) Verpflichtungen und Erwartungen: Die erste Form sozialen Kapitals entsteht aus Interaktionen zwischen vertrauenswürdigen Personen. Dabei tritt eine Person materiell oder immateriell in Vorleistung und vertraut auf eine zukünftige Gegenleistung durch eine andere Person, sodass bei der ersten Person eine Erwartung und bei der zweiten Person eine Verpflichtung entsteht, die in Gestalt eines Schuldscheines greifbar wird. Die Summe aller Schuldscheine, die sich im Zeitverlauf in den verschiedenen Beziehungskonstellationen anhäufen, bildet schließlich eine Ressource im Sinne des Sozialkapitals. Diese Form sozialen Kapital besteht somit aus zwei Elementen, wobei erstens die Vertrauenswürdigkeit des sozialen Umfelds maßgeblich die Einlösung der Schuldscheine beeinflusst und zweitens die tatsächliche Menge an gegenseitigen Verpflichtungen die Höhe des Kapitals bestimmt.

(2) Informationen: Die zweite Form gründet auf dem Informationspotenzial sozialer Beziehungen. Grundlegend stellen Informationen eine zentrale Handlungsressource dar, deren Aneignung jedoch in der Regel mit Kosten und Aufwand verbunden ist. In sozialen Netzwerken werden Informationen nun oftmals unbeabsichtigt, gewissermaßen als Nebenfolge sozialer Interaktionen, gewonnen. Demnach liefern soziale Beziehungen beiläufig Informationen, die weitere Handlungen ermöglichen und so eine Ressource in Form des Sozialkapitals darstellen.

(3) Soziale Normen: Eine dritte Form sozialen Kapitals verkörpern soziale Normen, die sich in sozialen Strukturen konstituieren und Handlungen sowohl begünstigen als auch einschränken können. Soziale Normen werden entweder von den Gruppenmitgliedern internalisiert oder über externe Sanktionen garantiert und sind insbesondere im Zusammenhang mit Kollektivgutproblematiken relevant. So können gemeinsame Orientierungen und Reziprozitätsnormen einen individuellen Beitrag zur Produktion öffentlicher Güter erklären und Dilemmata kollektiven Handelns lösen (vgl. Abschnitt 2.2.2). Da soziale Normen Entscheidungs- und Handlungsspielräume in sozialen Situationen strukturieren, stellen sie gemäß Coleman eine sozialkapitalrelevante Ressource dar.

Grundsätzlich können zwar alle zwischenmenschlichen Beziehungen Sozialkapital generieren, wohl aber erweisen sich einige soziale Strukturen in diesem Zusammenhang als besonders vorteilhaft. So begünstigt insbesondere ein geschlossener sozialer Kontext, in dem alle Netzwerkmitglieder wechselseitig miteinander verbunden sind, die Ausbildung sozialer Normen und die Vertrauenswürdigkeit der Gruppenmitglieder untereinander (Closure-Argument). Des Weiteren ist Sozialkapital fundamental auf stabile Strukturen angewiesen, wohingegen unsichere und instabile Netzwerke nur wenig geeignet sind, um Vertrauen und Reziprozität dauerhaft zu erhalten. Eine Möglichkeit zur Schaffung stabilen Sozialkapitals besteht in dessen Institutionalisierung, demnach der Übersetzung der Strukturelemente von Personen in Positionen (vgl. Coleman 1988: 105–108, 1991: 415 f.).

Zuletzt stellt sich die Frage, wieso Menschen in den Aufbau sozialkapitalrelevanter Beziehungen investieren. Da soziales Kapital nicht an einzelne Personen gebunden und somit nicht veräußerlich ist, hält es keine direkten Gewinne für die Beteiligten bereit und die positiven Effekte nehmen zumeist die Form öffentlicher Güter an. Damit ist eine Investition in Sozialkapital entsprechend der Rational Choice-Logik nicht rational (vgl. Coleman 1991: 409 ff.). Coleman löst diesen Widerspruch, indem er expliziert, dass die Entstehung von Sozialkapital nicht mit Kosten verbunden ist, sondern als Nebenprodukt anderer Tätigkeiten erzeugt wird. Tatsächlich ist es so, dass „[e]in Großteil an sozialem Kapital entsteht oder vergeht, ohne daß [sic!] irgend jemand [sic!] bewußt [sic!] dazu beiträgt“ (ebd.: 412).

Insgesamt stellt Coleman im Vergleich zu Bourdieu ein differenzierteres Konzept sozialen Kapitals bereit. Allerdings beziehen sich diese Differenzierungen weniger auf den gesellschaftlichen oder gar politischen Nutzen von Sozialkapital als vielmehr auf dessen Entstehung und unterschiedliche Ausprägungen (vgl. Zmerli 2008: 41). Gleichwohl erscheinen für diese Arbeit vor allem die Ausarbeitung der sozialen Normen und des Informationspotenzials sozialer Beziehungen relevant. Indem diese Formen individuelle Handlungsmöglichkeiten gleichermaßen eröffnen wie beschneiden können, wirken sie auch im Feld der politischen Partizipation anschlussfähig. Darüber hinaus erscheint die Perspektive, dass bestimmte soziale Kontexte besonders günstige Strukturen zur Ausbildung von Sozialkapital bereitstellen, vielversprechend hinsichtlich der Übertragbarkeit auf politische Sozialisations- und Mobilisierungsprozesse. Zuletzt macht die basale Verknüpfung ökonomischer und soziologischer Ansätze kollektives Handeln erklärbar und reduziert zentrale Schwachstellen der klassischen Erklärungsansätze zur politischen Beteiligung (vgl. Abschnitt 2.2). Eben jene Punkte werden in weiten Zügen von Putnam aufgegriffen und in ein Sozialkapitalkonzept geflochten, welches erstmals explizite Bezüge zur Leistungsfähigkeit demokratischer Institutionen aufweist.

