3.1 Flüchtling

3.1.1 Zum juristisch-politischen Flüchtlings-Begriff

Da sich die Definitionen des Ausdrucks in den Wörterbüchern als wenig ertragreich erweisen,Footnote 1 soll direkt auf juristisch-politische Definitionen eingegangen werden.

Nach Art. 1 A Nr. 2 des „Abkommen über die Rechtsstellung der Flüchtlinge vom 28. Juli 1951“, auch bekannt als Genfer Flüchtlingskonvention (GFK), findet der Ausdruck Flüchtling auf jede Person Anwendung, die

aus der begründeten Furcht vor Verfolgung wegen ihrer Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen ihrer politischen Überzeugung sich außerhalb des Landes befindet, dessen Staatsangehörigkeit sie besitzt, und deren Schutz dieses Landes nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Befürchtungen nicht in Anspruch nehmen will […]

Personen, die diese recht engen Kriterien erfüllen und denen darauf basierend die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt wird, werden auch häufiger Anerkannte Flüchtlinge, Konventionsflüchtlinge und De-Iure-Flüchtlinge genannt (Hoesch 2018: 24). Diese Definition bezieht sich in erster Linie auf eine individuelle Verfolgung bestimmter Einzelpersonen durch staatliche Akteur_innen, was jedoch auf zahlreiche geflüchtete Personen keineswegs zutrifft (Kersting 2020: 9). So bleibt beispielsweise ein Großteil der Personen, die aus dem durch Kriegskonflikte gekennzeichneten Syrien geflüchtet sind, bei dieser Fassung bezüglich des rechtlichen Status als „Flüchtling“ außen vor. Solchen Personengruppen kann jedoch der „subsidiäre Schutzstatus“ zugewiesen werden, was indirekt über Art. 33 der GFK geschieht, der besagt:

Keiner der vertragsschließenden Staaten wird einen Flüchtling auf irgendeine Weise über die Grenzen von Gebieten ausweisen oder zurückweisen, in denen sein Leben oder seine Freiheit wegen seiner Rasse, Religion, Staatsangehörigkeit, seiner Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen seiner politischen Überzeugung bedroht sein würde.

Diese de-facto-Flüchtlinge, wie subsidiär Schutzberechtigte auch genannt werden, werden von den Staaten, die die GFK unterzeichneten, in der Regel pauschal als anerkennungswürdig definiert (Hoesch 2018: 23). Eine direkte Zuweisung des subsidiären Schutzstatus kann über das Asylgesetz (AsylG) erfolgen, so besagt §4 Abs. 1 AsylG:

Ein Ausländer ist subsidiär Schutzberechtigter, wenn er stichhaltige Gründe für die Annahme vorgebracht hat, dass ihm in seinem Herkunftsland ein ernsthafter Schaden droht […].

Als „ernsthafter Schaden“ gelten die Todesstrafe, Folter und bewaffnete Konflikte (§4 Abs. 1 S. 1–3 AsylG). Freilich entscheiden die Staaten darüber, ob, wie und wie stark das Leben einer geflüchteten Person in ihrer Heimatregion bedroht wird, sollte sie in diese zurückkehren müssen. Dabei spielt das Schlüsselwort sichere Herkunftsstaaten eine entscheidende Rolle: Solche sind nach Art. 16a Abs. 3 GG (Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland) all jene Staaten,

bei denen auf Grund der Rechtslage, der Rechtsanwendung und der allgemeinen politischen Verhältnisse gewährleistet erscheint, da[ss] dort weder politische Verfolgung noch unmenschliche oder erniedrigende Bestrafung oder Behandlung stattfindet. Es wird vermutet, da[ss] ein Ausländer aus einem solchen Staat nicht verfolgt wird, solange er nicht Tatsachen vorträgt, die die Annahme begründen, da[ss] er entgegen dieser Vermutung politisch verfolgt wird.

Zu diesen Staaten zählen neben den Mitgliedstaaten der Europäischen Union Albanien, Bosnien und Herzegowina, Serbien, Kosovo, Mazedonien, Montenegro, Senegal und Ghana;Footnote 2 eine Einstufung der Maghreb-Staaten Tunesien, Algerien und Marokko als „sichere Herkunftsstaaten“ scheiterte im Mai 2016 am Bundesrat (Hoesch 2018: 28). „Sichere Drittstaaten“ dagegen sind nach Art. 16a Abs. 2 GG Staaten, in denen „die Anwendung des Abkommens über die Rechtsstellung der Flüchtlinge und der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten sichergestellt ist“. Gelangen geflüchtete Personen über ein solches Transitland (die Mitgliedstaaten der Europäischen Union sowie Norwegen und die Schweiz) nach Deutschland, können sich diese nicht auf das Asylrecht gemäß Art. 16a Abs. 1 GG („Politisch Verfolgte genießen Asylrecht“) berufen. Möglich ist jedoch ein Asylantrag nach der GFK oder auf „subsidiären Schutz“, ebenfalls – wie gezeigt – nach der GFK sowie §4 AsylG.

Bei den dargestellten Definitionen des Ausdrucks Flüchtling handelt es sich um Definitionen, die von der Legislative als gesetzgebende Gewalt aus verwaltungstechnischen und politischen Gründen vorgenommen wurden und dazu dienen, die Handlungsfähigkeit der Judikative und der Exekutive vorzuprägen und sicherzustellen. Sie orientieren sich demnach nicht an den Subjekten,Footnote 3 die von ihnen betroffen sind, sondern vorrangig am Interesse derjenigen, die sie verabschieden und festsetzen (vgl. Hemmerling 2003: 10). Die Betroffenen befinden sich von Beginn an in einer Rechtfertigungsposition, einer Beweisschuld, da dreierlei von ihnen verlangt wird: die Begründung ihrer Furcht (Art. 1 A Nr. 2 GFK),Footnote 4 das stichhaltige Vorbringen von Gründen (§ 4 Abs. 1 AsylG) und das Vortragen von die Annahme begründenden Tatsachen (Art. 16a Abs. 3 GG). Es wird im Sinne eines Nationalstaates verfahren, der rechtliche Flüchtlingsbegriff folgt einer „Logik exkludierender Inklusion“, der „intern an staatliche Gewalt gebunden“ (Kersting 2020: 19) ist.

Es handelt sich bei den obigen Definitionen also jeweils um eine normative Bedeutung, die von der Politik in ihrer Funktion als gesetzgebende Gewalt festgelegt wird und es der Judikative in ihrer Funktion als rechtsprechende Gewalt ermöglicht, darauf basierend, nach der jeweiligen Auslegung und Interpretation, Handlungen zu vollziehen. Das Recht benötigt die Sprache dabei als Medium, um „seine verhaltensregulierende, vorschreibende, d. h. normative Funktion im Leben sozialer Gemeinschaften erfüllen zu können“ (Busse 1992a: 5). Recht kann als „das Gelten von Sprache“ (ders.: 6) aufgefasst werden. Die Auslegung und Anwendung von Gesetzestexten kann betrachtet werden als „Prototyp eines […] durch Aufgaben (Problemlösungen) geleiteten Arbeitens mit Texten, welches die (Text- und Wissens-) Relationen erst herstellen mu[ss], welche für die Erfüllung der Aufgabe notwendig werden“ (Busse 1992b: 9; Kursivierung aufgehoben).

Die stets sprachlich ablaufende Konstruktion neuer rechtlicher Vorgaben reflektiert dabei mitunter politische und soziale Zustände in einem Land, mehr noch kann sie als Antwort auf solche gesehen werden, wie kurz erläutert werden soll: Durch die Neuregelung des Asylrechts im Jahr 1992 hatte sich Deutschland von einem Recht auf Asyl verabschiedet, dessen konkrete Ausformulierung noch vor dem Hintergrund der Taten Deutschlands zwischen 1933 und 1945 geschah. Es sollte seinerzeit verdeutlicht werden, dass man bereit sei, Verantwortung gegenüber Opfern politischer Verfolgung zu übernehmen, sowie Verlässlichkeit im internationalen Staatenbund demonstriert werden (Hoesch 2018: 257; vgl. Kersting 2020: 8). Die Zahl der geflüchteten Personen und Asylbewerber_innen in Deutschland erreichte „zwischen 1990 und 1993 einen historischen Höchststand“ (Herbert 2003: 264; zitiert nach Hoesch 2018: 244). Trotz einer Anerkennungsquote von Asylbewerber_innen von unter zehn Prozent wurde der Diskurs vom Vorwurf des „Asylmissbrauchs“ dominiert (vgl. Meyer 1997) und es entwickelte sich eine neue Qualität an Ausländerfeindlichkeit, die sich in zahlreichen fremdenfeindlichen Ausschreitungen manifestierte (Hoesch 2018: 253 f.). Ab diesem Zeitpunkt – den frühen 1990er Jahren – wurden Einschluss- und Ausschlusskriterien nach und nach graduell verschärft, um über eine rechtliche Grundlage für die Kontrolle von Immigrationsbewegungen sowie die Abweisung von Menschen in Not zu verfügen.Footnote 5 Derartige Definitionen vermögen es folglich nicht, der komplexen Realität von Flucht gerecht zu werden – dies ist jedoch ohnehin nicht ihr Zweck.

