In der vorliegenden Studie werden die Ausdrücke Flüchtling, Geflüchtete_r und Migrant_inFootnote 1 diskurssemantisch untersucht. Wie im Verlauf dieser Arbeit gezeigt wird, werden diese Bezeichnungen seit Mitte der 2010er Jahre in der öffentlich-politischen Sprache zunehmend alternierend gebraucht. Zweck der Arbeit ist, Wissen, das sich im Gebrauch der Ausdrücke zeigt, herauszuarbeiten, um so empirisch valide Aussagen hinsichtlich der semantischen Unterschiede und Gemeinsamkeiten der Ausdrücke zu generieren. Die semantische Analyse des Sprachgebrauchs geht dabei entschieden über die Wort- und Satzgrenzen hinaus und untersucht die Ausdrücke in ihrer kontextuellen (situativen) und kotextuellen (sprachlichen) Einbettung.

Das Textkorpus, das die Basis der zu analysierenden Sprachdaten bildet, repräsentiert einen Diskursausschnitt, genauer: einen Ausschnitt des öffentlichkeitswirksamen Sprechens und Berichtens über die mittels der obigen Ausdrücke bezeichneten Personen(gruppen). Da die Untersuchung auf den Zeitraum zwischen den Jahren 2013 und 2018 eingeschränkt wurde, ist die Arbeit zugleich als Analyse des Diskurses zur europäischen Krise der Flüchtlings- und MigrationspolitikFootnote 2 angelegt.

Diskurse bestehen aus Texten, deren „Produktion […] auf sozialisatorisch angeeignetem Wissen, den jeweiligen Motiven der sprachlich Handelnden und den verfügbaren Ressourcen der Versprachlichung und sprachlichen Entäußerung [beruht]“ (Keller 2011: 33). Zu einem Diskurs gehören nach Busse/Teubert (1994: 14) alle Texte, die

sich mit einem als Forschungsgegenstand gewählten Gegenstand, Thema, Wissenskomplex oder Konzept befassen, untereinander semantische Beziehungen aufweisen und/oder in einem gemeinsamen Aussage-, Kommunikations-, Funktions- oder Zweckzusammenhang stehen, [sowie] den als Forschungsprogramm vorgegebenen Eingrenzungen in Hinblick auf Zeitraum/Zeitschnitte, Areal, Gesellschaftsausschnitt, Kommunikationsbereich, Texttypik und andere Parameter genügen […]

Diskursanalyse wird in der vorliegenden Arbeit in Form von kognitionslinguistischer Frame-Analyse vorgenommen. Frame-Semantik wird in Anknüpfung an Ziem (2008: 3) als Methode zur Herausarbeitung bedeutungs- und verstehensrelevanten Wissens begriffen. Frames können als kognitive Repräsentationsformate sowie Ordnungsstrukturen von Wissen beschrieben werden (Ziem 2018: 7), angewandte Frame-Forschung ist also als Wissensanalyse zu verstehen. Ein Frame besteht aus mehreren, gemäß ihrer Funktion bezeichneten Frame-Elementen, den Leerstellen (‚slots‘), den Füllwerten (‚fillers‘) und den Standardwerten (‚default values‘) (ders.: 12 f.). Bei der Wahrnehmung (dem Lesen oder Hören) eines sprachlichen Zeichens veranlasst seine Formseite einen kognitiven Konzeptualisierungsprozess des Inhalts dieses sprachlichen Zeichens; diesem kommt also eine Rolle als kognitiver Stimulus zu. Im Zentrum der Arbeit steht deshalb die Frage, in welchen situativen und sprachlichen Zusammenhängen der jeweilige Ausdruck gebraucht wird und was dies für den durch den Ausdruck evozierten Frame bedeutet: Ein sprachlicher Ausdruck erfährt eine spezifische Einbettung, wobei diese hinsichtlich handelnder Akteur_innen im politischen Feld bzw. im Diskurs mitunter durch Intentionen und Ideologie geleitet wird. Daraufhin liegt eine spezifische Deutung dieses Wortes, dieser Äußerung, durch die Rezipient_innen näher als eine andere, denn: Gewisse Elemente, die gar nicht sprachlich realisiert werden (müssen), werden im Zuge der Evokation des Frames mitaktiviert und sind deshalb schneller und leichter zugänglich, i.S. eines geringeren kognitiven Arbeitsaufwandes (Arbeit heißt: kognitiv verfügbar Machen). Wie aus neurolinguistischen Studien hervorgeht, formt ein wiederholtes Setzen bestimmter Ausdrücke (Konzepte) in einen sprachlichen (kognitiven) Kontext das Gedächtnis physiologisch (Rösler 2011: 189.). Da es sich bei den bezeichneten Personen(gruppen) der drei zur Untersuchung stehenden Ausdrücke in jedem Fall in der Gesellschaft, die über sie spricht, um Minderheiten und potenziell stark benachteiligte Personen(gruppen) handelt, weist das Sprechen über sie aus der Sicht einer freiheitlichen und demokratischen Gesellschaft eine gewisse Brisanz auf. Die vorliegende Arbeit versteht sich deshalb auch als Analyse sprachlich realisierten Wahrnehmungswissens über einen sozio-politisch relevanten Themenkomplex.

Im folgenden Kapitel werden frame-theoretische Aspekte behandelt, die zugleich das theoretische Fundament der Arbeit bilden: die Strukturkonstituenten von Frames, Frames und ihr Verhältnis zur dinglichen Umwelt sowie prozessuale Aspekte. Kapitel drei besteht aus ersten semantischen Überlegungen zu den unterschiedlichen Ausdrücken, die grundlegend für die anschließende Frame-Analyse sind: So werden morphosemantische Aspekte, politische Definitionen, soziale Kategorisierungen, die sich an den Ausdrücken zeigen, diskutiert sowie der diskursive Streit um Geflüchtete_r als politisch korrekter Ausdruck dargestellt und reflektiert. Im vierten Kapitel werden die Ausdrücke in ihrer konkreten textuellen Einbettung und die evozierten Frames analysiert, wobei im ersten Teil politische Reden, im zweiten Teil Presseausschnitte als Untersuchungsgegenstand dienen. Dabei werden nicht nur inhaltliche Aspekte herausgearbeitet, sondern auch die Methoden einer linguistischen Frame-Analyse veranschaulicht. Abschließend werden die Ergebnisse der Arbeit zusammengefasst und mögliche Anschlussfragen kurz diskutiert.