2.4.2 Grundlagen einer bürgerschaftlichen Perspektive

Robert D. Putnams Sozialkapitalkonzept weist einige Analogien zu den Ansätzen von Bourdieu und Coleman auf, die auf der strukturellen Homogenität von Gruppen und sozialen Normen aufbauen. Jedoch liegt sein Fokus zunächst nicht auf den individuellen Auswirkungen sozialen Kapitals, sondern auf dessen aggregierten Effekten. So nimmt er grundlegend an, dass alle Gesellschaften mit einem bestimmten Maß an sozialem Kapital ausgestattet sind, das wiederum verantwortlich für deren spezifische Strukturen im sozialen, politischen oder wirtschaftlichen Bereich ist. Diese Überlegungen arbeitet Putnam im Rahmen seiner Italienstudie Making Democracy Work (1993) zu einem theoretischen Konzept aus, welches er in einer großangelegten Untersuchung empirisch überprüft. Ausgangspunkt dieser Analysen bildet die Beobachtung einer divergierenden Performanz nord- und süditalienischer Verwaltungsinstitutionen – obwohl diese nominell identisch sind (vgl. Putnam 1995a: 65). Entsprechend seiner Grundprämisse führt Putnam die höhere Leistungsfähigkeit norditalienischer Regionalverwaltungen nun nicht etwa auf den höheren Wohlstand oder Modernisierungsgrad des Nordens zurück, sondern auf dessen nachweisbar höhere Ausstattung mit Sozialkapital. Dabei stellt die regionale Verfügbarkeit an sozialem Kapital keine Momentaufnahme dar, sondern ist das Ergebnis einer jahrhundertewährenden Entwicklung, die bis ins späte Mittelalter zurückreicht (vgl. Putnam 1993: 121–162, 1995a: 65).

Unter dem Begriff des sozialen Kapitals versteht Putnam ein Gefühl sozialer Verbundenheit und die gesellschaftliche Eingebundenheit der Bürgerinnen und Bürger mit weitreichenden und komplexen Konsequenzen. So führe ein hohes Maß an Sozialkapital unter anderem zu „better schools, faster economic development, lower crime, and more effective government“ (Putnam 1995a: 65 f.). In diesem Sinne definiert er soziales Kapital, analog zu anderen Kapitalformen wie Humankapital oder physischem Kapital, unter Bezugnahme auf dessen Produktivität als „features of social organization such as networks, norms, and social trust that facilitate coordination and cooperation for mutual benefit“ (ebd.: 67; vgl. Putnam 2002: 258). Sozialkapital besteht demnach aus dem Zusammenspiel mehrerer definitorischer Elemente, die gemeinschaftliches Handeln erleichtern und, angelehnt an Coleman, Kollektivgutprobleme lösen (vgl. Abschnitt 2.4.4). Zum einen fördert die Einbindung in soziale Netzwerke den Aufbau von Reziprozität und Prosozialität, sodass dort Kooperation zwischen Gesellschaftsmitgliedern entsteht, wo sie unter rationalen Aspekten nicht vorhanden sein sollte. Zum anderen werden durch persönliche Interaktion und Kommunikation Unsicherheiten, die typischerweise bei kollektiven Handlungen auftreten, minimiert und die Basis für freiwillige Zusammenarbeit geschaffen. So reduziert Sozialkapital individuelle Anreize für Opportunismus und Fehlverhalten und ermutigt die Menschen, sich vertrauensvoll zu verhalten (vgl. Putnam 1993: 163–176, 1995a: 66; Putnam/Goss 2001: 21; van Deth 2001b: 276). Der Schlüssel für die höhere Effektivität norditalienischer Verwaltungsinstitutionen ist demnach im zivilen Engagement und im Gemeinschaftssinn der Bürgerinnen und Bürger zu suchen, die das Erreichen kollektiver (politischer) Ziele ermöglichen (vgl. Westle/Gabriel 2008: 33).

Sozialkapital hat jedoch nicht nur auf gesellschaftlicher Ebene durchaus reale und messbare Konsequenzen, sondern ausdrücklich auch auf individueller. Putnam und Goss (2001: 20 f.) sprechen in diesem Zusammenhang von einem privaten oder internen Nutzen, der sich für die Angehörigen sozialer Netzwerke auf unterschiedliche Weisen manifestieren kann. Beispielsweise profitieren sie bei der Arbeitsplatzsuche oftmals mehr von ihren Kontakten als vom eigenen Fachwissen und im Zusammenhang mit physischen und psychischen Befindlichkeiten pointiert Putnam (2002: 269), dass „[s]oziale Isolation (…) ein ebenso großer Risikofaktor und eine ebenso tödliche Gefahr wie das Rauchen“ darstellt. Trotz all der positiven Effekte kann Sozialkapital unter bestimmten Umständen auch negative Wirkungen entfalten. Diese Möglichkeit integriert Putnam in seine späteren Arbeiten und reagiert damit auf die zum Teil deutliche Kritik an einer allzu positiven Sichtweise. Seinen konzeptuellen Anpassungen zufolge gestalten sich die Effekte sozialen Kapitals zwar für die Mitglieder einer sozialen Gruppe durchweg positiv. Jedoch muss dies nicht zwingend auch für alle Außenstehenden gelten. Beispiele wie Terrorismusvereinigungen belegen, dass auch diese mit Hilfe des Sozialkapitals effektiver zusammenarbeiten, für die Gemeinschaft jedoch keinerlei positive Externalitäten bereitstellen (vgl. Putnam 2000: 21 f.; Putnam/Goss 2001: 23; vgl. Abschnitt 2.4.5).

2.4.3 Die These vom Gemeinschaftsverlust

In einer weiteren Studie, plakativ mit Bowling Alone (2000) betitelt, wendet Putnam seine Theorien über das Sozialkapital auf die US-amerikanische Gesellschaft an. Gleich zu Beginn vermeldet er (2000:15) alarmierend „No one is left“; sämtliche Gemeinschaften scheinen sich aufzulösen und mit ihnen die Identität einer ganzen Nation. Der Rückgang sozialen Kapitals sei nunmehr seit Jahrzehnten in nahezu allen gesellschaftlichen Bereichen zu beobachten und als ernstzunehmende Gefahr für die Demokratie und die Funktionsfähigkeit demokratischer Institutionen zu werten (vgl. Sander/Putnam 2010: 9). Putnam dreht damit seine ursprüngliche Argumentation, demnach Sozialkapital die Effektivität demokratischer Prozesse fördert, um und betrachtet fortan dessen Auflösung als Ursache für den verbreiteten Unmut über die Demokratie und das Misstrauen gegenüber politischen Institutionen (vgl. van Deth 2001b: 276).