3.1.2 Morphosemantische Aspekte

Das Nomen Flüchtling ist seit dem 17. Jh. belegt, mit den deskriptiven Bedeutungen „wer sich auf der Flucht befindet oder geflohen ist“ (DWDS: s.v. ‚Flüchtling‘; 23.08.2020) bzw. „wer aus seiner jeweiligen Umgebung geflohen ist“ (Köbler 1995: s.v. ‚Flüchtling‘). Bei beiden zitierten Definitionen fällt auf: Die Partizipien weisen darauf hin, dass hier nicht von flüchten, sondern von fliehen die Rede ist. Ersteres ist seit dem 9. Jh. belegt, ahd. fluhten ‚vertreiben, austreiben‘ (also noch zum Teil mit transitiver Bedeutung), mhd. vlühten. Eine solche Transitivität lässt sich auch bei Schiller, ergo mindestens bis ins 18. Jahrhundert, feststellen: „du warst es, treue seele, der ihn [den schatz] mir dorthin geflüchtet hat auf beszre tage“.Footnote 6 Das Nomen Flucht, ahd. fluht, mhd. vluht, nl. vlucht, engl. flight, ist seit dem 9. Jh. belegt und eine Abstraktbildung zum Verb fliehen.Footnote 7 Dieses ist bereits im 8. Jh. belegt: ahd. fliohan, mhd. vliehen, vlien (Köbler 1995: s.v. ‚fliehen‘; DWDS: s.v. ‚fliehen‘; 23.08.2020).

In welch engem Verhältnis hinsichtlich ihres Gebrauchs und ihrer Bedeutung die Verben flüchten und fliehen im Neuhochdeutschen zueinander stehen, lässt sich beispielsweise an den Definitionen im Duden ablesen: Der Duden gibt für flüchten als Bedeutungen an „(plötzlich und sehr eilig) fliehen; sich einer drohenden Gefahr durch Flucht entziehen versuchen“ und „sich durch Flucht irgendwohin in Sicherheit bringen“,Footnote 8 während es für fliehen „sich eilig entfernen, um sich vor einer Gefahr in Sicherheit zu bringen; (vor etwas, jemandem) davonlaufen“ und „vor jemandem, etwas ausweichen; meiden“ heißt.Footnote 9 Der Notaspekt der betroffenen Personen und die Dringlichkeit der Situation bzw. die missliche Lage der Personen scheinen demnach bei flüchten stärker ausgeprägt zu sein als bei fliehen. Der lose Gebrauch der beiden Verben in öffentlichen Medien trägt jedoch möglicherweise dazu bei, dass die jeweilige, eigenständige Bedeutung des Ausdrucks und damit semantische Unterschiede zwischen den Ausdrücken zusehends unschärfer werden; ein Versuch, der (distinktiv-) semantischen Unschärfe beizukommen, soll und kann in der vorliegenden Arbeit jedoch nicht unternommen werden.

Der Ausdruck Flüchtling ist im Verlauf der zweiten Hälfte der 2010er Jahre zunehmend kritisiert worden, da er ob der Endsilbe -ling die Person, auf die Bezug genommen wird, abwerte (ausführlich in 3.2.2). Bei weiteren Wörtern mit der Endung -ling wie Säugling, Liebling, Sprössling, Setzling, Schmetterling liegt gleichwohl eine Abwertung des Referenzobjektes fern. Eine genauere Betrachtung des Morphems ist vonnöten.

Das gebundene Derivationsmorphem -ling bildet grammatikalisch ausschließlich Maskulina, hat sich aus Derivaten mit dem Suffix -ing entwickelt, deren Basis auf -l auslautete, und ist heute noch in der deutschen Sprache produktiv (Fleischer/Barz 2012: 216; vgl. Köbler 1995: s.v. ‚ing‘). Hinsichtlich der Semantik seiner Derivativa auf verbaler Basis lassen sich drei Gruppen feststellen: Antonymisches Nomen Acti, Nomen Acti als Sachbezeichnung und Nomen Agentis. Die erste Gruppe umfasst Nomen, denen semantische Gegenstücke gegenübergestellt werden können, wie Prüfer und Prüfling, Lehrer und Lehrling (Fleischer/Barz 2012: 216). Hier liegt ein Verhältnis zwischen einer aktiven Person, die eine Handlung ausführt, und einer passiven Person, die durch diese Handlung affiziert wird, vor. Dasselbe gilt für solche Nomina, für die das Gegenstück über den Umweg des Partizip Präsens Aktiv gebildet wird, wie in Säugling (der_diejenige, der_die gesäugt wird) und der_die Säugende (der_diejenige, der_die säugt). Zu den Nomina Acti als Sachbezeichnungen kann u. a. Setzling gezählt werden. Zur dritten Gruppe (Nomen Agentis) gehören Derivativa auf Basis intransitiver Verben, wobei das substantivierte Partizip Präsens Aktiv hier synonymisch gebraucht werden kann: Ankömmling und der Ankommende, Eindringling und der Eindringende, möglicherweise auch Flüchtling und der Flüchtende. Fleischer/Barz attestieren diesen Nomina eine pejorative Konnotation (2012: 216). Die Derivativa auf Adjektivbasis tragen fast ausschließlich eine pejorative Konnotation, sogar in den eher selteneren Fällen, in denen nicht in der adjektivischen Basis bereits eine negative Wertung zu finden ist (wie in Feigling, Dümmling, Schwächling, Weichling), sondern im eigentlichen Sinne von einer neutralen oder gar positiven Wertung auszugehen ist, wie in Hübschling, Schönling, Süßling (dies.: 217) und Jüngling (eigenes Beispiel). Bei Bezeichnungen, deren (prototypische) Denotation im Bereich von Flora und Fauna liegt, fehlt die pejorative Konnotation dagegen, wie in Grünling und Frischling.Footnote 10 Es gibt somit Klassen, in die die Derivativa auf -ling nach ihrer Bildung sowie das Suffix selbst nach seiner funktionalen Bedeutung eingeteilt werden können.

Zudem scheint es jedoch zusätzliche Nuancen zu geben, die über diese Klassen hinweg feststellbar sind: Bezüglich der obigen Nomina Säugling, Liebling, Sprössling, Setzling kann beobachtet werden, dass das diminutive Suffix das Bezugsobjekt als etwas Hegenswertes, etwas Schützenswertes, etwas Fragiles kennzeichnet (bzw. Sprecher_innen dies durch den Gebrauch des Suffixes tun), mit dem vorsichtig umzugehen ist, -ling demnach eigentlich eine positive, wohlwollende Einstellung der Sprecher_innen gegenüber dem Sachverhalt oder Referenzobjekt zu „transportieren“ scheint.Footnote 11 Auf den Ausdruck Flüchtling kann dies ebenso angewandt werden: Die Person, auf die Bezug genommen wird, befindet sich in einer hilfsbedürftigen Lage und ist auf Hilfe und Fürsorge angewiesen. Ein Schutzbedürfnis zeugt jedoch – gerade in einer sich durch Leistung definierenden Gesellschaft – zugleich von einer gewissen Schwäche. Wird jemand als schutzbedürftig anerkannt, kann diese Handlung zur selben Zeit auch als ein Aberkennen von Selbstständigkeit und Unabhängigkeit umgemünzt werden. Damit einher geht das normative Stellen von Ansprüchen an die Bezeichneten: „Wer ein Smartphone besitzt und zu noble Kleidung trägt, kann dann wohl kein ‚echter Flüchtling‘ sein und muss entsprechend behandelt werden“ (Kersting 2020: 1 f.).

Den Schutzaspekt noch weiter gedacht, ist der_die Schützende zumeist zwangsweise auch der_die Stärkere. Zwischen den beiden Seiten (ganz gleich, ob Kollektive oder Individuen) existiert ein unausgeglichenes Kräfteverhältnis. Somit besteht auf der Seite des_der Stärkeren auch die Möglichkeit eines Missbrauchs der eigenen Position, Schutz geben zu können. Der Aspekt des Kräfteverhältnisses scheint bei weiteren Bildungen wie Schwächling, Lehrling, Jüngling zum Tragen zu kommen. Aber auch bei Widerling: So bezeichnen Sprecher_innen mit Widerling eine Person, die sie aufgrund ihrer Eigenschaften für widerlich halten. Diesen Referenzakt können die Sprecher_innen wohl nur dann vornehmen, wenn sie sich selbst für in dieser Hinsicht überlegen, also nicht widerlich, halten,Footnote 12 wodurch hier ebenfalls das Einnehmen einer im Vergleich zu den Adressat_innen bzw. bezeichneten Personen höheren Position durch die Sprecher_innen zum Vorschein kommt. Diffiziler verhält es sich bei Schönling, bei dem der bezeichneten Person, wie bei Widerling, zunächst nicht direkt etwas Schützenswertes attestiert werden kann. Jedoch kommt auch hier eine evaluative Komponente zum Tragen, die ein ungleiches Kräfteverhältnis impliziert: Schönling trägt eine negative Konnotation und drückt aus, dass die bezeichnete Person (in der Regel männlichen Geschlechts) aus der Sicht der Sprecher_innen zu sehr auf ihr Äußeres achtet. Dies setzt wiederum voraus, dass die Sprecher_innen sich in dieser Hinsicht als überlegen wahrnehmen.

