Nachdem nun beide Pilotstudien sowie die Hauptstudie vorgestellt und diskutiert wurden, sollen an dieser Stelle aus der Zusammenschau aller Studien nochmals die wesentlichen neuen Erkenntnisse, die Stärken, aber auch die Defizite, sowie die Schlussfolgerungen für Forschung und Praxis herausgearbeitet werden.

5.1 Zentrale Befunde zur Charakterisierung der Rollen

Hauptanliegen der Arbeit war eine Charakterisierung der Rollen bei Schul- und Cyberbullying hinsichtlich soziodemographischer, soziometrischer, vor allem aber sozial-kognitiver und affektiver Reaktionen. Generell gab es keine Befunde, die den Erwartungen entgegengesetzt waren. Oftmals bestätigten sich die Annahmen, an anderen Stellen konnten erwartete Zusammenhänge nicht nachgewiesen werden oder wurden unter Berücksichtigung von weiteren Variablen nicht signifikant. Für Schul- und Cyberbullying zeigten sich grundsätzlich ähnliche Ergebnisse, manchmal erreichten bei Schulbullying gefundene Zusammenhänge jedoch bei Cyberbullying kein signifikantes Niveau. Dies mag daran liegen, dass im Cyberkontext die Zusammenhänge mit soziometrischen und sozial-kognitiven und affektiven Variablen tatsächlich schwächer ausfallen, dass die Rollen in diesem Kontext weniger genau wahrgenommen werden und daher ein höherer Messfehler vorliegt, oder daran, dass die Stichprobe der in Cyberbullying Involvierten kleiner ausfiel. Für den Fall, dass sich bei Cyberbullying signifikante Ergebnisse zeigten, kann aufgrund der hohen Überlappung mit Schulbullying nicht ausgeschlossen werden, dass diese auf die Rollen im Schulkontext zurückgehen. Einen Überblick über die Befundlage – sowohl bisheriger Forschung als auch der dieser Arbeit – zu den fünf Rollen für alle untersuchten Variablen gibt Tabelle B30 im elektronischen Zusatzmaterial.

5.1.1 Unterschiede in soziodemographischen, soziometrischen und leistungsbezogenen Variablen

Sowohl bei Schul- als auch bei Cyberbullying sind Jungen erwartungsgemäß meist häufiger in den Pro-Bullying-Rollen vertreten und Mädchen häufiger in der Verteidiger-Rolle. Bei Opfern ist das Geschlechterverhältnis in Einklang mit deutschen Peer-Nominierungsstudien relativ ausgeglichen. Nur in der Pilotstudie gibt es tendenziell einen leichten Zusammenhang zwischen Viktimisierung und männlichem Geschlecht, was den Befunden großangelegter Studien und Metaanalysen entspricht. Ebenfalls passend zur bisherigen Befundlage zeigt sich in der Hauptstudie ein recht ausgeglichenes Geschlechterverhältnis für die Außenstehenden, doch sind in der Pilotstudie weibliche Außenstehende erkennbar überrepräsentiert und auch in der Hauptstudie gibt es einen bivariaten Zusammenhang zwischen der Nominierungszahl für die Außenstehenden-Rolle bei Schulbullying und dem weiblichen Geschlecht.

Aussagen zu Unterschieden zwischen den Klassenstufen lassen sich nur mit äußerster Vorsicht treffen, da die einzelnen Rollen in den Klassenstufen teils nur sehr selten vertreten waren. Für Cyberbullying war aufgrund dessen keine Signifikanzprüfung möglich. Grundsätzlich lässt sich keine Äußerung dazu machen, in welcher Klassenstufe Schul- und Cyberbullying am stärksten oder am schwächsten ausgeprägt ist. Die Stufenunterschiede fallen je nach Rolle unterschiedlich aus. Für die Opfer-Rolle zeichnet sich über die Studien kein einheitlicher Trend ab – auch lässt sich über die vier in der Hauptstudie untersuchten Stufen hinweg weder ein gleichmäßiger Anstieg oder Abstieg noch ein linearer Zusammenhang mit dem Alter erkennen. Nichtsdestoweniger lässt sich vorsichtig die Tendenz formulieren, dass die Beteiligung an Bullying, insbesondere an Cyberbullying, in den höheren Klassenstufen ungünstiger ausfällt. Zusammengenommen machen die Pro-Bullying-Rollen in den höheren Klassenstufen einen größeren Anteil aus und bivariat zeigen sich leicht positive Zusammenhänge mit dem Alter. Auch die passiven Außenstehenden sind in den oberen Klassen häufiger vertreten, wohingegen der Anteil der Verteidiger in den Stufen 8 und 9 verschwindend gering ist. Dieses Muster gilt gleichermaßen für Schul- und Cyberbullying und passt zum bisherigen Forschungsstand.

Befunde zum soziometrischen Status der unterschiedlichen Rollen reihen sich in die Studienlage: Bei Schulbullying erfahren Opfer insbesondere viel Ablehnung und wenig Zuneigung, Täter und Verstärker eine hohe Popularität sowie Zuneigung, multivariat jedoch auch viel Ablehnung; Verteidiger insbesondere viel Zuneigung und passives Bystander-Verhalten ist mit einer geringen Popularität assoziiert. Auch Cyberopfer erfahren wie in bisherigen Studien viel Ablehnung sowie bivariat wenig Zuneigung und Popularität. Cybertäter zeichnen sich durch viel Ablehnung und Popularität aus. Keine Studien gab es bislang zum soziometrischen Status der Cyberbystander in der Klassengemeinschaft. In der vorliegenden Arbeit ist eine geringere Ablehnung prädiktiv für die Außenstehenden-Rolle in Abgrenzung von Opfer- und Täter-Rolle. Weiterhin sind bivariate Zusammenhänge erkennbar: Verstärkendes Verhalten ist mit geringer Ablehnung, verteidigendes Verhalten mit hoher Zuneigung und passives Verhalten mit geringer Popularität assoziiert. Für die Differenzierung zwischen den Cyberbystander-Rollen erweist sich hingegen keine der soziometrischen Variablen als signifikanter Prädiktor.

Wie auch frühere Untersuchungen zeigen konnten, erzielen die Opfer und Täter bei Schulbullying schlechtere schulische Leistungen, insbesondere im Vergleich mit den leistungsstarken Verteidigern (und Außenstehenden). Korrelativ hängt jedoch nur die Täterschaft, nicht aber die Viktimisierung bei Schulbullying mit Leistungsproblemen zusammen, wohingegen die Nominierungshäufigkeit für sowohl Verteidiger- als auch Außenstehenden-Rolle negativ mit dem Notenschnitt korrelieren – also mit guten Schulleistungen assoziiert sind. Während in bisherigen Studien auch die Opfer und Täter bei Cyberbullying leistungsschwach sind, konnten in der vorliegenden Arbeit keine signifikanten Unterschiede gefunden werden. Anzumerken ist jedoch, dass die Differenz im Notenschnitt zwischen Tätern und Verteidigern bei Cyberbullying deskriptiv sogar höher ausfällt als bei Schulbullying, nichtsdestoweniger nur bei Schulbullying signifikant wird. Dies lässt vermuten, dass mit einer größeren Stichprobe auch bei Cyberbullying die Effekte signifikant würden. Die genannten Unterschiede machen rund eine drittel bis halbe Note aus, was die hohe praktische Relevanz verdeutlicht. Kaum Befunde gibt es generell zu den schulischen Leistungen der Bystander-Rollen. Hervorzuheben sind dementsprechend die Ergebnisse, dass bei Schulbullying Verstärker in ihrer Schulleistung den Tätern ähneln und signifikant schlechtere Noten erzielen als Verteidiger, während sich Außenstehende nicht signifikant von Verteidigern unterscheiden. Zwischen den Cyberbystandern finden sich keine signifikanten leistungsbezogenen Effekte – deskriptiv ähneln die Verstärker hier jedoch eher den Außenstehenden.

5.1.2 Unterschiede in sozial-kognitiven und affektiven Variablen

Wie angenommen berichten die Verteidiger stark ausgeprägte Empathie, während Täter, Verstärker und auch Außenstehende ein signifikant geringeres Empathieniveau aufweisen. Allerdings erreicht der Unterschied zwischen den Bystander-Rollen bei Kontrolle von Geschlecht und Stufe keine Signifikanz. Opfer und Cyberopfer unterscheiden sich in Hinblick auf Empathie nicht von Verteidigern beziehungsweise Cyberverteidigern. Bivariat sind die Nominierungen für Verteidiger- und auch Opfer-Rolle positiv mit Empathie korreliert und die für Täter- und Verstärker-Rolle negativ. Dieses Muster von Unterschieden und Zusammenhängen ist für Schul- und Cyberbullying identisch.

Ebenfalls im Einklang mit der bisherigen Forschung sind die Täter bei Schul- und Cyberbullying durch ausgeprägtes Moral Disengagement gekennzeichnet, während Verteidiger kaum Moral Disengagement zeigen. Beide Rollen unterscheiden sich signifikant, auch unter Kontrolle von Geschlecht und Klassenstufe. Weiterhin sind Täter-Nominierungen positiv und Verteidiger-Nominierungen negativ mit Moral Disengagement korreliert. Weniger Forschung betrachtete bisher verstärkendes oder passives Bystander-Verhalten separat. Die vorliegende Studie bestätigt nun, dass auch Verstärker und Außenstehende im Vergleich zu Verteidigern viel Moral Disengagement betreiben, wenngleich der Effekt bei Schulbullying nur ohne Kontrolle von Geschlecht und Stufe signifikant ist. Die Korrelation zwischen Moral Disengagement und Verstärker-Nominierungen ist positiv, die Korrelation mit Nominierungen für die Außenstehenden-Rolle hingegen bei Schulbullying schwach negativ und bei Cyberbullying nicht signifikant. Dies deutet darauf hin, dass passives Verhalten nicht per se mit hohem Moral Disengagement einhergeht. Zu beachten ist bei Interpretation der bivariaten Korrelation, dass insbesondere bei den Nominierungen als Außenstehender zugleich auch Nominierungen für andere Rollen – bei Schulbullying vor allem die Verteidiger-Rolle – vorliegen. Dies erklärt die negative Korrelation. Bei reinen Außenstehenden ist Moral Disengagement eher durchschnittlich ausgeprägt und damit tendenziell stärker als bei den Verteidigern.

Das Verantwortungsgefühl im Bullying-Geschehen ist vergleichsweise wenig erforscht – insbesondere zu den Bystander-Rollen und zu Cyberbullying gibt es kaum Studien. Verantwortungsgefühl und moralische Emotionen scheinen bei Tätern gering und bei Verteidigern stark ausgeprägt zu sein. In Einklang damit ist in der hiesigen Stichprobe die Verantwortungsskala negativ mit Täter-Nominierungen und positiv mit Verteidiger-Nominierungen korreliert. Zudem findet die vorliegende Arbeit einen signifikanten Unterschied zwischen Verteidigern und Tätern sowie Täter-Verstärkern. Bei Schulbullying wird allerdings unter Kontrolle von Geschlecht und Stufe nur der Unterschied zur Extremgruppe der Täter-Verstärker signifikant. Weiterhin ist die vorliegende Arbeit eine der ersten, die Verstärker und Außenstehende von sowohl Schul- als auch Cyberbullying hinsichtlich ihres Verantwortungsbewusstseins untersucht. Es zeigt sich, dass beide Gruppen weniger Verantwortungsgefühl berichten als Verteidiger – der Effekt wird jedoch abermals nur ohne Kontrolle von Geschlecht und Stufe signifikant. Nur für verstärkendes Verhalten zeigt sich eine klare negative Korrelation mit Verantwortungsgefühl. Zum Verantwortungsgefühl von Opfern oder Cyberopfern sind bis dato keine Befunde bekannt. Diese unterscheiden sich in dieser Studie nicht von den Verteidigern beziehungsweise Cyberverteidigern. Bei Schulbullying ist sogar eine schwach positive Korrelation von Opfer-Nominierungen mit Verantwortungsgefühl erkennbar.

Die Verteidiger-Selbstwirksamkeit ist hypothesenkonform bei den Verteidigern und Cyberverteidigern am stärksten ausgeprägt. Bivariat besteht eine positive Korrelation. Signifikant wird bei Kontrolle von Stufe und Geschlecht nur der Unterschied zu Täter-Verstärkern bei Schulbullying und zu Tätern bei Cyberbullying. Verstärker und Außenstehende haben bei Berücksichtigung des Geschlechts eine ähnlich hohe Selbstwirksamkeitserwartung wie Verteidiger. Die – wenn auch dünne – Forschungslage hätte hingegen vermuten lassen, dass Verstärker und Außenstehende weniger Zutrauen in die eigene Fähigkeit, etwas gegen Bullying tun zu können, haben. Zumindest die bivariate Korrelation zwischen Verstärker-Nominierungen und Verteidiger-Selbstwirksamkeit ist bei Schulbullying schwach negativ. Bei Cyberbullying zeigen sich Unterschiede zwischen den Bystander-Rollen in die erwartete Richtung, die jedoch unter Berücksichtigung von Geschlecht und Stufe abermals nicht signifikant werden.