In diesem Zusammenhang fungiert der Bowling-Sport nicht nur als Titelgeber seines Werkes, sondern dient zugleich als Symbol für den Rückgang gemeinschaftlicher Tätigkeiten. So illustriert er exemplarisch, dass die Gesamtzahl an Spielerinnen und Spielern zwischen 1980 und 1993 zwar um 10 % gestiegen, die Zahl an Bowlingvereinen jedoch parallel um 40 % gesunken ist. Das Prekäre an dieser Situation besteht nun darin, dass in jenen Vereinen nicht nur gemeinsam Bowling gespielt wird, sondern auch ein regelmäßiger Austausch über private, lokale oder gesellschaftliche Angelegenheiten stattfindet. Auf dieser Basis entstehen Vertrauen und Solidarität unter den Teammitgliedern, sodass das Vereinsmitglied Teil einer Gemeinschaft wird, die über die formale Mitgliedschaft hinausgeht. Vereine stellen somit eine relevante soziale Ressource für ihre Mitglieder dar, die individuell Spielenden nicht zur Verfügung steht (vgl. Putnam 2000: 112 f.). Vergleichbare Entwicklungen lassen sich in sämtlichen Feldern gesellschaftlichen Engagements beobachten (vgl. ebd.: 31–92). Zum einen ist das Ausmaß individueller Partizipation im politischen wie auch bürgerschaftlichen, religiösen oder arbeitsmarktbezogenen Bereich mindestens stabil geblieben, wohingegen kooperative Formen der Beteiligung sichtbar abgenommen haben. Zum anderen steht dem verbleibenden Anteil formaler Mitgliedschaften eine Unterhöhlung der ehemals lebendigen Vereinskultur gegenüber, da das aktive, involvierte und engagierte Mitglied größtenteils der Vergangenheit angehört (card-carrying memberships; vgl. ebd. 58). Besondere Aufmerksamkeit widmet Putnam (2000: 93–115) überdies den freundschaftlichen, familiären und nachbarschaftlichen Kontakten, wobei er jene informellen Beziehungen als das zentrale Element zur Aufrechterhaltung sozialer Netzwerke betrachtet. Jedoch wird auch in diese Art der Vergemeinschaftung Ende der 1990er Jahre rund zwei Drittel weniger Zeit investiert als noch drei Dekaden zuvor, sodass er mit Blick auf die zunehmende Individualisierung treffend resümiert: „[T]hey increasingly watched Friends rather than had friends“ (Sander/Putnam 2010: 10; Herv. im Orig.).Footnote 8

Die Folgen dieser Entwicklungen manifestieren sich schließlich in einem Rückgang des Vertrauens und der Reziprozität in der Gesellschaft, wovon besonders deren generalisierte Ausprägungen – die Kernstücke des Sozialkapitalkonzeptes – betroffen sind (vgl. Putnam 2000: 134–147; Abschnitt 2.4.4). Beispielsweise ist der Großteil der US-amerikanischen Bevölkerung Ende des Jahrtausends überzeugt, in einer weniger vertrauenswürdigen, ehrlichen und moralischen Gesellschaft zu leben als ihre Elterngeneration. Wenngleich Putnam einräumt, dass solche Äußerungen zumindest teilweise auf nostalgischen Gefühlen basieren, sprechen die statistischen Daten dennoch für einen rückläufigen Trend. Pointiert wird der skizzierte Niedergang des sozialen Kapitals schließlich mit der These vom Verlust des Gemeinsinns. Diese Entwicklung ist nicht zuletzt deshalb bemerkenswert, weil sich die Vereinigten Staaten traditionell über ihren Gemeinschaftssinn identifiziert haben. So notierte Tocqueville bereits 1835 die Beobachtung, dass sich „Amerikaner jeden Alters, jeden Ranges, jeder Geistesrichtung (…) fortwährend zusammen[schließen]“ (de Tocqueville 2004 [1835]: 248). Diese Vereinigungsfreude scheint nun aber jäh gebremst, sodass Putnam (2000: 341) anknüpfend die Frage aufwirft, wie funktionsfähig demokratische Institutionen in der Zukunft noch sein werden. Unter der Annahme, dass die „Merkmale der Bürgergesellschaft den Gesundheitszustand unserer Demokratien“ beeinflussen (Putnam/Goss 2001: 20), steuert die US-amerikanische Gesellschaft auf eine schwere Krise zu, da kollektives Handeln unter den gegebenen Umständen kaum möglich erscheint. Die zentralen Bestandteile sozialen Kapitals und deren Zusammenspiel werden im folgenden Abschnitt einer genaueren Betrachtung unterzogen.

2.4.4 Dimensionen sozialen Kapitals

Putnam verweist im Zuge seines Sozialkapitalkonzeptes auf drei definitorische Elemente, wobei (1) soziale Netzwerke eine strukturelle Dimension und (2) Reziprozität sowie (3) Vertrauen kulturelle Dimensionen repräsentieren. Aufgrund des zentralen Stellenwertes, die diese Merkmale auch in der vorliegenden Arbeit einnehmen, werden sie im Folgenden ausführlich erörtert. Dabei ist unter anderem zu demonstrieren, dass sie nicht als alleinstehend, sondern als wechselseitig miteinander verbunden zu betrachten sind.

(1) Soziale Netzwerke: Bewertet Putnam die sozialen Netzwerke in frühen Untersuchungen noch als gleichrangig zu den übrigen Dimensionen, so hebt er in späteren Arbeiten deren herausragende Stellung als Fundament sozialen Kapitals hervor (vgl. Putnam 1993: 167, 2000: 19). Um deren besondere Bedeutung herauszustreichen, nimmt er (2002: 260) gar die Gleichsetzung „soziale Netzwerke – soziales Kapital also“ vor. Dessen ungeachtet liefert er keine eindeutige Definition sozialer Netzwerke, sodass der Begriff überwiegend auf einer metaphorischen Ebene Verwendung findet (vgl. Höfer et al. 2006: 370 f.). Im Allgemeinen werden unter den Begriff horizontale Interaktionsbeziehungen gefasst, die als spezifische Webmuster alltäglicher Beziehungen zu bezeichnen sind (vgl. Haug 1997: 6; Keupp/Röhrle 1987: 7; Putnam 1993: 173).Footnote 9 Diese sind im Gegensatz zu vertikalen Beziehungen durch eine Machtsymmetrie gekennzeichnet, wobei eine solch strikte theoretische Trennung in der Praxis allerdings nur wenig Bestand hat (vgl. Putnam 1993: 173). Unter Bezugnahme auf den Terminus networks of civic engagement fokussiert Putnam im Weiteren explizit eine soziale und nicht-politische Komponente der Vergemeinschaftung. Jene freizeitbezogenen, freiwilligen und häufig lokalen Vergemeinschaftungen bilden den Nährboden für vielfältige identifikatorische und solidargemeinschaftliche Beziehungen, die insbesondere bei einer aktiven Beteiligung zivile Tugenden und Verhaltensdispositionen sozialisieren. Mit dieser Auffassung stützt er sich erkennbar auf Tocqueville, der freiwillige Vereinigungen als Schulen der Demokratie und somit als Schlüsselelement zur Verinnerlichung demokratischer Verhaltensweisen interpretiert (vgl. Kern 2004: 113; Putnam 1993: 90, 1995b: 665, 2000: 58, 338 f.). Über den enormen Wert nicht-politischer Assoziationen für die Leistungsfähigkeit demokratischer Institutionen scheint Putnam (1996: 3) jedoch selbst ein wenig überrascht: „We did not, however, guess what turned out to be the best predictors of government performance – choral societies and football clubs! And rotary clubs, and reading groups, and hiking clubs, and so on!“