Obgleich diese Überlegungen der Fülle der behandelten Thematik geschuldet an dieser Stelle unvollständig bleiben müssen, scheint sich bezüglich dieser wenigen Lexeme durchaus ein Muster abzuzeichnen, weswegen das Vorliegen einer durch die Endsilbe bedingten Evaluation der Person, auf die durch die Verwendung des Ausdrucks Flüchtling Bezug genommen wird, zumindest in Betracht gezogen werden sollte. Für eine intensivere Auseinandersetzung mit dieser Thematik sei auf Rummel 2017 verwiesen. Zudem können möglicherweise Methodik und Erkenntnisse aus dem Forschungsbereich der Evaluativen Morphologie (vgl. Grandi & Körtvélyessy 2015) hier weiterhelfen. Gleichwohl sollte bedacht werden: Bei solchen öffentlich-politischen Diskussionen (vgl. 2.2.2) um potenziell abwertende oder pejorative Bedeutungen von Morphemen, die hinsichtlich der Konnotation dann auf das gesamte Wort wirken, werden die jeweiligen Wörter zumeist kontext-isoliert betrachtet. Um die Bedeutung von Wörtern zu erfassen, ist es jedoch sicherlich von Vorteil, wenn nicht gar unabdingbar, ihre sprachliche wie außer-sprachliche Einbettung zu berücksichtigen.

3.1.3 Semasiologische Überlegungen: Flüchtling als „Lebensrolle“

Der Ausdruck Flüchtling findet im Neuhochdeutschen seine syntaktische Einbettung mitunter in simplen Prädikativsätzen, wobei sich der Gebrauch des indefiniten Artikels und des Nullartikels gegenüberstehen: Er ist ein Flüchtling vs. Er ist Flüchtling. Der artikellose Gebrauch scheint in diesem Zusammenhang auf „Nomina, die ‚Lebensrollen‘ oder ‚Berufe und andere allgemein eingeführte soziale Klassen‘ denotieren“ (Mumm 1995: 37 f.), beschränkt zu sein.Footnote 13 Für die Phrasen Er ist ein Flüchtling und Er ist Flüchtling mag gelten, dass erstere ein Ausdruck für Aussagen ist, „die diese Lebensrolle einem Träger bloß zuweisen will, ohne etwas darüber sagen zu wollen, wie dieses Verhältnis näher beschaffen ist“ (ders.: 39) und letztere ein Ausdruck für Aussagen ist, „die die Lebensrolle selbst thematisieren“ (ebd.). Wie verhält es sich im konkreten Fall, d. h. bei Einbettung in einen sprachlichen Kontext? Es sei folgendes Beispiel (01) gegeben:

(01):

Er hat keinen Schutz, denn er ist fremd; er hat keinen Kredit, denn er ist Flüchtling; er hat keine Rechte, denn er ist Ausländer. (Fettgedrucktes immer eigene Hervorhebung; PN)Footnote 14

Hier können mindestens zwei Lebensrollen festgestellt werden: Flüchtling und Ausländer.Footnote 15 Die individuellen Eigenschaften, die der Person zugeschrieben werden (kreditlos und rechtelos), werden auf die Zugehörigkeit der Person zu einer bestimmten Personengruppe zurückgeführt, grammatikalisch realisiert durch die kausale Konjunktion denn. Insofern ist von einer Charakterisierung des Menschen selbst zu sprechen; diese erfährt ihre Begründung durch eine nüchterne Feststellung. Die Bekanntheit dieser Lebensrollen ist so hoch, dass ein simpler Verweis auf diese genügt und der Kausalzusammenhang nicht weiter erläutert werden muss, d. h. die Qualität der Lebensrolle selbst (vgl. Mumm 1995: 38) wird bezeichnet und dient der vorangehenden Proposition als Explikation. Ferner beziehen sich sämtliche Lebensrollen auf ein und dieselbe Person, wobei an jede Lebensrolle eine andere Bedingung geknüpft ist. Da die Lebensrollen einander nicht ausschließen (d. h. eine Person gewiss sämtliche dieser Lebensrollen in sich vereinen kann), schließen auch diese Bedingungen nicht einander aus.

‚Er hat keinen Kredit, denn er ist ein Flüchtling‘ scheint hier zwar ebenso zu funktionieren, jedoch wird sich im Nebensatz dann wohl nicht mehr lediglich auf den Status an sich bezogen, sondern auf das Individuum selbst.

Die Sätze (02) und (03) illustrieren den Gebrauch mit indefinitem Artikel:

(02):

Er ist ein Flüchtling in Deutschland und Mitglied des Youth Refugee Network (YRN).Footnote 16

(03):

Aber das [einen Sachschaden bezahlen] kann der Mann aus Eritrea nicht, denn er ist ein Flüchtling, hat weder 3500 Euro noch eine Haftpflichtversicherung. (Wiesbadener Kurier, 15.04.2017)

In beiden Beispielen schließen an die Nominalphrase Er ist ein Flüchtling weitere Propositionen an. Es liegen Fälle vor, in denen nicht die bekannte Lebensrolle selbst bezeichnet wird, sondern diese in einem speziellen Verhältnis zu einer anderen Größe (Mumm 1995: 38): In (02) wird die Lebensrolle im Verhältnis zum Träger der Lebensrolle bezeichnet, spezifisch seiner sozialen Bemühungen in Form der Mitgliedschaft in einer Organisation. An die Nominalphrase in (03) werden der Eigenschaft als „Flüchtling“ daraus abgeleitete Konsequenzen angeschlossen; es liegt eine Explizierung dessen vor, was das „Flüchtling-Sein“ in diesem Kontext der Schadensverursachung „bedeutet“, also spezifisch für den Träger der Lebensrolle. Bei Gebrauch mit indefinitem Artikel handelt es sich daher zunächst um eine „attributiv erweiterte[] indefinite[] Bezeichnung“ (ebd.). Der indefinite Artikel kommt zum Einsatz, wenn Hintergrund- oder zusätzliche Informationen gegeben werden sollen. Dies bildet einen Gegensatz zum artikellosen Gebrauch; siehe hierzu (04) und (05), die die oben unter (01) aufgeführten Punkte verdeutlichen:

(04):

Vielleicht ist er der Einzige in dieser komischen Stadt […] der authentisch ist, obwohl er Alkoholiker ist. Aber das macht nichts, er ist ein echter Cowboy […] und er ist mir gegenüber ein Gentleman. Er hat ein gutes Herz, er ist Flüchtling und Waise, genau wie ich. Ich fühlte und fühle mich sooft als Flüchtling und Waise.Footnote 17

(05):

Er ist kein Emigrant, er ist Flüchtling. Das ist ein großer Unterschied. Und außerdem ist er Ecuadorianer.Footnote 18

In (04) werden mindestens die Lebensrollen Alkoholiker, Flüchtling und Waise bezeichnet. Keine dieser Lebensrollen wird näher spezifiziert oder expliziert; ihre jeweiligen Qualitäten werden bezeichnet. Die jeweilige Lebensrolle wird den Leser_innen vorgesetzt, ohne näher beschrieben zu werden: Ihre Ausdrucksseite stellt quasi ein in einem Wort komprimiertes Argument dar – hier nicht im klassisch-rhetorischen Sinne, sondern insofern, als das, was die Verfasserin des Romans aussagen möchte, als offensichtlich unterstellt wird. In (05), einem Beitrag in einem fiktiven Dialog, findet ebenso keine Modifizierung oder Spezifizierung statt und ist eine Argument-Funktion des Wortes festzustellen. Wie aber verhält es sich mit (06), in dem durchaus eine Spezifikation identifiziert werden kann?

(06):

Aiman Musa kommt aus Syrien. Er ist Flüchtling mit eingeschränktem – sogenanntem subsidiären – Schutzstatus. (Augsburger Allgemeine, 12.02.2018)

Das Attribut ‚mit eingeschränktem – sogenanntem subsidiären – Schutzstatus‘ erweitert die Nominalphrase, obgleich hier ein Nullartikel steht. Es wird jedoch trotz der Erweiterung nach wie vor die Qualität der Lebensrolle selbst bezeichnet, denn: Das Attribut spiegelt eine geläufige Kategorisierung geflüchteter Menschen wider (de-facto-Flüchtlinge; vgl. 3.1.1) und kommt somit für sich genommen einer Lebensrolle sehr nahe, die wiederum so nahe an das Konzept Flüchtling gekoppelt ist, dass eine Verwendung des indefiniten Artikels nicht nötig ist. Es wird keineswegs eine Relation zwischen dem Träger der Lebensrolle und einer spezifischen Größe ausgedrückt.

Zusammenfassend: In der Variante mit Nullartikel ist die Aussage der Konstruktion, dass die Bezeichneten zu dieser Kategorie (von Menschen/Personengruppen) gehören, es wird allein der Status bezeichnet, nicht das Individuum selbst. Grundsätzlich lässt diese Variante keine Erweiterung zu. Eine Ausnahme konnte erklärt werden, ohne die vorangegangene These verwerfen zu müssen. Der artikellose Gebrauch ist stets Ausdruck dessen, dass in der betroffenen Wortfolge eine konventionalisierte Konstruktion vorliegt, wobei „Konstruktion“ durchaus im konstruktionsgrammatischen Sinne verstanden werden soll.Footnote 19 Die Variante mit indefinitem Artikel erlaubt eine attributive Erweiterung, die zugleich die Referenz individualisiert; es wird das Individuum selbst bezeichnet.

