“I have nobody… I need someone.” Dies waren die Worte der fünfzehnjährigen Amanda Todd, die in einem Online-Video davon berichtet, wie sie Opfer langanhaltender Schikanen wurde (Todd, 2012). Es begann damit, dass Nacktfotos von ihr im Internet verbreitet wurden. In der Schule wurde sie ausgegrenzt, beschimpft und verprügelt. Videos davon fanden wiederum ihren Weg ins Internet, wo Hassparolen gegen sie verbreitet wurden. Etwa einen Monat nach ihrer Videobotschaft beging Amanda Todd Selbstmord (Lester, McSwain & Gunn, 2013). Viele wussten von ihrer Not – doch warum griff niemand ein?

Wird eine Person, wie es bei Amanda Todd der Fall war, über einen längeren Zeitraum hinweg immer wieder angegriffen und erniedrigt und kann sich nicht dagegen zur Wehr setzen, so spricht man von Bullying, Mobbing oder Schikanen (Korn, 2006). Die schwerwiegenden Konsequenzen für die Opfer zeigen sich nicht nur in tragischen Einzelfällen, sondern sind durch eine Vielzahl an Studien empirisch belegt. Großangelegte Forschungsprojekte, Längsschnittstudien und Metaanalysen bestätigen, dass Viktimisierung durch Bullying mit einer Vielzahl gesundheitlicher und psychischer Beschwerden, wie Depressionen, Ängsten und Suizidalität einhergeht (Barzilay et al., 2017; Moore et al., 2017; Ttofi, Farrington, Lösel & Loeber, 2011). Dabei trifft Bullying laut der jüngsten Health-Behaviour-in-School-aged-Children-Studie rund jeden zehnten Jugendlichen (Inchley et al., 2020). Es handelt sich um ein weltweit verbreitetes Phänomen (Jimerson, Swearer & Espelage, 2010), das nicht nur einzelne Individuen angeht. Zumal auch die Zeugen von Bullying erhöhte psychische und somatische Symptome sowie eine geringere Lebenszufriedenheit aufweisen (Callaghan, Kelly & Molcho, 2019; Rivers, Poteat, Noret & Ashurst, 2009). Da Bullying oftmals im Klassenverband auftritt, ist anzunehmen, dass ein Großteil der Klasse von den Schikanen mitbekommt (Salmivalli, Lagerspetz, Björkqvist, Österman & Kaukiainen, 1996) und daher zumindest indirekt betroffen ist. Doch sind diese sogenannten Bystander von Bullying nicht bloß durch das Bullying-Geschehen belastet, sondern können vielmehr zu einer Verbesserung der Situation beitragen, indem sie sich auf die Seite des Opfers beziehungsweise den Tätern entgegen stellen, statt diese zu unterstützen und anzuheizen (Salmivalli, Voeten & Poskiparta, 2011).

Die verschiedenen Verhaltensmöglichkeiten der Zeugen von Bullying lassen sich als Participant Roles (Salmivalli et al., 1996) auffassen: Jedem Klassenmitglied kommt eine mehr oder weniger aktive, Bullying fördernde oder Bullying hemmende Rolle zu. Wichtig ist dementsprechend, die Gründe für unterschiedliche Verhaltensmuster zu identifizieren, um auf diese einwirken zu können. Die Ursachen können in verschiedenen Bereichen gesucht werden: individuelle Merkmale wie Persönlichkeit oder Fähigkeit des Bystanders, Merkmale des Vorfalls und sozialer Kontext. Weiterhin können die sozial-kognitiven und affektiven Reaktionen auf das Geschehen ausschlaggebend sein, also wie ein Bystander die Situation interpretiert, bewertet und gefühlsmäßig darauf reagiert. Dies stellt den Fokus der vorliegenden Arbeit dar, da es veränderbare Variablen sind, die sich durch Präventionsarbeit beeinflussen lassen.

Auf Grundlage der bisherigen Forschung sowie in Anlehnung an das Bystander-Intervention-Modell von Latané und Darley (1970) werden fünf potenziell relevante mentale Reaktionen zur Differenzierung zwischen den Rollen identifiziert: Empathie, Moral Disengagement, Verantwortungsbewusstsein, Selbstwirksamkeitserwartungen und Befürchtungen. Diese werden für eine Charakterisierung der verschiedenen Rollen herangezogen, um festzustellen in welcher Hinsicht sich die Rollen unterscheiden und was dementsprechend sinnvolle Ansatzpunkte für die Prävention und Intervention sein könnten. Daneben sollen die Rollen auch hinsichtlich Geschlechts- und Altersunterschieden, soziometrischem Status in der Klassengemeinschaft und schulischen Leistungen charakterisiert werden. Der Fokus liegt dabei auf Schülerinnen und Schülern der weiterführenden Schule. Die Rollen werden dazu mittels eines Peer-Nominierungs-Verfahrens erhoben, bei dem Schülerinnen und Schüler ihre Klassenkameraden für die unterschiedlichen Rollen nominieren. Aufgrund der großen Relevanz, die digitalen Medien im Alltag von Heranwachsenden zukommt, und dem damit einhergehenden Risiko von Cyberbullying (Craig et al., 2020), werden auch Formen von Cyberbullying abgefragt. Damit ist es die erste Studie, die den Grundgedanken des Participant-Role-Ansatzes (Salmivalli et al., 1996), dass die Rollen für die übrigen Klassenmitglieder erkennbar sind, auch in den Cyberspace überträgt. Die inneren Prozesse, die dem von außen beobachtbaren Rollenverhalten mutmaßlich zugrunde liegen, werden hingegen über einen Selbstberichtfragebogen erfasst. Zur Entwicklung beider Instrumente wird zunächst jeweils eine Pilotstudie vorgestellt, bevor beide Fragebögen in der Hauptstudie schließlich kombiniert zum Einsatz kommen, um der Frage nachzugehen, inwieweit sich die Participant Roles hinsichtlich ihrer sozial-kognitiven und affektiven Reaktionen auf Bullying unterscheiden.

1.1 Erläuterung des Phänomens „Bullying“

1.1.1 Definition von Bullying

Es gibt eine Reihe von Definitionen für Bullying, die letztlich jedoch auf die Definition von Dan Olweus (1993) in seinem Vorreiterwerk Bullying at School. What we know and what we can do zurückgehen. Dort definiert er Bullying oder Viktimisierung in folgender Weise: “A student is being bullied or victimized when he or she is exposed, repeatedly and over time, to negative actions on the part of one or more other students” (Olweus, 1993, S. 9). Negative Handlungen spezifiziert er nachfolgend als Handlungen, die einer anderen Person absichtlich Schaden zufügen beziehungsweise zufügen sollen, was der Definition von aggressivem Verhalten entspricht. Bullying kann also als Subform der Aggression verstanden werden, die sich jedoch durch zwei Besonderheiten auszeichnet. Als entscheidend für die Abgrenzung von anderen Formen der Aggression hebt Olweus (1993) den Wiederholungscharakter und die Systematik der Angriffe gegen bestimmte Individuen hervor. In diesem Zusammenhang betont er, dass Bullying sich durch ein Kräfteungleichgewicht zwischen Tätern und Opfern auszeichnet, was sich darin äußert, dass sich die Opfer nicht effektiv gegen die Angriffe wehren können. Diese Unausgewogenheit muss nicht auf unterschiedlicher körperlicher Stärke basieren, sondern kann auch auf die mangelnde Fähigkeit zur Selbstbehauptung oder die unterlegene Position der Opfer in der Klassenhierarchie beruhen. Monks und Smith (2006) unterscheiden in diesem Zusammenhang zwischen physischem, psychischem und sozialem Kräfteungleichgewicht. Das asymmetrische Machtverhältnis ist ebenfalls definierend für den allgemeinen Begriff der Gewalt, weshalb Bullying als wiederholte, systematische Gewalt beschrieben werden kann (Scheithauer, Hayer & Petermann, 2003). Als wesentliche Definitionskriterien können somit Schädigungsabsicht, Machtasymmetrie und Wiederholung zusammengefasst werden. Während diese Aspekte bei Olweus (1993) dessen Erläuterungen entnommen werden müssen, integrieren Van Noorden, Haselager, Cillessen und Bukowski (2015) sie in ihre umfassend und prägnant formulierte Definition:

Bullying has been defined as a subtype of aggressive behavior in which an individual or group of individuals intentionally attacks, humiliates, and/or excludes a relatively powerless person repeatedly and over time. (S. 638)

Das hier beschriebene Phänomen kann neben Bullying auch als Mobbing bezeichnet werden. Beide Begriffe beschreiben dieselbe Problematik, stammen jedoch aus unterschiedlichen Sprachräumen. Während in Skandinavien Mobb(n)ing geläufiger ist, wird in der englischsprachigen Literatur vorwiegend der Ausdruck Bullying verwendet (Monks & Coyne, 2011). Im deutschsprachigen Raum werden die Bezeichnungen häufig synonym eingesetzt und auch die Differenzierung zwischen Bullying für den Schulkontext und Mobbing für den Arbeitskontext verliert an Bedeutung (Korn, 2006). Nichtsdestoweniger haben beide Termini etymologisch betrachtet eine unterschiedliche Konnotation. Der englische Wortstamm mob bedeutet übersetzt Meute oder Bande beziehungsweise als Verb zusammenrotten (Langenscheidt-Redaktion, 2019c) und impliziert, dass die Attacken von einer Gruppe ausgehen, was gemäß der angeführten Definitionen nicht immer der Fall sein muss (Olweus, 2010). Auch bezeichnet der Mob in der Sozialpsychologie den spontanen, kurzfristigen Zusammenschluss einer Menschenmenge, wohingegen ein länger andauernder Zeitraum von Angriffen Bullying ausmacht (Olweus, 2010). Hinzu kommt, dass Mobbing in der Ethologie das Zusammenschließen einer Gruppe von Beutetieren gegen einen Fressfeind im Sinne einer Verteidigungsreaktion bezeichnet (Lorenz, 1968). Das ebenfalls englische Wort bully wird im Compact Oxford English Dictionary (Soanes & Hawker, 2005) umschrieben als „person who intimidates or persecutes weaker people“ und kann mit Tyrann oder brutaler Kerl übersetzt werden (Langenscheidt-Redaktion, 2019a), enthält also ein zentrales Definitionskriterium: das Machtgefälle zwischen Täter und Opfer. In der vorliegenden Arbeit wird der daher als treffender erachtete Begriff Bullying sowie die im deutschen Sprachraum verbreitete Übersetzung des Verbs (to) bully schikanieren verwendet. Mit Fokus auf die Opfer wird in Anlehnung an Olweus (1993) ebenfalls von Viktimisierung gesprochen. Folgende Definition enthält alle Definitionskriterien und dient schließlich als Grundlage für die vorliegende Arbeit:

Bullying oder Schikanieren

= absichtsvoll schädigendes Verhalten, das über einen längeren Zeitraum wiederholt auftritt und sich systematisch gegen schwächere Mitglieder einer Gruppe richtet

1.1.2 Erscheinungsformen von Bullying

Wie aus der Definition hervorgeht handelt es sich bei Bullying nicht um einen einzelnen Vorfall, sondern um eine Serie aggressiver Handlungen, welche ganz unterschiedlicher Art sein können. Denkt man an den Schulkontext, können die aggressiven Handlungen darin bestehen, dass die Opfer beschimpft, beleidigt und bedroht werden, dass sie verprügelt oder mit Gegenständen beworfen werden, dass sie lächerlich gemacht oder bloßgestellt werden, dass über sie Gerüchte verbreitet werden, ihr Eigentum entwendet und gegebenenfalls auch beschädigt wird, sie aus der Gruppe ausgeschlossen oder ignoriert werden. Im Versuch die Vielzahl aggressiver Handlungsmöglichkeiten zu strukturieren, wurde von verschiedenen Autorinnen und Autoren eine Reihe von Subtypen vorgeschlagen. Geläufige Unterscheidungen, die auch im Kontext Bullying Relevanz haben, sind die zwischen physischer, verbaler und relationaler sowie zwischen direkter und indirekter Aggression.

Mit physischer Aggression sind körperliche Angriffe gemeint (z. B. verprügeln, Bein stellen), mit verbaler Aggression Angriffe die mit Worten erfolgen (z. B. beleidigen, bedrohen) und mit relationaler Aggression Angriffe auf die sozialen Beziehungen einer Person (z. B. Gerüchte verbreiten, ausgrenzen; Scheithauer et al., 2003). Genau betrachtet erfolgt diese Unterteilung auf keiner einheitlichen Dimension. Die Subtypen physisch und verbal beziehen sich auf das Mittel der Schädigung und würden besser passend mit nonverbal, also durch Körpersprache geäußerte Aggressionen (z. B. obszöne Gesten machen, jemanden nachäffen), ergänzt werden (Olweus, 1993). Der Subtyp der relationalen Aggression hingegen bezieht sich auf das Objekt der Schädigung, welches in diesem Fall die Beziehungen und der Status einer Person sind – wohingegen physischen Angriffe die körperliche Unversehrtheit einer Person und verbale Angriffe unmittelbar das psychische Wohlbefinden schädigen. Die Schädigung von Beziehungen und Ruf kann sowohl verbal (z. B. lästern) als auch nonverbal (z. B. sich demonstrativ abwenden) geschehen. Obgleich Angriffe auf den Ruf einer Person (z. B. durch Gerüchte) und ausgrenzende Verhaltensweisen in der Literatur oftmals zusammengefasst werden (z. B. Schäfer & Korn, 2004a; Scheithauer, Hayer, Petermann & Jugert, 2006), liegen auch Untersuchungen vor, in welchen diese beiden Formen separat betrachtet wurden (Kristensen & Smith, 2003; Smith & Shu, 2000). Diese Differenzierung zwischen Rufschädigung und Ausgrenzung soll im Folgenden auch in dieser Arbeit vorgenommen werden.

Die Unterscheidung zwischen direkter und indirekter Aggression wird von verschiedenen Arbeitsgruppen nicht mit einheitlichem Bedeutungsgehalt vorgenommen. So definieren Björkqvist, Lagerspetz und Kaukiainen (1992) indirekte Aggression als Verhalten, dass darauf ausgerichtet ist, jemandem in einer Art und Weise Schaden zuzufügen, als hätte keine Schädigungsabsicht bestanden. Rivers und Smith (1994) hingegen sprechen von indirekter Aggression, wenn es nicht zu einer persönlichen Konfrontation von Angesicht zu Angesicht kommt, sondern eine dritte Partei involviert ist. Archer (2001) wiederum sieht als Gegenstück zur Face-to-Face-Interaktion, wenn es sich hinter dem Rücken der betroffenen Person abspielt. Verwendet man direkt und indirekt im Sinne der ursprünglichen Wortbedeutung, so richtet sich direkte Aggression unmittelbar gegen die Zielperson, wohingegen die Zielperson bei indirekter Aggression über einen Umweg geschädigt wird (Dudenredaktion, 2018a). Die schädigende Interaktion spielt sich also nicht zwischen dem Täter und dem Opfer selbst ab, sondern involviert, ganz im Sinne von Rivers und Smith (1994), weitere Personen. Eine alternative, in der Literatur jedoch kaum beachtete Möglichkeit das Opfer auf indirekte Weise zu schädigen sind Angriffe auf dessen Eigentum oder die Manipulation von Gegenständen, sodass sich das Opfer verletzt (Wachs, Hess, Scheithauer & Schubarth, 2016).

Das Gegensatzpaar direkt-indirekt ist nicht gleichzusetzen mit der Unterscheidung zwischen offener und verdeckter Aggression, welche sich auf die Erkennbarkeit der Täter bezieht. Sowohl direkte Angriffe auf die Person als auch indirekte Schädigungen über andere Personen oder Eigentum können sich offen oder verdeckt ereignen. So ist es beispielsweise möglich, einer Person im Gedränge ein Bein zu stellen oder Zettelchen mit Beleidigungen zuzustecken, ohne dass der Täter identifiziert werden kann (direkt, aber verdeckt). Außerdem ist es auch denkbar, bewusst lautstark über eine Person zu lästern oder das Heft des Opfers demonstrativ zu zerreißen (indirekt, aber offen). Weder indirekte noch verdeckte Aggression sollte mit relationaler Aggression gleichgesetzt werden, da diese sowohl direkt (z. B. jemandem ins Gesicht sagen, dass er/sie nicht mitmachen darf) als auch indirekt (z. B. Gerüchte verbreiten, lästern, jemanden nicht einladen) stattfinden kann (Monks & Smith, 2006), wobei die Täter mehr oder weniger offensichtlich agieren können.

Einen Überblick über Beispiele für die verschiedenen Formen aggressiven Verhaltens unterteilt nach Interaktionsform und Mittel der Schädigung gibt Tabelle 1.1. Die Unterscheidung nach der Interaktionsform bezieht sich darauf, ob eine direkte Interaktion mit dem Opfer stattfindet oder die Schädigung indirekt erfolgt. Bei Gladden, Vivolo, Hamburger und Lumpkin (2014) wird dies als Modus von Bullying (modes of bullying) bezeichnet. Das Mittel der Schädigung kann physischer oder nicht-physischer Natur sein, wobei letzteres jegliche Art verbaler und nonverbaler Kommunikation umfasst. Da sich für alle Konstellationen sowohl Beispiele offener als auch verdeckter Aggression finden lassen beziehungsweise einige Handlungen offen und verdeckt denkbar sind, wurde auf eine weitere Unterteilung auf dieser Dimension verzichtet. Weiterhin lassen sich die Beispiele dahingehend kategorisieren, was das primäre Ziel der Schädigung ist. So gibt es Angriffe auf den Körper (direkt-physisch), auf das Eigentum (indirekt-physisch), auf die PsycheFootnote 1 (direkt-verbal/nonverbal) oder auf den Ruf der Person (indirekt-verbal/nonverbal). Des Weiteren gibt es Angriffe auf die Möglichkeiten zur Teilhabe (Ausgrenzung), welche ebenfalls verbal und nonverbal erfolgen können. Da es hierbei gerade um den Entzug von Möglichkeiten der Interaktion handelt, sind die Übergänge zwischen direkten und indirekten Verhaltensweisen fließend und es lässt sich keine klare Grenze ziehen. Sowohl Rufschädigung als auch Ausgrenzung lassen sich als relationale Aggression einordnen, da sie den sozialen Beziehungsmöglichkeiten des Opfers schaden. Zur Differenzierung wird jedoch im Folgenden die Rufschädigung als relational und die Ausgrenzung als isolierend bezeichnet. Weiterhin werden auf Kommunikation basierende direkte Angriffe als verbal benannt, obgleich diese auch non-verbale Handlungen einschließen können und auch die Rufschädigung sich kommunikativer Mittel bedient. Schließlich werden Eigentumsverletzungen als materiell tituliert, um so eine Abgrenzung von als physisch bezeichneten Körperverletzungen zu schaffen.

Tabelle 1.1 Beispiele aggressiven Verhaltens unterteilt nach Interaktionsform und Mittel der Schädigung

Abschließend nochmals anzumerken ist, dass die aufgeführten Beispiele einzeln betrachtet noch kein Bullying darstellen. Erst bei wiederholtem Vorkommen (Wiederholungscharakter) und fehlenden Möglichkeiten seitens des Opfers dies zu unterbinden (Kräfteungleichgewicht) kann von Bullying gesprochen werden.

1.1.3 Schul- und Cyberbullying

Die bisherigen Ausführungen zu Definition und Erscheinungsformen beziehen sich auf Bullying, das im schulischen Kontext stattfindet. Bullying kann jedoch auch über digitale Medien erfolgen. Auf diese Art des Bullying beziehen sich Forschende unter den Begriffen „Cyberbullying“ (Dooley, Pyżalski & Cross, 2009; R. M. Kowalski & Limber, 2013; Modecki, Minchin, Harbaugh, Guerra & Runions, 2014), „electronic bullying“ (Horner, Asher & Fireman, 2015), “internet bullying” (Law, Shapka, Hymel, Olson & Waterhouse, 2012) oder „online bullying“ (Juvonen & Gross, 2008). In Abgrenzung dazu wird das in den vorigen Kapiteln beschriebene Phänomen häufig als „Face-to-Face-Bullying“ (Campbell, 2005; Dooley et al., 2009; Shin, Braithwaite & Ahmed, 2016) oder „traditionelles Bullying” (Gradinger, Strohmeier & Spiel, 2009; R. M. Kowalski & Limber, 2013; Modecki et al., 2014; Shin et al., 2016) bezeichnet. Da sich Bullying jedoch auch offline durchaus verdeckt oder ohne direkte Konfrontation abspielen kann, ist die Bezeichnung als „face to face“ unzutreffend. Der Begriff „traditionelles Bullying“ erscheint ebenfalls unpassend, da dies impliziert, dass es sich um einen Brauch oder eine Konvention handelt (Dudenredaktion, 2018b).