Argumentativ schafft die Mitgliedschaft in freiwilligen Organisationen damit eine strukturelle Grundlage zur Ausbildung kultureller Sozialkapitaldimensionen. Der direkte und regelmäßige Kontakt zu anderen Netzwerkmitgliedern erhöht die individuellen Kosten opportunistischen und den Nutzen kooperativen Handelns und sichert mit Blick auf die eigene Reputation vertrauenswürdiges Verhalten. Engagement wird in einem solchen Fall nicht missbraucht, sondern effizient genutzt. An dieser Stelle manifestiert sich somit eine Verknüpfung kultursoziologischer und rationaler Handlungstheorien in Coleman’scher Tradition (vgl. Putnam 1993: 173 f., 1995a: 67, 2000: 21 f., 134 f.; Putnam/Goss 2001: 22; vgl. auch Franzen/Pointer 2007; Kern 2004; Kriesi 2007; Zmerli 2008). Resümierend steht „[i]m Mittelpunkt der Theorie des Sozialkapitals (…) ein außerordentlich schlichter Gedanke: Soziale Netzwerke rufen Wirkungen hervor“ (Putnam/Goss 2001: 20). Diese Wirkungen beziehen sich zunächst auf die Mitglieder eines Netzwerkes, können durch die Generalisierung von Reziprozität und Vertrauen jedoch auf größere Gemeinschaften ausgedehnt werden.

(2) Normen der Reziprozität: Reziprozitätsnormen rekurrieren auf Gegenseitigkeitsprinzipien und stellen eine basale Maxime sozialen Handelns dar. Angesicht ihrer Reichweite sind zunächst zwei Arten zu differenzieren. Die spezifische Reziprozität beschreibt eine ausgeglichene, direkte und unmittelbare Tauschhandlung materieller Güter oder immaterieller Leistungen zwischen identifizierbaren Personen. Im Gegenzug ist ein Austausch, der auf generalisierter Reziprozität basiert wesentlich abstrakter, da die Gegenleistung weder einen äquivalenten Wert aufweisen noch unmittelbar oder von derselben Person erfolgen muss. Vielmehr wird erwartet, von irgendeiner Person in unbestimmter Zukunft irgendeine Gegenleistung zu erhalten (vgl. Putnam 1993: 171 f., 2000: 134 f.). Jene Handlungen sind damit insbesondere durch das Vertrauen, dass das eigene Handeln in der Zukunft angemessen belohnt wird, gekennzeichnet. „Und wegen dieser Norm der Reziprozität, mithin dieser Zuversicht, ist soziales Kapital so wertvoll“ (Putnam 2002: 259).

Mit Blick auf gemeinschaftliches Handeln bilden Normen generalisierter Reziprozität einen zentralen Baustein zur Lösung von Kollektivgutproblematiken. Sie verbinden Eigeninteresse und gemeinschaftliche Solidarität, tragen zur Eindämmung opportunistischen Verhaltens bei und ermöglichen erfolgreiche und effiziente Kooperation. Durch den Glauben an eine unbestimmte Form der Wiedergutmachung beziehungsweise des Ausgleichs der eigenen Aufwendungen wird ein individueller Beitrag zur Produktion kollektiver Güter erklärbar. Demgemäß stellen Reziprozitätsnormen eine äußerst produktive Komponente sozialen Kapitals dar, da sie sowohl den privaten als auch den öffentlichen Nutzen erhöhen. In der Folge agieren Gesellschaften mit einer hohen Ausstattung reziproker Normen weitaus leistungsfähiger als andere Gesellschaften (vgl. Putnam 1993: 172, 2000: 134 f.). Als Grundlage für die Bildung und Aufrechterhaltung dieser Normen benennt Putnam in Anlehnung an Coleman (1988: 104 f.) neben den sozialen Netzwerken, denen insbesondere eine Sozialisations- und Erziehungsfunktion zukommt, positive Vorbilder und externe Sanktionen (vgl. Putnam 1993: 171). Im engen Zusammenhang zu diesen Normen steht das Vertrauen als weitere kulturelle Dimension des sozialen Kapitals.

(3) Soziales Vertrauen: Definitorisch bezieht sich Putnam mit dem sozialen Vertrauen explizit auf das zwischenmenschliche Vertrauen und schließt somit das Vertrauen in politische oder gesellschaftliche Institutionen aus der Begriffsbestimmung aus. Zwar können sich diese Formen empirisch überlagern, bilden in der Theorie jedoch unterschiedliche Konstrukte ab (vgl. Putnam 1995b: 665, 2000: 137). Des Weiteren sind analog zur Reziprozität zwei Vertrauensarten voneinander abzugrenzen. Das spezifische Vertrauen (thick trust) konstituiert sich in dichten sozialen Netzwerken persönlicher Beziehungen, zu denen ein intensiver und regelmäßiger Kontakt gepflegt wird. Hingegen beschreibt das generalisierte Vertrauen (thin trust) ein allgemeineres Vertrauen zu nicht näher bekannten oder sogar gänzlich unbekannten Personen. Diese Form des persönlichen Vertrauens beruht demnach auf verallgemeinerten Erwartungen über die Vertrauenswürdigkeit von Personen innerhalb einer sozialen Gemeinschaft (vgl. Putnam 2000: 136). Die Entstehung sozialen Vertrauens verortet Putnam primär in die sozialen Netzwerke, wobei der Vorgang einer transitiven Logik folgt: „I trust you, because I trust her and she assures me that she trusts you“ (Putnam 1993: 169). Auf diese Weise kann sich Vertrauen über soziale Beziehungen verbreiten und schließlich auch auf unbekannte Personen übergehen.