Keinerlei Unterschiede zwischen den Rollen finden sich hinsichtlich Befürchtungen, sich durch Hilfeverhalten selbst in Gefahr zu bringen oder die Situation zu verschlimmern. Auch zeigen sich kaum klare bivariate Korrelationen. Dies ist überraschend, da derartige Befürchtungen häufig als Grund dafür genannt werden untätig zu bleiben (z. B. Chen et al., 2016; Van Cleemput et al., 2014). Es wäre also zu erwarten gewesen, dass Außenstehende mehr Befürchtungen berichten als Verteidiger. Auch scheint plausibel, dass gerade Opfer von Bullying stärkere Ängste in Bezug darauf haben, sich in (andere) Bullying-Vorfälle einzumischen. Ein signifikanter Unterschied zeigt sich jedoch nur bei Schulbullying, wenn für Geschlecht und Klassenstufe kontrolliert wird. Die deskriptiven Statistiken deuten darauf hin, dass nur bei Jungen ein Unterschied besteht, der allerdings darauf zurückzuführen ist, dass männliche Verteidiger besonders wenig Befürchtungen berichten. Bivariat zeigt sich interessanterweise über die Kontexte hinweg ein positiver Zusammenhang zwischen Opfer-Nominierungen und Befürchtungen: Wer häufiger als Opfer von Schulbullying genannt wurde, berichtet stärkere Ängste sich in Cyberbullying einzumischen.

5.2 Zentrale Befunde zu den sozial-kognitiven und affektiven Reaktionen auf Bullying

Obgleich das Hauptziel der Studie eine Charakterisierung der Rollen bei Bullying war, lag ein starker Fokus auch auf den sozial-kognitiven und affektiven Reaktionen, die im Bullying-Geschehen auftreten. Gerade wenn es darum geht, welche sozial-kognitiven und affektiven Reaktionen typisch für die verschiedenen Rollen – die nachgewiesenermaßen mit Geschlecht und Alter zusammenhängen – sind, erscheint es sinnvoll, auch die sozial-kognitiven und affektiven Reaktionen hinsichtlich Geschlechts- und Stufenunterschieden unter die Lupe zu nehmen. Deutlich zeigt sich über Pilot- und Hauptstudie hinweg, für Schul- und Cyberbullying und sowohl bi- als auch multivariat, dass das weibliche Geschlecht mit mehr Empathie, weniger Moral Disengagement, mehr Verantwortungsgefühl, aber auch mehr Befürchtungen einhergeht. Für Schulbullying zeigt sich in der Hauptstudie zudem ein Zusammenhang mit mehr Verteidiger-Selbstwirksamkeit.

Das Alter ist in der Pilotstudie negativ mit Empathie, positiv mit Moral Disengagement und leicht negativ mit Befürchtungen korreliert. Über die größere Alterspanne der Hauptstudie zeigen sich in Bezug auf sowohl Schulbullying als auch Cyberbullying negative Korrelationen des Alters mit Empathie, Verantwortungsgefühl, Verteidiger-Selbstwirksamkeit und Befürchtungen sowie eine positive Korrelation mit Moral Disengagement. Bei multivariater Überprüfung unter Berücksichtigung verschiedener anderer Variablen (Geschlecht, Zeugenperspektive, Bullyingform) ist Alter in der Pilotstudie schwach negativ prädiktiv für Empathie und schwach positiv prädiktiv für Moral Disengagement. In der Hauptstudie ist die Stufenzugehörigkeit nur in Bezug auf Schulbullying relevant: In höheren Klassenstufen sind Empathie, Verantwortungsgefühl, Verteidiger-Selbstwirksamkeit und auch Befürchtungen schwächer ausgeprägt. Interessanterweise zeigt sich bei gleichzeitiger Berücksichtigung von Rollen und Geschlecht kein positiv prädiktiver Wert der Klassenstufe für Moral Disengagement.

Betrachtet man die Befunde in Zusammenschau mit den Rollen, sind es die Mädchen, die viel Empathie und Verantwortungsgefühl sowie wenig Moral Disengagement berichten und passend dazu häufiger als Jungen Verteidiger und seltener Täter oder Verstärker sind. Ebenso berichten jüngere Schülerinnen und Schüler mehr Empathie, Verantwortungsgefühl und Verteidiger-Selbstwirksamkeit als ältere und konsistent dazu ist Pro-Bullying-Verhalten und passives Verhalten tendenziell unter älteren Heranwachsenden häufiger und verteidigendes Verhalten seltener. Nur hinsichtlich Befürchtungen sind die Zusammenhänge gegenläufig: Ältere berichten zwar weniger Befürchtungen als jüngere, sind aber dennoch seltener Verteidiger und eher passive Außenstehende. Weiterhin berichten Mädchen mehr Befürchtungen als Jungen und werden häufiger als Außenstehende, aber auch häufiger als Verteidiger genannt. Generell scheint der Zusammenhang zwischen Rolle und sozial-kognitiven und affektiven Reaktionen durch Geschlechts- und Alterseffekte überlagert. Bei Kontrolle für Geschlecht und Klassenstufe werden oft nur mehr die Unterschiede zwischen den Extremgruppen (Täter bzw. Täter-Verstärker vs. Verteidiger) signifikant. Unklar ist, ob Geschlecht und Stufe beispielsweise vermittelt über soziale Normen sowohl das Rollenverhalten als auch sozial-kognitive und affektive Reaktionen bedingen oder ob möglicherweise die sozial-kognitiven und affektiven Reaktionen zwischen soziodemographischen Variablen und der Rolle mediieren.

Interessant zu betrachten sind weiterhin die Zusammenhänge der sozial-kognitiven und affektiven Reaktionen mit dem soziometrischen Status und der schulischen Leistung. Diese standen nicht im Fokus der Untersuchung, weshalb hierzu nur bivariate Korrelationen erste Hinweise liefern. Generell zeigen sich kaum Assoziationen mit den soziometrischen Variablen, was ein Stück weit überrascht, da anzunehmen gewesen wäre, dass Empathie und Verantwortungsgefühl als prosoziale Emotionen mit soziometrischer Beliebtheit einhergehen. Dem entgegen zeigt sich sogar eine schwache positive Korrelation zwischen Empathie und Ablehnung, die gegebenenfalls darauf zurückgeht, dass Opfer sehr empathisch sind und stark abgelehnt werden. Weiterhin gehen ausgeprägte Befürchtungen sich in Bullying einzumischen mit geringer Popularität einher. Möglicherweise sind sich diejenigen, die in der Klasse als wenig beliebt gelten (insbesondere also Opfer und Außenstehende), ihrer vulnerablen Stellung in der Klassenhierarchie bewusst und fürchten daher negative Konsequenzen. Oder aber jene mit starken Befürchtungen, verhalten sich auch in anderen Situationen ängstlicher oder unsicherer, was zu einer geringeren Beliebtheit führt. Schließlich sind gute Schulleistungen mit viel Empathie und Verantwortungsbewusstsein und wenig Moral Disengagement assoziiert, was sich auf Verhaltensebene in der Leistungsdifferenz zwischen Verteidigern und Tätern widerspiegelt.

5.3 Theoretische Schlussfolgerungen

Die Befunde der drei hier vorgestellten Studien lassen gewisse Rückschlüsse auf zum einen den Participant-Role-Ansatz – insbesondere seine Übertragbarkeit auf Cyberbullying – sowie zum anderen das erweiterte Bystander-Intervention-Modell für Bullying zu. Diese werden nachfolgend ausgeführt.

5.3.1 Schlussfolgerungen für den Participant-Role-Ansatz bei Schul- und Cyberbullying

Bullying wird oftmals als Gruppenphänomen bezeichnet: Es tritt in relativ kleinen, fest zusammengesetzten Gruppen auf und für die Manifestation von Bullying scheinen sozialer Status sowie die Reaktionen der übrigen Gruppenmitglieder ausschlaggebend zu sein (siehe Abschnitt 1.2). Der Participant-Role-Ansatz geht davon aus, dass jedem Klassenmitglied eine distinkte Rolle im Bullying-Gefüge zukommt, welche von den anderen Klassenmitgliedern wahrgenommen und benannt werden kann (Salmivalli et al., 1996). Inzwischen liegt diesbezüglich viel empirische Forschung zu Schulbullying vor, empirische Forschung zu Cyberbullying als soziales Phänomen ist hingegen seltener. Einige Untersuchungen haben die Rollen beziehungsweise Verhaltensmuster der Bystander aus dem schulischen Kontext in den Online-Kontext übertragen (DeSmet et al., 2016; Van Cleemput et al., 2014; Wachs, 2012). Bis heute sind jedoch keine Studien bekannt, die versucht haben, auch die Bystander-Rollen bei Cyberbullying mittels Peer-Nominierungen zu erfassen und diese mit dem sozialen Stand innerhalb der Klasse in Verbindung zu bringen. Zudem gibt es kaum Studien zu Cyberbullying, die das gesamte Rollengefüge und nicht bloß einzelne Verhaltensweisen betrachten. DeSmet und Kolleginnen (2014) folgern aus ihren Fokusgruppen-Interviews sogar, dass das Bystander-Verhalten bei Cyberbullying stark von kontextuellen Faktoren abhängt und daher nicht als feste Rolle verstanden werden sollte. Allerdings wurde in diesen Befragungen kein Fokus auf einen bestimmten Cyberbullying-Fall in einem festen sozialen Gefüge wie der Klassengemeinschaft gelegt. Als wichtige Determinanten für das Bystander-Verhalten wurden Merkmale des Täters und des Opfers herausgearbeitet. Die angemessenere Schlussfolgerung wäre somit zunächst, dass die Zeugen von Cyberbullying gegebenenfalls bei unterschiedlichen Bullying-Konstellationen unterschiedliche Rollen einnehmen. Es ist jedoch anhand der Studie von DeSmet und Kolleginnen (2014) vorerst nicht möglich eine Vermutung dahingehend zu formulieren, ob die Bystander in einem konkreten Cyberbullying-Fall inkonsistentes Verhalten oder ein relativ stimmiges Verhaltensmuster zeigen, welches als Rolle bezeichnet werden könnte. Dieser Frage widmete sich die vorliegende Arbeit. Über Peer-Nominierungen wurden dazu sowohl die Täter-Opfer-Konstellation für verschiedene Formen von Schul- und Cyberbullying wie auch jeweils die Bystander-Rollen Verstärker, Verteidiger und Außenstehender abgefragt.

Die erste wichtige Erkenntnis ist, dass sich auch für Cyberbullying mittels Peer-Nominierungen Participant Roles identifizieren lassen. Ob und wie viele Personen für eine Rolle identifiziert werden können, hängt unter anderem vom eingesetzten Zuordnungskriterium ab (siehe Abschnitt 2.3.4). Anstelle der ursprünglich von den Autorinnen und Autoren des Participant-Role-Ansatzes vorgeschlagenen und oft eingesetzten Zuordnung anhand klassenweise standardisierter Werte wurde in dieser Untersuchung ein absolutes Kriterium von mindestens drei Nennungen verwendet. An der Rollenzuweisung mittels standardisierter Werte kann kritisiert werden, dass es in jeder Klasse Personen mit überdurchschnittlichen Werten gibt und daher in allen Klassen mit einer ähnlichen Verteilung zu rechnen ist (Goossens et al., 2006). Demgegenüber stellen drei Nennungen ein vergleichsweise strenges Kriterium dar – der Mittelwert für die einzelnen Items liegt nur in wenigen Fällen über eins. Bei Schulbullying erfüllen rund 65 % der Schülerinnen und Schüler dieses Kriterium für mindestens eine Rolle, bei Cyberbullying sind es nur etwa 15 %. Dies bedeutet nicht unweigerlich, dass in Cyberbullying-Vorfällen die Bystander-Reaktionen weniger bedeutsam oder weniger konsistent sind als bei Schulbullying. Auch wäre es zu kurz gegriffen zu folgern, dass der Participant-Role-Ansatz oder die Methode der Peer-Nominierung grundsätzlich ungeeignet für das Forschungsfeld Cyberbullying sind. Vielmehr gilt zu beachten, dass Cyberbullying eine geringere Prävalenz hat als Schulbullying. Bei einer Prävalenz von 6 % Opfern von Schulbullying versus 2 % Opfern von Cyberbullying ist nicht erstaunlich, dass auch die übrigen Rollen seltener vergeben sind. Opfer von Schulbullying gibt es in 85 % der untersuchten Klassen (55 von 65), Opfer von Cyberbullying in 37 % (24 von 65). Nichtsdestoweniger ist darauf hinzuweisen, dass es bei Cyberbullying häufiger vorkommt, dass zwar Cyberopfer, aber keine anderen Rollen identifiziert werden können. Dies deutet darauf hin, dass Cyberbullying durchaus teils mit weniger Beteiligung der Klasse oder eben stärker im Verborgenen abläuft. Dass sowohl bei Schul- als auch Cyberbullying einige Opfer von der Klasse unerkannt bleiben zeigen die Zahlen selbstnominierter Opfer: 9 % sehen sich selbst als Opfer von Schulbullying, 5 % als Opfer von Cyberbullying.