Am aussagekräftigsten für die Beschreibung von herkömmlichen, nicht mediengestützten Formen von Bullying sind die Begriffe „offline bullying“ (Macháčková & Pfetsch, 2016) oder – will man den Schulkontext betonen – „school bullying“ (Zych, Baldry & Farrington, 2018). Obgleich Bullying auch in anderen Kontexten wie in Sportvereinen (Collot D’Escury & Dundink, 2010), am Arbeitsplatz (Coyne, 2011), im Gefängnis (Ireland, 2011) oder in Altenpflegeheimen (Bonifas, 2018) auftritt, liegt der Fokus dieser Forschungsarbeit auf Bullying in der Schule (im Folgenden als Schulbullying oder Offline-Bullying benannt) und auf Bullying unter Schülerinnen und Schülern im Cyberspace (im Folgenden als Cyberbullying oder Online-Bullying benannt).

1.1.4 Definition und Besonderheiten von Cyberbullying

Unter Rückgriff auf die allgemeine Definition von Bullying (Olweus, 1993; Van Noorden et al., 2015), kann Cyberbullying schlicht als Bullying über elektronische Medien definiert werden (Dooley et al., 2009). Dies setzt voraus, dass die in Abschnitt 1.1.1 beschriebenen Definitionskriterien auch für Cyberbullying ausschlaggebend sind. Während die Grundvoraussetzung der Schädigungsabsicht für Bullying wie für Cyberbullying als unumstritten gilt, werden unausgewogenes Kräfteverhältnis und Wiederholungscharakter in der Literatur kontrovers diskutiert (Dooley et al., 2009).

Das Kräfteverhältnis betreffend wurde die Frage aufgeworfen, worin dieses im Fall von Cyberbullying besteht. Vermittelt über digitale Medien kann eine Person unabhängig von körperlichen, psychischen oder sozialen Merkmalen zum Täter oder Opfer werden. Auch ist in der Regel kein herausragendes technisches Können notwendig, um jemanden online zu schikanieren (Dooley et al., 2009) und für das Opfer sollte es leichter sein sich zu verteidigen beziehungsweise zurückzuschlagen (Y. Huang & Chou, 2010). Dem lässt sich entgegenhalten, dass ein erfolgreicher Gegenangriff auch im Cyberkontext eine gewisse Stärke des Opfers (z. B. Selbstvertrauen oder sozialer Rückhalt) erfordert (vgl. auch Lazuras, Barkoukis & Tsorbatzoudis, 2017). Ausschlaggebend ist letztlich – wie bei Offline-Bullying – die subjektiv empfundene Unterlegenheit des Opfers. Dooley et al. (2009) kommen zu dem Schluss, dass es bei Cyberbullying weniger auf die Eigenschaften und Fertigkeiten des Täters als vielmehr auf die Hilflosigkeit des Opfers ankommt, welche durch bestimmte Möglichkeiten der elektronischen Kommunikation (z. B. Anonymität des Täters, Persistenz und schnelle Verbreitung degradierender Inhalte im Internet, ständige Erreichbarkeit des Opfers) verstärkt werden kann. Die Übermacht des Täters entstammt also den Besonderheiten der mediengestützten Kommunikation (Vandebosch & Van Cleemput, 2008). Obgleich auch das Opfer gewisse Möglichkeiten elektronischer Kommunikation zu seinem Schutz nutzen kann, indem es beispielsweise gewisse Kontakte blockiert oder das Medium ausschaltet, ist es in der heutigen Gesellschaft undenkbar vollkommen auf digitale Kommunikation zu verzichten und daher schwierig bis unmöglich den Angriffen zu entkommen und diese dauerhaft zu beenden. Der Angreifer ist somit durch die technischen Möglichkeiten gegenüber dem Opfer im Vorteil.

Die Notwendigkeit der Wiederholung ist schon bei Offline-Bullying nicht indisputabel. Olweus (1993) selbst räumt ein, dass auch einzelne schwerwiegende Vorfälle als Bullying betrachtet werden können. Er verdeutlicht in diesem Zusammenhang, dass das Wiederholungskriterium Bullying von gelegentlicher, gestreuter Aggression abgrenzen soll. Es geht demnach primär um die systematische Schädigung bestimmter Individuen. Dabei ist es wichtig Bullying als soziales Phänomen zu begreifen, denn auch ein einzelner gezielter Angriff seitens der Täter kann soziale Folgen (z. B. Meidung, Verachtung) haben und zu einer andauernden Erniedrigung führen (Dooley et al., 2009). Dies gilt für Offline-Bullying und Online-Bullying gleichermaßen. Bei Cyberbullying kommt jedoch erschwerend hinzu, dass mittels digitaler Medien ein enorm großes Publikum erreicht werden kann, wobei Inhalte sich viral verbreiten und schlecht vollständig gelöscht werden können. Der Wiederholungscharakter muss also nicht im wiederholten Aktivwerden der Täter liegen, sondern kann auch der wiederholten Rezeption erniedrigender Inhalte (z. B. wie häufig ein Video angeschaut wurde) entspringen. Zudem gilt es zu beachten, dass es bei der Definition von Bullying nicht darum geht, dass eine bestimmte negative Handlung wiederholt wird, sondern dass sie Teil einer länger andauernden Folge negativer Handlungen ist (Vandebosch & Van Cleemput, 2008).

Summa summarum können die Definitionskriterien Schädigungsabsicht, Machtimbalance und Wiederholung auch auf Cyberbullying angewandt werden. Nichtsdestoweniger zeichnen sich Interaktionen im Cyberspace durch eine Reihe von Besonderheiten aus (R. M. Kowalski, Giumetti, Schroeder & Lattanner, 2014), die zum Teil bereits bei der Diskussion der Definitionskriterien zu Sprache gekommen sind: Zum einen ist es im Cyberspace leicht, anonym zu bleiben, weshalb die Täter subjektiv ein geringeres Risiko der Bestrafung oder direkten (ggf. physischen) Gegenwehr des Opfers eingehen. Hinzu kommt, dass es im Cyberspace an Beaufsichtigung mangelt (Patchin & Hinduja, 2006). Eng verknüpft mit der Anonymität ist die Tatsache, dass sich die Interaktionspartner im Cyberspace meist nicht sehen und daher keine nonverbalen Signale austauschen. Zudem läuft digitale Kommunikation oftmals asynchron ab, sodass die Reaktion der Opfer erst zeitlich verzögert erfolgt. Anonymität, Unsichtbarkeit und Asynchronität können im Cyberspace zu einer Enthemmung führen (Suler, 2004). Eine weitere Besonderheit digitaler Kommunikation ist, dass in kürzester Zeit eine große Anzahl an Personen zum Publikum werden kann und einmal verbreitete Inhalte eine hohe Persistenz im Netz haben. Überdies unterliegt digitale Kommunikation weniger räumlichen und zeitlichen Grenzen. Das Bullying beschränkt sich also nicht auf die Schulumgebung und die Unterrichtszeiten, sondern verfolgt die Opfer bis nach Hause (Patchin & Hinduja, 2006). Das Opfer ist den Angriffen praktisch zu jeder Zeit und überall ausgesetzt.

Die meisten dieser Besonderheiten sind Cyberbullying nicht inhärent (Pyżalski, 2011). Nicht jede Form der digitalen Kommunikation läuft anonym, asynchron und vor einem großen Publikum ab (z. B. Beleidigungen in einem privaten Chat). Umgekehrt gibt es auch für Offline-Täter Möglichkeiten anonym und unsichtbar zu bleiben (vgl. verdeckte Aggression), das Opfer zeitverzögert zu verletzen und viele Leute davon erfahren zu lassen (z. B. durch ein beleidigendes Graffiti an einer Schulwand). Auch wenn folglich keine klare Trennung zwischen Online- und Offline-Bullying anhand dieser Merkmale möglich ist, sind sie aufgrund der technischen Möglichkeiten digitaler Kommunikation für Cyberbullying typischer. Unterschiede zwischen Online- und Offline-Bullying müssen also eher graduell als kategorial verstanden werden. Smith (2012) spricht in diesem Zusammenhang von „differences in degree rather than differences in kind“ (S. 96). Letztlich können diese für Cyberbullying typischen, wenn auch nicht notwendigen Merkmale als weitere Dimensionen verstanden werden, auf denen verschiedene Akte von sowohl Online- als auch Offline-Aggression eingeordnet werden können (Pyżalski, 2011). Dabei zu beachten ist, dass auch Online-Aggression sich noch einmal in verschiedene Erscheinungsformen untergliedern lässt, welche im folgenden Kapitel näher beschrieben werden.

1.1.5 Erscheinungsformen von Cyberbullying

In den Anfängen der Forschung zu Cyberaggression und Cyberbullying wurde zunächst oftmals nach dem eingesetzten Gerät (Mobiltelefon oder Computer; Patchin & Hinduja, 2006) oder der genutzten Kommunikationsform (z. B. SMS-Nachrichten, E-Mail, Chat, Instant Messaging, Webseite, Anrufe; Smith et al., 2008) unterschieden. Da sich die Medienlandschaft jedoch rasant weiterentwickelt, sodass stetig neue Geräte (z. B. Smartphones oder Tablets) sowie neue Onlinedienste (z. B. Soziale Netzwerke, Videoportale oder Microblogs) hinzukommen und zum Teil auch wieder aus dem Fokus geraten (Medienpädagogischer Forschungsverbund Südwest [mpfs], 2016, 2017, 2018, 2020), ist auf Grundlage des genutzten Mediums keine stabile Kategorisierung möglich. Auch ist eine disjunkte Klassenzuordnung nicht immer gewährleistet, da verschiedene Technologien heutzutage stark verknüpft sind und ineinander übergehen (Riebel & Jäger, 2009).

Eine der ersten Taxonomien, die nach Art des Angriffs – unabhängig vom eingesetzten Medium – unterscheidet, stammt von Willard (2007). Sie unterscheidet zwischen acht Arten von Online-Aggression (siehe Tabelle 1.2), wobei sie zwar den Begriff Cyberbullying verwendet, aber darauf hinweist, dass unter diesem Konzept auch Phänomene zusammengefasst sind, die nicht die Definitionskriterien von Bullying (Wiederholung und Machtimbalance) erfüllen. So ist bei Flaming, einem kurzen, heftigen Schlagabtausch von Beleidigungen und gegebenenfalls auch Drohungen, kein Machtungleichgewicht und keine lange Dauer gegeben. Auch Cyberthreats, also online kommunizierte Gewaltandrohungen, können nicht als Cyberbullying gelten, sofern sie sich nicht systematisch und anhaltend gegen bestimmte Personen richten.

Klar als Cyberbullying identifizierbar sind hingegen Harassment, Denigration und Exclusion. Harassment ist die Belästigung durch eine Flut von Beleidigungen, Hassnachrichten oder Drohungen über Online-Dienste. Denigration bezeichnet die Verbreitung herabsetzender, oftmals falscher Informationen wie Gerüchten oder Lügengeschichten, aber auch Karikaturen, (manipulierten) Fotos oder Videos. Als Sonderformen der Verunglimpfung können Impersonation, Outing und Trickery angeführt werden. Bei der Impersonation geben sich die Täter für das Opfer aus (z. B. indem sie das Passwort herausfinden oder sich unter dem Namen des Opfers ein E-Mail-Konto oder Profil anlegen) und versenden im Namen des Opfers Nachrichten, welche das Opfer in Schwierigkeiten oder eine peinliche Lage bringen (z. B. Beleidigungen, Drohungen oder Liebesbotschaften an Lehrkräfte). Bei Outing stammt das weitergeleitete Material vom Opfer selbst, war jedoch nicht für die breite Masse bestimmt (z. B. Geheimnisse oder Sexting). Oft wurde dieses dem Opfer durch Trickery, das heißt durch Schwindel entlockt (z. B. vorgegaukelte Freundschaft, vorgegaukeltes Interesse an einer Beziehung) oder stammt aus einer vormals positiven Beziehung. Exclusion, also Ausgrenzung meint laut Willard (2007) den Ausschluss aus Online-Gruppen (z. B. durch das Löschen von der Freundesliste, das Nicht-mitspielen-lassen oder Blockieren bei Online-Spielen oder das Ablehnen von Freundschaftsanfragen), kann aber auch das Vorenthalten von online versendeten Informationen oder das schlichte Ignorieren in der Online-Kommunikation umfassen. Des Weiteren führt Willard (2007) Cyberstalking als extreme Form von Belästigung und Bedrohung, oft kombiniert mit Denigration, auf. Cyberstalking zeichnet sich laut Willard (2007) durch das enorme Bedrohungsempfinden der Opfer aus, wobei es jedoch oftmals zu einem Wechsel aus Einschüchterung und Annäherungsversuchen kommt.

Empirisch geprüft wurde das Kategoriensystem durch Riebel und Jäger (2009), welche zu dem Schluss kommen, dass die Taxonomie die unterschiedlichen Spielarten von Cyberbullying gut abdeckt (97% der untersuchten Fälle konnten einer der Kategorien zugeordnet werden), wobei die Zuordnung jedoch nicht immer vollkommen eindeutig ist.

Tabelle 1.2 Taxonomie verschiedener Formen von Online-Aggressionen nach Willard (2007)

Betrachtet man die angeführten Formen von Cyberbullying, lassen sich durchaus Parallelen zu den Erscheinungsformen von Schulbullying (Abschnitt 1.1.2) erkennen. Eine grundsätzliche Bezeichnung von Cyberbullying als Form indirekter Aggression, wie R. M. Kowalski et al. (2014) sie vornimmt, ist nach dem eingangs erläuterten Verständnis des Begriffs „indirekt“ nicht adäquat. So entspricht Harassment dem direkt-verbalen Bullying, Denigration – einschließlich Impersonation und Outing – dem indirekt-verbalen (relationalen) Bullying und Exklusion kann im Cyberspace wie im Offline-Kontext mehr oder weniger direkt erfolgen (z. B. direkte abweisende Nachricht senden oder nicht auf Freundschaftsanfragen/ Chatnachrichten reagieren). Denkbar wären auch indirekt-physische Angriffe im virtuellen Raum, entweder durch Schadsoftware oder im Sinne von Angriffen auf den Avatar des Opfers in Online-Spielen. Diese Möglichkeiten werden in der Literatur zu Cyberbullying jedoch nicht genannt.

1.2 Bullying als Gruppenphänomen

Auch wenn Bullying meist kein Alle-gegen-einen-Szenario ist, sondern überwiegend von kleinen Gruppen oder einzelnen Individuen ausgeht (Olweus, 2010), spielen die übrigen Klassenmitglieder durchaus eine Rolle. Schon in der frühen Literatur wird Bullying als soziales Phänomen beschrieben, das in relativ kleinen, regelmäßig interagierenden Gruppen auftritt (Björkqvist, Ekman & Lagerspetz, 1982) und auf sozialen Beziehungen basiert (Lagerspetz, Björkqvist, Berts & King, 1982). Theoretische Modelle zur Entstehung von Bullying weisen oftmals auf die Bedeutsamkeit der Gruppe für die Entwicklung der Problematik hin.

1.2.1 Entstehungsmodelle

Risikofaktoren für Bullying können in ein sozial-ökologisches Rahmenwerk eingebettet werden, welches die Ebenen des Individuums, dessen Familie, der Schule, der Gemeinschaft und der Kultur umfasst (Swearer & Espelage, 2004; Wachs et al., 2016). Swearer und Espelage (2004) heben hervor, dass Bullying nicht in Isolation auftritt, sondern aus dem komplexen Zusammenspiel dieser Ebenen entsteht. Auf Ebene des Individuums gibt es Persönlichkeitseigenschaften oder Kompetenzen, die einen Einfluss darauf haben, in welcher Weise ein Schüler oder eine Schülerin in Bullying involviert ist. Auf Familienebene spielen Erziehungsstil, Gewalterfahrungen und familiärer Zusammenhalt eine Rolle. Im schulischen Kontext sind zum einen Peer-Beziehungen, wie Freundschaften und sozialer Status, und zum anderen Schul- und Klassenklima, Verhaltensnormen sowie organisatorische Rahmenbedingungen zu nennen. Einflussfaktoren auf gesellschaftlich-kultureller Ebene sind Schulpolitik, wirtschaftliche Lage und gewaltbezogene Normen eines Kulturkreises. Einen ausführlichen Überblick über die Risikofaktoren auf den verschiedenen Ebenen geben Hess und Scheithauer (2015).

Auch Olweus (1978, 1993) bezog in seine theoretischen Überlegungen zur Entstehung von Bullying neben individuellen Faktoren bereits den familiären und schulischen Kontext mit ein. Zusammenfassen lassen sich diese Überlegungen in einem Teufelskreismodell, welches verschiedentlich graphisch dargestellt wurde (Hanewinkel & Knaak, 1997; Scheithauer & Bull, 2008) und in Abbildung 1.1 mit stärkerem Fokus auf die Gruppenebene veranschaulicht ist. Grundannahme des Modells ist, dass aggressive Verhaltensweisen und so auch Bullying erlernt werden. Das aggressive Verhaltensmuster eines Kindes ist zwar mitbedingt durch das Temperament des Kindes (Olweus, 1993), wird jedoch auch stark durch Lernerfahrungen geformt. Zu nennen sind hier Modelllernen, also die Imitation aggressiver Modelle wie Eltern, Geschwistern oder Mitschülern, und Verstärkungslernen, das heißt das Erreichen von positiven Konsequenzen (z. B. Durchsetzen eigener Interessen, Bewunderung) oder das Vermeiden von negativen Konsequenzen (z. B. unliebsame Aufgaben, von anderen dominiert werden) durch aggressives Verhalten. Auch das Ausbleiben von negativen Konsequenzen stößt einen Lernprozess dahingehend an, dass aggressives Verhalten geduldet wird. Derartige Lernprozesse finden zunächst in der Familie statt (z. B. durch strafende Erziehungsmethoden und einen permissiven Umgang mit aggressiven Verhaltensweisen; Olweus, 1993) und prägen somit das Aggressionslevel, das ein Kind in die Schule mitbringt und für Bullying prädisponiert. Die Art und Weise wie Opfer, Mitschüler, Lehrer und Eltern auf schikanierendes Verhalten reagieren, stellt wiederum eine Lernerfahrung dar, welche das Bullying oftmals fördert. Die Opfer sind ängstlich, verunsichert und passiv und geben den Tätern somit ein Gefühl von Stärke und Überlegenheit (positive Verstärkung). Seitens der Opfer haben die Täter wenig Gegenwehr zu erwarten. Die Mitschülerinnen und Mitschüler sind zum Teil ebenfalls ängstlich und verunsichert, zum Teil sind sie aber auch fasziniert (positive Verstärkung) oder schließen sich den Tätern an (Modelllernen, positive Verstärkung). Lehrkräften und Eltern mangelt es oftmals an Informationen und Strategien zur Intervention, weshalb sie häufig unentschlossen sind, gar nicht eingreifen oder inkonsistent handeln, wodurch in der Klasse ein Eindruck der Duldung entstehen kann. Es kommt somit zu einer Negativspirale aus aggressivem, schikanierendem Verhalten und Bullying fördernden sozialen Lernerfahrungen. Hinzu kommen Gruppenmechanismen, wie soziale Ansteckung, welche Bullying zum Gruppenphänomen machen, an dem sich mehrere Individuen aggressiv beteiligen. Neben der Imitation aggressiven Verhaltens an sich betont Olweus (1993) eine Verringerung der Hemmschwelle zu aggressivem Verhalten durch das Beobachten erfolgreicher beziehungsweise ungestrafter Aggression. Auch sei durch die Beteiligung in der Gruppe das individuelle Verantwortungsgefühl reduziert.

Abbildung 1.1
figure 1

Teufelskreismodell zur Entstehung von Bullying in Anlehnung an Olweus (1978, 1993)

Den Übergang von aggressivem Verhalten zu Bullying konzipieren Schäfer und Korn (2004b) in drei Stadien (siehe Abbildung 1.2): Das Explorationsstadium zeichnet sich durch gestreute Aggression der nach Dominanz strebenden Tätern aus, wobei sich noch keine Systematik gegen bestimmte Mitschüler oder Mitschülerinnen erkennen lässt. In dieser Phase lernen die Täter mit welchen Reaktionen sie seitens der Attackierten sowie der übrigen Klasse zu rechnen haben. Dies erlaubt ihnen im zweiten Stadium der Konsolidierung ihre Angriffe systematisch gegen bestimmte Opfer zu richten. Dabei provozieren sie gezielt inadäquate Reaktionen der Opfer (z. B. Gegenaggression oder Unterwürfigkeit), welche das Ansehen der Opfer herabsetzen. Werden schließlich die Angriffe auf das Opfer als normkonform und gerechtfertigt wahrgenommen, ist das Manifestationsstadium erreicht und das Opfer gerät in eine völlige Isolation.