Da die generalisierte Form den Vertrauensradius in einer Gesellschaft grundlegend erweitert, bildet sie eine zentrale Instanz zur Förderung interindividueller Kooperation und Koordination. Dieses Argument verweist wiederholt auf das Dilemma kollektiven Handelns und erklärt, wie gemeinschaftliches Handeln durch das Vertrauen auf die Mitwirkung anderer möglich wird. Notwendige Voraussetzung ist jedoch nicht nur das Vertrauen in die generalisierten Anderen, sondern auch, sich selbst vertrauenswürdig zu verhalten und von anderen Personen als vertrauenswürdig wahrgenommen zu werden (vgl. Kern 2004: 113; Putnam 1993: 163–174). Die individuelle Vertrauenswürdigkeit wird dabei insbesondere über den Informationsaustausch, der sich in sozialen Kontexten in Form von Klatsch und Tratsch vollzieht, sichergestellt. So erhöhen die Bedrohung der eigenen Reputation sowie zusätzliche Sanktionsmöglichkeiten seitens der Gruppenmitglieder, wie zum Beispiel der Ausschluss von zukünftigen Aktivitäten, die Bereitschaft, sich vertrauensvoll zu verhalten (vgl. Putnam 1993: 174, 2000: 21, 136). Sinnbildlich vergleicht Putnam die Vertrauenswürdigkeit mit dem Schmierstoff sozialen Lebens und betont, dass „[t]rustworthiness, not simply trust, is the key ingredient“ (Putnam 2000: 136; vgl. Putnam 2000: 21).

Zusammenfassend besteht soziales Kapital aus sozialen Netzwerken, Reziprozität und Vertrauen, wobei die Netzwerke den übrigen Dimensionen strukturell vorgelagert sind. Sie bilden gewissermaßen den sozialen Rahmen, in dem die kulturellen Aspekte aufgebaut, gestärkt und von den Gruppenmitgliedern internalisiert werden. Diese Elemente sind letztlich als soziale Ressourcen zu begreifen, die durch ihren Einsatz in sozialen Kontexten stetig erweitert werden. Da Normen der Gegenseitigkeit, soziales Vertrauen und die Vertrauenswürdigkeit intersubjektive Kooperation garantieren, generieren sie gesamtgesellschaftlichen Nutzen, wobei an dieser Stelle unterstellt wird, dass die beschriebenen Einstellungen in tatsächliches Handeln umgesetzt werden (vgl. Putnam 1993: 171).

2.4.5 Formen sozialen Kapitals

Zu Beginn seiner Sozialkapitalforschung analysiert Putnam das Konzept noch vergleichsweise undifferenziert und spricht von einem mehr an Sozialkapital der norditalienischen im Vergleich zu den süditalienischen Regionen. Mit der Zeit nimmt er jedoch einige Erweiterungen vor und betrachtet Sozialkapital fortan als multidimensionales Konzept, das nicht auf lineare Weise interpretierbar ist (vgl. Putnam/Goss 2001: 29). So differenziert er entlang der Stichworte (1) Institutionalisierung, (2) Dichte, (3) Orientierung und (4) Exklusivität vier Formen sozialen Kapitals, die qualitativ unterschiedliche, jedoch „komplementäre Prismen dar[stellen], durch die das Sozialkapital betrachtet und bewertet werden kann“ (ebd.: 25).

(1) Formelles versus informelles Sozialkapital: Im Hinblick auf den Grad der Organisiertheit sozialer Netzwerke ist zwischen formellem (institutionalisiert) und informellem (nicht-institutionalisiert) Sozialkapital zu unterscheiden. Ersteres entsteht in formal organisierten Netzwerken, zu denen vorwiegend Freiwilligenorganisationen, wie Elternvereinigungen oder Gewerkschaften, „mit offiziellen Funktionären, Mitgliedschaftsbedingungen, Beiträgen, regelmäßigen Versammlungen usw.“ (ebd.: 25) gezählt werden. Hingegen sind Treffen in informellen Netzwerken eher spontan und dem Zweck nach sehr unterschiedlich, wie zum Beispiel die Verabredung zu einem Fußballspiel oder einem Kneipenabend (vgl. Newton 1999: 6). Da formelle Vereinigungen methodisch besser erfass- und analysierbar sind, stehen diese meist im Zentrum wissenschaftlicher Aufmerksamkeit. In Bezug auf das Sozialkapital sind die Formen jedoch als gleichwertig anzusehen, da aus beiden Netzwerkarten nutzbringende Beziehungen erwachsen können. Tatsächlich können informelle Zusammentreffen für bestimmte Ziele sogar hilfreicher sein als formelle Vereinigungen (vgl. Putnam/Goss 2001: 25; Zmerli 2008: 48 f.).

(2) Dichtes versus loses Sozialkapital: Dichte Formen sozialen Kapitals finden sich in Gruppen von Menschen, die regelmäßige und enge Beziehungen pflegen, wohingegen flüchti ge Grußbekanntschaften oder zufällige Begegnungen „sehr dünn geflochtene, fast unsichtbare Gewebe von Sozialkapital“ (Putnam/Goss 2001: 26) darstellen. Doch bergen auch diese beiläufigen Begegnungen grundlegend das Potenzial, Mechanismen der Gegenseitigkeit anzustoßen. Die Differenzierung in dichte und lose soziale Netzwerke ist analytisch eng verknüpft mit Granovetters (1973) Theorie der starken und schwachen Bindungen. Auch er definiert starke Bindungen über einen häufigen Kontakt, eine hohe soziale Nähe und eine gewisse Ausschließbarkeit der Netzwerkbeziehungen, womit vergleichbar zu Colemans Argument der sozialen Geschlossenheit eine wechselseitige Bekanntheit aller Netzwerkmitglieder impliziert ist. Granovetter verweist nun aber auf die besondere Stärke und Nützlichkeit der schwachen Bindungen, welche den Zugang zu neuen Informationen, Kontakten wie auch Möglichkeiten eröffnen und die Etablierung generalisierter Reziprozität fördern (vgl. Granovetter 1973; Putnam/Goss 2001: 27).

(3) Innen- versus außenorientiertes Sozialkapital: Die Unterscheidung zwischen innen- und außenorientiertem Sozialkapital richtet sich primär auf die angestrebten Ziele eines Netzwerkes. So wird innenorientiertes Sozialkapital in Gruppierungen erzeugt, die sich entlang charakteristischer Merkmale wie Geschlecht, Klassenzugehörigkeit oder Ethnie, konstituieren und vorwiegend gruppeninterne beziehungsweise mitgliederspezifische Interessen verfolgen. Als klassisches Beispiel für diese Form fungiert der Herrenclub, wohingegen Wohltätigkeitsorganisationen die zweite Kategorie exemplifizieren. Dort ist die Netzwerkzugehörigkeit grundsätzlich nicht an bestimmte Eigenschaften gebunden und die Gruppenziele liegen in der Regel außerhalb der jeweiligen Gruppe, die neben privaten ausdrücklich auch öffentliche Interessen verfolgt. Obwohl diese Kategorie der ersten intuitiv moralisch überlegen scheint, existiert in Bezug auf das Sozialkapital wiederholt kein Unterschied zwischen den Varianten (Putnam/Goss 2001: 27 f.).