Wie für Migrationshintergrund (‚X hat einen Migrationshintergrund‘ vs. ‚X hat Migrationshintergrund‘) gezeigt wurde (Dirim 2012: 438; vgl. 3.3.3), kann durch den Gebrauch des Nullartikels dem Ausgedrückten eine gewisse Statik verliehen werden, die nicht ohne weiteres aufzubrechen ist. Bezogen auf den in der vorliegenden Arbeit behandelten Diskurs bedeutet dies möglicherweise: Die betroffenen Personen verschmelzen zusehends mit ihrer Existenz als „Flüchtlinge“ und werden auf diese reduziert. Insbesondere, wenn, wie im vorliegenden Fall, eine niedrige soziale Ebene vorliegt, an die die Betroffenen gebunden werden, ist dies problematisch.Footnote 20 Diese Problematik besteht jedoch nicht nur bei Flüchtling. Vielmehr ist sie ebenso bei dem Ausdruck Migrant_in festzustellen, in dem ebenso eine Lebensrolle vorliegt. Abschnitt 3.3 widmet sich diesem Ausdruck ausführlich. Zuvor jedoch soll auf den Ausdruck Geflüchtete_r eingegangen werden, der sich als Alternative zu Flüchtling zu etablieren beginnt.

3.2 Geflüchtete_r

3.2.1 Lexikographische Definitionen

Der Duden definiert Geflüchtete bzw. Geflüchteter als „weibliche“ bzw. „männliche Person, die aus politischen, religiösen, wirtschaftlichen oder ethnischen Gründen aus ihrer Heimat geflohen ist“.Footnote 21 Footnote 22 Diesbezüglich herrscht zwischen Geflüchtete_r und Flüchtling also Bedeutungsäquivalenz. Das DWDS (s.v. ‚Geflüchtete‘; 23.08.2020) gibt dagegen unterschiedliche Bedeutungen an: „jmd., der vor jmdm. oder etw. die Flucht ergriffen hat, vor einer drohenden Gefahr geflüchtet ist“ und „jmd., der (nach einem Gefängnisausbruch) auf der Flucht ist“ sowie „jmd., der aus seiner Heimatregion (wegen eines Kriegsgeschehens, wegen seiner politischen oder religiösen Einstellung o. Ä.) geflüchtet ist oder von dort vertrieben wurde“. Das DWDS nimmt eine Differenzierung vor und impliziert neben sog. Kriegsflüchtlingen weitere Personengruppen, die als Referenz in Frage kommen und im Duden nicht thematisiert werden: Menschen, die vor einem Feuer geflüchtet sind; entflohene Häftlinge; festgenommene Personen, die sich aus dem Polizeigewahrsam befreien konnten; Einbrecher_innen, die auf frischer Tat ertappt wurden u. a. Da in Berichten, die auf solche außersprachlichen Objekte referieren, zumeist zunächst ein Verlauf bzw. Tathergang geschildert wird, wird der Ausdruck Geflüchtete_r anaphorisch gebraucht: Es wird zurückverwiesen auf etwas schon Bekanntes, die Personen, die nun so bezeichnet werden, wurden bereits im vorangehenden Text thematisiert.Footnote 23 Bezieht sich Geflüchtete_r dagegen auf eine Person, wie sie im Duden ausschließlich beschrieben wird, wird mit dem ersten Gebrauch dieses Ausdrucks im Text zugleich eine neue Information, ein Rhema, eingeführt. Das bedeutet, dass, wird Geflüchtete_r von Beginn des Textes an verwendet, es sehr wahrscheinlich ist, dass die Personen, auf die referiert wird, dieselben sind, die der Duden auch für Flüchtling angibt. Die diskursive Bedeutung dieser beiden Ausdrücke ist jedoch keineswegs deckungsgleich, wie im folgenden Abschnitt gezeigt werden soll.

3.2.2 Geflüchtete_r als politisch korrekter(er) Ausdruck?

Die Flüchtlingsorganisation Pro Asyl berichtete im Juni 2016 „Mehr und mehr Engagierte verwenden den Begriff ‚Geflüchtete‘“Footnote 24 und auf der Internetseite des Hörfunkprogramms Deutschlandfunk spricht Jürgen Trabant im März 2017 in einem Interview von „eine[r] Gruppe von Rechthabenden“, die „beschlossen [haben], dass das Wort Flüchtling einen negativen Beigeschmack hätte […]“Footnote 25. Zudem ist im politischen Feuilleton des Hörfunkprogramms Deutschlandfunk Kultur im September 2018 unter der Dachzeile „Sprachkritik“ und der Überschrift „‚Flüchtlinge‘ passt besser als ‚Geflüchtete‘“ zu lesen, „kaum noch jemand“ spreche von „‚Flüchtlingen‘“.Footnote 26

Abb. 3.1 zeigt, dass die Verwendung des Ausdrucks Geflüchtete (inklusive sämtlicher Wortformen) in einigen ausgewählten, deutschsprachigen Zeitungen ihren höchsten Anstieg zwischen den Jahren 2015 und 2016 findet. Die denotative Bedeutung „vor der Polizei o.ä. Flüchtige_r“ kann aus zweierlei Gründen vernachlässigt werden: Zunächst kommt Stefanowitsch (2015) in einer Analyse zu dem Schluss, dass Geflüchtete als Quasi-Synonym zu Flüchtlinge spätestens seit dem Jahr 2014 Geflüchtete mit der Bedeutung „vor der Polizei o.ä. Flüchtige“ verdrängt. Zudem zeigt eine Überprüfung der Belegstellen im DWDS-Korpus der Wochenzeitung Die ZEIT für die Jahre 2013 bis 2016 lediglich eine einzige Verwendung mit dieser Bedeutung.

Abb. 3.1
figure 1

(Quelle: Eigene Darstellung)

Die Wortformen Geflüchteter, Geflüchtete und Geflüchteten im Deutschen Referenzkorpus. Frequenz pro Million Wörter.

Als Grund für den Anstieg zwischen den Jahren 2015 und 2016 könnte nun eine intensivere Berichterstattung zu diesem Thema vermutet werden. Abb. 3.2 zeichnet jedoch ein anderes Bild: Für sämtliche in der Analyse des Lemmas Flüchtling berücksichtigten Zeitungen gilt: Es ist – erstens – der höchste Anstieg an Verwendungen zwischen den Jahren 2014 und 2015 zu verzeichnen.Footnote 27 Die größte Zahl an Verwendungen ist – zweitens – für das Jahr 2015 festzustellen. Und drittens: Abgesehen von der Neuen Zürcher Zeitung fallen sämtliche Werte seit dem Jahr 2015 konstant. Demnach ist davon auszugehen, dass die Berichterstattung nach 2015 nicht intensiver, sondern im Gegenteil nach 2015 (bis 2019) immer weniger wurde. Geflüchtete erfährt somit eine häufigere Verwendung, obwohl die Berichterstattung abnimmt. Bemerkenswert ist auch, dass sich die Werte für Geflüchtete für das Jahr 2019 auf einem erheblich höheren Niveau befinden als noch für das Jahr 2013 (vgl. Abb. 3.1; am deutlichsten verhält es sich diesbezüglich bei der Süddeutschen Zeitung, der ZEIT und dem Standard). Das bedeutet: Der Ausdruck hat sich bis zu einem gewissen Grad etabliert.

Abb. 3.2
figure 2

(Quelle: Eigene Darstellung)

Die Wortformen Flüchtling, Flüchtlinge und Flüchtlingen im Deutschen Referenzkorpus. Frequenz pro Million Wörter.

Die Wortführer des Streits um die politisch korrekte Bezeichnung von geflüchteten Menschen bleiben zumeist unbenannt und unbekannt. Die Ursprünge der Debatte sollen an dieser Stelle nicht abschließend ermittelt werden. Ein vorsichtiger Vorschlag ist, dass die Bezeichnung Geflüchtete ihren ursprünglichen Gebrauch in der Rhetorik soziopolitischer Bewegungen hatte, die dem linken politischen Spektrum zugeordnet werden können. So heißt es in einem Bericht der Wochenzeitung Jungle World über die antirassistische Szene bereits im Juli 2012: „‚Flüchtlinge‘ zu sagen, verniedlicht Menschen in ihrem Status, sagt Emma [eine Vertreterin der Berliner Gruppe Reclaim Society; PN]. ‚Geflüchtete‘ werden stattdessen als ‚starke Subjektposition empfunden‘“.Footnote 28 Im Folgenden werden einige Pro- bzw. Contra-Argumente zu Flüchtling bzw. zu Geflüchtete_r, wie sie im Rahmen dieser Debatte zu finden sind, dargestellt und reflektiert:

Ein Argument für die Verwendung des Ausdrucks Flüchtling wird in seiner Historizität gesehen: Die Bedeutung sei in der GFK festgeschrieben und deren Geltungsbereich sichere das Flüchtlingswerk der Vereinten Nationen (DFK).Footnote 29 Zudem hätten ihn Flüchtlingsorganisationen und Flüchtlingsräte im Zuge der „Asyldebatte“ bewusst gegen Asylant verteidigt, um auf den Aspekt der Flucht hinzuweisen und den Fokus vom Gesuch um Asyl zu nehmen (DFK, PA); mehr noch stehe die heutige Verwendung von Flüchtling als Symbol dafür, dass die deutsche Gesellschaft nicht in den 1990er Jahren verblieben sei (PA). „Flüchtlinge“ seien aus der DDR gekommen und vor nationalsozialistischer Verfolgung geflohen (DFK), ebenso wie nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs aus vormals deutschen Gebieten gen Westen gezogen. Die eigene kollektive Geschichte spiegle sich also in dem Ausdruck wider, weshalb Aussagen wie „Auch meine Großeltern waren damals Flüchtlinge“ möglich seien. Diese Widerspiegelung mache es zudem einfacher, Empathie und Hilfsbereitschaft aufzubringen (PA). (Hier sei jedoch angemerkt, dass im Fall der Großeltern in Heimatvertriebene eine stark konkurrierende Bezeichnung vorliegt.).