Abbildung 1.2
figure 2

Phasenmodell zur Entstehung von Bullying in Anlehnung an Schäfer und Korn (2004b)

Beiden Entstehungsmodellen ist gemein, dass sie den Reaktionen der übrigen Klassenmitglieder eine entscheidende Bedeutung beimessen. Welche unterschiedlichen Formen diese Reaktionen annehmen können, soll in den folgenden Kapiteln differenzierter betrachtet werden.

1.2.2 Bystander-Verhalten bei traditionellem Bullying

Diejenigen, die Bullying mitbekommen, jedoch selbst nicht als Täter oder Opfer involviert sind, werden in der englischsprachigen Literatur häufig als bystander bezeichnet (Salmivalli et al., 2011). Laut Compact Oxford English Dictionary ist ein Bystander „a person who is present at an event but does not take part“ (Soanes & Hawker, 2005). Da die deutschen Übersetzungsmöglichkeiten Zuschauer oder Umstehender (Langenscheidt-Redaktion, 2019b) den Fokus unnötig auf die visuelle Ebene oder die physische Präsenz lenken, wird im Folgenden weiterhin der englische Begriff verwendet. Das Verständnis des Begriffs wird allerdings dahingehend ausgeweitet, dass er jegliche Person umfasst, die von den Vorfällen mitbekommt, wobei unerheblich ist, ob die Person dabei selbst anwesend war oder es durch andere Personen erfährt (Jones, Mitchell & Turner, 2015).

Die Forschungsgruppe um Christina Salmivalli beschreibt in ihrem Participant-Role-Ansatz unterschiedliche Rollen, welche Bystander im Bullying-Gefüge einnehmen können (Salmivalli et al., 1996, siehe Abbildung 1.3). Grundannahme dabei ist, dass jedes Klassenmitglied in irgendeiner Form beteiligt ist oder zumindest von den Schikanen weiß. Neben Opfern und den Tätern differenzieren sie zwischen Assistenten des Täters, Verstärkern des Täters, Verteidigern des Opfers und Außenstehenden. Während der Täter (bully) die Initiative ergreift, die Attacken anführt und andere dazu animiert beim Bullying mitzumachen, wird er von seinen Assistenten (assistants of the bully) unterstützt. Diese beteiligen sich aktiv an den Schikanen, jedoch nur wenn jemand anderes damit beginnt. Darüber hinaus gibt es Gruppenmitglieder, die nicht selbst beim Schikanieren mitmachen, den Tätern und Assistenten jedoch ein Publikum bieten und durch ihr Verhalten Zustimmung signalisieren. Die sogenannten Verstärker (reinforcers of the bully) schauen zu, lachen oder feuern an und verstärken somit im Sinne der operanten Konditionierung das aggressive Verhalten. Demgegenüber setzen sich die Verteidiger (defenders of the victim) für das Opfer ein, indem sie es trösten, es verteidigen, Hilfe holen und versuchen das Bullying zu stoppen. Durch Passivität zeichnen sind die Außenstehenden (outsider) aus. Sie stellen sich auf keine Seite und halten sich aus dem Geschehen heraus. Dies bedeutet jedoch nicht, dass sie tatsächlich vollkommen unbeteiligt sind. Vielmehr tragen sie durch ihre Untätigkeit zur Entstehung und Aufrechterhaltung von Bullying bei, da passives Verhalten den Eindruck stillschweigenden Einverständnis wecken kann (Salmivalli, 2014) oder die Täter sogar dazu anstacheln kann, sich durch aggressive Handlungen zu profilieren und damit Stärke und Überlegenheit zu demonstrieren (vgl. Stueve et al., 2006).

Abbildung 1.3
figure 3

Die Participant Roles bei Bullying in Anlehnung an Salmivalli et al. (1996)

Diese verhaltensnahen Rollenbeschreibungen differenziert Olweus (2001) in seinem Bullying Circle unter Berücksichtigung der nicht sichtbar gezeigten Haltung weiter aus. Insbesondere die Gruppe der Außenstehenden unterteilt er nochmals in drei Reaktionstypen: Die passiven Unterstützer befürworten das Bullying, zeigen dies jedoch nicht offen. Die unbeteiligten Zuschauer (disengaged onlookers) nehmen wahr was geschieht, sind allerdings der Meinung, dass es sie nichts angeht und beziehen keine Stellung. Mögliche Verteidiger lehnen das Bullying ab und denken, dass sie helfen sollten, setzen dies aber nicht in die Tat um. Daneben führt er als direkte Pendants zu den Participant Roles Täter, Mitläufer oder Handlanger (Assistenten), Befürworter oder passive Täter (Verstärker) sowie Verteidiger an. Die Reaktionstypen lassen sich also auf den Dimensionen der Einstellung (pro Bully versus pro Opfer) und der Aktivität (aktiv versus passiv) einordnen.

Der Begriff des Bystanders ist im Kontext von Bullying folglich weitergefasst als die herkömmliche Definition (vgl. Soanes & Hawker, 2005) und bezeichnet nicht ausschließlich inaktive, unbeteiligte Zeugen, sondern eben auch jene, die sich entscheiden auf Seiten des Täters oder des Opfers ins Geschehen einzutreten. Von außen beobachtbare Verhaltensmuster von Bystandern lassen sich sowohl im Participant-Role-Ansatz (Salmivalli et al., 1996) als auch im Bullying Circle (Olweus, 2001) in drei Klassen einteilen: (1) Verhalten, welches Bullying fördert, (2) Verhalten, welches das Opfer unterstützt und (3) passives Verhalten.

1.2.3 Bystander-Verhalten bei Cyberbullying

Im Gegensatz zu Schulbullying gibt es für Cyberbullying bislang keine etablierte theoretische Konzeptualisierung der Rollen (Pfetsch, 2016). Dies mag daran liegen, dass die Gruppe der Bystander bei Cyberbullying potenziell heterogener und weitergefasst als bei Schulbullying ist. So kann Cyberbullying wie in Abschnitt 1.1.4 beschrieben ein riesiges Publikum erreichen, das nicht nur Mitschülerinnen und Mitschüler umfasst. Die Bystander von Cyberbullying variieren demnach stärker in ihrer Beziehung zum Opfer. Des Weiteren besteht bei Cyberbullying die Möglichkeit online oder aber offline zum Zeugen zu werden (Pfetsch, 2016). Wird das Bullying ausschließlich online bemerkt, kann dies unmittelbar oder zeitlich verzögert geschehen. Der Bystander kann beispielsweise in der gleichen Chatgruppe online sein, während die Angriffe auf das Opfer erfolgen und diese live miterleben oder es später im Chatverlauf nachlesen. Erfährt jemand offline vom Bullying, gibt es ebenfalls verschiedene Möglichkeiten: Der Bystander kann mit dem Opfer zusammen sein, während dieses den Bullying-Attacken ausgesetzt ist (z. B. beleidigende Nachrichten empfängt) oder mit dem Täter oder den Tätern, während diese die Angriffe ausführen. Zusätzlich ist denkbar, dass jemand nachträglich offline von den Vorfällen erfährt – wiederum durch Opfer, Täter oder andere Bystander. Personen, denen sich das Opfer anvertraut, bezeichnen Jones und Kolleginnen (2015) als sekundäre Bystander.

Jan Pfetsch (2016) konzeptualisiert die Rahmenbedingungen des Cyberbystandings auf drei Dimensionen: Virtualität, Nähe und soziale Beziehung. Hinsichtlich Virtualität unterscheidet er zwischen Online- und Offline-Kontext. Der Aspekt der Nähe umfasst die zeitliche Nähe (Grad der zeitlichen Verzögerung), die technische Nähe (Realismus der Darstellung) und die psychologische Nähe (Gefühl der Verbundenheit). Soziale Beziehungen zu Tätern und Opfern können positiv oder negativ sein. Besteht keine persönliche Beziehung wie eine Freundschaft, ist dies durch die Einordnung in Eigen- und Fremdgruppe geprägt.

Trotz der im Vergleich zu Schulbullying komplexeren Rahmenbedingungen von Cyberbystanding lassen sich die Reaktionen von Bystandern auf Cyberbullying ähnlich wie beim Schulbullying in die drei Klassen Bullying-fördernd, Opfer-unterstützend und passiv unterteilen (vgl. Pfetsch, 2016; Van Cleemput, Vandebosch & Pabian, 2014). Diese Reaktionen können, wie das Bemerken, sowohl online als auch offline stattfinden (Sarmiento, Herrera-López & Zych, 2019). Die konkreten Verhaltensweisen sind dabei, gerade wenn sie offline erfolgen oder es sich um verbale Reaktionen handelt, sehr ähnlich wie beim Schulbullying. Online gibt es zudem Emoticons und Like- oder Dislike-Buttons, mittels derer Bystander ihre Gefühle ausdrücken und sich zum Geschehen positionieren können. Hinzu kommen weitere technische Besonderheiten, wie die Möglichkeit Nachrichten oder Bildmaterial weiterzuleiten oder zu löschen und damit entweder Täter oder Opfer zu unterstützen. Kritisch angemerkt wird in diesem Zusammenhang von Barlińska, Szuster und Winiewski (2013), dass die Unterteilung in aktive Täter und Verstärker bei Cyberbullying unscharf ist. Ist jemand, der einen verletzenden digitalen Inhalt weiterleitet, teilt oder likt als Täter oder als Verstärker einzuordnen? Die Schwierigkeit zwischen Täter, Assistenten und Verstärkern zu differenzieren ist gleichwohl auch im Kontext von Schulbullying bekannt (Goossens, 2006; Sutton & Smith, 1999). DeSmet und Kolleginnen (2014) geben weiterhin zu bedenken, dass die Zeugen von Cyberbullying zwar ähnliche Verhaltensoptionen wie für Schulbullying berichten, diese jedoch kontextabhängig eingesetzt werden und dementsprechend nicht als feste Participant Roles betrachtet werden sollten. Zudem weisen Price et al. darauf hin, dass Bystander von Cyberbullying in der Regeln nicht ausschließlich online oder ausschließlich offline agieren und prägen in diesem Zusammenhang den Begriff des hybriden Bystander (hybrid bystander; Price et al., 2014). Sie arbeiten heraus, dass Verhaltensweisen vom einen in den anderen Kontext hineingetragen werden können und dass Handlungen in einem Kontext auch Reaktionen im anderen Kontext nach sich ziehen können.

Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass die Auseinandersetzung mit den Bystandern von Cyberbullying die Komplexität des Bystander-Verhaltens erkennen lässt. Viele Differenzierungen innerhalb der Bystander-Rolle – beispielsweise wie eine Person von den Vorfällen mitbekommt und auf welcher Ebene sie reagiert – sind erst im Zusammenhang mit Cyberbullying in den Fokus gerückt, sollten allerdings auch Gedankenanstöße für das Verständnis der Bystander bei Schulbullying liefern.

1.3 Prävalenz von Bullying

Obgleich die Anzahl an Untersuchungen zu Bullying stetig zunimmt (Volk, Veenstra & Espelage, 2017), ist eine exakte Bestimmung der Prävalenz bislang nicht möglich, da die Angaben verschiedener Studien stark variieren. Dies mag zum einen daran liegen, dass Bullying in unterschiedlichen Regionen unterschiedlich ausgeprägt ist (Inchley et al., 2020), hat zum anderen aber auch konzeptionelle und methodische Gründe: Bullying wird in den Studien auf sehr unterschiedliche Arten erfasst.

1.3.1 Methodische Aspekte bei der Prävalenzschätzung von Bullying

Bereits die Definition von Bullying betreffend zeigen sich deutliche Unterschiede bei der Erfassung von Bullying. Zum einen werden die drei Definitionskriterien, insbesondere bei Cyberbullying, nicht von allen Forschenden anerkannt (bspw. Porsch & Pieschl, 2014), zum anderen bedeutet eine Anerkennung der Definitionskriterien nicht automatisch, dass diese auch tatsächlich bei der Operationalisierung berücksichtigt wurden (bspw. Demaray & Malecki, 2003; Macháčková & Pfetsch, 2016). Werden nur aggressive Verhaltensweisen abgefragt, ohne den Studienteilnehmern vorab eine Definition von Bullying zu geben, erweist sich besonders die Feststellung des Machtungleichgewichts als Herausforderung, die in vielen Studien nicht angegangen wurde (Swearer, Siebecker, Johnsen-Frerichs & Wang, 2010). Auch bei der Umsetzung des Häufigkeitskriteriums gibt es bislang keinen Konsens, ab welcher Frequenz Gewalthandlungen als Bullying bezeichnet werden können. Sofern die Häufigkeit in der Operationalisierung Berücksichtigung findet, variieren benutzte Cut-off-Punkte zwischen mindestens „ein- oder zweimal monatlich“ und mindestens „einmal pro Woche“ oder bei abstrakter Erfassung mindestens „gelegentlich“, „häufig“ oder „ständig“ (Swearer et al., 2010). Dabei ist auch der Referenzzeitraum nicht einheitlich, sondern schwankt zwischen „in der letzten Woche“ und „im vergangenen Jahr“ oder es wird kein Zeitrahmen vorgegeben (Cook, Williams, Guerra & Kim, 2010). Darüber hinaus kann Bullying anhand einzelner Items oder Skalen mit mehreren Items erfasst werden. Eine weitere Unterschiedlichkeit liegt in der genutzten Informationsquelle. Am häufigsten sind Selbstberichtdaten (78%), gefolgt von Auskünften durch Gleichaltrige, Lehrkräfte oder Eltern (Cook, Williams, Guerra, Kim & Sadek, 2010).

All diese methodischen Aspekte haben sich in empirischen Studien als relevant für die Prävalenzschätzung erwiesen (Cook, Williams, Guerra & Kim, 2010; Gradinger, Strohmeier & Spiel, 2010; Modecki et al., 2014; Swearer et al., 2010). Hinzu kommt die Möglichkeit, dass Bullying in verschiedenen Stichproben beispielsweise in Abhängigkeit von untersuchter Alterspanne, Schultyp oder Region tatsächlich unterschiedlich häufig auftritt. Cook, Williams, Guerra und Kim (2010) fanden metaanalytisch heraus, dass sowohl Methodik als auch geographische Lage einen Effekt auf die berichteten Prävalenzraten haben. Letztlich muss jedoch auch in diesem Zusammenhang wieder auf eine methodische Problematik hingewiesen werden: Werden Untersuchungen an Gelegenheitsstichproben durchgeführt, ist die Repräsentativität nicht zweifelsfrei gegeben. Zudem kann auch das Verständnis des Begriffs sprachlich oder kulturell variieren. Möchte man sich also ein angemessenes Bild von der Auftretenshäufigkeit von Bullying machen, gilt es methodische Aspekte wie Stichprobe und Operationalisierung mit im Blick zu haben.

1.3.2 Prävalenz von Schulbullying und Cyberbullying

Aufgrund der immensen Anzahl an Studienbefunden zur Auftretenshäufigkeit von Bullying sind insbesondere Metaanalysen informativ. Für eine angemessene Abschätzung des Ausmaßes von Bullying sollte sowohl die Zahl der Opfer als auch die der Täter miteingerechnet werden, sowie diejenigen Personen, die sowohl als Täter als auch als Opfer in Erscheinung treten (sogenannte Täter-Opfer oder Bully-Victims, Haynie et al., 2001). Eine Metaanalyse der Arbeitsgruppe um Cook (Cook, Williams, Guerra & Kim, 2010) mit 82 Studien berichtet für Bullying im Schulsetting durchschnittliche gewichtete Prävalenzangaben von 24% Opfern, 21% Tätern sowie 8% Täter-Opfern. Eine Metaanalyse von Modecki et al. (2014) vergleicht indessen die Prävalenzen von Schulbullying und Cyberbullying in 80 Studien und kommt zu dem Schluss, dass Schulbullying deutlich häufiger vorkommt als Cyberbullying. Die mittlere an der Stichprobengröße gewichtete Prävalenz von Schulbullying betrug 36% Opfer und 35% Täter, bei Cyberbullying hingegen 15% Opfer und 16% Täter. Beide Metaanalysen beziehen auch Studien mit ein, in denen nicht alle drei Definitionskriterien (Schädigungsabsicht, Wiederholung, Machtungleichgewicht) erfüllt sind, sodass sich die Angaben zum Teil auch auf allgemein aggressives Verhalten beziehen können und die Prävalenz von Bullying somit vermutlich überschätzt wird.

Neben Metaanalysen sind auch groß angelegte repräsentative Studien aussagekräftig. Die HBSC-Studie (Health Behaviour in School-aged Children) erfasst im vierjährigen Abstand in verschiedenen Regionen Europas und Nordamerikas gesundheitsrelevante Daten von Jugendlichen, darunter auch Selbstauskünfte zu Bullying-Erfahrungen, wobei den Befragten eine umfassende Definition von Bullying vorgelegt wird. Bei der Erhebungswelle 2017/18 (Inchley et al., 2020) berichteten im Schnitt 10% der Jungen und Mädchen in den letzten Monaten mindestens zweimal pro Monat schikaniert worden zu sein. Opfer von Cyberbullying wurden etwa 13% der Befragten. Demgegenüber gaben 8% der Jungen und 5% der Mädchen an, selbst daran beteiligt gewesen zu sein andere in der Schule zu schikanieren. Weiterhin berichteten 12% der Jungen und 8% der Mädchen von Cybertäterschaft. Für Schulbullying bleiben die Opferzahlen somit gegenüber 2013/14 (Inchley et al., 2016) weitgehend konstant, während die Prävalenz der Täterschaft etwas zurückging. Cyberbullying hingegen scheint zuzunehmen (2013/14: 3% Cyberopfer; Cybertäterschaft 2013/14 nicht erhoben).

Auch im Rahmen der PISA-Studie 2018 (Programme for International Student Assessment) wurden Gewalterfahrungen von Schülerinnen und Schüler in einer Vielzahl von Ländern weltweit erhoben (OECD, 2019). Durchschnittlich gaben in den Ländern der OECD (Organisation for Economic Co-operation and Development) 23% der befragten Schülerinnen und Schüler an, mehrfach monatlich aggressiven Handlungen ausgesetzt gewesen zu sein. Obgleich somit der Wiederholungscharakter von Bullying gegeben ist, wurde bei der Erfassung nicht das Vorliegen eines Machtungleichgewichts sichergestellt. Die durchschnittliche Prävalenzrate von 23% kann zum Teil also auch gestreute, das heißt nicht systematisch gegen Schwächere gerichtete aggressive Akte umfassen. Einen Überblick über Metaanalysen und repräsentativen Studien zur Prävalenz von Schul- und Cyberbullying gibt Tabelle 1.3.

Sowohl in der Metaanalyse von Cook, Williams, Guerra und Kim (2010) als auch in HBSC-Studie (Inchley et al., 2016), PISA-Studie (OECD, 2019) und EU-Kids-Online-Studie (Šmahel et al., 2020) zeigen sich enorme Schwankungen zwischen den untersuchten Ländern und Regionen (siehe Tabelle 1.3), welche nicht ausschließlich auf methodische Unterschiede zurückzuführen sind. Dementsprechend wichtig ist eine spezifische Betrachtung von Befunden für Deutschland, um eine angemessene Vergleichsgrundlage für die folgende in Deutschland durchgeführte Studie zu schaffen.

Tabelle 1.3 Überblick über Studien zur Prävalenz von Schul- und Cyberbullying

In der deutschen Stichprobe (n = 5881) der HBSC-Studie 2013/14 (Oertel, Melzer & Schmechtig, 2016) lag die Prävalenz von Bullying mit jeweils 9% Schülerinnen und Schülern, die mindestens zwei- bis dreimal im Monat Opfer- oder Tätererfahrungen gemacht haben, etwa im Schnitt der beteiligten Länder. In der Erhebungswelle 2017/18 (Fischer, John, Melzer et al., 2020) lagen die Prävalenzen mit 8% Opfern und 4% Tätern in Deutschland sogar etwas niedriger. Rund 1% der Befragten berichtet sowohl Opfer- als auch Tätererfahrungen. Opfer von Cyberbullying waren etwa 2% der deutschen Stichprobe, Cybertäter circa 1%. Auch bei der PISA-Studie liegt die Prävalenzangabe für Deutschland mit rund 23%, die mehrfach monatlich aggressiven Handlungen ausgesetzt waren, genau im Mittel der teilnehmenden Länder (OECD, 2019), jedoch deutlich höher als in den HBSC-Studien, was an der Operationalisierung liegen dürfte. Näher an der HBSC-Studie liegen wiederum die Ergebnisse der jüngsten Repräsentativbefragung des Projektverbundes EU Kids Online: 6% der jungen Internetnutzer gaben an im letzten Jahr monatlich offline gemeinem oder verletzendem Verhalten ausgesetzt gewesen zu sein und 3% online, jeweils 1% gab zu monatlich andere gemein oder verletzend behandelt zu haben (Šmahel et al., 2020; weitere Informationen in Hasebrink, Lampert & Thiel, 2019).