(4) Bindendes versus brückenbildendes Sozialkapital: Die Gegenüberstellung von bindendem (exklusiv) und brückenbildendem (inklusiv) Sozialkapital ist eng mit der innen- und außenorientierten Dichotomie verwandt, beinhaltet aber einige konzeptionelle Unterschiede (vgl. ebd.: 28). Bindendes Sozialkapital verweist zunächst auf Gruppierungen von Menschen mit sehr ähnlichen Eigenschaften und entsteht sonach in homogenen Netzwerken mit exklusiven Identitäten (z. B.: ethnische Bruderschaften, Heimatvereine). Demgegenüber bezieht sich brückenbildendes Sozialkapital auf soziale Netzwerke, die (sozialstrukturell) unterschiedliche Menschen zusammenbringen und infolgedessen umfassende Identitäten und heterogene Gruppen erzeugen (z. B. ökumenische religiöse Organisationen). Ausgehend von der spezifischen sozialen Zusammensetzung produzieren diese Formen im Weiteren unterschiedliche Ergebnisse für die Gruppenmitglieder wie auch die Gesamtgesellschaft. So führt bindendes Sozialkapital zu einer starken internen Verbundenheit und ist infolgedessen ideal zur Ausbildung spezifischer Reziprozität und gegenseitiger Solidarität geeignet. Jedoch bewirkt die starke Fokussierung auf die eigene Gruppenidentität die Exklusion von Nichtmitgliedern und kann vergleichsweise leicht negative externe Effekte hervorrufen (vgl. Putnam 2000: 22 f., 358; Putnam/Goss 2001: 28 f.). „Bridging networks, by contrast, are better for linkage to external assets and for information diffusion“ (Putnam 2000: 22) und sind demnach bedeutsam zur Lösung von Kollektivgutproblemen. Treffenderweise bezeichnet Putnam (2000: 23) bindendes Sozialkapital in diesem Sinne als sociological superglue und brückenbildendes als sociological WD-40. Auch bei dieser Unterscheidung zeigen sich schließlich Analogien zu Granovetters Differenzierung starker und schwacher Bindungen, wobei erste tendenziell in bindenden und zweite eher in brückenbildenden Gruppierungen zu finden sind. Abschließend ist eine solch restriktive Trennung in der Praxis allerdings kaum haltbar, da die meisten Netzwerke zugleich bindende und brückenbildende Elemente aufweisen (vgl. ebd.: 22 f.).

2.4.6 Relevanz und Kritik

Putnams Arbeiten über den Zusammenhang zwischen Sozialkapital und der Performanz italienischer beziehungsweise US-amerikanischer Demokratien haben dem Sozialkapitalansatz zu seiner gegenwärtigen Popularität verholfen. Nichtsdestotrotz ist sein Konzept keineswegs unumstritten geblieben. Im Folgenden werden zunächst die führenden Kritiklinien dargelegt und daran anschließend auf die für diese Arbeit relevanten Anknüpfungspunkte verwiesen.

Die Kritik an Putnams Italienstudie (Making Democracy Work) fußt primär auf seiner These der Pfadabhängigkeit (vgl. Goldberg 1996; Sabetti 1996; Tarrow 1996). So werden die modernen Strukturen beziehungsweise die regional differierende Sozialkapitalausstattung mit historischen Gegebenheiten begründet, die bis ins Mittelalter zurückreichen. Putnam geht dabei von einer geradlinigen Entwicklung des Sozialkapitals aus, untersucht de facto aber nur die Strukturen des Start- und Endpunktes – und unterschlägt damit mehrere Jahrhunderte an Geschichte. Auch missachtet er wesentliche Punkte der jüngeren Vergangenheit, wie das Aufkeimen des Faschismus oder den Korruptionsskandal der 1980/90er Jahre, die ihre Anfänge in norditalienischen Regionen genommen haben. Diese Tatsachen zeichnen ein völlig anderes Bild des zivilen Nordens (vgl. Tarrow 1996: 393). Hingegen findet die historische Entwicklung im Fall der USA (Bowling Alone) keine Berücksichtigung mehr. Hier scheint Putnam die Idee der Pfadabhängigkeit zugunsten der neueren Entwicklungen aufgegeben zu haben. Bezogen auf dieses Forschungsprojekt wird ferner der proklamierte Niedergang des Sozialkapitals gänzlich infrage gestellt, wobei der Hauptkritikpunkt auf einer selektiven Auswahl der betrachteten Assoziationen beruht (vgl. Ladd 1996; Skocpol 1996). Tatsächlich berücksichtigt der General Social Survey, den Putnam zur Analyse sozialer Netzwerke heranzieht, lediglich Organisationstypen und keine konkreten Gruppenmitgliedschaften. Auch werden neuere und informelle Formen sozialer Einbindung, wie zum Beispiel das gemeinsame Bowlen mehrerer Familien, nicht erhoben. Dies hat nun aber eine deutliche Unterschätzung der sozialen Integration eines Individuums zur Folge und verweist auf die Möglichkeit einer Fehleinschätzung Putnams in Bezug auf das erodierende Sozialkapital (vgl. Skocpol 1996: 2).

Darüber hinaus wird vielfach die mangelnde definitorische Präzision des Sozialkapitalkonzeptes kritisiert. Allgemein fehlt es dem Sozialkapital seit jeher an einer einheitlichen Begriffsbestimmung, da es immer wieder mit unterschiedlichen Phänomenen, Bestandteilen und Analyseebenen in Verbindung gebracht wird. Ohne eine klare Definition ist das Konzept jedoch überwiegend von heuristischem Nutzen (vgl. Diekmann 2007: 48; Kern 2004: 125; Levi 1996: 51; van Deth 2001b: 280).Footnote 10 Nun liefert aber auch Putnam keine präzise Begriffsbestimmung – weder für das Gesamtkonzept noch die einzelnen Elemente. So stellt er beispielsweise das Vertrauen mit ins Zentrum seiner Ausführungen, aber „never offers a precise definition of trust“ (Levi 1996: 46). In späteren Arbeiten konkretisiert Putnam die Vertrauenskomponente, indem er sich nun explizit auf das soziale Vertrauen bezieht und diese Form vom politischen Vertrauen abgrenzt (vgl. Putnam 1995b: 665, 2000: 137). Dies ist für Levi (1996: 46) jedoch „only a partial clarification, serving to restrict the domain but not elucidate the concept“. Nicht eindeutig ist weiter, wie die Einzelelemente sozialen Kapitals miteinander verknüpft sind. Bewertete Putnam sie zunächst als gleichrangige Dimensionen („Social capital here refers to features of social organization, such as trust, norms, and networks“; Putnam 1993: 167), stellt er die sozialen Netzwerke in nachfolgenden Ausführungen ins Zentrum und definiert sie als Ausgangspunkt für die Entstehung von Normen und Vertrauen („[S]ocial capital refers to connections among individuals – social networks and the norms of reciprocity and trustworthiness that arise from them“; Putnam 2000: 19). Van Deth (2001b: 280) stellt diese Interpretation der kausalen Zusammenhänge infrage und überlegt, ob nicht umgekehrt auch ein gewisses Maß an Vertrauen eine notwendige Bedingung für den Aufbau sozialer Beziehungen darstellt (vgl. auch Levi 1996: 47; Marx 2010: 99). Newton (1999: 6) interpretiert diese Problematik als „an obvious chicken-and-egg problem in deciding which comes first: norms of trust and reciprocity without which networks cannot be created; or networks which help to create norms of trust and reciprocity“. Weitestgehend unklar bleibe zudem, wie sich aus Vertrauen in Mitglieder des persönlichen Netzwerkes generalisiertes Vertrauen entwickeln kann und wieso sich Reziprozitätsnormen auf unbekannte Gesellschaftsmitglieder ausweiten sollten. Putnam ziehe diesbezüglich intuitive Schlüsse, die den Lesenden jedoch häufig verborgen bleiben (vgl. Levi 1996: 47).