Ab wann bestimmte Verhaltensweisen überhaupt als Rollen angesehen werden können, ist eine Grundsatzfrage. Der Prämisse, dass ein Verhalten vom Großteil der Klasse übereinstimmend wahrgenommen werden muss, um als Rolle bezeichnet zu werden, wird ein Kriterium von drei Nominierungen nicht gerecht. Doch ist die zugrunde liegende Annahme, dass alle Klassenmitglieder des Bullying gewahr sind (Salmivalli et al., 1996) beziehungsweise das konkrete Verhalten all ihrer Klassenkameraden nachvollziehen können, zu hinterfragen. Viel wahrscheinlicher scheint es, dass die Aufmerksamkeit vor allem auf den direkt Beteiligten, das heißt den Tätern und den Opfern liegt. Eine generelle Orientierung am Verhaltenen der anderen zur Einschätzung der Situation mag stattfinden (Latané & Darley, 1970), jedoch möglicherweise ohne Fokus auf einzelne Individuen. Dass im RoleGrid ausdrücklich nach typischerweise gezeigtem Verhalten gefragt wird, kann weiterhin zu zurückhaltenden Nominierungen führen, da die Heranwachsenden vielleicht nur einzelne Ausschnitte des Verhaltens mitbekommen. Dementsprechend wurde ein Kriterium von drei Nominierungen als angemessen erachtet. Wenn drei Heranwachsende angaben, ein Verhalten sei typisch für einen Klassenkameraden, so wurde dies als ausreichender Indikator für die entsprechende Rolle angesehen.

Neben dem Anspruch, dass ein Verhalten zumindest von einigen Interaktionspartnern als typisch betrachtet werden sollte, um als soziale Rolle zu gelten, ist auch die Konsistenz des Verhaltens relevant. Um von einer Rolle sprechen zu können, sollte das Verhalten innerhalb einer bestimmten sozialen Gruppe – in diesem Fall der Klasse – über verschiedene Gelegenheiten hinweg – in diesem Fall verschiedenen Formen von Bullying – recht ähnlich sein und kein widersprüchliches Verhalten berichtet werden. In der vorliegenden Studie fällt auf, dass bei Schulbullying gut ein Viertel der Heranwachsenden das Kriterium von mindestens drei Nominierungen für mehr als eine Rolle erfüllt. Dies scheint zunächst gegen ein konsistentes, situationsübergreifendes Verhaltensmuster zu sprechen. Bei differenzierterer Betrachtung wird jedoch deutlich, dass insbesondere die Außenstehenden-Rolle die häufigste Zweitrolle darstellt. Dies spricht zwar dafür, dass die übrigen Heranwachsenden nicht durchgängig in ihrer Rolle bleiben, also nicht immerzu schikanieren, verstärken oder verteidigen, sondern daneben auch häufig passives Verhalten zeigen, stellt aber keinen völligen Widerspruch dar. Besonders häufig ist auch die Kombination von Täter- und Verstärker-Rolle. Dass das Kriterium für wirklich widersprüchliche Rollen (Täter-Verteidiger, Verstärker-Verteidiger) oder für mehr als zwei Rollen erfüllt wird, kommt nicht allzu oft vor. Bei Cyberbullying sind Mehrfachrollen interessanterweise generell recht selten. Wird eine Rolle eingenommen, ist diese in der Regel eindeutig. Auch beim Vergleich von Schul- und Cyberbullying zeigt sich eine hohe Übereinstimmung. Diejenigen, die in Schulbullying involviert waren, hatten zwar oftmals bei Cyberbullying keine Rolle, wenn aber, war es die gleiche oder eine ähnliche Rolle (z. B. Täter statt Verstärker). Umgekehrt nahmen viele, die bei Cyberbullying eine Rolle vertraten, eben diese auch bei Schulbullying ein.

Versteht man unter einer soziale Rolle also, dass ein Verhaltensmuster von mehreren Gruppenmitgliedern übereinstimmend als typisch für eine Person wahrgenommen wird und dass von der Person innerhalb der Gruppe über verschiedene Gelegenheiten hinweg ein ähnliches Verhalten und nicht widersprüchliches Verhalten gezeigt wird, kann auf Grundlage der vorliegenden Daten bejaht werden, dass sowohl im Kontext von Schulbullying als auch im Kontext von Cyberbullying verschiedene Bystander-Rollen auftreten. Auch Cyberbullying erfolgt oftmals unter Beteiligung der Klasse und kann in diesem Fall wie Schulbullying getrost als Gruppenphänomen bezeichnet werden. Im Unterschied zu Schulbullying kann es bei Cyberbullying allerdings auch vorkommen, dass die Klasse nicht beteiligt ist.

Generell zeigen die Designeffekte, dass die Klassenzugehörigkeit einen gewaltigen Einfluss auf die Rollennominierungen hat. Dies gilt für Cyberbullying ebenso wie für Schulbullying. Nur die Opfer-Nominierungen scheinen wenig abhängig von der Klassenzugehörigkeit, was nachvollziehbar ist, wenn man bedenkt, dass der allergrößte Anteil der Schülerinnen und Schüler gar keine Opfer-Nominierungen erhalten und es pro Klasse in der Regel nur einzelne Opfer gibt. Wie viele Nominierungen Heranwachsende für die übrigen Rollen erhalten, hängt unter anderem damit zusammen, in welche Klasse sie gehen. Konformität könnte dabei eine Rolle spielen, dass sich Mitglieder einer Klasse ähnlich verhalten. Aber auch Effekte auf Ebene der Messung sind nicht auszuschließen (z. B. unterschiedlich stark ausgeprägtes Nominierungsverhalten in unterschiedlichen Klassen). Generell weisen die großen Designeffekte auf eine hohe Bedeutsamkeit der sozialen Gruppenzugehörigkeit für das Rollenverhalten beziehungsweise die Rollenwahrnehmung bei sowohl Schul- als auch Cyberbullying hin.

Die Bedeutsamkeit der sozialen Gruppe für das Bullying-Geschehen wird auch in den Zeugenerfahrungen erkennbar: Rund 60 % der Befragten bestätigen, Offline-Bullying bereits in der eigenen Klasse erlebt zu haben, bei Online-Bullying sind es immerhin um die 30–40 %. Die Pilotstudie zeigt auf, dass Cyberbullying vergleichsweise häufiger außerhalb als innerhalb der Klasse mitbekommen wird (60 % vs. 40 %). Bei genauerer Ausdifferenzierung in der Hauptstudie zeigt sich jedoch, dass oftmals dennoch ein Schulbezug besteht: 25 % der Schülerinnen und Schüler berichten, Cyberbullying bei Mitgliedern anderer Klassen mitbekommen zu haben.

Ein weiterer Anhaltspunkt dafür, dass es sich bei Bullying um ein soziales Phänomen handelt, ergibt sich aus den Zusammenhängen zwischen eingenommener Rolle und soziometrischem Status in der Gruppe. Dies ist in Bezug auf Schulbullying viel untersucht worden (Goossens et al., 2006; Herrmann, 2010; Knauf et al., 2017; Pouwels et al., 2016; Salmivalli et al., 1996; Schäfer & Korn, 2004a), empirische Forschung zu den Bystandern von Cyberbullying fehlt hingegen. Die vorliegenden Daten bestätigen sowohl für Schul- als auch Cyberbullying bivariate Zusammenhänge zwischen den Rollennominierungen und den soziometrischen Variablen Zuneigung, Ablehnung und Popularität. Weiterhin sind die soziometrischen Variablen prädiktiv für Opfer- und Täter-Rolle in Schul- und Cyberkontext. Die Behauptung, das Machtungleichgewicht sei im Kontext von Cyberbullying reduziert oder sogar gar nicht vorhanden (Y. Huang & Chou, 2010; Lapidot-Lefler & Dolev-Cohen, 2015), ist somit nicht zu halten. Das asymmetrische Kräfteverhältnis zwischen Tätern und Opfern lässt sich auf Ebene des soziometrischen Status sowohl für Schul- als auch für Cyberbullying deutlich erkennen und ist als Definitionskriterium für Bullying in beiden Kontexten beizubehalten. Zur Differenzierung zwischen Verstärkern oder Verteidigern gegenüber Außenstehenden zeigen sich die soziometrischen Variablen jedoch nur bei Schulbullying als signifikant. Ob dies daran liegt, dass die Zusammenhänge mit soziometrischen Merkmalen bei Cyberbullying schwächer ausgeprägt sind oder daran, dass die Stichprobe bei Cyberbullying deutlich kleiner war, lässt sich an dieser Stelle nicht abschließend klären. Generell deuten die vorliegenden Daten jedoch darauf hin, dass auch für Cyberbullying ein Zusammenhang mit der Position innerhalb der Klassenhierarchie besteht, was wiederum dafür spricht, Cyberbullying wie Schulbullying als soziales Phänomen zu begreifen.

Zusammengenommen sprechen die Ergebnisse der vorliegenden Arbeit dafür, dass die Bezugsgruppe der Klasse auch für Cyberbullying relevant ist und in künftige Forschung stärker einbezogen werden sollten. Cyberbullying findet auch in der Klassengemeinschaft statt und hängt in diesem Fall mit der Klassenhierarchie zusammen. Das Verhalten der Klassenmitglieder lässt sich als soziale Rollen konzeptualisieren, wenngleich nicht alle Heranwachsenden eine klare beziehungsweise eindeutige Rolle im Bullying-Gefüge einnehmen.

5.3.2 Schlussfolgerungen für das erweiterte Bystander-Intervention-Modell

Neben den Folgerungen für den Participant-Role-Ansatz aus den Ergebnissen dieser Arbeit lassen sich auch erste Rückschlüsse für das erweiterte Bystander-Intervention-Modell ziehen. Das Bystander-Intervention-Modell diente in dieser Arbeit zunächst der Zusammenstellung potenziell relevanter Variablen zur Differenzierung zwischen den Rollen. Die für die Stufenübergänge als ausschlaggebend angenommenen sozial-kognitiven und affektiven Reaktionen wurden theoretisch hergeleitet, der bisherige Forschungsstand recherchiert und schließlich die Rollen hinsichtlich der einzelnen Reaktionen miteinander verglichen. Anspruch der Arbeit war dabei nicht eine abschließende Validierung des kompletten Modells (z. B. das Erreichen oder die Abfolge der einzelnen Stufen). Vorerst ging es um die Prüfung, ob für alle untersuchten Variablen überhaupt Unterschiede zwischen den Rollen erkennbar sind, ob diese auch unter Berücksichtigung von Geschlechts- und Stufenunterschieden Bestand haben und ob sie gleichermaßen für die Differenzierung der Rollen bei Schul- und Cyberbullying relevant sind. Aus dem Befundmuster ergeben sich nichtsdestoweniger Implikationen für das Modell.

Das Bystander-Intervention-Modell geht davon aus, dass nur diejenigen, die alle Entscheidungsstufen durchlaufen, auch tatsächlich in eine Notsituation eingreifen. Für den Anwendungsfall von Bullying heißt dies, dass nur die Verteidiger alle Stufen passieren, während die Pro-Bullying-Akteure und Außenstehenden zuvor aus dem Entscheidungsprozess aussteigen. Das erweiterte Bystander-Intervention-Modell geht zudem davon aus, dass für das Erreichen der jeweils nächsten Stufe bestimmte sozial-kognitive oder affektive Reaktionen notwendig sind. Demnach sollten nur Personen mit hoch ausgeprägter Empathie, wenig Moral Disengagement, viel Verantwortungsgefühl, einer starken Selbstwirksamkeitserwartung und geringen Befürchtungen alle Stufen durchlaufen und damit zum Verteidiger werden. Dies bestätigt sich größtenteils in den vorliegenden Daten. Die Gruppe der Verteidiger erzielt im Vergleich mit allen anderen an Bullying beteiligten Rollen (mit Ausnahme der Opfer) die höchsten Empathie-, Verantwortungs- und Selbstwirksamkeitswerte sowie die geringsten Moral-Disengagement-Werte. Die Unterschiede zu Verstärkern und Außenstehenden werden fast durchweg signifikant, bleiben allerdings nicht bestehen, wenn Geschlecht und Stufe kontrolliert werden. Nur für die Skala der Befürchtungen kann die Annahme nicht bestätigt werden, dass diese bei Verteidigern im Vergleich mit den anderen Rollen besonders gering seien.