Als Contra-Argumente werden die „Narben unzähliger migrationspolitischer Auseinandersetzungen“ (DFK) angeführt sowie der Umstand, dass die Bildung weiblicher grammatikalischer Formen nicht möglich ist (PA). Das erste Contra-Argument scheint jedoch ein Schein-Argument zu sein, da es lediglich eine zwingende Begleiterscheinung oder andere Sichtweise der Historizität des Ausdrucks Flüchtling proponiert, die ja als Kern-Pro-Argument dient.

Ein Pro-Argument bzgl. des Ausdrucks Geflüchtete_r ist – im Umkehrschluss zum obigen Argument contra Flüchtling – dass die Bildung weiblicher grammatikalischer Formen möglich ist (PA): die Geflüchtete ist möglich, *die Flüchtling(in) nicht. Das mögliche Gendern sprachlicher Ausdrucksformen ist ein maßgeblicher Bestandteil der Argumentation derer, die sich für politische Korrektheit im Allgemeinen einsetzen, weswegen dieses Argument auch als eines der zentralen Pro-Geflüchtete_r-Argumente in diesem diskursiven Streit eingeordnet werden kann. Im Untersuchungszeitraum 2013 bis 2018 wird indes das Potential ganz und gar nicht ausgeschöpft: Die Suche im DWDS ergab für die Formen die Geflüchtete (Nom./Akk. Sg), der Geflüchteten (Gen./Dat.Sg; Gen. Pl.), die Geflüchteten (Nom./Akk. Pl.) sowie den Geflüchteten (Dat./Akk. Pl.) nach manueller Durchsicht auf Belege mit eindeutig weiblicher Referenz keine Treffer.

Ein weiteres Argument auf linguistischer Ebene ist, dass Geflüchtete_r eine Nominalbildung auf Basis einer Partizip-Perfekt-Bildung ist und dadurch ein potenzielles Ende der Flucht als Bedeutungsbestandteil trägt (PA).

Als Argument gegen die Verwendung des Ausdrucks wird dessen vorgeblicher „Ballast von linkem Aktivismus und Willkommenseuphorie“ (DFK) artikuliert. Dieser „Ballast“, insofern er denn wirklich einer ist, entstand jedoch im Zuge der Denunzierung von Menschen, die sich für geflüchtete Menschen einsetzen, durch politische Gegner_innen. Zudem darf angezweifelt werden, ob dieser Ausdruck stets und an jeder Stelle einen solchen „Ballast“ trägt, da ihn auch offizielle Institutionen und Regierungsbehörden der Bundesrepublik Deutschland verwenden. So bietet z. B. das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge „Informationen für Geflüchtete“Footnote 30, die Bundesagentur für Arbeit spricht u. a. von „Integration von Geflüchteten“Footnote 31 und das Bundesbildungsministerium von „Berufsorientierung für Geflüchtete“.Footnote 32 Umgekehrt lieferte eine Suche (Stand: 07.06.2020) der Ausdrücke Flüchtlinge und Geflüchtete auf der Webpräsenz der dem linkspolitischen Spektrum zugeordneten Wochenzeitung Jungle World für ersteren Ausdruck 4731 Artikel, in denen der Ausdruck mindestens ein Mal auftritt (im Zeitraum von 1997–2020), für letzteren Ausdruck jedoch lediglich 787 im selben Zeitraum. Im taz-Korpus (als Teil des Deutschen Referenzkorpus) tritt der Ausdruck Flüchtlinge im Zeitraum von 2000–2020 52261 mal (in 22560 Texten) auf, der Ausdruck Geflüchtete lediglich 4710 mal (in 2983 Texten). Auch wenn der Großteil der Verwendung des Ausdrucks Geflüchtete in beiden Zeitungen insbesondere in der jüngeren Vergangenheit zu verorten ist (so sind bzgl. der Jungle World für Geflüchtete im Zeitraum von 2013 bis 2020 543 Artikel festzuhalten, für Flüchtlinge in diesem Zeitraum 2043), sind diese Beobachtungen als Anhaltspunkt dafür zu werten, dass selbst in links-orientierten Sujets – zumindest in der Schriftsprache – der Ausdruck Flüchtling (noch) dominiert.

Als weiteres Argument gegen den Ausdruck Geflüchtete wird sein Charakter als (scheinbare) Neubildung vorgebracht (PA, DFK): Sein historischer Gebrauch und seine Festschreibung der Bedeutung fehlten. Stefanowitsch (2012) zeigt jedoch, dass der Ausdruck mit derselben Bedeutung bereits in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts verwendet wurde – wenngleich keineswegs eine solch hohe Gebrauchsfrequenz vorliegt wie bei Flüchtling. Ferner mache, dass geflüchtet noch in zahlreichen anderen situativen Kontexten (wenn auch teilweise scherzhaft) verwendet werden kann, z. B. im Kontext eines Gefängnisausbruchs und gar einer als unangenehm empfundenen Situation wie einer Familienfeier, die Referenzobjekte „beliebig“ (DFK). Dieses Argument bedenkt jedoch nicht, dass es im Kern um die agentivische Nominalkonstruktion geht und nicht um die Partizipialkonstruktion ‚X ist (wegen/aus/vor Y) (nach Z) geflüchtet‘. Im Kontext des Verlassens einer Familienfeier dürfte die substantivierte Konstruktion wohl selbst in gesprochener Sprache kaum Verwendung finden, ganz zu schweigen davon, dass in öffentlich-politischer Schriftsprache solch ein banales Alltagsverhalten wohl kaum thematisiert wird. Zudem geben die Beschaffenheit der Situation, auf die sich in der Rede oder in einem geschriebenen Text bezogen wird, sowie der sprachliche Kontext stets den „Interpretationsspielraum“ eines sprachlichen Zeichens vor. Sprache tritt Verstehenden in der Regel nicht kontext-isoliert gegenüber. Dies kann auch als Grund angeführt werden, warum die hier ja nur kontext-isoliert mögliche potenzielle Referenz auf entflohene Häftlinge unproblematisch ist. Selbst in einer kontext-isolierten Verarbeitung des sprachlichen Zeichens Geflüchtete wäre davon auszugehen, dass diesem eine Bedeutung verliehen wird, die Flüchtlinge nahe steht: Die „Flüchtlingsdebatte“, das „Flüchtlingsthema“, ist in der medialen Berichterstattung allgegenwärtig, wodurch auch die damit einhergehenden Bezeichnungen der Personen(gruppen) ausgesprochen salient sind. Es dürfte eine enorme Diskrepanz zwischen der Intensität wie Häufigkeit der Berichterstattung über „vor der Polizei o.ä. Flüchtige“ und derjenigen über die flüchtenden und geflüchteten Menschen im Kontext der europäischen Krise der Flüchtlings- und Migrationspolitik bestehen.

Der Ausdruck Geflüchtete_r mag gerade aus der noch fehlenden Historizität sein Potenzial ziehen: Die bezeichneten Personen können über seine Verwendung gegenüber anderen, im letzten Jahrhundert geflüchteten, Personen abgegrenzt werden. Dies soll freilich nicht bedeuten, dass deren Not als höher eingestuft werden würde als jene sämtlicher vor dem sog. Sommer der Migration (vgl. zu dieser Bezeichnung u. a. Hess et al. 2017) geflüchteten Menschen. Es würde der Tiefe der Krise, in der sich insbesondere Europa befindet, Rechnung getragen werden. Denn anders als das Wort Flüchtlingskrise es suggerieren mag, ist diese Krise keine Krise der „Flüchtlinge“, sondern eine Krise Europas im Umgang mit flüchtenden und geflüchteten Menschen. Der Philosoph Wolfram Eilenberger (2016) schreibt dazu:

2015 markiert das Ende der zentralen Lebenslüge einer ganzen europäischen Generation. Ich spreche von der verstohlenen Hoffnung, das konkrete Leid, das in den Ländern des Nahen Ostens, Asiens und Afrikas den Alltag von Milliarden Menschen prägt und bestimmt, ließe sich auch für die kommenden Jahrzehnte lebensweltlich auf Distanz halten. Ich spreche von der Illusion eines Kerneuropas als eines mauerlosen Paradiesgartens in einer Welt des Elends. Denn auch dies scheint mit Blick auf die geopolitische Lage klar: Der Migrationsschub des Jahres 2015 bedeutet perspektivisch erst den Anfang, nicht das Ende einer Entwicklung.