In der Metaanalyse von Cook, Williams, Guerra und Kim (2010) wurden für Deutschland drei Studien herangezogen: Schäfer, Korn, Brodbeck, Wolke und Schulz (2005), Scheithauer et al. (2006) und Schuster (1999). Kombiniert ergaben sich Prävalenzraten von 12% Opfern, 16% Tätern sowie 15% Täter-Opfern (Cook, Williams, Guerra & Kim, 2010), wobei der hohe Anteil an Täter-Opfern vermutlich auf die Grundschulstichprobe in der Studie von Schäfer et al. (2005) zurückgeht. Einen Überblick über deutsch publizierte Studien aus den 90er-Jahren geben Lösel und Bliesener (1999). Sie fassen zusammen, dass die Prävalenzangaben für Bullying bei einem strengen Kriterium (mind. einmal die Woche) zwischen 4% und 12% liegen und dies für Viktimisierung und Täterschaft ähnlich sei. Auch im darauffolgenden Jahrzehnt veröffentlichte Studien reihen sich in dieser Größenordnung ein (Hampel, Manhal & Hayer, 2009; Jugert, Scheithauer, Notz & Petermann, 2000).

Des Weiteren konzentrieren sich einige Studien insbesondere auf Cyberbullying. So wurden in einer Online-Studie von Riebel, Jäger und Fischer (2009) knapp 2000 Kinder und Jugendliche (6–19 Jahre, 64% weiblich) dazu befragt, wie oft sie in den letzten zwei Monaten Opfer von Bullying und Cyberbullying geworden sind und wie oft sie sich selbst an Bullying und Cyberbullying beteiligt. Als Opfer und Täter wurden diejenigen identifiziert, die wöchentliche Vorfälle berichten. Dies waren rund 25% Opfer, 6% Cyberopfer, 7% Täter und 4% Cybertäter.

Eine standardisierte Befragung von Katzer, Fetchenhauer und Belschak mit 1700 Schülerinnen und Schülern der 5. bis 11. Klasse (55.3% weiblich) erfasste die Häufigkeit aggressiver und störender Verhaltensweisen im Internet sowohl aus Opfer- (2009b) als auch aus Täter-Perspektive (2009a). Opfererfahrungen variierten je nach Art des aggressiven Verhaltens zwischen 4% (erpresst worden oder gehänselt worden) und 44% (bei Unterhaltung gestört worden), die dies schon erlebt haben. Die Rate wöchentlicher Viktimisierung lag zwischen 1% und 8%. Von denjenigen Befragten mit Opfererfahrungen berichteten rund 28%, immer wieder Opfer derselben Täter zu werden (Katzer et al., 2009b). Auf der anderen Seite gaben je nach Art des abgefragten Verhaltens 10% (jemanden bedrohen) bis 42% (jemanden beschimpfen) an, dies selbst schon getan zu haben. Etwa 8% der Jungen und 1% der Mädchen berichteten andere Chatter mehrmals in der Woche zu mobben (Katzer et al., 2009a).

Das Bündnis gegen Cybermobbing erfasst Erfahrungen mit Cybermobbing in seinen Cyberlife-Studien aus Perspektive der Eltern, Lehrkräfte sowie Schülerinnen und Schüler. In der jüngsten Studie Cyberlife III gaben von rund 4400 Schülerinnen und Schülern knapp 38% an, schon einmal Opfer von Bullying gewesen zu sein – 22% mindestens wöchentlich – und 17% berichteten Opfer von Cyberbullying gewesen zu sein (Beitzinger, Leest & Schneider, 2020). Beide Werte liegen deutlich höher als 2017 bei Cyberlife II, wo es 24% Bullying-Opfer und 13% Cyberbullying-Opfer gab (Leest & Schneider, 2017). Rund 13% gaben ferner zu selbst schon als Cybertäter agiert zu haben – dieses Niveau war bei Cyberlife II und III ähnlich (Beitzinger et al., 2020; Leest & Schneider, 2017).

Im Rahmen der JIM-Studie (Jugend, Information, Medien) des Medienpädagogischen Forschungsverbunds Südwest (mpfs) zu Medien- und Freizeitverhalten von Jugendlichen in Deutschland werden jährlich mittels repräsentativen telefonischen Befragungen neben Aspekten der Medienausstattung und Mediennutzung seit 2016 auch negative Erfahrungen mit Medien erhoben (mpfs, 2016). So wurden auch im Jahr 2019 wieder 1200 Jugendlichen (12–19 Jahre, 48% weiblich) befragt (mpfs, 2020). Ähnlich wie in den vorangehenden Studien berichteten rund 20% der Jugendlichen, dass über sie im Internet schon einmal falsche oder beleidigende Inhalte verbreitet wurden, 8% gaben an, im Internet gezielt fertig gemacht worden zu sein (mpfs, 2016, 2017, 2018, 2020).

Zusammenfassend kann trotz starker Schwankungen in der Prävalenzschätzung festgehalten werden, dass es sich bei Bullying um eine international weitverbreitete Problematik handelt, von der auch deutsche Schülerinnen und Schüler betroffen sind. Viele Schätzungen für Deutschland liegen in einer Größenordnung von 10%. Bei einer Klassengröße von 25 Schülerinnen und Schülern würde dies bedeuten, dass es pro Klasse durchschnittlich zwei bis drei Betroffene gibt, wobei jedoch beachtet werden muss, dass die Auftretenshäufigkeit zwischen verschiedenen Schulklassen enorm variiert (Atria, Strohmeier & Spiel, 2007). Von Cyberbullying ist im Vergleich zu Schulbullying eine geringe, aber dennoch nicht zu vernachlässigende Anzahl an Heranwachsenden betroffen (Inchley et al., 2016; Modecki et al., 2014; Riebel et al., 2009).

1.3.3 Auftretenshäufigkeit verschiedener Erscheinungsformen

Die Auftretenshäufigkeit von Bullying unterscheidet sich nicht nur zwischen Schul- und Cyberkontext, sondern ebenfalls zwischen den in Abschnitt 1.1.2 und 1.1.5 genannten Erscheinungsformen. In den PISA-Studien war sowohl im Länderschnitt als auch in der deutschen Stichprobe verbal aggressives Verhalten (Spott) am häufigsten, gefolgt von relationaler Aggression (Gerüchte, Ausgrenzung) und schließlich physischen Angriffen auf Person und Eigentum (OECD, 2017, 2019). Diese Rangfolge zeigt sich auch in anderen Studien (Scheithauer et al., 2006; Thomas et al., 2016).

Zur Häufigkeit verschiedener Arten von Cyberbullying liegt eine vergleichsweise geringe Anzahl an Befunden vor. Wenig aussagekräftig erscheinen – aufgrund des schnellen Wandels der Medienlandschaft – Unterteilungen nach dem Medium, über welches Cyberbullying erfolgt (vgl. Abschnitt 1.1.5). Von Interesse sind dementsprechend vor allem Studien, die Cyberbullyingformen untersucht haben, welche mit den vom Schulbullying bekannten Formen (direkt-verbal, relational) in Bezug gesetzt werden können. Recht deutlich zeichnet sich ab, dass auch im Cyberkontext direkt-verbale Formen der Aggression wie Beleidigungen am häufigsten sind (Beitzinger et al., 2020; Hasebrink et al., 2019; Katzer et al., 2009b; Porsch & Pieschl, 2014; Sitzer, Marth, Kocik & Müller, 2012). Relationale Formen von Cyberbullying, welche den Status oder Ruf der Betroffenen angreifen, sind je nach Vorgehensweise unterschiedlich geläufig: Während das Verbreiten von Gerüchten vergleichsweise häufiger vorkommt, ist das Bloßstellen durch das Weiterleiten privater Nachrichten oder Bilder oder ein Identitätsklau seltener (Beitzinger et al., 2020; Jäger, Fischer, Riebel & Fluck, 2009; Porsch & Pieschl, 2014; Sitzer et al., 2012). Ausgrenzungserfahrungen im Cyberspace werden im Vergleich zu direkt-verbalen Angriffen im Internet und dem Verbreiten von Gerüchten übers Internet seltener berichtet (Beitzinger et al., 2020; Hasebrink et al., 2019; Jäger et al., 2009; Porsch & Pieschl, 2014). Kritisch angemerkt werden muss, dass die hier zusammengetragenen Studien rein deskriptive Vergleiche zwischen verschiedenen Formen von Bullying erlauben. Diese wurden zudem nur mit einzelnen Items erfasst, wobei sich Anzahl und Formulierung der Items von Studie zu Studie stark unterscheidet. Weiterhin muss erneut darauf hingewiesen werden, dass eine klare Einordnung als Bullying im Gegensatz zu allgemeiner Aggressivität oftmals nicht möglich ist, da gerade bei der Abfrage konkreter Verhaltensweisen die Definitionskriterien von Bullying häufig außer Acht gelassen wurden (vgl. Abschnitt 1.3.1). Unter Berücksichtigung dieser Einschränkungen scheinen Jugendliche jedoch sowohl in Schule als auch Cyberspace am häufigsten mit direkt-verbaler Aggression konfrontiert zu sein.

1.3.4 Geschlechts- und Altersunterschiede bei Schulbullying und Cyberbullying

Insgesamt zeigen sich starke Schwankungen je nach Geschlecht und Alter. In der HBSC-Studie sind Jungen in fast allen Regionen und Altersgruppen häufiger die Täter und oftmals auch häufiger die Opfer (Inchley et al., 2016; Inchley et al., 2020). Auch eine Metaanalyse zu den Prädiktoren von Bullying mit 153 Studien (Cook, Williams, Guerra, Kim & Sadek, 2010) kommt zu dem Schluss, dass Jungen häufiger als Opfer, Täter oder Täter-Opfer in Bullying involviert sind. Die PISA-Studie weist ebenfalls darauf hin, dass Jungen allgemein häufiger Opfer von Bullying sind (OECD, 2019). Darüber hinaus betrachtet die PISA-Studie Geschlechtsunterschiede auch für verschiedene Formen der Viktimisierung getrennt: Jungen sind häufiger Opfer von direkt-verbalen (Beleidigungen, Bedrohungen) sowie direkt- und indirekt-physischen (Schläge, Stöße; Entwenden und Beschädigen von Eigentum) Angriffen. Hinsichtlich Ausgrenzung zeigt sich kein Geschlechtsunterschied. Von indirekt-verbalem Bullying (Gerüchten) waren Mädchen häufiger betroffen (OECD, 2019). Anders zeigt sich in der deutschen Stichprobe von Scheithauer und Kollegen (2006) nur für physische Viktimisierung ein Geschlechtsunterschied der Art, dass Jungen häufiger betroffen sind. Kein Geschlechtsunterschied zeigt sich hier für verbale und relationale Viktimisierung. Wohl aber sind Jungen unabhängig von der Bullyingform durchgängig häufiger die Täter (Scheithauer et al., 2006).

Bezüglich der Opfer von Cyberbullying fasst ein Review-Artikel von Tokunaga (2010) zusammen, dass sich in den meisten Studien kein Geschlechtsunterschied finden lässt, nur in wenigen Studien sind Mädchen häufiger betroffen. Auch in der HBSC-Studie lässt sich hinsichtlich Cyberviktimisierung kein einheitliches Muster an Geschlechtsunterschieden erkennen: Es gibt sowohl Regionen, in denen Mädchen häufiger betroffen sind, als auch Regionen, in denen es die Jungen sind (Inchley et al., 2016; Inchley et al., 2020). Die Zusammenschau von Kowalski et al. (2014) trägt viele Studien zusammen, in denen es keine Geschlechtsunterschiede hinsichtlich Cyberviktimisierung oder Cybertäterschaft gibt, während in einzelnen Studien Mädchen häufiger als Täter oder Opfer identifiziert werden konnten und in anderen Jungen häufiger die Täter waren. Andere Übersichten zu Geschlechtsunterschieden bei Cybertätern zeigen, dass gerade hinsichtlich der Täterschaft die Forschungslage äußerst heterogen ist und jeweils eine Vielzahl von Studien vorliegt, die entweder mehr weibliche oder mehr männliche Täter oder ein ausgewogenes Geschlechterverhältnis vorweisen (Barlett & Coyne, 2014; Robson & Witenberg, 2013; X. Wang, Lei, Liu & Hu, 2016). Eine Metaanalyse zu den Opfern und Tätern bei Cyberbullying berichtet, dass über 77 Studien hinweg Mädchen mit leicht höherer Wahrscheinlichkeit Cyberopfer sind, Jungen hingegen stärker mit Cybertäterschaft in Verbindung gebracht werden können (S. Guo, 2016). Die Täterschaft bei Cyberbullying betreffend, fand eine weitere Metaanalyse mit 109 Studien heraus, dass der Geschlechtseffekt durch das Alter moderiert wird: In der frühen Jugend betreiben Mädchen mehr Cyberbullying, während sich in späteren Jahren ein umgekehrtes Muster zeigt (Barlett & Coyne, 2014). Hinzu kommen Hinweise, dass Geschlechtsunterschiede je nach betrachteter Form der Cyberaggression entgegengesetzt ausfallen: Während Mädchen über Mobiltelefon (Sprach- oder Textnachrichten) mehr lästern als Jungen, nutzen Jungen das Handy häufiger als Mädchen, um andere zu beleidigen oder zu bedrohen oder um verletzende Fotos oder Videos zu machen (Vanden Abeele & Cock, 2013).

Altersunterschiede sind in den meisten an der HBSC-Studie teilnehmenden Ländern der Art, dass die Zahl der Opfer unter den 15-Jährigen am geringsten ist, während die Zahl der Täter unter den 11-Jährigen am geringsten ist (Inchley et al., 2016; Inchley et al., 2020). Metaanalytisch fand sich kein signifikanter Zusammenhang zwischen Alter und Viktimisierung, wohl aber ein schwach positiver Zusammenhang zwischen Alter und Täterschaft (Cook, Williams, Guerra, Kim & Sadek, 2010). Die deutsche Studie der Arbeitsgruppe um Scheithauer (2006) fand weniger Opfer in den höheren Klassenstufen (8.–10.) verglichen mit den niedrigeren (5.–7.), während die meisten Täter je nach Bullyingform in einer der mittleren Klassenstufen gefunden wurden (physisch in der 8., verbal in der 9., relational in 6. und 9.).

Zwischen Cyberviktimisierung und Alter konnte metaanalytisch kein signifikanter Zusammenhang gefunden werden (S. Guo, 2016). In der HBSC-Studie zeigten sich nur in wenigen Ländern signifikante Alterseffekte, welche jedoch nicht einheitlich und zudem geschlechtsspezifisch sind (Inchley et al., 2016; Inchley et al., 2020). Tokunaga (2010) geht von einem kurvilinearen Zusammenhang mit einem Höhepunkt in der siebten und achten Klassenstufe aus. Dies könnte ursächlich dafür sein, dass in Metaanalysen und Studien mit weiter Altersspanne keine linearen Zusammenhänge gefunden werden. Cybertäterschaft hingegen zeigt sich in der Metaanalyse schwach positiv mit dem Alter assoziiert (S. Guo, 2016). Generell ist es jedoch schwierig verlässliche Aussagen dazu zu machen, in oder ab welchem Alter Kinder und Jugendliche am stärksten in Cyberbullying involviert sind, da dies vermutlich auch stark mit dem Besitz der entsprechenden Geräte und dem Zugang zum Internet zusammenhängt. Dass die Anzahl der 6- bis 13-Jährigen mit eigenem Computer, Smartphone und Internetzugang in den letzten Jahren deutlich gestiegen ist, zeigt die KIM-Studienreihe des Medienpädagogischen Forschungsverbunds Südwest (mpfs, 2015, 2019). Dementsprechend muss neben dem Alter der Stichprobe immer auch das Erhebungsjahr berücksichtigt werden.

In der Zusammenschau lässt sich festhalten, dass eine breite Studienlage inklusive einiger Metaanalysen zu Geschlechts- und Altersunterschieden bei Bullying vorliegt. Recht einheitlich sind Jungen häufiger an Bullying beteiligt – vor allem als Täter, teilweise auch als Opfer. Geschlechtsunterschiede hinsichtlich der Viktimisierung sind von der jeweiligen Erscheinungsform abhängig. So sind Mädchen im Vergleich zu Jungen gleich oft oder häufiger Opfer von relationalem Bullying und Cyberbullying. Mit dem Alter scheint die Viktimisierung eher abzunehmen, obgleich metaanalytisch kein Zusammenhang gefunden wurde. Denkbar ist, dass Viktimisierung im Kindesalter zunimmt und im Laufe der Jugend wieder abnimmt. Die Täterschaft scheint demgegenüber eher zuzunehmen. Auch hier ist jedoch nicht auszuschließen, dass sie nach einem Höhepunkt in den mittleren Klassenstufen, welcher je nach Bullyingform unterschiedlich ist, wieder abnimmt.

1.3.5 Rollenverteilung bei Schulbullying

Das besondere an Studien zu den Participant Roles ist, dass deren Auftretenshäufigkeit in der Regel nicht an Selbstauskünften festgemacht wird, sondern an den Einschätzungen der Klassenkameraden. Dabei gibt es zwei Varianten: Die Teilnehmenden schätzen ihre Mitschüler und Mitschülerinnen hinsichtlich verschiedener Verhaltensbeschreibungen auf Ratingskalen ein (Peer-Rating) oder die Teilnehmenden benennen diejenigen Mitschüler oder Mitschülerinnen, auf die eine jeweilige Beschreibung zutrifft (Peer-Nominierung). Erhebungen basieren klassischerweise auf dem Participant Role Questionnaire (PRQ) von Christina Salmivalli (Salmivalli et al., 1996), welcher seit den 90er-Jahren stetig optimiert und in mehrere Sprachen übersetzt wurde. So wurde der Itempool deutlich gekürzt (Salmivalli, Lappalainen & Lagerspetz, 1998), das Instrument wurde mit Peer-Ratings (Salmivalli et al., 1996) sowie Peer-Nominierungen (Schäfer & Korn, 2004a) eingesetzt – kombiniert auch als Interview für jüngere Kinder (Sutton & Smith, 1999) – und es liegen Versionen in Finnisch (Salmivalli et al., 1996; Salmivalli et al., 1998), Englisch (Sutton & Smith, 1999), Italienisch (Tani, Greenman, Schneider & Fregoso, 2003), Deutsch (Schäfer & Korn, 2004a) und Niederländisch (Goossens, Olthof & Dekker, 2006; Pouwels, Van Noorden, Lansu & Cillessen, 2018) vor.

Das am häufigsten verwendete Kriterium für die Zuordnung der Rollen ist, dass der Schüler oder die Schülerin einen überdurchschnittlichen Wert auf der entsprechenden Skala hat (z > 0 bei klassenweise standardisierten Werten) und auf keiner anderen Skala einen ähnlich hohen Wert erzielt (Differenz ≥ 0.1). Unter Anwendung dieses Kriteriums lassen sich in Studien mit älteren Kindern und Jugendlichen etwa 80–90% der Schülerinnen und Schüler eine Rolle zuordnen. Wie mit Selbstauskünften finden sich rund 10% Opfer. Ähnlich hoch ist auch die Zahl der Täter. Hinzu kommen jedoch 15–30% Assistenten und Verstärker, sodass die Pro-Bullying-Rollen zusammengenommen bis zu 40% der Klasse ausmachen. Weiterhin bleiben 20–30% als Außenstehende untätig. Die Verteidiger sind demgegenüber mit rund 20% meist in der Unterzahl (siehe Tabelle 1.4).