Die Verstärker scheiden im erweiterten Bystander-Intervention-Modell bereits vor der zweiten oder dritten Stufe aus: Sie empfinden keine Empathie mit dem Opfer und betreiben Moral Disengagement, indem sie die Situation beispielsweise verharmlosen oder beschönigen. Die Handlungsnotwendigkeit wird somit verkannt. Weiterhin empfinden sie keine Verantwortung beziehungsweise weisen die Verantwortung von sich, sodass die dritte Stufe der Verantwortungs-übernahme nicht erreicht wird. Verstärker sollten sich demnach insbesondere in Empathie, Moral Disengagement und Verantwortungsgefühl von Verteidigern unterscheiden. Dies bestätigt sich im Rollenvergleich für die einzelnen Skalen, allerdings werden die Effekte wiederum durch Geschlechts- und Stufenunterschiede überlagert. Auch erreicht bei gemeinsamer Analyse keine der Skalen Signifikanz. Zur Ausprägung von Verteidiger-Selbstwirksamkeit und Befürchtungen bei Verstärkern lassen sich aus dem Bystander-Intervention-Modell keine klaren Aussagen ableiten, da die Verstärker bereits früher aus dem Entscheidungsprozess ausscheiden. Es sind eher keine Unterschiede zu erwarten. Laut Studienbefunden (Thornberg & Jungert, 2013; Thornberg et al., 2020) haben Verstärker jedoch eine geringe Verteidiger-Selbstwirksamkeit. Dies zeigt sich in dieser Arbeit zumindest für Cyberverstärker, die eine geringere Selbstwirksamkeitserwartung berichten als Cyberverteidiger. Zudem besteht eine schwach negative Korrelation zwischen Verstärkernominierungen sowohl bei Schul- als auch Cyberbullying und der selbstberichteten Selbstwirksamkeitserwartung. Dies deutet darauf hin, dass die Verstärker eben nicht schon auf einer früheren Stufe ausscheiden, sondern in ihre Verhaltensentscheidung möglicherweise mit einbeziehen, inwiefern sie sich prosoziale Verhaltens-alternativen zutrauen. Diejenigen, die nicht davon ausgehen, etwas gegen die Schikanen tun zu können, zeigen eher ein Rollenverhalten, das den Tätern Zuspruch signalisiert. Interessant ist in diesem Zusammenhang auch, dass gerade die aktiven Täter eine äußerst geringe Verteidiger-Selbstwirksamkeit berichten. Es scheint demnach so, dass sich die Initiatoren der Schikanen selbst in keiner machtvollen Position sehen, sondern vielmehr der Auffassung sind, nichts dagegen tun zu können. Kein Unterschied zeigt sich in Hinblick auf die Befürchtungen.

Auch die Außenstehenden entscheiden sich laut erweitertem Bystander-Intervention-Modell gegen eine Intervention, allerdings möglicherweise erst auf einer späteren Stufe als die Verstärker. Sie erkennen die Notsituation, übernehmen jedoch keine persönliche Verantwortung, etwas dagegen zu unternehmen oder sehen schlichtweg keine Handlungsmöglichkeit. Demnach sollten Außenstehende ein gewisses Niveau an Empathie aufweisen, welches sie den Handlungsbedarf erkennen lässt. Im Vergleich zu den Verstärkern sollten sie mehr Empathie und weniger Moral Disengagement zeigen, jedoch weniger Empathie und mehr Moral Disengagement als die Verteidiger. Außenstehende und Verstärker wurden in dieser Studie nicht hinsichtlich der einzelnen Skalen kontrastiert, jedoch zeigten beide ein nahezu identisches Unterschiedsmuster zu den Verteidigern. Ist ein Unterschied zwischen Verstärkern und Verteidigern signifikant, besteht dieser in der Regel auch zwischen Außenstehenden und Verteidigern – sogar die Regressionsgewichte sind oftmals ähnlich. Verstärker und Außenstehende scheinen sich in Bezug auf Empathie und Moral Disengagement also kaum zu unterscheiden. Beide zeigen wenig Empathie und viel Moral Disengagement und haben dabei einen ähnlichen Abstand zu den Verteidigern. Bei gemeinsamer Analyse aller Skalen als Prädiktoren für den Kontrast Außenstehende versus Verstärker erweist sich keine der Skalen als signifikant. Insbesondere Moral Disengagement scheint weiterhin relevant für die Differenzierung zwischen Außenstehenden und Verteidigern bei Cyberbullying: Es ist die einzige Skala, für die dieser Unterschied auch nach Kontrolle von Geschlecht und Stufe sowie bei gemeinsamer Analyse aller Skalen signifikant bleibt. Das erweiterte Bystander-Intervention-Modell müsste demnach dahingehend revidiert werden, dass auch die Außenstehenden oftmals schon nach der ersten Stufe des Entscheidungsprozesses aussteigen, indem sie wie die Verstärker Notsituation und Handlungsbedarf verkennen, wofür insbesondere Moral Disengagement relevant scheint. Weiterhin geht das Modell davon aus, dass Außenstehende ein schwächeres Verantwortungsgefühl als Verteidiger haben und dahingehend eher den Verstärkern ähneln, was auch den Ergebnissen dieser Studie entspricht. Zum Erreichen der vierten Stufe, in welcher die Interventionsentscheidung getroffen wird, braucht es laut erweitertem Modell hohe Verteidiger-Selbstwirksamkeit und wenig Befürchtungen. Der entsprechende Unterschied zwischen Verteidigern und Außenstehenden, die diese Stufe nicht erreichen, zeigte sich in dieser Studie für die Selbstwirksamkeitserwartung nur für Cyberbullying und nicht, wenn für Geschlecht und Stufe kontrolliert wurde. Kein Unterschied wurde wiederum für die Befürchtungen gefunden.

Zusammengenommen sprechen die Befunde dafür, dass insbesondere Empathie, Moral Disengagement und Verantwortungsgefühl sowie teils auch Selbstwirksamkeitserwartungen zwischen den Rollen im Bullying-Gefüge differenzieren, während Befürchtungen, sich selbst in Gefahr zu bringen oder die Lage zu verschlimmern, nicht von Bedeutung zu sein scheinen. Dies passt letztlich zur Empathie-Altruismus-Hypothese (Batson, 1987), die davon ausgeht, dass eine starke empathische Anteilnahme altruistisches Hilfeverhalten motiviert. Hervorzuheben ist, dass sich Außenstehende und Verstärker entgegen der Annahmen sehr zu ähneln scheinen. Die Frage danach, welche Merkmale relevant für die Entscheidung zwischen passivem und Bullying-verstärkendem Verhalten sind, bleibt somit vorerst offen. Weiterhin ist darauf hinzuweisen, dass sich bei Kontrolle von Geschlecht und Stufe nur mehr die Extremgruppen Verteidiger versus Täter unterscheiden, nicht aber die eigentlich im Fokus des Interesses stehenden Bystander-Rollen.

Ob sozial-kognitive und affektive Reaktionen möglicherweise die Geschlechts- und Stufenunterschiede im Rollenverhalten mediieren, inwiefern sich die sozial-kognitiven und affektiven Reaktionen wechselseitig beeinflussen und ob die Annahme eines sequenziellen Entscheidungsprozesses zutrifft, ist in weiteren Studien zu klären. So wäre durchaus auch ein alternatives Modell denkbar, indem es zu einer gegenseitigen Beeinflussung zwischen Einschätzung von persönlicher Verantwortung und Einschätzung eigener Handlungsmöglichkeiten kommt und einer Rückwirkung dieser Einschätzungen auf die Interpretation der Situation. Personen, die keine eigenen Handlungsmöglichkeiten sehen, haben vermutlich auch ein geringeres Verantwortungsgefühl und wer sich nicht verantwortlich fühlt, sucht nicht forciert nach eigenen Möglichkeiten etwas zu tun. Schwache Verantwortungsgefühle und eine geringe Selbstwirksamkeitserwartung erleichtern eventuell Moral Disengagement. Zumindest die bivariaten Korrelationen zwischen den Skalen der SKARB-Fragebögen lassen Zusammenhänge in entsprechender Richtung erkennen und auch in den exploratorischen Faktorenanalysen gruppieren sich Empathie, Verantwortungsgefühl und Verteidiger-Selbstwirksamkeit oftmals auf einem gemeinsamen Faktor. Insgesamt stehen die Befunde weitgehend in Einklang mit den Annahmen des erweiterten Bystander-Intervention-Modells, doch ist dies nur als erster Hinweis zu werten. Limitationen und notwendige weiterführende Studien werden in den folgenden Kapiteln beleuchtet.

5.4 Stärken und Grenzen der Arbeit

Die umfängliche, theoretisch fundierte Untersuchung eines hochrelevanten Themas ist als deutliche Stärke des Projektes zu nennen. Teils konnte der Forschungsstand gefestigt, teils Forschungslücken geschlossen werden. Die Befunde sind aufschlussreich für die Konzeption oder Optimierung von Anti-Bullying-Programmen (siehe Abschnitt 5.6). Beschränkungen werden in der Stichprobe, den nicht abschließend validierten Instrumenten und dem querschnittlichen Design gesehen. Positive und nachteilige Aspekte des Projektes sollen im Folgenden näher erläutert werden.

5.4.1 Stärken der Arbeit

Ein klarer Vorzug der vorliegenden Arbeit ist die umfassende Betrachtung des Phänomens Bullying unter einem starken theoretischen Rahmen. In Anbetracht der Tatsache, dass digitale Medien aus dem Lebensalltag von Heranwachsenden nicht mehr wegzudenken sind (Leest & Schneider, 2017), fanden sowohl Schulbullying als auch Cyberbullying Berücksichtigung. Bullying wird als Gruppenphänomen verstanden und dementsprechend die gesamte Klasse einbezogen. Das theoretische Fundament bildet dabei der Participant-Role-Ansatz zu Schulbullying von Christina Salmivalli (Salmivalli et al., 1996). Die postulierten Rollen wurden leicht modifiziert und auf Cyberbullying übertragen. Neben der für die Rollenzuordnung ausschlaggebenden und von außen beobachtbaren Verhaltensebene wurde auch die sozial-kognitive und affektive Ebene mit einbezogen. Dies bedeutet eine methodische Stärke, da das Verhalten dem Rollengedanken entsprechend über Peer-Nominierungen erfasst, die sozial-kognitiven und affektiven Reaktionen auf Bullying hingegen via Selbstbericht erfragt wurden. Gelegenheiten zur positiven Selbstdarstellung wurden somit zumindest für die Verhaltensebene umgangen und für die notwendigen Selbstberichtdaten durch die Aufklärung über Freiwilligkeit und Anonymität sowie den Aufruf zu Ehrlichkeit so weit wie möglich minimiert. Außerdem konnte durch die Kombination von Selbst- und Fremdbericht die auf die Methode zurückgehende geteilte Varianz reduziert werden (Casper et al., 2015; Podsakoff, MacKenzie, Lee & Podsakoff, 2003). Die untersuchten mentalen Prozesse der in Bullying Involvierten, welche als relevant für das Bystander-Verhalten vermutet werden, wurden ebenfalls theoriegeleitet mit Bezug auf das Bystander-Intervention-Modell von Latané und Darley (1970) zusammengestellt.

Die Forschungsrelevanz des Themas ist dabei äußerst hoch. Bullying ist eine Problematik, die in einem Großteil der Klassen auftritt und auch Cyberbullying kommt in vielen Klassen vor. Da die Viktimisierung erkennbare negative Folgen für die Gesundheit hat und zu psychosozialen Problemen führt (Moore et al., 2017), ist es enorm wichtig Bullying zu verstehen, um Präventionsmaßnahmen optimieren zu können. Eine wesentliche Stellschraube ist dabei das Verhalten der Bystander von Bullying, welches in der vorliegenden Arbeit mit sozial-kognitiven und affektiven Reaktionen in Zusammenhang gebracht wird. Dabei werden teils Aspekte aufgegriffen, die – wie Empathie, Moral Disengagement oder Verteidiger-Selbstwirksamkeit – bereits einen hohen Stellenwert in der Bullying-Forschung besitzen, für die jedoch bei einzelnen Rollen die Forschungslage recht heterogen ist (z. B. Moral Disengagement von Außenstehenden). Ergänzt werden weiterhin Aspekte, die vergleichsweise wenig beforscht sind. So gibt es kaum quantitative Studien, die das Verantwortungsgefühl von Verstärkern und Außenstehenden untersuchen, zur Verteidiger-Selbstwirksamkeit fehlen bislang Studien, die die aktiven Täter sowie im Kontext von Cyberbullying die Außenstehenden betrachten und zu Befürchtungen liegt zum jetzigen Zeitpunkt nur qualitative Forschung vor.

In dieser Hinsicht schließt die vorliegende Arbeit bestehende Forschungslücken und liefert spannende neue Erkenntnisse: (1) Verantwortungsgefühl beziehungsweise moralische Emotionen wie Scham und Schuldgefühle hängen eng mit Empathie zusammen und scheinen ebenso wichtig für die eingenommene Rolle. (2) Opfer ähneln in vielerlei Hinsicht den Verteidigern oder umgekehrt formuliert: Verteidiger gleichen in ihren sozial-kognitiven und affektiven Reaktionen den Opfern. Das heißt, wer die Situation ähnlich bewertet und empfindet wie die Opfer (jedoch einen höheren Status in der Klassengemeinschaft hat), der interveniert. (3) Täter und Verstärker schätzen ihre Möglichkeiten, etwas gegen Bullying tun zu können, als gering ein. Sie scheinen sich demnach nicht in einer mächtigen Position zu sehen, aus der heraus sie die Schikanen bei Belieben auch beenden könnten. Möglicherweise ist das schikanierende oder verstärkende Verhalten eher eine Strategie den eigenen Status zu sichern. (4) Die verschiedenen Rollen unterscheiden sich nicht hinsichtlich ihrer Befürchtungen vor negativen Konsequenzen des Eingreifens, obgleich dies in vielen qualitativen Studien als Grund für die Passivität genannt wurde. Die Items zu Befürchtungen werden in dieser Studie generell kaum bejaht. Festgehalten werden kann jedoch, dass Verteidiger sich nicht weniger vor negativen Konsequenzen fürchten als Außenstehende und Verstärker. Es scheinen also nicht die erwarteten Kosten ausschlaggebend für das gezeigte Verhalten, sondern vielmehr das Ausmaß an Empathie und Verantwortungsgefühl.