Die Aussage des bereits erwähnten Pro-Arguments bzgl. Flüchtling, dass dieser Ausdruck auf einem rechtlichen Fundament steht, also Personen, die so bezeichnet werden, zugleich ein rechtlicher Status zugewiesen wird, ist unbestreitbar. Jedoch wird dieser Ausdruck im Diskurs nur in geringem Maße mit dieser engen, juristisch-politischen Bedeutung verwendet. Es findet diesbezüglich kein semantischer Kampf statt: Es gibt keine Seite, die fordert, Flüchtling nur dann zu verwenden, wenn die Person, auf die referiert wird, auch rechtlich als Flüchtling anerkannt ist. Vielmehr scheint das Gegenteil der Fall zu sein: Der Ausdruck wird äußerst lose gebraucht und in der Regel werden sämtliche geflüchtete Menschen mit diesem Ausdruck bezeichnet, unabhängig davon, ob sie als „Flüchtlinge“ anerkannt wurden oder nicht. Selbst wenn sich ein Prozess der Bedeutungsverengung vollzöge, wäre dies nicht unproblematisch, da ein Großteil geflüchteter Menschen durch das in der GFK konstruierte Raster fällt: Diejenigen Personen, die nicht individuell von staatlichen Akteur_innen verfolgt werden (vgl. 3.1.1).

Dieses Argument für Flüchtling kann ergo als Argument für Geflüchtete_r ausgelegt werden: Mit diesem Ausdruck würden nämlich sämtliche Menschen bezeichnet, die seit Mitte der 2010er Jahre aus den unterschiedlichsten Gründen geflohen sind, und ließe zugleich nicht nur die in der GFK definierten Personen und Fluchtgründe zu. Zudem würde sich nicht an ein juristisches Konstrukt gehalten, das von einer übergeordneten Instanz, der Politik, vorgegeben wurde, und damit an die per definitionem vorgeschriebene Bedeutung, die nun so zu gelten hat – obschon Geflüchtete_r freilich ebenso ein soziales Konstrukt ist, jedoch eines, für das eine bewusste Entscheidung stattgefunden hätte.

Ein weiteres, mögliches Pro-Argument ergibt sich aus der bereits erwähnten morphologischen Beschaffenheit des Nomens Geflüchtete_r: Im Vergleich zu Flüchtling liegt ein stärker ausgeprägtes attributives Potential vor. Siehe hierzu:

(07):

Es sei ein „seltsames Verständnis von europäischer Partnerschaft“, wenn die Italiener mit den aus Nordafrika Geflüchteten allein gelassen würden. (Die ZEIT, 11.04.2011)Footnote 33

(08):

Dabei geht es nicht nur um das Schicksal der aus ihren Ländern vor Krieg und Verfolgung Geflüchteten, sondern vor allem um die Europäer. (02.05.2015)

Während Flüchtling wie Geflüchtete in (07) zwar die Herkunftsregion anzeigen kann (mittels attributiver Präpositionalphrase in Postposition), ist allein Geflüchtete in der Lage, Fluchtgründe und die Fluchtrichtung unmittelbar zu markieren, eben aufgrund seiner Bildung aus einer Partizipialkonstruktion. In (08) findet sich ein Beispiel, wie Fluchtgründe unmittelbar auf syntaktischer Ebene an das Nomen gekoppelt werden können. Die vormalige Fluchtrichtung (in aller Regel der aktuelle Aufenthaltsort) wird durch Präpositionen wie nach und in, die den Akkusativ regieren, markiert. Die syntaktischen Möglichkeiten von Geflüchtete_r könnten es daher den Sprecher_innen erleichtern, die Person(en), auf die referiert wird, sprachlich anzuerkennen, indem u. a. Fluchtgründe sprachlich markiert werden.

Die Bezeichnungskonkurrenz, die bzgl. der beiden Ausdrücke Flüchtling und Geflüchtete_r vorliegt, gestaltet sich durch die jeweiligen Interessen, die die Verfechter (des Gebrauchs) eines Ausdrucks vertreten. Ziel bei Kämpfen um Wörter in politischem Zusammenhang ist stets, mit spezifischen Ausdrücken die eigene Deutung eines Sachverhalts bzw. eigene Einstellung gegenüber einem Sachverhalt bei den Adressat_innen durchzusetzen (Klein 1989: 17). Wie gesehen, werden gewisse charakteristische Merkmale der Personengruppen, auf die referiert wird, durch die Wahl und den Gebrauch eines bestimmten Ausdrucks hervorgehoben bzw. überhaupt erst thematisiert. Es ist dabei an dieser Stelle der vorliegenden Arbeit von Referenzidentität (denotative Bedeutung) in dem Sinne auszugehen, dass auf ein und denselben politisch relevanten Sachverhalt, in diesem Fall eine Personengruppe, Bezug genommen wird (vgl. ders.: 18). Der Streit um die korrekte Bezeichnung bedeutet selbst wiederum einen Streit um die angemessene Wertung und den korrekten Umgang mit den Bezeichneten. Verhält es sich bei konkurrierenden Bezeichnungen in der Regel so, dass sich eine klare deontisch positive(re) und eine klare deontisch negative(re) Bezeichnung gegenüberstehen (wie etwa Soziale Marktwirtschaft und Kapitalismus für Wirtschaftsform der Bundesrepublik Deutschland (ders.: 19)), kann bzgl. der beiden vorliegenden Ausdrücke kein derart klarer Unterschied ausgemacht werden: Dies konnte im vergangenen Abschnitt nicht zuletzt daran gesehen werden, dass selbst in linkspolitisch orientierten Sujets der Ausdruck Flüchtling dominiert.

3.3 Migrant_in

3.3.1 Lexikographische Definitionen

Der Duden gibt für Migrant folgende Bedeutung an: „jemand, der in ein anderes Land, in eine andere Gegend, an einen anderen Ort abwandert“.Footnote 34 Unter Migrantin erscheint „weibliche Form zu Migrant“.Footnote 35 Das DWDS (s.v. Migrant; 23.08.2020) gibt folgende Bedeutung an: „jmd., der migriert, der seine Heimat aus politischen, religiösen oder wirtschaftlichen Gründen verlässt, um zeitweise oder dauerhaft in einem anderen Land zu leben“.Footnote 36 Hier werden somit auch Motive für die Migration genannt. In beiden Definitionen findet sich eine präsentische Bedeutung wieder: Die bezeichnete Person ist gerade noch dabei, ihren Heimatort zu verlassen.

Das Nomen Migrant wird auf Basis des Stamms des Verbs migrieren (aus lat. ‚migrare‘ wandern) mit dem Derivationsmorphem -ant gebildet. Da im Lateinischen das Derivationsmorphem -ans/-antis, aus dem -ant hervorgeht, zur Bildung des Partizip Präsens Aktiv dient, kann Migrant auch als ‚Wandernder, Reisender‘ übersetzt werden. Diese morphosemantische Aspekte berücksichtigende Definition bzw. Bedeutungsauffassung, die auch in die genannten Wörterbücher Eingang fand, ist mit zwei Konsequenzen verbunden. Erstens: Sie unterscheidet Migrant_in eindeutig von Flüchtling und Geflüchtete_r. Die Handlungen der mit letzteren Ausdrücken bezeichneten Personen werden in den Wörterbüchern in der Vergangenheit angesiedelt. Zweitens: Da die Migrationsbewegung als gegenwärtig und noch andauernd konzeptualisiert wird, lassen diese beiden lexikographischen Definitionen keine Verwendung des Ausdrucks zur Bezeichnung von Personen zu, die zwar nicht in Deutschland geboren wurden, aber bereits seit längerer Zeit in Deutschland leben. Es wären mit Migrant_innen demnach immer nur die Personen gemeint, die sich gerade noch auf Wanderung befinden. Weitere Unterscheidungen zum Ausdruck Flüchtling ergeben sich aus den deskriptiven politischen Definitionen, die im folgenden Abschnitt erläutert werden.

3.3.2 Politische Definitionen

Das Statistische Bundesamt gibt folgende, auf die Bundesrepublik Deutschland bezogene, Definition:

Migrant(en)/innen sind Personen, die nicht auf dem Gebiet der heutigen Bundesrepublik, sondern im Ausland geboren sind (‚foreign born‘). Sie sind nach Deutschland zugezogen (Zuwanderer). Sie können je nach Staatsangehörigkeit Deutsche (z. B. Spätaussiedler) oder Ausländer/innen sein. Sie gehören zu den ‚Personen mit Migrationshintergrund‘ (siehe Personen mit Migrationshintergrund) (zit. n. Hoesch 2018: 18).

Als „Personen mit Migrationshintergrund“ gelten nach dem Statistischen Bundesamt

alle nach 1949 auf das heutige Gebiet der Bundesrepublik Deutschland Zugewanderten, sowie alle in Deutschland geborenen Ausländer und alle in Deutschland als Deutsche Geborenen mit zumindest einem zugewanderten oder als Ausländer in Deutschland geborenen Elternteil (ebd.).

In dieser Definition ist – anders als in den Wörterbüchern – ein perfektivisches Moment auszumachen: sind … zugezogen. Der Ausdruck Migrant_in bezieht sich demzufolge auf Personen, die bereits in Deutschland angekommen sind, (seit einiger Zeit) in Deutschland leben oder sogar die deutsche Staatsbürgerschaft besitzen.