Anzumerken ist in diesem Zusammenhang, dass in der Literatur die Ausdifferenzierbarkeit der Pro-Bullying-Rollen teils in Frage gestellt wird (Goossens et al., 2006; Knauf, Eschenbeck & Käser, 2017; Sutton & Smith, 1999). Zudem werden durchaus auch andere Zuordnungskriterien für die Rollen diskutiert (Goossens et al., 2006; Knauf et al., 2017; Pouwels, Lansu & Cillessen, 2016; Sutton & Smith, 1999), welche zu etwas anderen Prävalenzschätzungen kommen. So verglichen Goossens et al. (2006) die Zuordnung auf Grundlage standardisierter Skalenwerte (z-Kriterium) mit verschiedenen prozentualen Kriterien (10%, 15% , 20%). Je strenger das Kriterium, desto geringer war der Anteil an Schülerinnen und Schülern, denen eine Rolle zugeordnet werden konnte. Mit dem strengsten Kriterium, bei dem jemand von mindestens 20% der Klasse für eine Rolle nominiert werden musste, konnte nur rund 30% der Jugendlichen (T2) eine Rolle zugeordnet werden. Die so ermittelten Prävalenzen liegen dementsprechend deutlich geringer. Besonders auffällig ist das fast gänzliche Wegfallen der Mitläufer (Assistenten, Verstärker). Das prozentuale Kriterium von mindesten 15% (bzw. einen Anteilswert von mindestens .15) wurde nochmals in der Studie von Olthof, Goossens, Vermande, Aleva und Van der Meulen (2011) eingesetzt. Damit konnte immerhin rund 70% der Heranwachsenden eine klare Rolle zugeordnet werden. In einer anderen Studie mit einem absoluten Kriterium von mindestens sechs Nominierungen war dies bei rund 50% der Stichprobe der Fall (Knauf et al., 2017). Während der Anteil der Opfer mit 10% in etwa den Befunden anderer Studien entspricht, konnten vergleichsweise weniger Pro-Bullying-Akteure (20%), Verteidiger und Außenstehende (jeweils rund 10%) identifiziert werden (vgl. Tabelle 1.4). Vor- und Nachteile der unterschiedlichen Vorgehensweisen bei der Rollenzuordnung werden in Abschnitt 2.3.4 tiefergehend reflektiert.

Klare Unterschiede lassen sich auch im Vergleich von Selbst- und Fremdeinschätzung erkennen. Zwar finden Salmivalli et al. (1996) die zu erwartenden Korrelationsmuster (positiv zwischen den Pro-Bullying-Rollen sowie positiv zwischen Verteidigern und Außenstehenden, übrige Korrelationen negativ), doch berichten sie auch signifikante Unterschiede der Art, dass eigenes Täter-Verhalten in der Selbstauskunft unterschätzt wird, wohingegen Verstärker-, Außenstehenden- und insbesondere Verteidiger-Verhalten überschätzt werden. Diese Tendenz zur positiven Selbstdarstellung lässt sich auch in den von der Arbeitsgruppe um Nickerson berichteten Prävalenzraten erkennen. Sowohl bei der Selbstzuordnung zu einer der Rollenbeschreibungen (Nickerson, Mele & Princiotta, 2008) als auch bei der Bearbeitung eines Selbstberichtfragebogens mit 48 Items (Nickerson & Mele-Taylor, 2014) schätzt sich gut die Hälfte der Stichprobe als Verteidiger ein. Kriterium für die Rollenzuordnung mit dem Selbstberichtfragebogen war, dass das Verhalten mindestens dreimal im Monat gezeigt wurde. Wachs (2012) hingegen identifiziert mit einem wöchentlichen Kriterium nur 9% Verteidiger. Die größte Gruppe ist bei Wachs (2012) mit knapp 28% die der Außenstehenden. Die Pro-Bullying-Rollen machen demgegenüber bei allen drei Selbstberichtstudien nur etwa 10–15% der Stichprobe aus (Nickerson et al., 2008; Nickerson & Mele-Taylor, 2014; Wachs, 2012). Im Vergleich mit den Fremdberichtstudien (20–40% Pro-Bullying-Akteure, vgl. Tabelle 1.4) zeichnet sich auch hier vermutlich eine positive Verzerrung ab.

Tabelle 1.4 Peer-Rating- und Peer-Nominierungsstudien zur Rollenverteilung bei Schulbullying

1.3.6 Rollenverteilung bei Cyberbullying

Die Grundannahme des Participant-Role-Ansatzes ist, dass alle Mitglieder einer Klasse in irgendeiner Form in den Bullying-Prozess involviert sind oder zumindest davon wissen (Salmivalli et al., 1996, S. 2). Da die Grenzen der Klassengemeinschaft jedoch für Cyberbullying weniger bedeutsam scheinen, ist zunächst die Frage zu klären, wie viele Heranwachsende überhaupt Cyberbullying mitbekommen. In der JIM-Studienreihe berichteten 31–37%, dass in ihrem Bekanntenkreis schon einmal jemand per Smartphone oder online fertig gemacht wurde (mpfs, 2016, 2017, 2018, 2020). In verschiedenen groß angelegten Studien, in denen Cyberbullying für die Teilnehmenden konkret definiert wurde, liegt der Anteil an Zeugen von Cyberbullying unter den Befragten zwischen 25% und 53% (Bastiaensens et al., 2016; DeSmet et al., 2016; Macháčková, Dedkova, Sevcikova & Cerna, 2013; Olenik-Shemesh, Heiman & Eden, 2015; Quirk & Campbell, 2015; Song & Oh, 2018; Van Cleemput et al., 2014). Höhere Raten werden in einigen Artikeln (z. B. Allison & Bussey, 2016; Kazerooni, Taylor, Bazarova & Whitlock, 2018) mit Bezug auf Forschungsprojekte des Pew Research Centers (Duggan et al., 2014; Lenhart et al., 2011) genannt, bei welchen es jedoch um generell aggressives Verhalten und nicht ausschließlich Bullying im Internet ging. Auch bei Y. Huang und Chou (2010), in deren Stichprobe knapp 65% Zeugen von Cyberbullying waren, sind die Definitionskriterien für Bullying nicht zweifelsfrei gewährleistet.

Während die Verhaltensweisen der Bullying-Zeugen im schulischen Kontext überwiegend aus dem Blickwinkel des Participant-Role-Ansatzes beforscht werden, wird in den meisten Studien zu Cyberbullying vereinfacht zwischen mitmachendem, helfendem und passivem Verhalten unterschieden. Im Selbstbericht gibt ein Großteil der befragten Jugendlichen (55–60%) an, nichts zu tun, wenn sie Zeuge von Cyberbullying werden (DeSmet et al., 2016; Song & Oh, 2018; Van Cleemput et al., 2014). Helfende Verhaltensweisen berichten 10–55% der Jugendlichen, wobei trösten und Ratschläge geben am häufigsten vorkommen, während eine Konfrontation der Täter oder das Hilfeholen bei Erwachsenen seltener sind (DeSmet et al., 2016; Macháčková et al., 2013; Olenik-Shemesh et al., 2015; Song & Oh, 2018; Van Cleemput et al., 2014). Nur 2–10% der Befragten geben Bullying fördernde Verhaltensweisen wie Mitmachen, Weiterleiten oder Lachen zu (Bastiaensens et al., 2016; DeSmet et al., 2016; Song & Oh, 2018; Van Cleemput et al., 2014).

Ein direkter Vergleich dieser Zahlen mit jenen zu den Participant Roles ist nicht ohne Weiteres möglich. Zum einen handelt es sich wie bereits erwähnt um Selbstberichtdaten und zum anderen spiegeln die im Kontext von Cyberbullying berichteten Reaktionen nicht unbedingt konsistente Verhaltensmuster im Sinne der Participant Roles wider (DeSmet et al., 2014). Sind Mehrfachantworten möglich, nennen die Befragten oftmals verschiedene, zum Teil gegensätzliche Verhaltensweisen (DeSmet et al., 2016; Van Cleemput et al., 2014). Auch sehen es jugendliche Teilnehmende an Fokusgruppendiskussionen nicht als widersprüchlich an, sowohl online verstärkend als auch privat tröstend zu reagieren (DeSmet et al., 2012). Dies verdeutlicht wiederum die Komplexität der Rahmenbedingungen für Zeugenschaft und Zeugenreaktionen bei Cyberbullying (vgl. Abschnitt 1.2.3). Der Wechsel zwischen online und offline sowie öffentlich und privat erlaubt möglicherweise verschiedenartige Verhaltensweisen, ohne dass dies als unvereinbar erlebt oder von anderen als inkonsistent wahrgenommen würden. Law et al. (2012) sprechen von einem Verwischen der Rollen, da diese schnell gewechselt werden könnten. Die Arbeitsgruppe um DeSmet (2014) kommt zu dem Schluss, dass das Verhalten von Cyberbullying-Zeugen stark von kontextuellen Faktoren abhängt und daher nicht als starre Rolle verstanden werden sollte. Allerdings wird in den Studien zum Bystander-Verhalten bei Cyberbullying in der Regel nicht eine konkrete soziale Konstellation beleuchtet, wie dies bei den Participant-Role-Studien zu Schulbullying der Fall ist. Während die Participant-Role-Studien konkret erfragen, wer aus der Klassengemeinschaft das Opfer ist und wer in diesem Zusammenhang in welcher Rolle auftritt, wird in Cyberbullying-Studien ganz allgemein gefragt, wie die Befragten auf Cyberbullying reagieren. Die Antworten können sich dementsprechend auf ganz unterschiedliche Vorfälle beziehen, weshalb der Bericht verschiedener teils gegenteiliger Reaktionsweisen nicht verwundert. Eine Differenzierung zwischen generellen Verhaltensweisen bei (Cyber-)Bullying einerseits und der in einem konkreten Fall von (Cyber-)Bullying eingenommenen Rolle andererseits ist dementsprechend wichtig für die Einordnung der Befunde.

Einen Versuch den Participant-Role-Ansatz auf Cyberbullying zu übertragen unternahm Wachs (2012) und berücksichtigte den Rollencharakter durch ein Häufigkeitskriterium: Berichtete ein Schüler oder eine Schülerin ein rollentypisches Verhalten mindestens wöchentlich zu zeigen, wurde dem- oder derjenigen die entsprechende Rolle zugeordnet. Auf diese Weise wurden in der Stichprobe deutscher Schülerinnen und Schüler (N = 518; 11–17 Jahre) 6% als Täter, 5% als Opfer und 4% als Täter-Opfer bei Cyberbullying identifiziert. Des Weiteren gab es 4% Cyberassistenten, 5% Cyberverteidiger und 11% passive Cyberbystander. Die Rolle des Verstärkers wurde nicht erfasst. Zu beachten ist, dass es sich auch hier um Selbstauskünfte handelt, die nicht auf einen bestimmten Fall von Cyberbullying bezogen sind. Nichtsdestoweniger scheinen einige Personen vermehrt Verhaltensweisen zu zeigen, die charakteristisch für die Participant Roles sind.

Peer-Nominierungsstudien zu Bystander-Verhalten bei Cyberbullying gibt es praktisch nicht. Für eine Studie von Jones und Kolleginnen (2015) wurden Opfer von Bullying nach dem Verhalten der Bystander in zwei Fällen befragt. Dabei ging es um die Anwesenden in der Bullying-Situation allgemein, nicht aber um die Benennung konkreter Personen. Es wurde differenziert zwischen Vorfällen, die ausschließlich persönlich, ausschließlich technisch vermittelt oder gemischt stattfanden. In reinen Cyberbullying-Vorfällen wurden – wie in den anderen Konstellationen – unterstützende Reaktionen am häufigsten genannt (bei 11–58% der Vorfälle). Weiterhin berichteten viele Opfer passiv-vermeidende Verhaltensweisen der Bystander (bei 37–39% der Vorfälle). Auch verstärkend-assistierende Verhaltensweisen (zusehen, lachen, mitmachen) wurden von den Opfern benannt (bei 11–34% der Vorfälle). Da allerdings das Wiederholungskriterium nicht in allen Fällen gegeben war (in 41% der Vorfälle betrug die Dauer nur einen Tag), sind die Befunde nur begrenzt aussagekräftig für Cyberbullying. Interessant in diesem Zusammenhang ist vor allem der Befund, dass negatives Bystander-Verhalten am wahrscheinlichsten war, wenn folgende für Bullying typischen Aspekte gegeben waren: ein Machtungleichgewicht, eine längere Dauer, mehrere Täter sowie eine größere Anzahl an Bystandern.

Studien zum Verhalten der Bystander bei Cyberbullying bestätigen zusammenfassend also das Auftreten der drei auch bei Schulbullying beobachtbaren Verhaltensweisen: mitmachen, helfen oder heraushalten. Am häufigsten genannt werden – ähnlich wie bei Selbstberichtstudien zu Schulbullying, jedoch im Gegensatz zu Peer-Nominierungsstudien – helfende und passive Verhaltensweisen, wohingegen verstärkendes oder beisteuerndes Verhalten selten berichtet werden. Ob diese Verhaltensweisen im Cyberkontext wie im Schulkontext als konsistentes Muster im Sinne einer Rolle gezeigt werden, bleibt zu überprüfen.

1.3.7 Überlappungen zwischen Schulbullying und Cyberbullying

Da Online-Interaktionen oftmals bestehende Beziehungen aus dem Offline-Alltag weiterführen (Gross, 2004; Reich, Subrahmanyam & Espinoza, 2012), ist die Annahme naheliegend, dass nicht nur Freundschaften, sondern ebenso Konflikte aus dem nicht-digitalen Leben in den Cyberspace hereingetragen werden. Dieser Gedanke lässt sich auch an Überschriften von Fachartikeln wie „Cyberbullying: An extension of the schoolyard“ (Swartz, 2009) oder „Following you home from school: A critical review and synthesis of research on cyberbullying victimization“ (Tokunaga, 2010) ablesen. Allgemein sind Opfererfahrungen im Offline-Kontext ein Prädiktor für Opfererfahrungen im Online-Kontext und aggressives Offline-Verhalten ist ein Prädiktor für aggressives Online-Verhalten (Pornari & Wood, 2010).

Dass es einen Bezug zwischen Cyberbullying und dem nicht-digitalen Alltag der Jugendlichen gibt, lässt sich auch daran erkennen, dass viele Opfer angeben die Täter persönlich zu kennen oder zumindest eine Vermutung haben, wer hinter den Angriffen steckt. Tokunaga stellte schon 2010 fest, dass mindestens 40–50% der Opfer die Identität des Cyberbullies kennen. In der Interviewstudie von Jones und Kolleginnen (2015) nannten sogar 89% der Befragten (Ex-)Freunde, (Ex-)Partner, Mitschüler oder Bekannte als Täter beziehungsweise Täterinnen. Bei einer Online-Befragung in Deutschland machten Mitschüler und Freunde immerhin 65% der Täternennungen aus (Jäger et al., 2009). Ähnliche Befunde gibt es aus Taiwan, wo nur etwa ein Viertel der Opfer keine Idee hatte, wer sie online schikaniert hat (Y. Huang & Chou, 2010), aus Israel, wo ebenfalls 25% der Opfer die am Cyberbullying beteiligten nicht kannten (Lapidot-Lefler & Dolev-Cohen, 2015) und aus den USA, wo abermals etwa ein Viertel den Täter nicht kannten oder als Fremden bezeichneten (Waasdorp & Bradshaw, 2015). In Fokusgruppeninterviews zu Cyberbullying sprachen die befragten Jugendlichen von sich aus Offline-Bullying als damit verflochten an (DeSmet et al., 2014).

Aus quantitativen Studien zu Schul- und Cyberbullying geht das Ausmaß der Übereinstimmung der Rollen zwischen beiden Kontexten hervor. Es zeigt sich, dass ein Großteil der Opfer von Cyberbullying (40–95%) ebenfalls offline schikaniert wird (Beran & Li, 2007; Campbell, Spears, Slee, Butler & Kift, 2012; R. M. Kowalski, Morgan & Limber, 2012; R. M. Kowalski & Limber, 2013; Livingstone, Haddon, Görzig & Ólafsson, 2011; Olweus, 2012; Riebel et al., 2009; Smith et al., 2008; Waasdorp & Bradshaw, 2015; Wachs, 2012). Ebenso ist ein Großteil der Cyberbullies (56–91%) auch offline als Bully aktiv (R. M. Kowalski et al., 2012; R. M. Kowalski & Limber, 2013; Livingstone et al., 2011; Olweus, 2012; Riebel et al., 2009; Smith et al., 2008; Wachs, 2012). Umgekehrt ist ein vergleichsweise geringer Anteil der Schulbullying-Opfer (18–28%) gleichzeitig von Cyberbullying betroffen (Campbell et al., 2012; R. M. Kowalski et al., 2012; R. M. Kowalski & Limber, 2013; Smith et al., 2008; Waasdorp & Bradshaw, 2015) und auch vergleichsweise wenige der Offline-Bullies (20–45%) schikanieren zusätzlich online (R. M. Kowalski et al., 2012; R. M. Kowalski & Limber, 2013; Riebel et al., 2009; Smith et al., 2008).

Die Kontinuität der Opfer- und der Täter-Rolle zwischen Offline- und Online-Kontext sagt zunächst weder etwas darüber aus, ob auch die genaue Täter-Opfer-Konstellation in beiden Kontexten gleich ist, noch darüber, in welcher Reihenfolge die Ereignisse ablaufen. In einer Studie von Waasdorp und Bradshaw (2015) geben knapp ein Drittel der Cyberopfer an, dass genau der Online-Täter sie auch offline schikaniert. Bei diesen Personen, die vom gleichen Täter sowohl offline als auch online schikaniert wurden, fand das Bullying meist (bei 41%) in beiden Kontexten simultan statt, bei rund 30% begann das Bullying offline und bei einer nahezu gleichgroßen Gruppe (29%) begann das Bullying online. Eine klare Reihenfolge zeichnet sich also nicht ab. Vielmehr werden ebenso Konflikte und Probleme aus dem Cyberspace in den nicht-digitalen Alltag hineingetragen wie andersherum und oftmals treten diese gleichzeitig in beiden Kontexten auf.

An dieser Stelle sei erwähnt, dass auch ein Zusammenhang der Opfer-Rolle mit der Täter-Rolle über die Kontexte hinweg dokumentiert ist. So haben traditionelle Opfer verglichen mit Nicht-Opfern nicht nur höhere Werte hinsichtlich Cyberviktimisierung, sondern auch hinsichtlich Cyberaggression (Lazuras et al., 2017). Gleichfalls haben traditionelle Täter verglichen mit Nicht-Tätern höhere Werte in Cyberbullying sowie Cyberviktimisierung (Lazuras et al., 2017). Eine mögliche Erklärung hierfür könnte sein, dass die Rollen im Cyberkontext leichter gewechselt werden können (Law et al., 2012) und digitale Medien Opfern neue Wege bieten sich an ihren Peinigern zu rächen (König, Gollwitzer & Steffgen, 2010; Vandebosch & Van Cleemput, 2008). Kowalski et al. (2012) verglichen mittels Pfadanalyse verschiedene Modelle zu den Zusammenhängen zwischen Offline-Täterschaft und -Viktimisierung und Online-Täterschaft und -Viktimisierung und kamen zu dem Schluss, dass es sowohl Assoziationen zwischen den Rollen als auch zwischen den Kontexten gibt, diese jedoch geschlechtsspezifisch etwas anders ausfallen.

Kaum Befunde gibt es zur Übereinstimmung der übrigen Rollen, also der Assistenten, Verstärker, Verteidiger und Außenstehenden zwischen den Kontexten. Erneut zu nennen ist die Studie von Wachs (2012), in der die Participant Roles (mit Ausnahme der Verstärker) über Selbstauskünfte für Schul- und Cyberbullying erfasst wurden. Die Überschneidung der weiteren Rollen zwischen den Kontexten erwies sich hierbei als ähnlich hoch wie bei der Opfer- und der Täter-Rolle: 64% der Cyberassistenten, 59% der Cyberverteidiger und 63% der passiven Cyberbystander hatten im Kontext von Schulbullying die gleiche Rolle. Ebenfalls über Selbstauskunft erfasst wurden bei Quirk und Campbell (2015) die Verhaltensweisen beim letzten erlebten Schul- und Cyberbullying-Vorfall: Die Hälfte derjenigen, die beides erlebt hatten, berichteten unterschiedliche Verhaltensweisen in beiden Kontexten, allerdings kann man aufgrund der Operationalisierung nicht von einer Rolle sprechen.

Betrachtet man also Schul- und Cyberbullying gemeinsam, lässt sich erkennen, dass Bullying, das ausschließlich online abläuft eher selten ist. Die meisten Opfer und Täter von Bullying haben diese Rolle entweder in Schul- und Cyberkontext oder aber nur im Schulkontext. Weiterhin gibt es erste Hinweise dafür, dass auch die anderen Rollen eine Konstanz zwischen Schul- und Cyberkontext aufweisen, wenngleich die Forschungslage hierzu sehr dünn ist.