Neben diesem Hauptfokus auf die mentalen Reaktionen wurden auch Forschungslücken zu Leistungsunterschieden und Unterschieden im soziometrischen Status der Bystander-Rollen – insbesondere bei Cyberbullying – geschlossen. Zur schulischen Leistung von Bystandern bei Schulbullying gab es bisher kaum Forschung und zur schulischen Leistung der Cyberbystander sind keine Studien bekannt. Die vorliegende Studie bestätigt die Erwartung, dass die Verteidiger bei Schulbullying einen besseren Notenschnitt erzielen als Täter, Verstärker und Täter-Verstärker. Verteidiger und Außenstehende zeigen sich ähnlich leistungsstark. Keine Leistungsunterschiede fanden sich in dieser Studie hingegen zwischen den Rollen bei Cyberbullying, was möglicherweise jedoch an der kleineren Stichprobe liegen könnte.

Während der soziometrische Status bei den Schulbullying-Rollen oft untersucht wurde, ist dies die erste Studie, die umfassende Befunde zu Cyberbullying präsentiert. Bei der Kontrastierung der Rollen erweist sich Ablehnung als prädiktiv für die Cyberopfer-Rolle und insbesondere Popularität als prädiktiv für die Cybertäter-Rolle (jeweils gegenüber Cyberaußenstehenden). Für die Differenzierung zwischen den Bystander-Rollen (Cyberverstärker und Cyberverteidiger gegenüber Cyberaußenstehenden) ist keine der soziometrischen Variablen prädiktiv, obgleich sich bivariat für Cyberverstärker ein negativer Zusammenhang mit Ablehnung und für Cyberverteidiger ein positiver Zusammenhang mit Zuneigung zeigt. Zusammengenommen scheint der soziometrische Status also auch für Cyberbullying mit Viktimisierung und Täterschaft assoziiert, möglicherweise jedoch weniger mit den Bystander-Rollen. Auch dies müsste anhand einer größeren Stichprobe bestätigt werden.

5.4.2 Grenzen der Arbeit

Selbstverständlich hat die vorliegende Studie auch Limitationen. Für die einzelnen Rollen konnten – insbesondere bei Cyberbullying – relativ wenige Vertreter identifiziert werden, weshalb die verfügbare Stichprobe zur Charakterisierung recht klein und die Teststärke dementsprechend gering ausfiel. Dies war letztlich der Tatsache geschuldet, dass es bislang keine Versuche gab, die Rollen bei Cyberbullying mittels Peer-Nominierung zu erfassen. Für Cyberbullying gibt diese Arbeit nun zumindest eine erste Vorstellung darüber, wie oft sich Bullying in der Klassengemeinschaft auch auf den Cyberkontext erstreckt und wie viele Klassenmitglieder bei Cyberbullying in einer klaren Rolle gesehen werden. Generell war die Vorgehensweise bei der Identifikation der Rollen vergleichsweise streng – sowohl hinsichtlich der Definition von Bullying, welche neben Schädigungsabsicht auch Machtungleichgewicht und Wiederholungscharakter (mindestens wöchentlich über mehrere Wochen) umfasste, als auch hinsichtlich des Zuordnungskriteriums von mindestens drei Nominierungen. Dementsprechend ist es durchaus plausibel, dass die Prävalenzzahlen geringer ausfallen als in bisherigen Studien. Damit einher gehen allerdings eingeschränkte Analysemöglichkeiten. So wurden die interessierenden Variablen oftmals nur separat betrachtet und mögliche Interaktionen nicht untersucht. Auch wurde aufgrund der geringen Fallzahlen nicht zwischen reinen Rollen bei Schulbullying, reinen Rollen bei Cyberbullying sowie kontextübergreifenden Rollen differenziert. Aufgrund hoher Überlappungen der Rollen in beiden Kontexten, ist nicht auszuschließen, dass die Befunde zu den Rollen bei Cyberbullying teils auch auf die Rollen im schulischen Kontext zurückgehen. Dementsprechend besteht die Notwendigkeit, die Befunde an einer größeren, möglichst repräsentativen Stichprobe zu validieren und erweitern. Kritisch anzumerken ist in diesem Zusammenhang auch, dass es sich um eine Gelegenheitsstichprobe handelt, deren Repräsentativität nicht gesichert ist. Zwar wurde darauf geachtet verschiedene Schulformen und mehrere Klassenstufen einzubeziehen, doch entspricht die proportionale Zusammensetzung der Schularten nicht der deutschen Schullandschaft (Statistisches Bundesamt, 2018). Dies mag ebenfalls einen Einfluss auf die gefundenen Prävalenzen haben, doch ist zunächst nicht davon auszugehen, dass dies etwas an den identifizierten intrapsychischen Zusammenhängen ändert.

Zur Beantwortung der Forschungsfrage in dieser Arbeit war die Entwicklung neuer Instrumente notwendig, da bislang kein Peer-Nominierungs-Instrument für die Bystander-Rollen bei Cyberbullying vorlag und kein Fragebogen, der die interessierenden sozial-kognitiven und affektiven Reaktionen im konkreten Bezug auf Schul- und Cyberbullying abfragt. Bei der Entwicklung der Fragebögen wurden viele Punkte berücksichtigt: Die Inhaltsvalidität wurde durch eine ausgiebige Literaturarbeit angestrebt; die Durchführungsobjektivität wurde weiterhin durch die intensive Schulung der Erhebungspersonen sowie die ausführlichen Instruktionen gesichert; die internen Konsistenzen waren zufriedenstellend bis gut. Nichtsdestoweniger stehen einige Qualitätsprüfungen noch aus: Kriteriumsvalidität und konvergente Validität für die SKARB-Fragebögen könnten durch den Abgleich mit etablierten Instrumenten zur Erfassung von Empathie, Moral Disengagement, Verantwortungsgefühl und Selbstwirksamkeit geprüft werden, obgleich bei diesen nur teilweise ein konkreter Bezug zu Bullying hergestellt wird und meist eine Übersetzung ins Deutsche notwendig wäre. Für das RoleGrid könnten zur Einschätzung der Kriteriumsvalidität zusätzlich Interviews beispielsweise durch Schulpsychologen hilfreich sein. Weiterhin sollte zunächst die Retest-Reliabilität festgestellt werden, bevor die Instrumente für längsschnittliche Untersuchungen und Interventionsstudien eingesetzt werden können. Für diesen Fall wäre auch die Ausarbeitung eines detaillierten Testmanuals sowie die Bereitstellung von Normwerten notwendig. Außerdem sollte die Messinvarianz beider Instrumente für die Geschlechter und für verschiedene Klassenstufen geprüft werden.

Die bereits als Stärke genannte Methode der Peer-Nominierung entspricht zwar dem Rollengedanken und ermöglicht eine Reduktion der methodisch-bedingten geteilten Varianz, muss jedoch gleichzeitig auch als Grenze anerkannt werden. Berücksichtigt wurden in dieser Studie nur Verhaltensweisen, die von Klassenmitgliedern beobachtet und benannt werden konnten. Dies bedeutet zum einen, dass subtile und verdeckte Handlungen kaum erfasst werden und zum anderen, dass auch der Ruf eines Klassenmitgliedes ausschlaggebend für die identifizierte Rolle ist (Casper et al., 2015). Das Vorgehen tut somit der Zielsetzung genüge, die nach außen hin sichtbaren Rollen mit den inneren persönlichen Reaktionen in Zusammenhang zu bringen. Bei Betrachtung der Befunde muss jedoch ebendiese Einschränkung bedacht werden, dass nur ein Fragment der Bullying-Involvierung – nämlich die innerhalb der Klasse beobachtbare – abgebildet wird.

Schlussendlich muss an dieser Stelle ausdrücklich darauf hingewiesen werden, dass das erweiterte Bystander-Intervention-Modell für Bullying zwar zur Herleitung der Hypothesen genutzt wurde, nicht aber das komplette Modell überprüft wurde. So wurden nur die für die Stufenübergänge als relevant erachteten sozial-kognitiven und affektiven Reaktionen erhoben, nicht aber, ob die einzelnen Stufen erreicht wurden. Die mentalen Reaktionen wurden zunächst einzeln mit den Rollen in Verbindung gebracht. Weiterführende Studien sollten umfänglicher nachprüfen, welche der Variablen bei gemeinsamer Betrachtung ausschlaggebend für die Vorhersage der Rollen sind. Zudem sind längsschnittliche Studien notwendig, um die Entwicklung von Rollenverhalten und mentalen Reaktionen auf Bullying nachzuzeichnen und eine Idee von der Wirkrichtung zu erhalten. Gleichwohl das Modell davon ausgeht, dass die sozial-kognitiven und affektiven Reaktionen bestimmten, welche Rolle eingenommen wird, lässt die vorliegende Querschnittstudie keinen solchen Kausalschluss zu. Ebenso denkbar ist anhand der Befunde, dass die eigene Rolle das Denken und Fühlen hinsichtlich der Bullying-Situation prägt. Aus dem Streben nach Konsistenz heraus, könnte schikanierendes oder passives Verhalten nachträglich durch Moral-Disengagement-Strategien, durch mangelnde Fähigkeiten oder durch Ängste gerechtfertigt werden (im Sinne des Hinzufügens einer konsonanten Kognition zur Reduktion kognitiver Dissonanz, siehe dazu auch Festinger, 1957). Umgekehrt könnte prosoziales und damit sozial erwünschtes Verhalten Moral Disengagement unnötig machen, der Kontakt zum Opfer könnte die Empathie fördern und ein erfolgreiches Eingreifen die Selbstwirksamkeitsüberzeugung stärken. Bisherige Studien mit mehreren Messzeitpunkten oder einem experimentellem Design liefern jedoch Hinweise darauf, dass Empathie, Moral Disengagement, Verantwortungsgefühl und Selbstwirksamkeitserwartungen einen Einfluss auf späteres aggressives oder prosoziales Verhalten oder die Verhaltensabsicht haben (Bandura et al., 2003; Barlińska et al., 2018; Doramajian & Bukowski, 2015; Obermaier et al., 2016; Thornberg et al., 2019; Van der Graaff et al., 2018). Zusammenfassend betrachtet weist das vorliegende Projekt somit einige Stärken, doch auch gewisse Schwachstellen und Grenzen auf, die es in künftigen Studien zu überwinden gilt.

5.5 Forschungsausblick

Aus den Schwächen und Grenzen einer Studie lassen sich immer auch Implikationen für die zukünftige Forschung ableiten. Die forschungsbezogenen Implikationen, welche aus der vorliegenden Arbeit resultieren, lassen sich entsprechend dem Aufbau der Arbeit in drei Bereiche untergliedern: (1) Vertiefende Forschung zum Verhalten der Bystander und zu den eingenommenen Rollen, (2) vertiefende Forschung zu den mentalen Reaktionen der Bystander auf das Bullying-Geschehen und (3) vertiefende Forschung zum Zusammenhang zwischen behavioraler, kognitiver und affektiver Ebene.

5.5.1 Forschungsausblick zu Bystander-Verhalten und Participant Roles

In diesem Projekt fiel die Entscheidung letztendlich auf Peer-Nominierungs-Daten und ein absolutes Kriterium zur Bestimmung der Rollen. Eine weitere Erforschung verschiedener Informanten und Kriterien auch hinsichtlich möglicher Validierungskriterien wäre wünschenswert. Besonders vielversprechend scheint in diesem Zusammenhang eine Untersuchung mittels latenter Klassenanalyse. Zum einen zeichnete sich in den Faktorenanalysen des RoleGrid anhand der Residualkovarianzen eine Untergliederung nach physisch-materiellem und relational-ausgrenzendem Verhalten ab, welche sich möglicherweise auch in Subgruppen der latenten Klassenanalyse zeigen würde. Zum anderen wurden in der vorliegenden Studie Rollen bei Schulbullying a priori von Rollen bei Cyberbullying getrennt: Es wurden separate Analysen für beide Kontexte gerechnet. In einer latenten Klassenanalyse bestünde die Möglichkeit zu ergründen, inwiefern eine solche Unterteilung überhaupt sinnvoll ist, das heißt ob sich eigene Klassen für reine Schulrollen und reine Cyberrollen ergeben oder ob sich auch oder ausschließlich kontextübergreifende Rollen zeigen. Weiterhin wäre es sinnvoll, zusätzlich zu den Peer-Nominierungen Selbstberichtsdaten hinzuzuziehen, um die jeweiligen Schwächen einer Informationsquelle zu kompensieren (Volk et al., 2017). Zudem wäre denkbar, dem Opfer – identifiziert durch Selbst- und/oder Fremdbericht – ein höheres Gewicht bei der Benennung der übrigen Rollen einzuräumen (vgl. auch Jones et al., 2015). Im Zusammenhang mit selbstberichtetem Rollenverhalten wäre darüber hinaus interessant abzufragen, welche Handlungen offen und welche verdeckt erfolgen. Es ist zu erwarten, dass insbesondere die bewusst offen gezeigten Verhaltensweisen eine hohe Korrelation mit den Peer-Nominierungen aufweisen.