Die „International Organization for Migration“ (IOM), eine Unterorganisation der Vereinten Nationen, definiert den engl. Ausdruck migrant wie folgt:

An umbrella term, not defined under international law, reflecting the common lay understanding of a person who moves away from his or her place of usual residence, whether within a country or across an international border, temporarily or permanently, and for a variety of reasons. The term includes a number of well-defined legal categories of people, such as migrant workers; persons whose particular types of movements are legally-defined, such as smuggled migrants; as well as those whose status or means of movement are not specifically defined under international law, such as international students.Footnote 37

Der Ausdruck dient demnach als Oberbegriff (‚umbrella term‘) für jegliche Arten der Mobilität von Menschen und findet zudem keine Definition auf Rechtsebene. Die mittels Arbeitsmigrant_innen bezeichneten Personen fallen ebenso wie Studierende, die ein Semester im Ausland verbringen, unter diese Kategorie, wie auch diejenigen, auf die mittels Flüchtlinge referiert wird. Dieser Definition nach kann der Ausdruck Migrant_in auf die unterschiedlichsten Personen(gruppen) angewandt werden. Dies schlägt sich auch in der Zählweise von „Migrant_innen“ nieder: Die Vereinten Nationen zählten im Jahre 2019 272 Millionen „Migrant_innen“ weltweit, das bedeutet einen Anstieg von 51 Millionen seit dem Jahr 2010. Ende 2019 betrug die Zahl der „forcibly displaced people“ (‚gewaltsam vertriebene Menschen‘) 79,5 Millionen, wovon 26 Millionen „refugees“ (‚Flüchtlinge‘), 4,2 Millionen „asylum seekers“ (‚Asylsuchende‘) und 45,7 Millionen „internally displaced persons“ (‚Binnenvertriebene‘) waren.Footnote 38

Sowohl in der Politik als auch in der Wissenschaft wurden bzgl. Migration und Migrant_innen zahlreiche Typen gebildet, die dazu dienen, Menschen anhand von Kriterien in Untergruppen einzuteilen und diese so voneinander abzugrenzen (Hoesch 2018: 20). Die Kriterien für eine solche Einteilung stellen dabei die in den meisten Fällen lediglich angenommenen und nicht überprüften bzw. überprüfbaren Beweggründe der betroffenen Subjekte dar. Eine Differenzierung zwischen „erzwungener“ und „freiwilliger“ Migration stellt verschiedenste Formen von Flucht und ökonomisch motivierter Arbeitsmigration dichotomisch gegenüber (ebd.). Solche selektiven, auf der sprachlichen Ebene meist mittels Kompositabildungen realisierten Näherbestimmungen wirken stets konstituierend für die Lebensrealität der betroffenen Personen. Welche Rechte und Pflichten sie haben, ist unmittelbar abhängig davon, in welche Kategorie sie vom Staat eingeteilt werden: Ob sie bspw. als Arbeitsmigrant_innen, als Asylbewerber_innen oder als ausländische Erntehelfer_innen bezeichnet werden, entscheidet über Aufenthaltsdauer, Arbeitsmarktbeteiligung und vieles mehr (dies.: 19).

Nach einer früheren Empfehlung der IOM sollte der Ausdruck Migrant_in lediglich auf diejenigen Personen angewandt werden, deren Entscheidung, ihr Heimatland zu verlassen, freiwillig, zum persönlichen Vorteil und ohne äußere zwingende Faktoren getroffen wurde.Footnote 39 Der Ausdruck ließe sich dann nicht auf „Flüchtlinge“, „Vertriebene“ oder andere zum Verlassen ihres Heimatlandes gezwungene Personen anwenden. Dies wird auch an den möglichen Kompositumbildungen deutlich: Wirtschaftsmigrant_in und Arbeitsmigrant_in sind geläufige Bezeichnungen, der Ausdruck *Kriegsmigrant_in scheint nicht möglich. Das normative Argument der Freiwilligkeit zur Unterscheidung von „Flüchtlingen“ und „Migranten“ zeigt, dass gegenüber vor Krieg und wegen politischer Verfolgung geflüchteten und flüchtenden Menschen (moralische, politische) Hilfspflichten bestehen, die gegenüber Menschen, die ihre wirtschaftliche Situation verbessern möchten, nicht bestehen. Der Ausdruck Migration dagegen beschreibe laut IOM den Prozess der Bewegung von Menschen im Allgemeinen und inkludiere daher ebenfalls die Bewegung von Personen, die als Flüchtlinge, Vertriebene oder Wirtschaftsmigrant_innen bezeichnet werden. Nach diesem Verständnis von Migration als Wanderungsprozess gelten alle Personen, die sich länger als ein Jahr außerhalb ihres Herkunftslandes aufhalten, als Migrant_innen, wobei Motive, rechtlicher Status und die Frage der Freiwilligkeit nicht von Belang sind.Footnote 40

Was bzgl. des vagen Ausdrucks Migration festzustellen ist, nämlich dass unterschiedlichste Motivationen dahinterstehen, die jedoch nicht strikt voneinander abgegrenzt werden können, gilt auch für den Ausdruck Flüchtling. Die zahlreichen Kompositabildungen sind ebenso als Versuche zu betrachten, die bezeichnete Person hinsichtlich gewisser Aspekte selektiv näher zu bestimmen. So geben die Nomen Kriegsflüchtling, Klimaflüchtling und Wirtschaftsflüchtling die zugeschriebene Motivation für die Flucht an, während Kontingentflüchtling und Konventionsflüchtling den rechtlichen Rahmen angeben, nach dem der Umgang mit den so bezeichneten Menschen erfolgt.Footnote 41 Problematisch an Kategorienbildungen, die durch die Zuschreibung eines Beweggrundes geschehen, ist: Ein geflüchteter Mensch kann sowohl wegen eines Krieges, wegen des Klimas, als auch aus ökonomischen Gründen sein Heimatland verlassen haben: ergo können Faktoren einander ergänzen. Zudem ist eine scharfe Trennung von z. B. dem Verlassen des Heimatlandes wegen eines Bürgerkriegs und dem Verlassen des Heimatlandes wegen der dort herrschenden wirtschaftlichen Situation, werden die tatsächlichen Gegebenheiten vor Ort einbezogen, häufig nicht möglich: Die Wirtschaftskraft eines Landes wird offensichtlich durch einen Bürgerkrieg negativ beeinflusst. Ein Faktor vermag demgemäß einen anderen Faktor zu verstärken. Auf der deskriptiven Ebene liegt in der Bildung solcher Komposita einerseits zwar eine Chance, nämlich die Fluchtgründe explizit sprachlich und damit auch konzeptuell zu markieren. Andererseits wird diese Markierung allenfalls auf der Basis oberflächlicher Informationen vorgenommen, was sie unscharf und vage und damit wiederum problematisch werden lässt.

Über den Ausdruck Migrant_in lassen sich bis zu dieser Stelle folgende Aussagen treffen: Er kann in einem engen Bedeutungsrahmen verwendet werden, dessen Kern-Komponenten Freiwilligkeit und eine kaum bis nicht vorhandene Notsituation darstellen. Daneben ist eine Verwendung als Oberbegriff festzuhalten, unter dem die unterschiedlichsten Arten von, ergo unterschiedlichsten Motive für, Menschenbewegungen zusammengefasst werden.