1.4 Sozial-kognitive und affektive Reaktionen auf Bullying

Geht es darum, zu erklären welche Rolle ein Bystander bei Schul- oder Cyberbullying einnimmt, so gibt es Forschung, die fokussiert ist auf die Eigenschaften des Bystanders (z. B. Geschlecht, Persönlichkeit, Einstellungen, Kompetenzen; Caravita, Di Blasio & Salmivalli, 2010; Pronk, Olthof & Goossens, 2015; Salmivalli & Voeten, 2004), die Merkmale des Vorfalls (z. B. Art und Häufigkeit bzw. Schwere der Angriffe, online vs. offline; DeSmet et al., 2016; Macaulay, Boulton & Betts, 2018) oder die sozialen Bedingungen (z. B. Normen, Beziehung zum Opfer, Beziehung zu und Verhalten der anderen Bystander; Bastiaensens et al., 2016; DeSmet et al., 2016; Salmivalli & Voeten, 2004). Vermutlich mit allen drei Aspekten in Verbindung stehend sind die sozial-kognitiven und affektiven Reaktionen auf die Schikanen, welche ebenfalls als Prädiktor für die eingenommene Rolle untersucht wurden. Vielfach in den Fokus genommen wurden vor allem Empathie und Moral Disengagement sowie Verantwortungsgefühl und Selbstwirksamkeitserwartungen (DeSmet et al., 2016; Thornberg, Wänström, Hong & Espelage, 2017; Van der Ploeg, Kretschmer, Salmivalli & Veenstra, 2017; Van Noorden et al., 2015). Diese mentalen Reaktionen lassen sich in das Bystander-Intervention-Modell von Latané und Darley (1970) zum Verhalten von Zeugen in Notfallsituationen einordnen, welches im folgenden Kapitel näher erläutert und auf Bullying angewendet werden soll.

1.4.1 Das Bystander-Intervention-Modell im Kontext Bullying

Angeregt durch eine Reihe verschiedener Mordfälle, bei denen es mehrere Zeugen gab, von denen jedoch keiner eingriff (der bekannteste davon ist wohl der Fall von Kitty Genovese), begannen die Sozialpsychologen Bibb Latané und John Darley in den 60er-Jahren zu den Determinanten des Einschreitens bei Notfällen zu forschen. Sie entwickelten daraufhin ein Modell des Interventionsprozesses, welches auf der Grundannahme basiert, dass Zeugen einer Notsituation eine Serie von Entscheidungen treffen müssen, von welchen abhängt, ob sie eingreifen oder nicht. Die kognitiven Prozesse bis hin zum Einschreiten konzeptualisieren Latané und Darley (1970) in fünf Stufen. Der elementare erste Schritt ist, dass das Ereignis bemerkt wird. Im zweiten Schritt müssen Zeugen das – möglicherweise mehrdeutige – Ereignis als Notlage interpretieren. Auf der dritten Stufe müssen Zeugen persönliche Verantwortung übernehmen etwas gegen die Notlage zu unternehmen. Die vierte Stufe beinhaltet daraufhin die Entscheidung, ob und auf welche Weise interveniert werden kann. Bei der fünften und damit letzten Stufe geht es schließlich darum, das Hilfeverhalten in die Tat umzusetzen.

Das Bystander-Intervention-Modell wurde für Notfälle konzipiert, kann gleichwohl aber auch auf Hilfeverhalten in Kontexten ohne konkreten akuten Notfall angewendet werden (Anker & Feeley, 2011; Hudson & Bruckman, 2004). Auch zur Erklärung von helfendem versus passivem Bystander-Verhalten bei Bullying wurde das Bystander-Intervention-Modell bereits herangezogen (Allison & Bussey, 2016; Obermaier, Fawzi & Koch, 2015; Pfetsch, 2016) und hat sowohl experimentelle (Dillon & Bushman, 2015; Koehler & Weber, 2018) als auch nicht-experimentelle (DeSmet et al., 2016; Jenkins & Nickerson, 2017; Pozzoli & Gini, 2012) Forschung inspiriert.

Bezogen auf die erste Stufe des Bystander-Intervention-Modells zeigen sowohl Selbstberichtsstudien (Olenik-Shemesh et al., 2015; Van Cleemput et al., 2014) als auch experimentelle Simulationsstudien (Dillon & Bushman, 2015; Shultz, Heilman & Hart, 2014), dass von denjenigen, die das Bullying beziehungsweise die Cyberaggression bemerkten, die meisten nicht intervenierten. Dies hebt die Bedeutsamkeit der folgenden Schritte hervor. Dass Unsicherheit in Hinblick auf die Ernsthaftigkeit der Bullying-Situation eingreifendes Verhalten hemmt berichten Heranwachsende in Interview-Studien (Forsberg, Thornberg & Samuelsson, 2014; Wójcik & Mondry, 2020).

Pozzoli und Gini (2012) operationalisierten die zweite Stufe – die Notlage als solche zu erkennen – anhand der Einstellung zu Bullying und fanden, dass diese das persönliche Verantwortungsgefühl (Stufe 3) vorhersagte. Weiterhin waren sowohl Einstellungen als auch Verantwortungsgefühl mit der Copingstrategie (Annäherung vs. Meidung; Stufe 4) assoziiert, welche wiederum relevant für das gezeigte Bystander-Verhalten (verteidigend vs. passiv; Stufe 5) war.

DeSmet und Kolleginnen (2016) arrangieren eine gewaltige Anzahl möglicher Prädiktoren für Bystander-Verhalten bei Cyberbullying entlang des Bystander-Intervention-Modells. Positives Bystander-Verhalten (verteidigen, trösten, melden) wurde am besten durch die entsprechende Intention sowie die Freundschaft mit dem Opfer vorhergesagt. Die Absicht zu positivem Bystander-Verhalten hing unter anderem mit der (Nicht-)Leugnung von Verantwortung (Stufe 3), einer negativen Einstellung zu passivem oder verstärkendem Verhalten sowie angemessenen sozialen Kompetenzen (Stufe 4) zusammen. Negatives Bystander-Verhalten (passiv bleiben, mitmachen, verstärken) wurde ebenfalls am besten durch die entsprechende Intention vorhergesagt, welche unter anderem durch eine positive Einstellung zu passivem Verhalten, auf eigene Vorteile bedachte Verhaltensmotive sowie schwache soziale Kompetenzen (Stufe 4) bedingt war.

Nickerson, Aloe, Livingston und Feeley (2014) stellen einen Fragebogen zur Erfassung aller fünf Schritte des Bystander-Intervention-Modells für Bullying und sexuelle Belästigung vor. Dieser wird bei Jenkins und Nickerson (2017) in Zusammenhang mit den Participant Roles gebracht. Selbstberichtetes Verteidiger-Verhalten war mit allen fünf Stufen – Ereignis wahrnehmen, als Notfall interpretieren, Verantwortung annehmen, Fähigkeit zu helfen und Absicht zu handeln – assoziiert. Selbstberichtetes Außenstehenden-Verhalten hingegen ging nur mit einer geringen Absicht zu handeln einher. Die übrigen Rollen hingen nicht mit den fünf Stufen des Bystander-Intervention-Modells zusammen.

Betrachtet man die Operationalisierungen der Stufen in bisherigen Studien genauer, lassen sich sozial-kognitive und affektive Konzepte wie Empathie, Moral Disengagement und Selbstwirksamkeitsüberzeugung erkennen. So ordnen DeSmet und Kolleginnen (2016) Facetten des Moral Disengagement der zweiten und dritten Stufe des Bystander-Intervention-Modells zu und Selbstwirksamkeitsüberzeugung sowie Empathiefähigkeit der vierten Stufe. Im Fragebogen von Nickerson und Mele-Taylor (2014) spiegeln einzelne Items ebenfalls Moral Disengagement oder Selbstwirksamkeitserwartungen wider. Diese Konzepte sind nicht mit den Entscheidungsstufen gleichzusetzen, können aber herangezogen werden, um die Übergänge zwischen den Stufen zu erklären (vgl. DeSmet et al., 2016).

Im Folgenden soll nun ein erweitertes Modell beschrieben werden, welches sozial-kognitive und affektive Prozesse in das Bystander-Intervention-Modell eingliedert, wie in Abbildung 1.4 veranschaulicht. Dieses Modell geht davon aus, dass das Erreichen der einzelnen Stufen von sozial-kognitiven und affektiven Reaktionen auf Bullying abhängt. Nach dem Bemerken eines Bullying-Vorfalls wird Empathie mit dem Opfer als Voraussetzung dafür angenommen, dass das Geschehen als Notsituation wahrgenommen und der Handlungsbedarf erkannt wird, also die zweite Stufe des Bystander-Intervention-Modells erreicht wird. Heranwachsende berichten in semistrukturierten Interviews zu Bullying, dass sie den Ernst der Lage in Abhängigkeit von emotionalen Hinweisen seitens des Opfers einschätzen (Forsberg et al., 2014). Ebenfalls relevant für das Erreichen der zweiten Stufe, jedoch kontraproduktiv ist das Ausmaß, in dem die Situation beschönigt oder verharmlost wird oder dem Opfer die Schuld gegeben wird. Treten diese Facetten des Moral Disengagement in Kraft, negiert der Bystander Notlage und Handlungsbedarf. Wird das schikanierende Verhalten als Spaß schöngeredet oder zum normalen Streit heruntergespielt und die Folgen für das Opfer bagatellisiert, wird kein Notfall und somit auch kein Handlungsbedarf wahrgenommen. Auch wenn das schikanierende Verhalten gerechtfertigt und dem Opfer selbst die Schuld gegeben wird, besteht keine Notwendigkeit einzugreifen. Weitere Mechanismen des Moral Disengagement, welche bedeutsam für die dritte Stufe (Verantwortungsübernahme) erscheinen, sind das Abweisen oder die Diffusion von Verantwortung. Diese verhindern das Erreichen der dritten Stufe. Antizipierte moralische Emotionen wie Scham oder Gewissensbisse sollten hingegen die Verantwortungsübernahme und damit das Erreichen der dritten Stufe fördern. Für die letztendliche Entscheidung zur Intervention dürften schließlich Selbstwirksamkeitsüberzeugungen und Handlungsergebniserwartungen ausschlaggebend sein. Ein Bystander muss Möglichkeiten kennen in die Situation einzugreifen, sich diese zutrauen und der Überzeugung sein, dass dies die Situation tatsächlich verbessert, um als Verteidiger aktiv zu werden. Bestehen Ängste davor, die Situation zu verschlimmern oder sich selbst in Gefahr zu bringen, hemmt dies die Entscheidung einzugreifen. Selbstwirksamkeitsüberzeugungen und wahrgenommene Kosten könnten auch am Übergang zur letzten Stufe – der tatsächlichen Umsetzung der Intervention – eingeordnet werden (siehe Jenkins & Nickerson, 2017), jedoch kann davon ausgegangen werden, dass diese bereits die Entscheidung zur Intervention, das heißt die Ausbildung der Intention, und nicht erst deren Umsetzung beeinflussen (vgl. Ajzen, 1991).

Die erste wichtige Erweiterung des Modells besteht also darin, dass Annahmen über die für die Stufenübergänge notwendigen mentalen Prozesse getroffen werden. Eine weitere Weiterentwicklung des Modells liegt darin, dass nicht nur zwischen passivem und helfendem Verhalten, sondern darüber hinaus auch antisozialem Verhalten in der Notsituation differenziert wird. Mangelt es dem Bystander an Empathie und kommen sogar Mechanismen des Moral Disengagement zum Zuge, sodass die wiederholten Angriffe auf ein wehrloses Opfer nicht als einschreitenswürdige Notsituation wahrgenommen werden, kommt es mit hoher Wahrscheinlichkeit zu verstärkendem oder mitmachendem Verhalten. Personen hingegen, die das Leid des Opfers und den Handlungsbedarf anerkennen, sich jedoch nicht persönlich verantwortlich fühlen oder sich effektives Hilfeverhalten nicht zutrauen, werden zu passiven Bystandern. Nur wenn alle Hürden des Entscheidungsprozess genommen werden, wird ein Bystander zum Verteidiger.

Abbildung 1.4
figure 4

Bystander-Intervention-Modell nach Latané und Darley (1970) ergänzt um entscheidende sozial-kognitive und affektive Reaktionen im Zusammenhang mit Bullying sowie die Rollen im Bullying-Geschehen

Das erweiterte Bystander-Intervention-Modell für Bullying greift somit auf weitere theoretische Ansätze, wie die sozial-kognitive Theorie (social cognitive theory; Bandura, 1991, 2001), das Erregung:Kosten-Belohnungsmodell (arousal:cost-reward model; Dovidio, Piliavin, Gaertner, Schroeder & Clark, 1991), das normative Entscheidungsmodell des Altruismus (normative decision-making model of altruism, Schwartz & Howard, 1981) und die Theorie geplanten Verhaltens (theory of planned behavior; Ajzen, 1991) zurück, welche in den folgenden Kapiteln im Zusammenhang mit den verschiedenen sozial-kognitiven und affektiven Reaktionen näher erläutert werden sollen. Neben Definition und theoretischer Einbettung der sozial-kognitiven und affektiven Reaktionen soll in den folgenden Kapiteln jeweils auch die Forschungslage zu Geschlechts- und Altersunterschieden sowie zu den Zusammenhängen mit aggressivem und prosozialem Verhalten wie auch den Bystander-Rollen im Bullying-Geschehen dargestellt werden.

1.4.2 Empathie, empathische Anteilnahme und empathischer Disstress

Empathie bezeichnet das Nachvollziehen und Teilen der Gefühle anderer Lebewesen (Altmann, 2020). In Abgrenzung von der Gefühlsansteckung wird dabei die Differenzierung zwischen Selbst und anderen aufrechterhalten und es bedarf eines kognitiven Verständnisses für die (vermuteten) Emotionen des Gegenübers (Altmann, 2020). Umgekehrt darf Empathie jedoch auch nicht ausschließlich auf den kognitiven Aspekt der Perspektivenübernahme reduziert werden, da das affektive Nachempfinden ebenso wichtig für das Konzept der Empathie ist (Altmann, 2020; Feshbach, 1975). Davis (1983) verweist auf Werke aus dem 18. und 19. Jahrhundert, in denen bereits zwischen kognitiv-intellektuellen und viszeral-emotionalen empathischen Reaktionen unterschieden worden sei. Die affektive Komponente der Empathie kann weiterhin von empathischer Anteilnahme und empathischem Disstress abgegrenzt werden. Während bei affektiver Empathie eine Übereinstimmung zwischen den Emotionen von Beobachter und Zielperson (emotional congruence) vorliegt (Feshbach, 1975; Jolliffe & Farrington, 2006a), also die gleiche Emotion erlebt wird, ist dies weder bei empathischer Anteilnahme noch bei empathischem Disstress der Fall.

Empathie

= das Verstehen (kognitive Komponente) und Teilen (affektive Komponente) des Gefühlszustands anderer Individuen

Empathische Anteilnahme (auch Mitgefühl)

= anteilnehmende, fürsorgliche emotionale Reaktionen auf das Leid anderer Individuen

Empathischer Disstress

= persönliches Unbehagen, welches durch das Leid anderer Individuen ausgelöst wird

Empathische Anteilnahme ist das Empfinden fürsorglicher Emotionen für den anderen (Altmann, 2020; Batson, Fultz & Schoenrade, 1987; Davis, 1983; Jolliffe & Farrington, 2006a). Empathische Anteilnahme (empathic concern) wird teils auch als Mitgefühl (Altmann, 2020) beziehungsweise in englischsprachiger Literatur als ‚sympathy‘ oder ‚compassion‘ bezeichnet (Batson et al., 1987; Davis, 1983; Eisenberg, Eggum & Di Giunta, 2010; Jolliffe & Farrington, 2006a). Batson et al. (1987) beschreiben diese emotionalen Reaktionen als mitleidsvoll, weichherzig, zärtlich und anteilnehmend, obgleich sie selbst dafür in dieser Publikation noch die Bezeichnung Empathie wählen. Diese Art emotionaler Reaktionen sind am Wohlergehen anderer ausgerichtet (Jolliffe & Farrington, 2006a) und können Reaktionen gegenübergestellt werden, welche eher auf sich selbst bezogen sind und empathischer Disstress (empathic distress, personal distress) genannt werden (Batson et al., 1987; Davis, 1983; Olweus & Endresen, 1998). Darunter fällt beispielsweise beunruhigt, aufgewühlt oder erschüttert sein, was zwar kongruent mit den emotionalen Reaktionen des Betroffenen ist, jedoch nicht exakt identisch sein muss (Batson et al., 1987). Empathie, empathische Anteilnahme und empathischer Disstress können als persönliche Disposition konzeptualisiert werden, jedoch ebenfalls als akute Reaktion auf ein spezifisches Ereignis (Bierhoff, 2009; Miller & Eisenberg, 1988).

Die Forschung zu Empathie und empathischer Anteilnahme konnte Zusammenhänge mit Geschlecht und Alter aufdecken. So berichten laut einer Review-Studie Frauen und Mädchen mehr Empathie als Männer und Jungen (Eisenberg & Lennon, 1983). Auch jüngere, teils auf Bullying bezogene Studien kommen für beide Komponenten der Empathie zum gleichen Ergebnis (Gini, Albiero, Benelli & Altoe, 2008; Jolliffe & Farrington, 2006a; Macháčková & Pfetsch, 2016). Hinsichtlich der Entwicklung von Empathie in der Adoleszenz zeigte sich in einer längsschnittlichen Studie mit jährlichen Erhebungen ein positiver Trend zwischen dem 12. und dem 16. Lebensjahr (Allemand, Steiger & Fend, 2015). Auch hier wiesen männliche Teilnehmer zu allen Zeitpunkten ein niedrigeres Empathieniveau auf als weibliche. Der Anstieg über die Jugendjahre hinweg war jedoch ähnlich wie bei weiblichen Teilnehmern (Allemand et al., 2015). Eine weitere Längsschnittstudie (Van der Graaff et al., 2014) mit ebenfalls jährlichen Befragungen von Jugendlichen im Alter von 13 bis 18 Jahren fand hingegen sowohl Niveau- als auch Entwicklungsunterschiede. Die kognitive Komponente der Empathie (Perspektivenübernahme) stieg bei Mädchen kontinuierlicher an als bei Jungen und die empathische Anteilnahme nahm bei Jungen in der mittleren Jugend ab, während sie bei Mädchen stabil blieb (Van der Graaff et al., 2014). Generell berichteten Mädchen wiederum ein höheres Level an sowohl Perspektivenübernahme als auch empathischer Anteilnahme (Van der Graaff et al., 2014). Auch in der Längsschnittstudie von Olweus und Endresen (1998) verzeichneten nur Mädchen zwischen der sechsten und der neunten Klasse einen klaren Anstieg hinsichtlich empathischem Disstress und empathischer Anteilnahme. Bei Jungen hingegen war keine signifikante Veränderung des empathischen Disstress feststellbar und die empathische Anteilnahme sowie deren Entwicklung waren abhängig vom Geschlecht des Empathieobjekts. Die empathische Anteilnahme von Jungen gegenüber Jungen war geringer als gegenüber Mädchen und nahm über die Jugend ab, während sie gegenüber Mädchen zunahm (Olweus & Endresen, 1998).

Empathie spielt in verschiedenen Theorien zu prosozialem Verhalten eine wichtige Rolle. Penner, Dovidio, Piliavin und Schroeder (2005) stellen fest, dass die meisten Forschenden sich einig sind, dass empathische Aktivierung ausschlaggebend für viele Formen von Hilfsverhalten ist. So sehen Penner, Fritzsche, Craiger und Freifeld (1995) Empathie als wesentlichen Faktor einer prosozialen Persönlichkeitsstruktur. Die Empathie-Altruismus-Hypothese von Batson (1987; 2011) geht davon aus, dass Empathie prosoziales Verhalten motiviert. Nur empathische Anteilnahme führt dabei zu altruistisch motiviertem Hilfeverhalten, während empathischer Disstress egoistisches Hilfeverhalten auslöst, wenn keine Möglichkeit besteht der Situation zu entgehen (vgl. Bierhoff, 2009). Dies steht auch im Einklang mit dem Erregung:Kosten-Belohnungsmodell (Dovidio et al., 1991), welches postuliert, dass Hilfeverhalten zum einen von der erlebten Erregung des Bystanders und zum anderen von wahrgenommenen Kosten und Nutzen für das Helfen oder Nichthelfen abhängt. Empathie wird in diesem Modell als Einflussfaktor auf beide Komponenten angesehen: Empathie steigert die Erregung bei der Beobachtung von Leid und die Kosten für das Nichthelfen (Dovidio et al., 1991). Insbesondere in Situationen ohne akuten Notfall wird empathische Anteilnahme als entscheidend für die Erregung erachtet, während Notfallsituationen eine starke autonome Erregung auslösen (Dovidio et al., 1991), welche dem Konzept des empathischen Disstress gleichkommt. Zudem mutmaßen die Autoren und die Autorin, dass bei starker empathischer Anteilnahme die Erregung nicht durch das Verlassen der Situation abgebaut werden kann, was wiederum Kosten für das Nichthelfen darstellt (Dovidio et al., 1991). Schließlich kann Empathie auch als Fertigkeit konzeptualisiert werden, welche notwendig ist, um ein angemessenes Hilfeverhalten zu wählen und umzusetzen (vgl. DeSmet et al., 2016).