Ferner könnten zukünftige Erhebungen – unabhängig von Selbst- oder Fremdbericht – dahingehend differenzieren, ob das Bystander-Verhalten im Offline- oder Online-Kontext gezeigt wurde. Die hiesige Untersuchung unterscheidet bei den Bystander-Rollen nicht danach, ob das Bystander-Verhalten offline oder online gezeigt wurde. Es wurden die Bystander-Rollen bei Schulbullying und die Bystander-Rollen bei Cyberbullying erfasst, nicht aber, ob das entsprechende Verhalten im selben Kontext gezeigt wird. So könnte es sein, dass eine Schülerin online verunglimpft wird und der Täter dafür anerkennende Kommentare in der Schulpause erhält. Umgekehrt könnte es ebenfalls sein, dass ein Schüler in der Schule schikaniert wird, der Verteidiger aber nur online aktiv wird (z. B. indem er oder sie den Täter anschreibt). Weitere Untersuchungen können Aufschluss darüber geben, ob eine solche Dichotomisierung im Zuge von Peer-Nominierungen sinnvoll ist. Sarmiento et al. (2019) erfassten das Bystander-Verhalten bei Cyberbullying über Selbstbericht und nahmen dabei eine Differenzierung vor, ob das Bystander-Verhalten ebenfalls online oder offline erfolgt. Ihre Daten zeigen eine hohe Korrelation zwischen den Verhaltensweisen in beiden Kontexten. Für die Bystander von Schulbullying wurde bislang noch nie erfasst, ob diese gegebenenfalls auch über digitale Medien aktiv werden. Bereits Price et al. (2014) wiesen darauf hin, dass die Übergänge von Offline- und Online-Kontext fließend sind und das Zusammenspiel von Offline- und Online-Verhalten komplex ist (siehe auch Abschnitt 1.2.3). Dementsprechend interessant wäre die genauere Quantifizierung, wie häufig das Bystander-Verhalten tatsächlich in einem anderen Kontext abläuft beziehungsweise wahrgenommen wird als die ursprünglichen Schikanen und ob eine derartige Unterteilung der Kontexte dementsprechend sinnvoll scheint.

Künftige Forschung könnte des Weiteren eine differenziertere Betrachtung prosozialer Verhaltensweisen im Kontext von Bullying vornehmen. Nicht nur eine Unterteilung zwischen offenem und verdecktem sowie offline oder online gezeigtem Verhalten ist hier relevant. Im RoleGrid wurden jegliche Verhaltensweisen, die dem Opfer zugutekommen oder sich gegen das Bullying richten in der Verteidiger-Rolle zusammengefasst. Tatsächlich verteidigendes Verhalten, bei dem der Bully konfrontiert wird, sollte jedoch möglicherweise von tröstendem Verhalten, das sich an das Opfer richtet, und hilfesuchendem Verhalten bei Erwachsenen unterschieden werden, da insbesondere Selbstwirksamkeitserwartungen und Befürchtungen je nach Art des helfenden Verhaltens unterschiedlich ausfallen dürften (vgl. auch Macháčková et al., 2013). Unterschiedliche Ausdifferenzierungen finden sich bei Trach et al. (2010), Graeff (2014), Reijntjes et al. (2016), Pronk, Olthof, Goossens und Krabbendam (2019), Lambe und Craig (2020) sowie Moxey und Bussey (2020). Diese richten sich unter anderem danach, an wen das prosoziale Verhalten gerichtet ist (Täter, Opfer oder Erwachsene), ob es sich direkt oder indirekt zuträgt (konfrontierend vs. tröstend-hilfeholend) und ob es konstruktiv oder aggressiv erfolgt. Erste Befunde deuten darauf hin, dass diese unterschiedlichen Verhaltensweisen gegen Bullying auch differenziell mit Geschlecht, soziometrischem Status, Motiven, sozialen Kompetenzen sowie Moral Disengagement assoziiert sind (Lambe & Craig, 2020; Moxey & Bussey, 2020; Pronk et al., 2019; Reijntjes et al., 2016). Dementsprechend anbieten würde sich auch eine differenzielle Analyse verschiedener Verteidigertypen hinsichtlich Empathie, Verantwortungsgefühl, Selbstwirksamkeitserwartungen sowie Befürchtungen.

5.5.2 Forschungsausblick zu den sozial-kognitiven und affektiven Reaktionen

Auch hinsichtlich der mentalen Reaktionen auf die Bullying-Situation bieten sich eine Vielzahl an Anknüpfungspunkten für die weitere Erforschung. Dazu gehört zunächst eine differenzierte Betrachtung der einzelnen Konstrukte hinsichtlich möglicher Subfacetten. In dieser Arbeit wurden Empathie, Moral Disengagement, Verantwortungsgefühl und Selbstwirksamkeitserwartungen nicht weiter untergliedert, obgleich entsprechende theoretische und empirische Anhaltspunkte vorliegen. Künftige Studien könnten sich eingehender mit einzelnen Reaktionen befassen und ergründen, ob es beispielsweise auch im Zusammenhang mit Bullying sinnvoll ist, zwischen kognitiver und affektiver Empathie sowie empathischer Anteilnahme zu unterscheiden. Pozzoli et al. (2017) weisen zudem auf eine weitgehend vernachlässigte Facette der Empathie hin: empathischer Ärger als Reaktion auf moralische Verstöße.

Bei Moral Disengagement böte sich eine Konzentration auf die acht Strategien an (siehe Abschnitt 1.4.3). Mit der Moral Disengagement in Bullying Scale (MDBS) gelingt eine Differenzierung und es zeigen sich differenzielle Zusammenhänge einzelner Facetten mit schikanierendem und verteidigendem Verhalten (Thornberg & Jungert, 2014). Passives Verhalten wurde in dieser Hinsicht jedoch noch nicht betrachtet. Eine weitere Überlegung wäre, ob eine Unterscheidung zwischen Moral Disengagement hinsichtlich schikanierendem Verhalten und Moral Disengagement hinsichtlich passivem Verhalten möglich und sinnvoll ist. Im SKARB wurde bewusst offengelassen, welches Verhalten die Bystander zeigen, im MDBS hingegen sind fast alle Items mit Bezug auf schikanierendes Verhalten formuliert (z. B. es sei in Ordnung, jemanden zu schikanieren, um seine Freunde zu schützen; jemanden zu hänseln sei immer noch besser als zu prügeln). Parallele Formulierungen mit Bezug auf passives Verhalten sind oftmals denkbar (z. B. es sei in Ordnung, den Vorfall zu ignorieren, um sich nicht selbst in Schwierigkeiten zu bringen; sich herauszuhalten sei immer noch besser als mitzumachen). Bei der Betrachtung des Entscheidungsprozesses stellt sich weiterhin die Frage, ob Moral Disengagement in Bullying-Situationen durch eine weitere Facette ergänzt werden könnte: die Leugnung eigener Einflussmöglichkeiten. Die Situation als unveränderbar darzustellen und auf unkontrollierbare Ursachen zu attribuieren, könnte ein weiterer Mechanismus sein, sich von seinen moralischen Standards zu lösen. Seitens der Täter könnten dies Aussagen oder Gedankengänge sein wie „Ich kann da auch nichts für, ich bin halt so, ich kann das nicht kontrollieren!“; seitens der Bystander „So ist es halt, da kann man eh nichts dran ändern“. Im normativen Entscheidungsmodell des Altruismus (Schwartz & Howard, 1981) werden Abwehrmechanismen gegen das Gefühl moralischer Verpflichtung beschrieben, welche den Moral-Disengagement-Mechanismen sehr nahe kommen, aber eben Passivität statt Fehlverhalten rechtfertigen. Zu diesen zählt auch die Leugnung effektiver Handlungsmöglichkeiten oder der eigenen Fähigkeit etwas zu unternehmen. Moral Disengagement ließe sich also womöglich auch entlang des Entscheidungsprozesses gliedern und jeweils als Gegenspieler zu prosozialen sozial-kognitiven und affektiven Reaktionen konzipieren: Mechanismen, die dem Erkennen der Notsituation und des Handlungsbedarfs entgegenstehen (Verharmlosung/ Beschönigung sowie Rechtfertigung/Schuldzuweisung als Antagonisten zu Empathie und Mitgefühl), Mechanismen, die der Übernahme von Verantwortung entgegenstehen (Abweisung/Diffusion von Verantwortung als Antagonisten zu moralischen Emotionen) sowie Mechanismen, die der Handlungsabsicht entgegenstehen (unkontrollierbare Attribution als Antagonist zu Verteidiger-Selbstwirksamkeit). Die Residualkovarianzen der Moral-Disengagement-Items im SKARB deuten in diese Richtung, doch wäre für haltbare Aussagen mehr Forschung notwendig.

In Hinblick auf Verantwortungsgefühl und moralische Emotionen wäre ebenfalls eine differenziertere Betrachtung hilfreich. Auch hier könnte eine Unterscheidung zwischen schikanierendem und passivem Verhalten getroffen werden. Sieht ein Heranwachsender sich verantwortlich dafür, sich selbst sozialverträglich zu verhalten, oder auch dafür, andere dazu anzuhalten? Der Versuch zwischen Schuldgefühlen wegen Vergehen (transgressive guilt) und Schuldgefühlen aufgrund von Inaktivität (guilt for inaction) zu differenzieren, gelingt jedoch bei Thornberg et al. (2015) nicht. Weiterhin könnten Schuld- und Schamgefühle separat betrachtet werden, da diese möglicherweise unterschiedliche Verhaltensimplikationen haben (Roos et al., 2014). Auch wäre es angemessen, klarer zwischen Verantwortungsübernahme als Schritt im Bystander-Intervention-Modell und moralischen Emotionen als deren Prädiktor zu differenzieren. Verantwortungsgefühl und moralische Emotionen wurden in den SKARB-Fragebögen vermischt und müssten gegebenenfalls differenziert werden. Grundsätzlich geht diese Arbeit wie viele vorige Arbeiten von einem Zusammenhang zwischen Verantwortungsbewusstsein und moralischen Emotionen aus (Caprara et al., 2001; Menesini et al., 2003; Menesini & Camodeca, 2008; Roberts et al., 2014). Weitere empirische Untersuchungen dieser Annahme scheinen jedoch erforderlich.

Die Erfassung der Verteidiger-Selbstwirksamkeit erfolgt im SKARB verknüpft mit dem Wissen zu möglichen Interventionen. Die Interventionsmöglichkeiten werden bewusst nicht vorgegeben, da sie im reellen Entscheidungsprozess auch selbst generiert werden müssen. Gewinnbringend wären nichtsdestoweniger Überlegungen und Forschungsversuche, wie Wissenskomponente und Selbstwirk-samkeitserwartung voneinander getrennt erfasst werden können. Abgesehen davon würde sich eine differenzierte Abfrage der Selbstwirksamkeitserwartungen hinsichtlich verschiedener Formen prosozialen Verhaltens (z. B. Täter konfrontieren, Opfer trösten, Hilfe holen; siehe Abschnitt 5.5.1) anbieten.

Für alle sozial-kognitiven und affektiven Reaktionen auf Bullying gilt es, die Entwicklung über Kindheit und Jugend hinweg in längsschnittlichen Untersuchungen nachzuvollziehen. Zu allgemeiner Empathie sowie allgemeinem Moral Disengagement liegen entsprechende Längsschnittstudien vor, die einen Anstieg von Empathie und ein Absinken von Moral Disengagement verzeichnen (Allemand et al., 2015; Olweus & Endresen, 1998; Paciello et al., 2008; Van der Graaff et al., 2014). Dies steht jedoch im Widerspruch zu den querschnittlichen Befunden dieser Studie, dass Empathie negativ mit Alter und Klassenstufe zusammenhängt und Moral Disengagement positiv mit Alter assoziiert ist und zumindest deskriptiv in den höheren Klassenstufen höher ausfällt. Da dies im querschnittlichen Design auch auf Kohorteneffekte zurückgehen könnte, sind längsschnittliche Untersuchungen notwendig, um festzustellen, ob sich Empathie für Opfer von Bullying sowie auf Bullying bezogenes Moral Disengagement tatsächlich anders entwickeln als die allgemeinen Konstrukte. Theoretisch wäre eine Desensibilisierung hinsichtlich Bullying im Laufe der Schulzeit denkbar. Verantwortungsübernahme und moralische Emotionen wurden im Vergleich zu Empathie und Moral Disengagement recht wenig untersucht. Die querschnittlichen Ergebnisse der vorliegenden Studie zeigen im Einklang mit Längsschnittuntersuchungen (Raffaelli et al., 2018; Wray-Lake et al., 2016) keine oder negative Assoziationen mit Alter und Klassenstufe. Aufschlussreich wären zunächst vor allem qualitative Studien, um herauszufinden, wofür Kinder und Jugendliche sich selbst als verantwortlich betrachten und wen sie in verschiedenen Bereichen noch als verantwortlich sehen. Weitere Studien sollten sich der Entwicklung von Verantwortungsgefühl für eine positive und gewaltfreie Klassengemeinschaft sowie der Entwicklung von moralischen Emotionen im Schulalter widmen. Auch die Überzeugung etwas gegen das Bullying ausrichten zu können, ist in der querschnittlichen Betrachtung in höheren Klassenstufen geringer ausgeprägt. Längsschnittliche Untersuchungen sollten klären, ob es zu einer Art Desillusionierung kommt, in dem Sinne, dass Kinder recht optimistisch ihre Schullaufbahn starten, doch im Laufe dessen immer weniger Möglichkeiten sehen beziehungsweise sich immer weniger zutrauen, etwas gegen das Bullying zu tun. Ebenso interessant wäre es, die Veränderung von Befürchtungen vor negativen Konsequenzen des Helfens im Laufe der Schulzeit zu untersuchen, wenngleich diese in der vorliegenden Studie nicht mit den Rollen zusammenhing. Die Untersuchung der Entwicklung der mentalen Reaktionen auf Bullying ist vor allem wichtig, um die zeitliche Planung von Förder- und Präventionsmaßnahmen begründen zu können.