3.3.3 Der Ausdruck Migrationshintergrund und Konstruktion von Differenz

„Migrant_innen“ zählen, wie oben erläutert, zu den „Personen mit Migrationshintergrund“. In Migrationshintergrund liegt ein Ausdruck vor, der noch keine allzu lange Verwendungsgeschichte aufweist. Ausgangspunkt für die Schaffung dieses Ausdrucks war der Bedeutungsverlust eines politischen wie sozialen Konstrukts, das Staatsbürgerschaft genannt wird. Das Innehaben derselben wurde in den Wohlfahrtsstaaten nach dem Zweiten Weltkrieg zur Bedingung für politische Teilhabe sowie den Empfang sozialer Leistungen und Fördermaßnahmen und stellte somit ein entscheidendes Moment dafür dar, ob soziale wie materielle Inklusion gelingen würden (Perchinig/Troger 2011: 7). Dadurch wurde die Staatsbürgerschaft zu einem Differenzmerkmal zwischen „Einheimischen“ und „Ausländer_innen“, das im Zuge der Anwerbung ausländischer Arbeitskräfte ab den 1960er Jahren an Bedeutung gewann (ebd.). Entscheidend für die Kosten-Nutzen-Rechnung der Deutschen Bundesregierung hinsichtlich der Ausländerbeschäftigung war dabei die Annahme, dass sich die „Arbeitsmigrant_innen“ keinesfalls dauerhaft niederlassen, sondern nur zeitlich begrenzt in Deutschland aufhalten würden (Hoesch 2018: 226). Als sich die auch Gastarbeiter_innen genannten Menschen wider Erwarten niederließen und Anstrengungen unternahmen, Familie und Verwandte zu sich zu holen, wurde deutlich, dass diese durchaus als Teil der Gesellschaft angesehen werden müssen. Damit verbunden war nun eine zunehmende juristische Durchsetzung der Gleichbehandlung der „Arbeitsmigrant_innen“ im Arbeits- und Sozialrecht (Perchinig/Troger 2011: 8). Einhergehend mit der zunehmenden Angleichung der Rechte von „Migrant_innen“ und Staatsbürger_innen verlor die Staatsbürgerschaft ihre Rolle als Schlüssel für den Zugang zu Ressourcen (dies.: 11). Spätestens mit dem Europäischen Übereinkommen über die Staatsangehörigkeit im Jahr 1997 wurde das Recht auf eine Staatsbürgerschaft als Menschenrecht begriffen und eine Staatszugehörigkeit von ethnischen oder religiösen Bedingungen gelöst (ebd.). Um darauf hinzuweisen, dass das „Ausländer_in-Sein“ nun immer seltener mit Zuwanderung zusammenhing, sondern im Land geborene Kinder als „Ausländer_innen“ betrachtet wurden und zugleich in jüngerer Zeit Zugewanderte aus sowjetischen Gebieten als „Deutsche“, wurde im Jahr 1998 die Formulierung Migrationshintergrund vorgebracht. Diese ursprünglich kritische Intention verblasste ab der erstmaligen amtlichen Verwendung im Jahr 2005 jedoch (dies.: 14 f.): Wie an der im vorangehenden Abschnitt gegebenen Definition der „Person mit Migrationshintergrund“ abzulesen, wurden nun ebenso Personen, die weder selbst, noch deren Eltern zugewandert sind, mit Migration in Zusammenhang gebracht. Wie Migrationshintergrund und Staatsangehörigkeit mögen ebenso Migrant_in, Flüchtling und Geflüchtete_r als Kategorien betrachtet werden, die „in einer Gesellschaft als relevant erachtet[…] und akzeptiert[…] [werden]“ und „zur Konstruktion von Zuordnungen und Sinnstiftung“ dienen (dies.: 4). Diese Kategorien sind als Ausdruck von Differenzordnungen zu begreifen:

Diese Ordnungen [stellen] eine im Innenraum von gesellschaftlicher Realität angesiedelte, projizierte und wirkende Macht dar[…], die dort, also intern, Sinn schaffen. Sie führen Unterscheidungen ein, die das gesellschaftliche Geschehene symbolisch und materiell, diskursiv und außer-diskursiv für Mitglieder von Gesellschaften begreifbar machen. Erfahren, begriffen und verstanden wird mit Hilfe von Differenzordnungen gesellschaftliche Realität und die eigene Position in ihr. Differenzordnungen strukturieren und konstituieren Erfahrungen, sie normieren und subjektivieren, rufen, historisch aufklärbar, Individuen als Subjekte an (Mecheril 2008: 63).

Diese Ausdrücke reflektieren also als Fremdbezeichnungen einen Prozess des Othering, das einen wesentlichen Unterschied zwischen dem in der Hierarchie weiter oben angesiedelten „Wir“ und dem weiter unten angesiedelten „die Anderen“ konstruiert (vgl. Perchinig/Troger 2011: 5). Es entstehen mithin binäre Verhältnisse, die keinen Raum für Schattierungen lassen. Statt mit den Bezeichneten zu sprechen, wird über sie gesprochen. Dabei wird jedoch nicht bloß eine Differenz konstruiert, sondern zugleich eine Distanzierung des Selbst von dem Anderen vorgenommen. Durch die Identifizierung wünschenswerter Charakteristika, die das Selbst bzw. die eigene Gruppe hat, dem Anderen bzw. der anderen Gruppe jedoch fehlen, und nicht-wünschenswerter Charakteristika, die das Andere bzw. die andere Gruppe haben, dem Selbst bzw. der eigenen Gruppe jedoch fehlen, werden das Selbst und das Andere in einer ungleichen Opposition konstruiert (Brons 2015: 70).

Wie an Staatsbürgerschaft nachgezeichnet, sind solche Differenzordnungen historisch wandelbar – auch hinsichtlich ihrer Relevanz in gesellschaftlichen Konstruktionsprozessen. Wider die Intention der Begriffsschöpferin wurde Migrationshintergrund ebenfalls zu einem Ausdruck einer Differenzordnung (Perchinig/Troger 2011: 14), zu einer Kategorie, die in ihrer Verwendung nicht inklusiven, sondern in erster Linie exklusiven Charakter trägt. Dieser Ausdruck „konstruiert […] Gruppenbezüge und soziale Relevanz entlang von generationsübergreifender Sesshaftigkeit und dem Zufall des Geburtsorts“ (dies.: 20). Während bedingt durch die zunehmenden Einbürgerungen an der Staatsbürgerschaft die Abstammung nicht mehr abzulesen ist, wird diese durch die Konstruktion des Migrationshintergrunds erneut entscheidend für die Zugehörigkeit zu einem Staat und folglich einer Gesellschaft (ebd.). Perchinig und Troger stellen bzgl. Migrationshintergrund fest, dass durch das Othering „die Legitimität der rechtlichen Gleichstellung durch die Staatsbürgerschaft bestritten und eine Kategorie von zweitklassigen Staatsbürgern geschaffen“ (2011: 21) wird.

Ähnlich ist bzgl. der im Fokus dieser Arbeit stehenden Ausdrücke Flüchtling, Geflüchtete_r und Migrant_in, die ja allesamt keine Übergangs- (d. h. in einer Sprachgemeinschaft nur vorübergehend auftauchenden) Bezeichnungen darstellen, davon auszugehen, dass durch deren Verwendung die Personen, auf die sich bezogen wird, generell an eine inferiore soziale Ebene gebunden werden. Dies gilt dann auch für Flüchtling wie Geflüchtete_r gleichermaßen, selbst wenn einer dieser Ausdrücke als politisch korrekt(er) gelten mag. Das bloße Vorliegen solcher Ausdrücke spiegelt einen Othering-Prozess wider. Das Problematische daran ist jedoch noch nicht die bloße Existenz der Ausdrücke, sondern ihre Beständigkeit, ihr hoher usueller Grad, d. h. dass sie eben nicht nur temporär gebraucht werden, sowie dass sie eine hohe Resistenz gegenüber sich ändernden Umstände aufweisen: So ist u. a. erklärbar, warum eine seit zehn Jahren in Deutschland lebende und sozialisierte Person mitunter immer noch als Ausländer_in bezeichnet wird. Daran angeschlossen ist die Frage, ob eine Lebensrolle abgelegt werden kann bzw. welche Bedingungen für die Lebensrolle gelten und welche Umstände eintreten müssen, damit sich ein solcher „Ablege-Prozess“ vollzieht. Noch weiter: Gibt es eine Hierarchie von Lebensrollen, die auf den Extremen „nah an der Aufnahmegesellschaft“ („integriert“?) und „weit entfernt von der Aufnahmegesellschaft“ („(noch) nicht integriert“?) basiert? Um diese Frage zu beantworten, müsste zunächst geklärt werden, was genau integriert bedeutet.

Die Bezeichnungen sind also nicht von Natur aus problematisch, sondern werden es erst, wenn sie zu einer umfassenden Identifikation von Personen herangezogen werden, wenn durch die durch sie gebildete Kategorie eine komplette Existenz erklärt wird, die bezeichnete Person also auf das „Flüchtling-“, „Geflüchtete_r-“ oder „Migrant_in-“Sein reduziert wird. Bzgl. des Ausdrucks Flüchtling stellt Hemmerling (2003: 15) eine „Naturalisierung der Flüchtlingsexistenz“ fest. Das Leben der Individuen vor der Flucht, die Beweggründe sowie ein mögliches Leben nach der Flucht, d. h. etwaige Perspektiven im neuen Land, spielen kaum eine Rolle. Ferner spricht Doppler (2020: 236) von einer „semantischen Identifikation eines Menschen mit seiner Funktion“, die „ein Mechanismus zur Entmenschlichung in der eindimensionalen Gesellschaft“ ist. Aus der Funktion Flüchtling oder Migrant folgt nicht nur eine bestimmte, von ihr angesprochene „administrative Behandlung“ (ebd.), sondern eine gesamtgesellschaftliche.

Freilich können sich Bezeichnungen auch wiederum – insbesondere auf kollektiver Basis – durch die Bezeichneten zu eigen gemacht werden: So bezeichnen sich die Aktivist_innen der Organisation Refugee Struggle for Freedom selbst als refugees. In diesem Fall handelt es sich aber um das selbstständige Vertreten von Interessen und das „refugee-Sein“ wird betont, um für Rechte und Akzeptanz in der Gesellschaft zu kämpfen. Nach Doppler ist der englische Ausdruck refugee anders als Flüchtling in Deutschland eng mit dem Sprechen der Betroffenen selbst verknüpft (dies.: 239). Es wird hier nicht von außen über sie gesprochen, sondern sie selbst kommen zu Wort und Fluchtgründe und insbesondere Perspektiven spielen sehr wohl eine Rolle, blickt politischer Aktivismus doch stets in die Zukunft.

Nachdem im vergangenen Kapitel im Rahmen einer ersten semantischen Beschreibung einige lexikographische, politische und sozialkategoriale Aspekte der Ausdrücke erörtert wurden, werden darauf aufbauend im Folgenden die Frames, die die Ausdrücke bei Einbettung in einen situativen wie sprachlichen Kontext evozieren, in den Blick genommen.