Ein methodischer Kritikpunkt bezieht sich ferner auf die verwendeten Analyseebenen. Je nach Untersuchungsziel interpretiert Putnam Sozialkapital als individuelles oder kollektives Gut und betont, dass es sowohl privaten als auch öffentlichen Nutzen stiften kann. Wenngleich „most scholars agree that is both“ (Lin 1999: 33), werden durch die Vermengung der Ebenen wesentliche Erkenntnisse unterschlagen, miteinander vermischt oder in ihren Ergebnissen widersprüchlich. In diesem Zusammenhang stellt sich beispielsweise die Frage, ob es sich bei Sozialkapital auf der Makroebene um eine aggregierte Individualressource oder ein kollektives Gut handelt. Unter analytischen und konzeptuellen Gesichtspunkten ist eine Trennung des Sozialkapitals in individuelle Ressource (Mikroebene) und öffentliches Gut (Makroebene) von großem Nutzen (vgl. van Deth 2001b: 280). Darüber hinaus wird Putnams vermeintliche Romantisierung des Sozialkapitals beziehungsweise dessen allzu romantische Vorstellung von Gemeinschaft kritisiert, wodurch er übersehe, dass Sozialkapital nicht nur positive Externalitäten hervorbringt. Während De Souza Briggs (1997: 114) Sozialkapital allgemein als wertneutral betrachtet, identifiziert Levi (1996: 52) nicht nur soziales, sondern auch unsoziales Kapital. Denn auch die Mafia oder Terrorismusvereinigungen arbeiten mit Hilfe des Sozialkapitals effektiver zusammen, generieren allerdings kaum gesamtgesellschaftlich wünschenswerte Ergebnisse. Diesen Einwänden ist Putnam mit einem leisen Augenzwinkern in seinen neueren Arbeiten begegnet:

„Sometimes ‚social capital‘, like its conceptual cousin ‚community‘ sounds warm and cuddly. Urban sociologist Xavier de Souza Briggs, however, properly warns us to beware of a treacly sweet, ‚kumbaya‘ interpretation of social capital“ (Putnam 2000: 21; Herv. im Orig.).

Infolgedessen gesteht er schließlich ein, dass Sozialkapital „can be directed toward malevolent, antisocial purposes, just like any other form of capital“ (ebd.: 22).

Insgesamt beweist Putnam eine zum Teil beachtliche Offenheit für die kritischen Stimmen, die er nutzt, um sein Konzept anzupassen und weiterzuentwickeln. Zum einen lässt er die vielfach kritisierte Pfadabhängigkeit nahezu vollständig fallen und zeigt am Beispiel der US-amerikanischen Bevölkerung, dass sich die Ausstattung einer Gesellschaft mit Sozialkapital durchaus über die Zeit verändern kann. Zum zweiten passt er seine Definition von Sozialkapital mit Blick auf die kausalen Zusammenhänge zwischen den einzelnen Dimensionen an. Wenngleich an dieser Stelle immer noch einige theoretische wie empirische Uneindeutigkeiten existieren, vollzieht er hier eine deutliche konzeptionelle Präzisierung. Zum dritten akzeptiert er die Möglichkeit einer dunklen Seite sozialen Kapitals und integriert diese in sein Konzept, indem er zwischen verschiedenen Formen sozialen Kapitals differenziert. In diesem Zusammenhang ist insbesondere die Unterscheidung zwischen bindendem und brückenbildendem Sozialkapital relevant, die auf unterschiedliche gesamtgesellschaftliche Effekte verweist (vgl. ebd.: 22, 350–363).

Im Vergleich zu den Ansätzen von Bourdieu und Coleman, die nur partiell und implizit Anknüpfungsmöglichkeiten zur politischen Partizipation bereithalten, bringt Putnam das Sozialkapital systematisch in Verbindung zu den zentralen Untersuchungsaspekten dieser Arbeit. Zunächst beschreibt er, wie Gesellschaftsmitglieder mit Hilfe des Sozialkapitals effektiver zusammenarbeiten und somit die Funktionsfähigkeit demokratischer Institutionen beeinflussen. So reduziert Sozialkapital Transaktionskosten, minimiert Opportunismus und ermöglicht dadurch die Produktion öffentlicher Güter. „Wissenschaftlich leistet dieser Ansatz die dringend erforderliche Integration von Rational Choice Theorien einerseits und kulturorientierten Theorien andererseits“ (van Deth 2001b: 276). Zudem differenziert Putnam zwischen internen und externen Effekten von Sozialkapital und stellt damit eine ganze Bandbreite an Anschlusspunkten bereit, die teilweise die Ausführungen von Verba et al. (1995) aufgreifen und ergänzen. Denn Sozialkapital sorgt nicht nur dafür, dass Gesellschaftsmitglieder miteinander kooperieren und ihnen dadurch eine Stimme in der politischen Arena gegeben wird, sondern soziale Netzwerke forcieren zusätzlich den (politischen) Informationsfluss und die Ausbildung ziviler Fähigkeiten (vgl. Abschnitt 2.3). Darüber hinaus entwickeln die Mitglieder vermittels ihrer Integration in soziale Assoziationen democratic habits, die sie zu einer politischen Teilhabe befähigen (vgl. Putnam 2000: 338 ff.). Auf dieser Basis ist anzunehmen, dass Personen, die über ein breites Netz an sozialen Beziehungen, Reziprozitätsnormen und generalisiertes Vertrauen verfügen, eine höhere politische Teilhabewahrscheinlichkeit aufweisen als Personen mit einer geringen Sozialkapitalausstattung. Offen bleibt jedoch auch an dieser Stelle, inwieweit das individuelle Sozialkapitalvermögen mit statusrelevanten Merkmalen assoziiert ist und in der Folge als Erklärung einer sozial verzerrten Teilhabe fungieren kann. Diese Überlegungen und die dargelegten Wirkungen sozialen Kapitals werden im weiteren Verlauf dieser Arbeit aufgegriffen und mit den vorherigen theoretischen Überlegungen zu einem Forschungskonzept ausgearbeitet.