Neben der normativen Entwicklung der sozial-kognitiven und affektiven Reaktionen auf Bullying im Laufe der Schulzeit sollte ein besonderer Fokus auf möglichen Einflussfaktoren liegen, um Ansatzpunkte für die Förderung zu finden. Hierbei sind folgende Fragen von besonderem Interesse: Welche Aspekte der Schulgestaltung oder Lehrer-Schüler-Interaktion tragen dazu bei, dass sich Kinder und Jugendliche zu empathischen und verantwortungsbewussten Individuen entwickeln? Wie können Moral-Disengagement-Strategien entkräftet werden? Welche Maßnahmen sind nötig, um ihre Selbstwirksamkeitserwartungen zu stärken und ihnen Ängste zu nehmen?

Weiterführende Studien könnten schließlich eruieren, ob es weitere relevante sozial-kognitive und affektive Reaktionen auf Bullying gibt, welche in dieser Studie keine Beachtung fanden. Aufschlussreich wäre zudem, den Fokus auch einmal auf die Lehrkräfte zu legen. Zu Empathie und Selbstwirksamkeitserwartungen liegen diesbezüglich bereits Studien vor (Fischer, John & Bilz, 2020; Murphy, Tubritt & O’Higgins Norman, 2018; Yoon, 2004). Doch inwiefern sehen Lehrkräfte es in ihrem Verantwortungsbereich, Maßnahmen gegen Bullying zu ergreifen? Greifen auch sie zuweilen auf Moral-Disengagement-Strategien zurück oder fürchten negative Ergebnisse des Eingreifens? Darüber hinaus könnten die sozial-kognitiven und affektiven Reaktionen auch auf andere Vorfälle bezogen werden (z. B. Vandalismus, Substanzmissbrauch, Hate-Speech) oder bei Bullying in anderen Kontexten (z. B. Arbeitsplatz oder Gefängnis) beziehungsweise anderen Altersgruppen (z. B. Kindergarten, Grundschule) untersucht werden.

5.5.3 Forschungsausblick zum erweiterten Bystander-Intervention-Modell

Ein wesentliches Anliegen zukünftiger Forschung zum erweiterten Bystander-Intervention-Modell sollte die gemeinsame Betrachtung der sozial-kognitiven und affektiven Reaktionen zur Vorhersage des Rollenverhaltens sein. Fokus dieser Studie lag zunächst auf dem Rollenvergleich hinsichtlich der einzelnen Reaktionen. Bei gemeinsamer Betrachtung aller Reaktionen zur Vorhersage von Verteidiger- oder Verstärker-Rolle jeweils gegenüber der Außenstehenden-Rolle zeigte sich jedoch einzig Moral Disengagement negativ prädiktiv für die Rolle des Cyberverteidigers. Aufgrund der geringen Schülerzahlen in den Bystander-Rollen sollten weitere Analysen mit größeren Stichprobengrößen, gegebenenfalls auch durch Nutzung kontinuierlicher Variablen für das Bystander-Verhalten, überprüfen, ob sich die Befunde replizieren lassen. Interessant ist in diesem Zusammenhang insbesondere die Frage, ob einzelne Reaktionen besonders relevant sind oder ob es auf die Konstellation der Reaktionen ankommt. Laut erweitertem Bystander-Intervention-Modell sollte die Konstellation ausschlaggebend sein und dementsprechend eine Fünffachinteraktion vorliegen: Verteidiger ist nur, wer hohe Empathie und wenig Moral Disengagement und viel Verantwortungsgefühl und starke Selbstwirksamkeitserwartungen und geringe Befürchtungen aufweist. Allein Empathie oder wenig Moral Disengagement oder Verantwortungsgefühl oder Selbstwirksamkeitsüberzeugung oder wenig Befürchtungen (Haupteffekte) reichen nicht aus. Demgegenüber stehen Theorien, die eine der Reaktionen in den Mittelpunkt stellen (z. B. Empathie bei Empathie-Altruismus-Hypothese von Batson 1981; 2011; moralische Emotionen bei normativem Entscheidungsmodell von Schwartz & Howard, 1981).

Eng mit der Frage, ob einzelnen Reaktionen mehr Relevanz zukommt als anderen, ist auch die Frage verknüpft, inwiefern die Reaktionen untereinander zusammenhängen (vgl. Abschnitt 5.3.2). Auch dies könnte Gegenstand künftiger Forschung sein. Das Bystander-Intervention-Modell betrachtet die sozial-kognitiven und affektiven Reaktionen auf Bullying als eigenständige Einflussfaktoren und trifft keine Annahmen über mögliche Zusammenhänge. Da die bivariaten Korrelationen jedoch deutliche Zusammenhänge offenbaren, wäre wichtig zu ergründen, inwiefern die Reaktionen jeweils einen abgrenzbaren Einfluss auf das Rollenverhalten haben oder sich gegenseitig beeinflussen und so teils nur einen mittelbaren Einfluss haben. Beispielsweise könnte Empathie durch ein verringertes Moral Disengagement oder Moral Disengagement durch ein reduziertes Empathieempfinden wirken. Auch könnte das Verantwortungsgefühl durch Empathie und Moral Disengagement bedingt sein und deren Einfluss auf das Verhalten mediieren. Dies wirft wiederum die Frage auf, ob die Annahme einer sequenziellen Abfolge durchgängig haltbar ist (vgl. Abschnitt 5.3.2). So ist fraglich, ob die wahrgenommene Selbstwirksamkeit wirklich erst nach der Verantwortungsübernahme relevant wird. Nicht unwahrscheinlich scheint, dass Selbstwirksamkeitserwartungen und Befürchtungen eine Rückwirkung auf die Verantwortungsübernahme haben (vgl. auch Kaschner, 2016). Im normativen Entscheidungsmodell des Altruismus stellt die Leugnung der eigenen Fähigkeit einen Abwehrmechanismus zur Reduktion des Gefühls moralischer Verpflichtung dar (Schwartz & Howard, 1981). Wer sich selbst als machtlos erlebt, fühlt sich vermutlich weniger verantwortlich und auch wer annimmt sich selbst in Gefahr zu bringen, hat eine Rechtfertigung für Inaktivität und empfindet dementsprechend weniger Gewissensbisse.

Neben der Frage, wie die sozial-kognitiven und affektiven Reaktionen zusammenhängen und welchen individuellen Beitrag zur Erklärung des Rollenverhaltens sie leisten, könnten zukünftige Studien sich auch auf die Prüfung der Stufen sowie deren Prädiktoren konzentrieren. Dafür wäre eine separate Erfassung der Stufen notwendig, welche in dieser Arbeit nicht erfolgte. Stufe eins, ob die Situation bemerkt wurde, kann daraus abgeleitet werden, ob Opfer-Nominierungen vorgenommen wurden oder vereinfacht aus einer dichotomen Frage danach, ob es in der Klasse jemanden gibt, der immer wieder von Klassenmitgliedern verbal oder körperlich angegriffen, ausgegrenzt oder schlecht gemacht wird. Stufen zwei bis vier ließen sich mit weiteren dichotomen Fragen angehen: (2) Sollte jemand etwas dagegen tun?, (3) Solltest du selbst etwas dagegen tun? und (4) Hast du dir fest vorgenommen etwas dagegen zu tun? Die letzte Stufe, also die tatsächliche Intervention, ließe sich wiederum durch die erhaltenen Peer-Nominierungen für die Verteidiger-Rolle sowie das selbstberichtete, möglicherweise verdeckte Verteidiger-Verhalten messen. Für die Stufen zwei bis vier könnte folglich getestet werden, ob die angenommenen sozial-kognitiven und affektiven Reaktionen prädiktiv für die Bejahung der jeweiligen Frage sind. Interessant wäre es auch festzustellen, was für die Umsetzung der Intention (Stufe vier zu fünf) notwendig ist. Weiterhin könnte geprüft werden, ob die Stufen aufeinander aufbauen (Fragen zu höheren Stufen sollten nur bejaht werden, wenn auch die vorigen Fragen bejaht wurden) und ob sich das Antwortmuster erwartungsgemäß zwischen den Rollen unterscheidet (nur Verteidiger bejahen alle vier Fragen; Außenstehende verneinen Fragen drei und vier; Verstärker verneinen bereits Frage zwei, möglicherweise sogar schon Frage eins, sowie alle folgenden Fragen).

Hochspannend wäre es, im nächsten Schritt auch weitere Einflussfaktoren mit einzubeziehen. Die bisherige Forschung zum Verhalten der Bystander in Bullying-Vorfällen fokussiert vier Bereiche von Prädiktoren: (1) individuelle Merkmale wie Geschlecht, Persönlichkeitseigenschaften, Einstellungen und Fähigkeiten, (2) Merkmale des Vorfalls wie der Schweregrad oder der Kontext, (3) soziale Bedingungen wie Beziehungen zu den übrigen Beteiligten oder Normen sowie (4) die Interpretation und gefühlsmäßigen Reaktionen auf den Vorfall. Es ist anzunehmen, dass letztere durch Eigenheiten von Person, Vorfall und sozialen Umständen bedingt sind (siehe Abbildung 5.1). Künftige Forschung sollte herausfinden, ob beispielsweise Geschlechtsunterschiede, Unterschiede zwischen Schul- und Cyberbullying oder der Einfluss von Beziehungen und Normen über die sozial-kognitiven und affektiven Reaktionen vermittelt werden. Als soziale Bedingungen sollten insbesondere auch Prädiktoren auf Klassen- oder Schulebene wie das Schulklima, die Klassenführung, herrschende Normen sowie Ausprägung der Klassenhierarchie berücksichtigt werden. Die schematische Darstellung in Abbildung 5.1 kann einen Orientierungsrahmen für weitere Forschungsprojekte darstellen. Andererseits wäre natürlich auch denkbar, dass die sozial-kognitiven und affektiven Reaktionen als Moderator wirksam werden oder dass individuelle Merkmale wie Geschlecht oder Alter den Zusammenhang zwischen mentalen Reaktionen und Verhalten moderieren. Gelten beispielsweise dieselben Zusammenhänge für Jungen und Mädchen? Dies gilt es empirisch zu prüfen.

Abbildung 5.1
figure 1

Potenzielle Einflussfaktoren auf die sozial-kognitiven und affektiven Reaktionen bei einem Bullying-Vorfall und die daraus resultierende Rolle

Schließlich erwächst aus dem querschnittlichen Design der vorliegenden Arbeit die Notwendigkeit einer Prüfung der Kausalrichtung. Obgleich das Modell und bisherige Befunde davon ausgehen lassen, dass die sozial-kognitiven und affektiven Reaktionen bestimmen, welches Verhalten gezeigt wird, ist auch die umgekehrte Einflussrichtung nicht ausgeschlossen. Da eine experimentelle Manipulation der interessierenden Variablen kaum möglich ist, sind längsschnittliche Untersuchungen von Interesse. Im Optimalfall sollten neu zusammengesetzte Klassen (bspw. direkt nach dem Wechsel von Grundschule zur weiterführenden Schule) untersucht werden, in denen sich die Rollen noch nicht gefestigt haben. Diese könnten über ein Schuljahr hinweg mehrfach befragt werden, um festzustellen, inwiefern die sozial-kognitiven und affektiven Reaktionen auf Bullying-Ereignisse die später eingenommenen Rollen vorherzusagen vermögen.