Auch mit antisozialem und aggressivem Verhalten ist Empathie theoretisch verknüpft. Zum einen können empathische Kompetenzen und insbesondere die kognitive Komponente der Empathie Missverständnissen und Konflikten vorbeugen (Davis, 1996; Feshbach, 1975; Miller & Eisenberg, 1988). Zum anderen sollten affektive empathische Reaktionen aggressives Verhalten hemmen (Davis, 1996; Feshbach, 1975). Das Erleben von empathischer Anteilnahme für das Opfer, löst laut Batson (2011) prosoziale Verhaltensimpulse aus, welche nicht vereinbar mit aggressiven Verhaltensweisen sind (Miller & Eisenberg, 1988). Empfindet oder antizipiert der Aggressor negative empathische Erregung durch die eigenen aggressiven Handlungen, ist er oder sie motiviert diese abzubauen, indem das aggressive Verhalten unterlassen, gestoppt oder gemindert wird (Davis, 1996; Miller & Eisenberg, 1988). Dies kann im Sinne einer negativen Verstärkung verstanden werden, die dazu führt, dass empathische Individuen auf lange Hinsicht weniger aggressives Verhalten zeigen (vgl. Feshbach, 1975). Kritisch betrachtet werden muss jedoch, dass aggressives Verhalten per Definition gerade auf eine Schädigung des Opfers abzielt. Das Erkennen, dass dies erreicht wurde (kognitive Empathie), kann dementsprechend insbesondere bei feindseliger Aggression in Reaktion auf eine Provokation verstärkend erlebt werden (Davis, 1996). Eine hemmende Wirkung von empathischen Reaktionen auf aggressives Verhalten ist dementsprechend nicht garantiert (Davis, 1996). Des Weiteren gilt es zu beachten, dass die Fähigkeit der Perspektivenübernahme insbesondere im Kontext von Bullying genutzt werden könnte, um das soziale Umfeld zu manipulieren und soziale Macht auszuüben (Sutton, Smith & Swettenham, 1999).

Die Verknüpfung von Empathie mit allgemein prosozialem und aggressivem Verhalten sowie mit schikanierendem und verteidigendem Verhalten bei Bullying ist nicht nur theoretisch solide untermauert, sondern auch empirisch weithin erforscht. Metaanalysen zeigen eine positive Assoziation zwischen den meisten Empathiemaßen und prosozialem oder kooperativem Verhalten (Eisenberg & Miller, 1987) sowie eine negative Assoziation zwischen Fragebogenmaßen der Empathie und aggressivem oder antisozialem Verhalten (Miller & Eisenberg, 1988). In einem Review-Artikel kommen Eisenberg und Kolleginnen (2010) zum Fazit, dass – obgleich die Befunde in Abhängigkeit von der Operationalisierung variieren und teils schwach sind – sowohl situative als auch dispositionale Empathie und insbesondere empathische Anteilnahme mit prosozialem Verhalten zusammenhängt. Die Übersichtsarbeit von Lovett und Sheffield (2007) stellt auch bei neueren Studien fest, dass Jugendliche mit aggressivem oder delinquentem Verhalten oftmals geringere Empathiewerte erreichen. Vachon, Lynam und Johnson (2014) hingegen merken in ihrer Metaanalyse kritisch an, dass der negative Zusammenhang zwischen Empathie und Aggression erstaunlich schwach ausfällt. Die teils schwachen Zusammenhänge zwischen insbesondere kognitiver Empathie und Aggression (Vachon et al., 2014) beziehungsweise Bullying (Mitsopoulou & Giovazolias, 2015), lassen sich möglicherweise mit den oben erläuterten theoretischen Einschränkungen (Verstärkung durch wahrgenommene erfolgreiche Schädigung des Opfers, Davis, 1996; Fähigkeit zur Manipulation durch Perspektivenübernahme, Sutton et al., 1999) erklären. Die Verknüpfung von Empathie – insbesondere empathischer Anteilnahme – mit prosozialem Verhalten zeigt sich recht konsistent für Jungen und Mädchen und auch längsschnittlich (Van der Graaff, Carlo, Crocetti, Koot & Branje, 2018).

In Bezug auf die Beteiligung an Schul- oder Cyberbullying kommen ein Review-Artikel und drei Metaanalysen (Mitsopoulou & Giovazolias, 2015; Van Noorden et al., 2015; Zych, Baldry, Farrington & Llorent, 2019; Zych, Ttofi & Farrington, 2019) zu dem Ergebnis, dass Pro-Bullying-Verhalten mit Empathie – insbesondere affektiver – negativ assoziiert ist. Verteidigendes Verhalten demgegenüber ist konsistent positiv mit beiden Formen der Empathie verknüpft (Van Noorden et al., 2015; Zych, Ttofi & Farrington, 2019). Zu passivem Bystander-Verhalten und Empathie liegen nur zwei Studien vor, deren Befunde uneinheitlich sind (Van Noorden et al., 2015). Diejenige der beiden Studien, die eine jugendlichen Stichprobe untersucht, findet jedoch, dass passives Verhalten anders als verteidigendes nur mit kognitiver Empathie positiv assoziiert ist (Gini et al., 2008). Ebenfalls uneinheitlich sind die längsschnittlichen Befunde: Während eine kurzzeitige Längsschnittstudie auf eine Wechselwirkung zwischen Empathie und Bullying hindeutet (Stavrinides, Georgiou & Theofanous, 2010), zeigen sich in einer länger angelegten Studie nur simultane und keine prospektiven Zusammenhänge (Farrell, Volk & Vaillancourt, 2019). Experimentell konnte ein hemmender Effekt von induzierter Empathie auf negatives Bystander-Verhalten bei Cyberaggression sowie ein förderlicher Effekt aktiver Perspektivenübernahme für positives Bystander-Verhalten nachgewiesen werden (Barlińska et al., 2013, 2018).

Zusammengenommen ist Empathie ein weitverbreitetes theoretisches Konzept zur Erklärung von sowohl prosozialem als auch antisozialem Verhalten, das auch empirisch vielfach mit diesen Verhaltensweisen in Zusammenhang gebracht werden konnte. Ein umfassender Forschungstand zu Bullying bestätigt, dass schikanierendes Verhalten mit geringen Empathiewerten und verteidigendes Verhalten mit hohen Empathiewerten einhergeht. In das Bystander-Intervention-Modell (Latané & Darley, 1970) lässt sich Empathie als relevant für den Übergang von erster zu zweiter Stufe einordnen. Obgleich sich die Autoren des Modells auf situative Bedingungen konzentrieren, von denen es abhängt, ob eine Situation als Notfall anerkannt wird, kann angenommen werden, dass hierfür auch Empathie eine Rolle spielt. Insbesondere im Kontext von Bullying erscheint es wesentlich, dass die Bystander sich in das Opfer hineinversetzen und seinen Schmerz mitempfinden können, damit sie den Ernst der Lage erkennen und antisoziale Verhaltenstendenzen gehemmt werden.

1.4.3 Moral Disengagement

Prosoziales und aggressives Verhalten können als moralische Handlungen verstanden werden, welche durch den Abgleich mit eigenen moralischen Standards eine Selbstbewertung auslösen (Bandura, Barbaranelli, Caprara & Pastorelli, 1996a). Ist diese Art der moralischen Selbstregulation ausgesetzt, so spricht Bandura von Moral Disengagement (Bandura, 1991; Bandura et al., 1996a). Moral Disengagement erlaubt somit Verhaltensweisen, die von den eigenen moralischen Standards abweichen. Laut Bandura (Bandura, 1991; Bandura et al., 1996a) gibt es acht Mechanismen moralischen Disengagement, welche an vier Punkten des selbst-regulatorischen Systems ansetzen können. (1) Das Verhalten selbst kann umgedeutet werden, indem es moralisch gerechtfertigt, beschönigt oder mit Schlimmerem verglichen wird. (2) Die schädlichen Konsequenzen des Verhaltens können geleugnet oder bagatellisiert werden. (3) Die eigene Rolle kann dadurch minimiert werden, dass das Verhalten auf äußere Zwänge wie Autoritäten oder Gruppendruck attribuiert und damit die Verantwortung abgewiesen wird oder die Verantwortung in Gruppen diffundiert. (4) Schließlich kann auch das Opfer selbst beschuldigt und für seine Lage verantwortlich gemacht werden oder sogar seine Menschlichkeit abgesprochen bekommen (Dehumanisierung). Im Rahmen der sozial-kognitiven Theorie wird angenommen, dass diese Mechanismen des Moral Disengagement schädliches Verhalten wie aggressive oder regelverletzende Akte zur Folge haben. Vermittelt wird dieser Zusammenhang teilweise über reduzierte antizipierte Schuldgefühle und eine verringerte prosoziale Orientierung (Bandura et al., 1996a). Bandura spricht in diesem Zusammenhang auch die Rolle der Empathie an, welche er als wichtig für die moralische Selbstregulation sieht und welche durch Moral Disengagement und insbesondere die Dehumanisierung geschwächt wird (Bandura et al., 1996a).

Moral Disengagement

= das Loslösen von den eigenen moralischen Standards und das Aussetzen der moralischen Selbstbewertung durch:

  • Rechtfertigung des Verhaltens (moral justification)

  • Beschönigung des Verhaltens (euphemistic labeling)

  • vorteilhafte Vergleiche mit schlimmeren Verhaltensweisen (advantageous comparisons)

  • Leugnung/Bagatellisierung der Konsequenzen (disregard or distortion of consequences)

  • Abweisen der Verantwortung (displacement of responsibility)

  • Diffusion der Verantwortung (diffusion of responsibility)

  • Beschuldigung des Opfers (attribution of blame)

  • Dehumanisierung des Opfers (dehumanization)

Letztlich ist auch das Unterlassen von Hilfeleistungen eine moralische Handlung, welche vermutlich ähnlichen Regulationsprozessen unterliegt wie prosoziales und antisoziales Verhalten. Bandura (1991) selbst stellt explizit klar, dass Moral Disengagement zwar am umfänglichsten im Zusammenhang mit Gewalt untersucht wurde, sich jedoch nicht ausschließlich auf diesen Bereich beschränkt. Weiter gefasst ermöglicht Moral Disengagement eigennützige Verhaltensweisen mit unzuträglichen sozialen Folgen (Bandura, 1991). Auch in Theorien zu Wahrnehmung und Verhalten von Bystandern aggressiver Übergriffe lassen sich Mechanismen des Moral Disengagement erkennen. Im Rahmen des Erregung:Kosten-Belohnungsmodells (Dovidio et al., 1991, siehe Abschnitt 1.4.2) werden Mechanismen des Moral Disengagemen wie die Neuinterpretation, Verantwortungsdiffusion und Herabsetzung des Opfers als Ausweg aus dem Dilemma genannt, das besteht, wenn gleichzeitig hohe Kosten für das Helfen und für das Nichthelfen vorliegen. Laut der Defensive-Attribution-Hypothese sind Beobachter eines Unglücks daran interessiert, sich entweder vom Auslöser des Unglücks zu distanzieren oder – wenn dies beispielsweise aufgrund von Ähnlichkeit zum Auslöser nicht möglich ist – dessen Schuld zu minimieren (Burger, 1981; Shaver, 1970). Letzteres geschieht laut der Autoren durch das Abweisen von Verantwortung und eine Attribution auf unglückliche, unkontrollierbare Umstände (Burger, 1981; Shaver, 1970), doch auch andere Mechanismen des Moral Disengagement wie Rechtfertigung, Beschönigung oder Bagatellisierung könnten zu diesem Zwecke relevant sein. Ist hingegen eine Ähnlichkeit zum Opfer gegeben, besteht das Bedürfnis, das Unglück als kontrollierbar und damit vermeidbar wahrzunehmen. Dies ist möglich, indem die Geschehnisse dem Fehlverhalten des Opfers zugeschrieben werden (Lerner & Miller, 1978; Shaver, 1970). Der Glaube an eine gerechte Welt, in der jeder bekommt, was er verdient und dementsprechend auch verdient hat, was er bekommt (just world belief), verringert das wahrgenommene Risiko selbst zum Opfer zu werden (Lerner & Miller, 1978). Aus dem Bedürfnis nach Gerechtigkeit und Sicherheit heraus, wird dem Opfer die Schuld zugewiesen. Mechanismen des Moral Disengagement spielen folglich sowohl eine Rolle, wenn Bystander sich mit dem Opfer identifizieren und das wahrgenommene eigene Risiko der Viktimisierung reduzieren möchten (z. B. indem sie das Opfer beschuldigen oder entmenschlichen), als auch, wenn Bystander sich mit den Tätern identifizieren und deren Schuld reduzieren möchten (z. B. durch Rechtfertigung oder Beschönigung). Auch für das passive Verhalten selbst können verschiedene Mechanismen des Moral Disengagement greifen (z. B. Vergleich mit Schlimmerem, Verantwortungsdiffusion). Große Überlappungen lassen sich diesbezüglich zwischen den Mechanismen des Moral Disengagement und den Abwehrmechanismen im normativen Entscheidungsmodell des Altruismus (normative decision-making model of altruism, Schwartz & Howard, 1981): das Leugnen von Bedarf, von Erfolgschancen, von Fähigkeit oder von Verantwortung. All diese Ansätze zur Neudefinition der Situation reduzieren das Gefühl moralischer Verpflichtung und begünstigen somit passives statt helfendes Verhalten (Schwartz & Howard, 1981).

Wie auch bei Empathie so belegt die Forschung Geschlechts- und Altersunterschiede für Moral Disengagement. Moralisches Disengagement ist bei männlichen Jugendlichen stärker ausgeprägt als bei weiblichen (Bandura et al., 1996a; Paciello, Fida, Tramontano, Lupinetti & Caprara, 2008; Robson & Witenberg, 2013; Thornberg & Jungert, 2013; C. Wang, Ryoo, Swearer, Turner & Goldberg, 2017). Zudem zeigt eine Längsschnittstudie mit 14- bis 20-Jährigen, dass Moral Disengagement bei Mädchen im Alter zwischen 14 und 16 Jahren stärker abnimmt als bei Jungen (Paciello et al., 2008). Die Längsschnittstudie identifiziert darüber hinaus vier Entwicklungsverläufe: Die größte, normative Gruppe zeigt ein anfänglich mittleres Niveau an Moral Disengagement, welches bis zu einem Alter von 20 Jahren absinkt. Ähnlich viele gehören der Gruppe der Nicht-Disengager an, welche mit einem geringen Level starten, das im Laufe der Jugend weiterhin sinkt. Eine kleinere Gruppe zeichnet sich demgegenüber durch konstant hohes Moral Disengagement aus. Bei den wenigsten zeichnet sich ein anfänglicher Anstieg, gefolgt von einem starken Abfall ab. Mädchen gehören mit größerer Wahrscheinlichkeit als Jungen der Gruppe der Nicht-Disengager an (Paciello et al., 2008).

Ebenfalls gut dokumentiert sind Zusammenhänge zwischen Moral Disengagement und verschiedenen Formen aggressiven Verhaltens, inklusive Bullying. Metaanalytisch ließ sich die Verbindung mit Moral Disengagement gleichermaßen für Aggression, Bullying und Cyberbullying nachweisen (Gini, Pozzoli & Hymel, 2014). Die Effektstärke war dabei unabhängig vom Geschlecht, jedoch bei Jugendlichen stärker als bei Kindern. Auch ein aktueller Review-Artikel bestätigt den Zusammenhang von Cyberbullying-Täterschaft und Moral Disengagement (Lo Cricchio, García-Poole, te Brinke, Bianchi & Menesini, 2020). Längsschnittliche Studien untermauern zudem, dass Moral Disengagement beziehungsweise der Entwicklungsverlauf von Moral Disengagement späteres aggressives oder gewalttätiges Verhalten vorhersagt (Barchia & Bussey, 2011a; Hyde, Shaw & Moilanen, 2010; Paciello et al., 2008). Überdies mediiert Moral Disengagement zwischen familiären und sozialen Risikofaktoren im Kindesalter und antisozialem Verhalten (Hyde et al., 2010). Die untersuchten Zeiträume reichten bei diesen Studien von acht Monaten (Barchia & Bussey, 2011a) bis zu 15 Jahren (Hyde et al., 2010). Längsschnittliche Studien mit einem Untersuchungszeitraum von ein bis zwei Jahren bestätigen weiterhin, dass Moral Disengagement oder dessen Veränderung späteres Bullying beziehungsweise die Entwicklung von Bullying vorhersagt (Sticca & Perren, 2015; Thornberg, Wänström & Hymel, 2019; C. Wang et al., 2017).

Weiterhin liegen Studien vor, welche Moral Disengagement in Zusammenhang mit Bystander-Verhalten bei aggressiven Vorfällen und Bullying unter Jugendlichen bringt. Mitmachen und Bullying verstärkendes Bystander-Verhalten hängen wie anführendes Bullying-Verhalten mit hohem Moral Disengagement zusammen (Bjärehed, Thornberg, Wänström & Gini, 2020; Thornberg & Jungert, 2013). Auch passives Bystander-Verhalten bei Cyberbullying ist laut einer Review-Studie mit Moral Disengagement assoziiert (Lo Cricchio et al., 2020). Eine positive Einstellung zur Verteidiger-Rolle, die Absicht das Opfer zu verteidigen sowie verteidigendes Verhalten gehen hingegen mit geringem Moral Disengagement einher (Almeida, Correia & Marinho, 2009; DeSmet et al., 2016; Doramajian & Bukowski, 2015; Thornberg & Jungert, 2013; Thornberg et al., 2017), teils jedoch nur bei Mädchen (Caravita, Gini & Pozzoli, 2012). Eine separate Betrachtung der verschiedenen Mechanismen deutet darauf hin, dass insbesondere Verantwortungsdiffusion und Beschuldigung des Opfers negativ mit verteidigenden Verhaltensweisen und Intentionen assoziiert sind (DeSmet et al., 2016; Thornberg & Jungert, 2014). Keine quer- und längsschnittlichen Zusammenhänge zwischen Moral Disengagement und Verteidiger-Verhalten bei aggressiven Vorfällen ließ sich in einer Follow-up-Studie über acht Monate finden (Barchia & Bussey, 2011b). In einer viermonatigen Studie mit drei Messzeitpunkten hingegen zeigten sich sowohl querschnittliche als auch längsschnittliche Zusammenhänge zwischen Moral Disengagement und peer- sowie selbstberichtetem verteidigendem Verhalten in Bullying-Situationen. Dabei gab es sowohl signifikante Verbindungen von Moral Disengagement zu späterem Verhalten als auch umgekehrt (Doramajian & Bukowski, 2015).

Heterogene Befunde liegen zum Moral Disengagement von Außenstehenden vor. Während Moral Disengagement in manchen Studien negativ mit heraushaltendem Verhalten assoziiert ist (Lo Cricchio et al., 2020; Thornberg & Jungert, 2013), ist in anderen das Gegenteil der Fall (Gini, Pozzoli & Bussey, 2015; Thornberg et al., 2017). Dies mag daran liegen, dass passive Bystander eine heterogene Gruppe sind. Obermann (2011b) differenziert neben den Verteidigern zwischen drei Typen passiver Bystander: passive Bystander mit schlechtem Gewissen (guilty bystanders), gleichgültige Bystander (unconcerned bystanders) und Außenseiter, die nichts von Schikanen mitbekommen (outsiders). Gleichgültige Bystander weisen wie zu erwarten mehr Moral Disengagement auf als Verteidiger und auch als Passive mit Schuldgefühlen. Des Weiteren ist das Moral Disengagement bei denjenigen, die angeben nichts von Schikanen zu wissen, stärker ausgeprägt als bei Verteidigern (Obermann, 2011b). Eine solche Subkategorisierung von Gruppen mit gleichem beobachtbaren Verhalten, jedoch unterschiedlicher Haltung nahm bereits Olweus (2001) in seinem Bullying Circle vor (siehe Abschnitt 1.2.2). Doramajian und Bukowski (2015) fanden überdies, dass die Zusammenhänge geschlechtsspezifisch und abhängig vom Informanten sind: Peer-nominiertes passives Verhalten hing nur bei Jungen negativ mit Moral Disengagement zusammen. Jungen mit hohem Moral Disengagement werden also eher nicht als passive Bystander wahrgenommen – wohlmöglich, weil ihr Verhalten aktiv aggressiv ist. Als mögliche Erklärung für Geschlechtsunterschiede werden unterschiedliche Maßstäben für Jungen und Mädchen angeführt: Während Mädchen, die sich passiv verhalten bereits den Anspruch eines liebevoll-fürsorglichen Stereotyps verletzen und daher auf Strategien des Moral Disengagement zurückgreifen müssen, bedeutet passives Verhalten für Jungen, dass sie sich zumindest nicht an den Schikanen beteiligen und daher auch keine Selbstsanktionen aushebeln müssen. Insgesamt zeigten sich in der Längsschnittstudie jedoch vorwiegend positive Assoziationen zwischen Moral Disengagement und Passivität, wobei wiederum teils Moral Disengagement prädiktiv für Verhalten und teils Verhalten prädiktiv für späteres Moral Disengagement war (Doramajian & Bukowski, 2015). Auch qualitative Forschungsansätze sprechen dafür, dass nicht nur für schikanierendes Verhalten, sondern auch für das Unterlassen von Hilfe Mechanismen des Moral Disengagement greifen. So wird von Jugendlichen im Zusammenhang mit dem eigenen Heraushalten bei beobachteten Bullying-Ereignissen der Vorfall bagatellisiert, das Opfer beschuldigt und die eigene Verantwortung abgewiesen (Bellmore, Ma, You & Hughes, 2012). In Fokusgruppendiskussionen sticht vor allem die Schuldzuweisung an das Opfer hervor: Jene, die sich abweichend verhalten, seien selbst an den Schikanen schuld, das Bullying in diesem Fall gerechtfertigt und sie verdienten es nicht, verteidigt zu werden (DeSmet et al., 2014).