2.5 Resümee zur politischen Teilhabe

Demokratie ist ohne die politische Beteiligung der Bürgerinnen und Bürger nicht vorstellbar, da sie gleichermaßen Legitimationsgrundlage wie formatives Element demokratischer Regierungsausübung darstellt (vgl. Abschnitt 2.1). Empirisch ist nun seit einigen Jahrzehnten ein teils gravierender Rückgang tradierter politischer Partizipation feststellbar, der auch durch neuere Formate politischer Willensäußerung nicht kompensiert werden kann. Während ein allgemein geringes Teilhabeniveau vornehmlich Legitimationsproblematiken auf der Makroebene tangiert, gestaltet sich mit Blick auf die repräsentative Durchsetzung politischer Interessen insbesondere das soziale Profil der Partizipierenden problematisch. So sind es überproportional häufig ressourcenschwache Bevölkerungsgruppen, die ihre politischen Teilhaberechte nicht oder nur selten in Anspruch nehmen. Da die soziale Ungleichverteilung politischer Partizipation langfristig partikulare Interessen begünstigt und somit das demokratische Ideal politischer Gleichheit herausfordert, ist eine Ergründung der Bestimmungsfaktoren individuellen politischen Handelns von besonderem Interesse.

Die theoretische Erörterung dieser Themenstellung erfolgte anhand zentraler Erklärungsansätze aus der politischen Partizipationsforschung, wobei die klassischen Konzepte zunächst jeweils keine gesamtheitliche Erklärung offerieren konnten (vgl. Abschnitt 2.2). Während sozialstrukturelle Modelle empirisch eindrucksvoll eine positive Assoziation zwischen sozioökonomischen Ressourcen und politischer Beteiligung belegen, dabei jedoch einer überzeugenden theoretischen Verknüpfung entbehren, legen rationale Theorien im Gegenzug theoretisch konsistent dar, unter welchen Umständen sich Menschen politisch engagieren, scheitern ihrerseits jedoch an der empirischen Erklärungsleistung. Als vielversprechend kristallisierte sich schließlich das Civic Voluntarism Model heraus, das die Vorzüge genannter Ansätze in ein einheitliches Konzept integriert (vgl. Abschnitt 2.3). Gemäß dem CVM ist eine politische Beteiligung dann am wahrscheinlichsten, wenn eine Person über ausreichend Ressourcen (Zeit, Geld, civic skills) verfügt, aus einem inneren Antrieb heraus motiviert ist und vom sozialen Umfeld hinreichend häufig zu einer Teilnahme aufgefordert wird. Innerhalb der sozialen Netzwerke werden überdies wesentliche partizipationsrelevante Kompetenzen sozialisiert. Persönliche Netzwerke stehen ebenfalls in Putnams Sozialkapitalansatz im Fokus und werden als zentrale Instanzen sozialen und politischen Engagements identifiziert (vgl. Abschnitt 2.4). In dem Maße, wie die soziale Einbindung die Entstehung von Vertrauen und Reziprozitätsnormen fördert, befördert sie auch eine gemeinschaftliche Beteiligung. So bewirkt eine hohe Ausstattung mit sozialem Kapital, dass Menschen einer Gemeinschaft kooperativ, kommunikativ und effektiv zusammenarbeiten. Die Verfügbarkeit von Sozialkapital steht weiter in direktem Zusammenhang zum Civic Voluntarism Model, da es die drei Antriebskräfte politischer Partizipation positiv beeinflusst. In diesem Sinne führt Sozialkapital zu politischer Aktivität, weil es zum einen den Erwerb partizipationsrelevanter Ressourcen sowie zur Beteiligung motivierender Werte und Normen fördert und zum anderen einen gesellschaftlichen Kontext schafft, in dem sich Personen wechselseitig zur politischen Teilhabe animieren (vgl. Gabriel et al. 2002: 231; Kunz/Gabriel 2000:47).

Damit stellen sowohl das CVM als auch der Sozialkapitalansatz wichtige theoretische Argumente und empirische Hinweise zur Erklärung politischer Partizipation bereit. Einschränkend ist aber die Frage, warum sich insbesondere ressourcenschwache Personengruppen eher selten politisch engagieren, auf dieser Grundlage nicht abschließend zu beantworten. Im CVM bildet das Einkommen zwar einen Bestandteil der ersten Erklärungsdimension ab, wird jedoch vornehmlich im Rahmen spendenbezogener Aktivitäten diskutiert. Verweise auf nicht-monetäre Partizipationsmöglichkeiten erfolgen ebenso rudimentär wie der Einbezug des Bildungsstandes, der zur erklärenden Variable nahezu aller Zusammenhänge pauschalisiert wird (vgl. Verba et al. 1995: 514–518). Im Kontext der sozialen Netzwerke wird ferner eine Assoziation zwischen Ressourcen und der Anzahl an Rekrutierungsanfragen angedeutet. Ein Verweis auf die Vernetzung sozialer Statusgruppen erfolgt aber nicht, sodass nicht gesichert festzustellen ist, worauf die Quantität politischer Einladungen letztlich beruht. In Putnams Werk findet sich der einzige Anhaltspunkt über Verbindungen zum sozioökonomischen Status in der Feststellung, dass Sozialkapital „is often lacking in disadvantaged areas, and it is difficult to build“ (Putnam 2000: 317). Informationen über die Individualebene werden indes nicht geliefert. Greifbare Hinweise auf eine Statusabhängigkeit sozialen Kapitals finden sich derweil in Bourdieus Ausführungen, sodass ein Zusammenspiel zwischen sozioökonomischen Ressourcen und Sozialkapital durchaus wahrscheinlich erscheint.

Schlussendlich liefern die theoretischen Ansätze relevante Argumente zur Beschreibung politischer Partizipation, wobei sich insbesondere die soziale Netzwerkeinbindung als bedeutsame und theorieübergreifende Kategorie erwiesen hat. Darauf aufbauend wird der Fokus im Folgenden explizit auf den Zusammenhang zwischen sozialem Status und sozialer Vernetzung gelegt und ihr Einfluss auf die politische Partizipation abgeschätzt.