5.6 Implikationen für die Praxis

Aktuelle Metaanalysen zu Evaluationen von Anti-Bullying-Programmen bestätigen deren Wirksamkeit, deuten jedoch auch darauf hin, dass die Effektstärken nicht sonderlich groß ausfallen (Gaffney, Farrington & Ttofi, 2019; Ng, Chua & Shorey, 2020) und dass die langfristige Wirksamkeit nicht gesichert ist (Cantone et al., 2015). Dementsprechend wichtig ist eine fortlaufende Optimierung von Anti-Bullying-Programmen basierend auf Forschungsbefunden. Die vorliegende Arbeit spricht dafür, Schul- und Cyberbullying als Gruppenphänomen mit klarem Bezug zur Klassengemeinschaft zu begreifen. Es ist keine kleine Minderheit der Schülerinnen und Schüler, die in Bullying involviert ist oder zumindest damit in Berührung kommt. Dementsprechend sinnvoll scheint ein universeller Präventionsansatz, der sich an die gesamte Schülerschaft wendet, da jeder zum Bystander werden kann. Die potenziellen Zeugen von Bullying – ganz gleich ob Schul- oder Cyberbullying – müssen dazu ermutigt werden, klare Position gegen Bullying zu beziehen. Die Befunde dieser Studie weisen jedoch eher auf weniger entschiedenes Verhalten hin: Die Rolle des Außenstehenden ist die häufigste Zweitrolle. Dies bedeutet, dass selbst jene, die aktiv am Bullying beteiligt sind, häufig ebenfalls als passiv wahrgenommen werden. Die Ergebnisse dieser Arbeit stützen weiterhin die Annahme, dass die sozial-kognitiven und affektiven Reaktionen auf Bullying ein geeigneter Ansatzpunkt für Maßnahmen gegen Bullying sind. Die Empathie mit dem Opfer sowie das persönliche Verantwortungsgefühl und die Überzeugung, etwas gegen die Schikanen ausrichten zu können, müssen gestärkt und Rechtfertigungsstrategien (Moral Disengagement) müssen entkräftet werden. Die Rollen unterscheiden sich deutlich in diesen Merkmalen, wenngleich die Studie keine Aussage zur kausalen Richtung des Zusammenhangs treffen kann und die Unterschiede zwischen den Bystander-Rollen durch Geschlechtsunterschiede bedingt zu sein scheinen. Zumindest für die Differenzierung zwischen aktiv-schikanierendem und aktiv-helfendem Verhalten erweisen sich Empathie, Verantwortungsgefühl, Selbstwirksamkeit und Moral Disengagement als relevant. Unterschiede zwischen Verteidiger-, Verstärker- und Außenstehenden-Rolle hingegen sind bei Berücksichtigung des Geschlechts nicht signifikant. Mit einer Stärkung von Empathie, Verantwortungsgefühl und Selbstwirksamkeit sowie einer Reduktion von Moral Disengagement könnte möglicherweise das Spektrum von Verhaltensweisen im Kontext Bullying ins Positive verschoben werden.

Während die Merkmale des Bullying-Vorfalls, welche sich in experimentellen Studien als bedeutsam für das Verhalten der Bystander erwiesen haben (Barlińska et al., 2013; Bastiaensens et al., 2014), außerhalb der Kontrolle von Lehrkräften oder Eltern liegen, stellen Trainings, die die sozial-kognitiven und affektiven Reaktionen adressieren, eine vielversprechende Möglichkeit dar Bullying entgegenzuwirken. Auch für den Umgang mit akuten Bullying-Vorfällen scheint es wichtig, neben den Hauptakteuren auch weitere Klassenmitglieder einzubeziehen, wie es beispielsweise im No Blame Approach (Blum & Beck, 2016) oder bei der systemischen Mobbingintervention (Konflikt-KULTUR, 2018) gehandhabt wird. Aus Sicht der Opfer wird die Klasse jedoch in weniger als der Hälfte der Fälle in Maßnahmen gegen die Schikanen einbezogen (Rigby, 2020).

An dieser Stelle soll nicht unerwähnt bleiben, dass der Einbezug der Peergruppe nicht unumstritten ist. So kommt eine Metaanalyse von Ttofi und Farrington (2011) zu dem Ergebnis, dass der Einsatz von Peers als Mediatoren oder Mentoren oder die Aktivierung der Peers mit einer verstärkten Viktimisierung einhergehen. Dies hat eine lange Kontroverse angestoßen, die noch immer andauert (Gaffney et al., 2019; Smith, Salmivalli & Cowie, 2012; Ttofi & Farrington, 2012). Die am weitesten verbreiteten und erfolgreichen Programme (siehe Metaanalyse von Gaffney et al., 2019), namentlich KiVa (Kärnä et al., 2013), NoTrap! (Palladino, Nocentini & Menesini, 2016) und das Bullying-Präventionsprogramm nach Olweus (Olweus & Limber, 2010), enthalten allesamt Programmelemente, welche die Peers einbeziehen. Für das KiVa-Programm konnte zudem gezeigt werden, dass das Programm bewirkt, dass weniger verstärkendes und mehr verteidigendes Bystander-Verhalten wahrgenommen wird und dies wiederum das Bullying-Verhalten reduziert (Saarento, Boulton & Salmivalli, 2015). Denkbar ist dementsprechend, dass es auf die Art und Weise ankommt, wie Gleichaltrige einbezogen werden und darauf, ob es tatsächlich gelingt das Verhalten der Bystander zu verändern. Wichtige vermittelnde Faktoren könnten möglicherweise Empathie, Verantwortungsgefühl und Selbstwirksamkeitsüberzeugung sein. Inwiefern diese in verschiedenen Programmen adressiert und nachweislich gefördert werden, könnte ein Anhaltspunkt für die Auswahl von Maßnahmen sein, ist jedoch bislang wenig erforscht. Hinsichtlich Empathie liegen diesbezüglich bereits Studienergebnisse vor (Garandeau, Laninga-Wijnen & Salmivalli, 2020; Polanin, Espelage & Pigott, 2012).

Insbesondere das Training von Empathie, aber auch die Stärkung des Verantwortungsbewusstsein sowie das Einüben von Handlungsstrategien zur Förderung der Selbstwirksamkeitserwartung nehmen in verschiedenen Anti-Bullying-Programmen bereits einen großen Stellenwert ein (Cantone et al., 2015). Während es zu Empathie bereits eine breite Forschungslage inklusive einiger Metaanalysen mit den Rollen bei Schul- wie auch Cyberbullying gibt, liegen weniger Studien zu Selbstwirksamkeitserwartungen und Verantwortungsgefühl vor. Die vorliegende Forschungsarbeit bestätigt deren Zusammenhang mit den Rollen bei Schul- und Cyberbullying und stützt dementsprechend den Einsatz dieser Elemente. Weiterhin wäre es möglicherweise ratsam explizit Mechanismen des Moral Disengagement entgegenzutreten, denn Empathie und Verantwortungsgefühl könnten durch Moral Disengagement ausgehebelt werden. Es müssen klare Normen und Regeln gegen Gewalt und Bullying etabliert werden, die keine Ausnahme zulassen und die kontinuierlich eingefordert werden. Lehrkräfte brauchen dazu Strategien, wie sie auf Rechtfertigungen und Beschönigungen oder das Leugnen von eigener Verantwortlichkeit und Kontrollfähigkeit reagieren können (siehe z. B. Konflikt-KULTUR, 2018). Dabei sollte der Fokus nicht nur auf den Tätern, sondern ebenfalls auf den Bystandern liegen. Die Befürchtungen vor negativen Folgen des Eingreifens sind relativ gering ausgeprägt und unterscheiden sich in dieser Studie nicht zwischen den Rollen. Die Arbeit mit möglichen Ängsten scheint zunächst also kein essenzieller Bestandteil der Präventionsarbeit zu sein, obgleich weitere Forschung dazu nötig ist.

Die in allen drei Studien des vorliegenden Projektes deutlichen Geschlechtsunterschiede hinsichtlich sowohl Rollenverhalten als auch sozial-kognitiven und affektiven Reaktionen auf Bullying deuten weiterhin darauf hin, dass es geschlechtsspezifischer Strategien bedarf. Insbesondere das männliche Geschlecht ist mit schikanierendem oder Bullying-förderndem Verhalten sowie Moral Disengagement assoziiert, während das weibliche Geschlecht mit verteidigendem Verhalten, Empathie, Verantwortungsbewusstsein, aber auch Befürchtungen einhergeht. Dementsprechend wichtig sind spezifische Maßnahmen zur Förderung von Empathie und Verantwortungsbewusstsein bei Jungen. Diese sollten frühzeitig ansetzen und müssen gegebenenfalls zunächst gar nicht konkret auf Bullying bezogen sein.

Grundsätzlich sollte Präventionsarbeit ein kontinuierlicher Prozess sein, der sich nicht ausschließlich auf die unteren Klassenstufen beschränkt, da gerade in den höheren Klassenstufen die Rollenverteilung ungünstiger ausfällt. Wie auch frühere Studien zeigen die hier vorgestellten, dass Pro-Bullying-Verhalten in Stufen 8 und 9 stärker, verteidigendes Verhalten hingegen schwächer ausgeprägt ist. Dies zeigt sich sowohl für Schul- als auch Cyberbullying. Zudem ist der Anteil derer, die überhaupt in Bullying involviert sind in den oberen Stufen am höchsten: Während in Stufe 6 nur knapp über die Hälfte der Schülerinnen und Schüler eine Rolle in Schulbullying einnimmt, sind es in Stufen 8 und 9 etwa drei Viertel. Cyberbullying-Rollen machen in Stufe 6 nur rund 5 % aus, in Stufe 9 hingegen ein Viertel der Jugendlichen. Hinzu kommt, dass auch Empathie, Verantwortungsgefühl und Verteidiger-Selbstwirksamkeit in den höheren Klassenstufen geringer ausfallen.

Aufgrund der starken Verzahnung von Schulbullying und Cyberbullying kann abschließend festgehalten werden, dass beide Bereiche nicht separat betrachtet, sondern gemeinsam angegangen werden sollten. Cyberbullying findet in immerhin einem Drittel der Klassen statt und die Beteiligung an Cyberbullying fällt in den oberen Klassenstufen höher aus. Es ist dementsprechend naheliegend mit zunehmender Relevanz von digitalen Medien und Cyberbullying, dies in höheren Klassenstufen als Aufhänger für die erneute Thematisierung von Bullying zu nutzen, um auch auf Schulbullying zurückzukommen.

5.7 Fazit

Ein erstes wichtiges Ergebnis der vorliegenden Arbeit ist die Bekräftigung, dass Bullying – auch Cyberbullying – als Gruppenphänomen zu begreifen ist. Bullying im Klassenverband findet nicht ausschließlich auf dem Schulgelände, sondern ebenfalls im Cyberspace statt. Bei Cyberbullying wie bei Schulbullying spielen oftmals die Klassenkameraden eine Rolle. Die Participant Roles lassen sich in beiden Kontexten via Peer-Nominierung identifizieren und in Zusammenhang mit dem soziometrischen Status bringen. Somit kann der Participant-Role-Ansatz (Salmivalli et al., 1996) auf Cyberbullying übertragen werden. Zu hinterfragen ist indes für beide Formen von Bullying, ob wirklich alle Klassenmitglieder davon mitbekommen und all ihre Klassenkameraden einordnen können. Ferner scheint es nicht so, dass tatsächlich alle Klassenmitglieder eine klare Rolle einnehmen: Einerseits kommt es zu Mehrfachrollen, andererseits kann vielen Heranwachsenden gar keine Rolle zugeordnet werden. Nichtsdestoweniger sprechen die Befunde dafür, dass eine gewisse Konsistenz im Rollenverhalten vorliegt: Doppelrollen sind oftmals plausible Kombinationen und es gibt durchaus Personen mit eindeutigen Rollen. Zwischen den beiden Kontexten zeigt sich ebenfalls eine Überlappung des Rollenverhaltens.

Zur Erklärung der verschiedenen Bystander-Rollen bei Bullying wurde das Bystander-Intervention-Modell (Latané & Darley, 1970) um sozial-kognitive und affektive Reaktionen erweitert, welche potenziell relevant für die Stufenübergänge sind. Von diesen erwiesen sich Empathie, Moral Disengagement, Verantwortungsgefühl und Verteidiger-Selbstwirksamkeit als tatsächlich relevant für die Differenzierung zwischen prosozialem und antisozialem Verhalten in Bullying-Situationen. Bei Kontrolle von Geschlecht und Stufe wurden allerdings oftmals nur die Unterschiede zwischen Verteidigern beziehungsweise Cyberverteidigern und aktiven Tätern beziehungsweise Cybertätern signifikant. Für die Differenzierung zwischen den Bystander-Rollen schienen hingegen Geschlecht und Stufe einen stärkeren Erklärungswert zu haben als die sozial-kognitiven und affektiven Reaktionen, obgleich die Unterscheidung zwischen Verstärkern, Verteidigern und Außenstehenden der eigentliche Fokus des Modells war. In künftigen Studien gilt es zu klären, in welcher Weise Geschlecht und Stufe sowohl die mentalen Reaktionen auf Bullying als auch das Bystander-Verhalten beeinflussen oder ob die sozial-kognitiven und affektiven Reaktionen möglicherweise den Zusammenhang mediieren.

Abschießend kann festgehalten werden, dass Empathie, Moral Disengagement, Verantwortungsgefühl und Verteidiger-Selbstwirksamkeit mit den Rollen im Bullying-Geschehen assoziiert sind und daher geeignete Ansatzpunkte für die Prävention und Intervention darstellen. Zwar können auf Basis der querschnittlichen Befunde keine kausalen Schlüsse gezogen werden, doch scheint es unter Einbezug der bisherigen Forschungslage wahrscheinlich, dass die mentalen Reaktionen das Verhalten bedingen und nicht ausschließlich das Umgekehrte der Fall ist. Da sowohl das Rollenverhalten als auch die sozial-kognitiven und affektiven Reaktionen bei Bullying deutliche Zusammenhänge mit Geschlecht und Klassenstufe erkennen lassen, sollten Anti-Bullying-Programme geschlechtsspezifische Komponenten enthalten und auf mehrere Schuljahre angelegt sein. Insbesondere sollten sich die Maßnahmen nicht ausschließlich auf die unteren Klassenstufen konzentrieren. Dabei scheint es sinnvoll bei schulischen Maßnahmen insbesondere in den höheren Klassenstufen auch Cyberbullying zu berücksichtigen.