Zusammengefasst lässt sich – basierende auf einer breiten Forschungslage – festhalten, dass Moral Disengagement Bullying sowie Bullying-förderliches Verhalten zu begünstigen und aktiv- verteidigendes Verhalten zu hemmen scheint. Im Rahmen des Bystander-Intervention-Modells (Latané & Darley, 1970) kann Moral Disengagement für den Übergang zur zweiten sowie den Übergang zur dritten Stufe relevant sein. Werden die Schikanen moralisch gerechtfertigt, beschönigt oder verharmlost und die Folgen bagatellisiert, so wird das Bullying vermutlich nicht als Notsituation mit Handlungsbedarf anerkannt. Im Gegenteil dürften dadurch Bullying fördernde Verhaltenstendenzen enthemmt werden. Olweus (1993) selbst beschreibt eine Reihe an Gruppenmechanismen, welche zum Mitmachen beim Bullying animieren, unter anderem durch eine verzerrte Wahrnehmung des Opfers und ein reduziertes Verantwortungsgefühl für die Schikanen, was Schuldgefühle reduziert. Wird die Verantwortung abgewiesen oder verwässert, widerspricht dies dem dritten Schritt der persönlichen Verantwortungsübernahme für die Hilfeleistung oder Verbesserung der Situation. Auch der Eindruck, ob das Opfer Hilfe verdient hat oder die Angriffe selbst provoziert hat, spielt laut Latané und Darley (1970) bei der Verantwortungsübernahme eine Rolle. Die wahrgenommene Mitverantwortung eines Opfers an seiner Notlage verringert die Absicht zu intervenieren (Labuhn, Wagner, Van Dick & Christ, 2004). Kommt es aufgrund von Moral Disengagement nicht zu einer Verantwortungsübernahme, so fördert dies insbesondere passives Bystander-Verhalten.

1.4.4 Verantwortungsübernahme und moralische Emotionen

Das Konzept der Verantwortung ist nicht nur im Rahmen des Moral Disengagement relevant, sondern sollte – insbesondere in Hinblick auf prosoziales Verhalten – auch eigenständig betrachtet werden. Unter Verantwortung oder Verantwortlichkeit wird allgemeinhin eine Verpflichtung verstanden, in einem bestimmten Rahmen Positives zu erzielen beziehungsweise Negatives zu verhindern und dafür auch einstehen zu müssen (Dudenredaktion, 2020a, 2020b). Es geht somit um die Zuständigkeit für Entscheidungen und Handlungen sowie die damit verbundene Möglichkeit zur Rechenschaft gezogen zu werden. Das Konzept der Verantwortung umfasst somit eine prospektive (ex ante responsibility) und eine retrospektive (ex post responsibility) Facette: Die künftige Zuständigkeit oder Verpflichtung sowie die anschließende Rechenschaftspflicht (Birnbacher, 2001; Sombetzki, 2014). Synonym zu Verantwortung werden oftmals die Begriffe Verantwortungsbewusstsein oder Verantwortungsgefühl verwendet (Dudenredaktion, 2020a, 2020b). Diese heben indessen den subjektiven Aspekt der wahrgenommenen eigenen Verantwortung hervor. Sich in einer bestimmten Situation als zuständig und haftbar wahrzunehmen kann auch als Verantwortungsübernahme bezeichnet werden (Bierhoff, 2020a). Im Folgenden werden die Begriffe Verantwortungsübernahme, Verantwortungsbewusstsein und Verantwortungsgefühl bedeutungsgleich eingesetzt, obschon das Verantwortungsbewusstsein eine kognitive und das Verantwortungsgefühl eine affektive Konnotation hat, während die Verantwortungsübernahme stärker handlungsorientiert scheint (Auhagen & Bierhoff, 2001). Letztlich ist Verantwortung – zumindest aus psychologischer Perspektive – immer ein Zuschreibungsprozess: Wer wird als zuständig und rechenschaftspflichtig angesehen? Im Rahmen dieser Arbeit soll es vornehmlich um die Wahrnehmung der eigenen Verantwortung, also um Verantwortungsbewusstsein, -gefühl oder -übernahme, gehen: Erkenne ich meine Verantwortung an und fühle ich mich verantwortlich? Dies muss nicht zwangsläufig mit offiziellen formellen Verantwortlichkeiten (Auhagen, 2001) oder der Attribution anderer übereinstimmen (Bierhoff & Auhagen, 2001).

Verantwortungsvolles Handeln setzt eine Beurteilung der Konsequenzen des eigenen Handelns oder Nichthandelns anhand von ethischen Standards voraus (Kaschner, 2016). Werden internalisierte Standards verletzt, so löst dies Schuldgefühle, Reue oder Gewissensbisse aus (Kohlberg, 1995). Banduras sozial-kognitive Theorie moralischen Urteilens und Handelns geht davon aus, dass antizipierte affektive Selbstbewertungen das Bindeglied zwischen moralischen Standards und Verhalten darstellen (Bandura, 1991). Individuen sind bestrebt sich entsprechend ihrer Standards zu verhalten, um Selbstzufriedenheit zu erreichen und Selbstverachtung zu vermeiden (Bandura, 1991). Das Annehmen von persönlicher Verantwortung ist laut Bandura neben Empathie eine wichtige Voraussetzung für das Erleben von affektiven Selbstsanktionen (Bandura et al., 1996a). Verantwortungsübernahme und Empathie können somit als Gegenspieler zum Moral Disengagement verstanden werden. Die Arbeitsgruppe um Caprara konzeptualisiert die internale Attribution von Verantwortung als ausschlaggebende Voraussetzung oder konstituierendes Element für Schuldgefühle (Caprara, Barbaranelli, Pastorelli, Cermak & Rosza, 2001). Umgekehrt sieht Bierhoff (2020b) Empathie und Schuldgefühl als Motive für soziale Verantwortungsübernahme. Ungeachtet der kausalen Wirkrichtung können die moralischen Emotionen Schuld und Scham als Indikatoren für Verantwortungsbewusstsein konzeptualisiert werden (vgl. Menesini et al., 2003). Ebenso wie Verantwortung eine prospektive und eine retrospektive Facette hat, kann auch zwischen vorausgehendem und nachträglichem Gewissen (anterior and subsequent conscience; Spohn, 2000) beziehungsweise antizipierten und nachfolgenden Schuldgefühlen (Basil, Ridgway & Basil, 2006) differenziert werden.

Verantwortungsübernahme (auch Verantwortungsbewusstsein, Verantwortungsgefühl)

= das Anerkennen der eigenen Zuständigkeit und Rechenschaftspflicht, welches sich bei moralischen Verfehlungen in affektiven Selbstsanktionen (Schuldgefühle, Scham, Gewissensbisse) äußert, die auch antizipatorisch erlebt werden können

Verantwortungsübernahme und moralische Emotionen spielen in einer Reihe von Theorien zu aggressivem und prosozialem Verhalten eine wichtige Rolle. Verschiedene Wissenschaftler sehen Verantwortungsübernahme als wesentliche Facette einer prosozialen Persönlichkeit und wichtige motivationale Grundlage für Hilfeleistungen (Bierhoff, 2009; Huston & Korte, 1976; Penner et al., 1995). Bierhoff (2009) beispielsweise erweitert Batsons Empathie-Altruismus-Hypothese (1987; 2011): Neben situativer Empathie erachtet er eine Reihe von Persönlichkeitsmerkmalen als relevant für die Hilfeleistung – darunter auch die soziale Verantwortung. Wie auch Empathie kann Verantwortungsübernahme als persönliche Neigung oder als situationsspezifische Reaktion konzeptualisiert werden (Auhagen, 2001; Bierhoff, 2001; Bierhoff & Auhagen, 2001). Letztere macht im Bystander-Intervention-Modell (Latané & Darley, 1970) die dritte Stufe aus. Als Sozialpsychologen nennen die Autoren vor allem kontextuelle Gründe für die Entscheidung über das Ausmaß der persönlichen Verantwortung, beispielsweise die Beziehung zum Opfer, die Anzahl an Bystandern oder inwiefern das Opfer Hilfe zu verdienen scheint, doch werden ferner Schuldgefühle als vermittelnder Faktor genannt (Latané & Darley, 1970). Auch im normativen Entscheidungsmodell des Altruismus (Schwartz & Howard, 1981) findet das situationsbezogene Verantwortungsgefühl Erwähnung. Wesentliches Element dieser Theorie sind persönliche Normen. Diese werden als situationsspezifisch konstruiertes moralisches Verantwortungsgefühl in Anbetracht internalisierter Werte aufgefasst. Das Gefühl moralischer Verpflichtung löst antizipatorisch Stolz oder Schuldgefühle aus und motiviert so Verhalten, das in Einklang mit den internalisierten Werten steht. Dies entspricht den Annahmen Banduras sozial-kognitiver Theorie zu Moral, die nicht nur auf delinquentes, sondern ebenfalls auf prosoziales Verhalten angewendet werden kann (Bandura et al., 1996a). Antizipierte Gefühle der Schuld, Reumütigkeit und Selbstkritik, welche bei geringem Moral Disengagement auftreten, sind positiv mit prosozialem und negativ mit delinquentem Verhalten assoziiert (Bandura et al., 1996a). Im Erregung:Kosten-Belohnungsmodell werden erwartete Selbstvorwürfe als Kosten für das Nicht-Helfen einkalkuliert (Dovidio et al., 1991). In Bezug auf Bullying hat bereits Olweus (1993) postuliert, dass ein geringes individuelles Verantwortungsgefühl in der Gruppe Bullying begünstigt und Schuldgefühle minimiert. Bierhoff (2020a) bezeichnet die prosoziale Intention als Ergebnis der Verantwortungsübernahme. Findet hingegen keine Verantwortungsübernahme statt, scheiden Bystander als potenzielle Helfer aus und bleiben passiv (Latané & Darley, 1970).

Das Anstreben und Erreichen sozialverantwortlichen Verhaltens wurde bereits von Havighurst (1953, 1972) als eine Entwicklungsaufgabe des Jugendalters postuliert. Die jüngere Weiterentwicklung des Konzeptes der Entwicklungsaufgaben durch Hurrelmann und Quenzel (2016) räumt der Verantwortungsübernahme sogar eine ganz zentrale Rolle ein: In allen vier Bereichen von Entwicklungsaufgaben (Qualifizieren, Binden, Konsumieren, Partizipieren) geht ihnen zufolge auf gesellschaftlicher Dimension um die Aneignung von Fähigkeiten für die Übernahme von verantwortlichen gesellschaftlichen Mitgliedsrollen. Auch von Jugendlichen selbst werden Verantwortungsübernahme und verantwortungsvolles Verhalten als zentrale Merkmale für das Erwachsenenalter und damit den Abschluss der Jugend angesehen (Arnett, 1997, 2001; Greene, Wheatley & Aldava, 1992). Dennoch liegen überraschend wenig empirische Befunde zur Entwicklung von Verantwortungsgefühl und moralischen Emotionen im Jugendalter vor. Zwar gibt es qualitative Studien zur Entwicklung von Verantwortung innerhalb von Jugendprogrammen (Salusky et al., 2014; Wood, Larson & Brown, 2009), jedoch nur äußerst wenig quantitative Forschung zur normativen Entwicklung in dieser Altersspanne. Einzig eine dreijährige Längsschnittstudie mit Heranwachsenden zwischen neun und 18 Jahren (accelerated longitudinal cohort design) stellte einen Rückgang sozialer Verantwortung zwischen dem neunten und 16. Lebensjahr fest (Wray-Lake, Syvertsen & Flanagan, 2016). Dazu passt, dass auch die persönlich empfundene Verantwortung Opfern von Bullying zu helfen im Querschnitt bei Grundschülern höher ausfällt als bei Schülerinnen und Schülern der weiterführenden Schule (Pozzoli & Gini, 2012). In einer anderen Querschnittstudie mit Viert- bis Achtklässlern zeigten sich hingegen keine signifikanten Altersunterschiede hinsichtlich der berichteten moralischen Emotionen Schuld und Scham in Bezug auf hypothetische Bullying-Szenarien (Menesini et al., 2003). Generell hat sich offenbar an der Feststellung „little is known about the development of the guilt response“ (Hoffmann, 1976, S. 139) in über vierzig Jahren kaum etwas geändert. Auch Geschlechtsunterschiede hinsichtlich Verantwortungsübernahme, Schuldgefühlen oder Gewissensbissen wurden kaum untersucht. Das Verantwortungsbewusstsein für eine gewaltfreie Klassengemeinschaft unterscheidet sich in Studien von Pozzoli und Gini (2010, 2012) nicht zwischen männlichen und weiblichen Jugendlichen. In einer Studie mit Elf- bis Zwanzigjährigen waren die Verantwortungsscores invariant hinsichtlich Alter und Geschlecht (Raffaelli, Simpkins, Tran & Larson, 2018). Tendenzen zu Schuldgefühlen und Reue sind manches Mal bei Mädchen stärker ausgeprägt (Mazzone, Camodeca & Salmivalli, 2016; Perren & Gutzwiller-Helfenfinger, 2012), teils wurde hingegen keine Assoziation mit dem Geschlecht gefunden (Pronk, Olthof & Goossens, 2016).

Obgleich Verantwortungsübernahme in vielen Theorien zu prosozialem Verhalten eine Rolle spielt, ist auch hier die empirische Befundlage recht spärlich. Mit einem Forschungsüberblick kommt Bierhoff (2001) zum Fazit, dass soziale Verantwortung – definiert als persönliche Bereitschaft der Verantwortungsnorm nachzukommen – mit Altruismus assoziiert ist. Einzelne neuere Studien bestätigen zudem Zusammenhänge zwischen Verantwortungsbewusstsein in konkreten Bereichen und entsprechenden prosozialen Absichten oder Verhaltensweisen wie Blutspenden (Groot & Steg, 2009), Freiwilligenarbeit (Lee & Chang, 2007) oder Geldspenden (D’Antonio, 2014). Schuldgefühle konnten empirisch ebenfalls mit prosozialem Verhalten in Verbindung gebracht werden. So motivieren Schuldgefühle die Wiedergutmachung oder den Ausgleich von Schädigungen oder Benachteiligungen eines Opfers (Hooge, Nelissen, Breugelmans & Zeelenberg, 2011) und Schuldappelle steigern vermittelt über Verantwortungsgefühl die Spendenbereitschaft (Basil et al., 2006). Hinsichtlich des Sozialverhaltens von Kindern und Jugendlichen zeigte sich weiterhin, dass das von Eltern, Lehrern und Freunden eingeschätzte Schuldbewusstsein der Kinder (Akzeptieren von Verantwortung, angemessenes Entschuldigungsverhalten) positiv mit freundlich-hilfsbereitem sowie kooperativem Verhalten und negativ mit aggressivem Verhalten zusammenhängt (Roberts, Strayer & Denham, 2014). Auch korreliert Peer-nominierte Aggression negativ mit antizipierten Schuld- und Schamgefühlen (Roos, Salmivalli & Hodges, 2011). Eine differenzierte Untersuchung von Schuld und Scham hingegen fand, dass die selbstberichtete Neigung zu Schuldgefühlen nur einen Anstieg von prosozialem Verhalten vorhersagte, wohingegen kein Zusammenhang mit aggressivem Verhalten bestand und Scham sogar einen Rückgang prosozialen Verhaltens vorhersagte (Roos, Hodges & Salmivalli, 2014).

In konkret auf Bullying bezogene Untersuchungen wurde Verantwortungsbewusstsein als Grund für das Eingreifen genannt (Cappadocia, Pepler, Cummings & Craig, 2012; Chen, Chang & Cheng, 2016), während die Begründungen für das Passiv-bleiben oftmals einen Mangel an Verantwortungsbewusstsein erkennen lassen („not my business“, „not my problem“, „someone else should stop it“; Cappadocia et al., 2012; Chen et al., 2016; Y. Huang & Chou, 2010; Olenik-Shemesh et al., 2015; Slee, 1994; Van Cleemput et al., 2014). Die Leugnung, Abweisung oder Diffusion von Verantwortung wurde in manchen Studien als Facette des Moral Disengagement separat untersucht und eine geringe Ausprägung mit verteidigendem Verhalten (Thornberg & Jungert, 2014) oder der Absicht zu verteidigen (DeSmet et al., 2016) in Zusammenhang gebracht. Die Verteidigungsabsicht hing weiterhin vom Klassenniveau der Verantwortungsleugnung ab (DeSmet et al., 2016). Überdies gibt es Studien, die sich mit Verantwortungsbewusstsein anstatt dessen Abwesenheit befassen. Die persönliche Verantwortungsübernahme für eine gewaltfreie Klassengemeinschaft ist darin positiv mit verteidigendem Verhalten und negativ mit passivem Bystander-Verhalten assoziiert (Pozzoli & Gini, 2010), wobei dieser Zusammenhang über unterschiedliche Copingstile vermittelt wird (Pozzoli & Gini, 2012). Zwei Experimente mit hypothetischen Cyberbullying-Szenarien zeigten ebenfalls einen deutlichen Einfluss von Verantwortungsgefühl auf die Absicht einzugreifen (Obermaier, Fawzi & Koch, 2016). In nur einer Studie gingen höhere Verantwortungswerte mit einer geringeren Verteidiger-Wahrscheinlichkeit einher (Choi & Cho, 2013). Hinsichtlich der moralischen Emotionen Schuld und Scham in hypothetischen Szenarien fand sich in einer Studie kein Unterschied zwischen Bullies und Außenstehenden (Menesini et al., 2003) und in einer weiteren Studie, dass Verteidiger mehr Scham und Schuld empfinden als Bullies und Nicht-Involvierte (Menesini & Camodeca, 2008). Je stärker Schuld- und Schamgefühle als Anreiz für das Eingreifen in eine Bullying-Situation gesehen werden, desto häufiger wird die Person von der Klasse auch als Verteidiger genannt – kein Zusammenhang besteht hingegen mit der Nominierungsanzahl für die Außenstehenden-Rolle (Pronk et al., 2016). Gefühle der Schuld und Reue zeigen zudem negative Assoziationen mit Bullying-Verhalten – sowohl im Selbst- als auch Fremdbericht und sowohl für Schul- als auch Cyberbullying (Mazzone et al., 2016; Perren & Gutzwiller-Helfenfinger, 2012).

Eine Zusammenschau der Literatur ergibt somit, dass Verantwortungsübernahme sowie die damit assoziierten moralischen Emotionen in vielen Theorien zur Erklärung von prosozialem sowie dissozialem Verhalten sowie deren Unterlassung herangezogen werden. Auch der empirische Forschungsstand spricht weitgehend für eine positive Assoziation zwischen Verantwortungsübernahme und prosozialem wie auch verteidigendem Verhalten im Kontext von Bullying. Die Befunde sprechen insbesondere dafür, dass Verantwortungsgefühl und moralische Emotionen zwischen verteidigendem und passivem Verhalten bei Bullying differenzieren (Menesini & Camodeca, 2008; Pozzoli & Gini, 2010, 2012). Im Gegensatz zu Empathie und Moral Disengagement wird die Verantwortungsübernahme im Bystander-Intervention-Modell (Latané & Darley, 1970) explizit als dritte Stufe im Entscheidungsprozess genannt. Annahmen über die dahinterstehenden mentalen Prozesse trifft das Modell nicht. Vor dem Hintergrund der theoretischen und empirischen Literatur zur Verantwortungsforschung scheinen die kognitive Beurteilung – Attribution der Verantwortung – sowie moralische Emotionen – Schuld und Scham – plausible Determinanten.

1.4.5 Selbstwirksamkeitsüberzeugung und Handlungsergebniserwartungen

Eine wichtige Komponente in Banduras sozial-kognitiver Theorie ist die wahrgenommene Selbstwirksamkeit (Bandura, 1998). Diese definiert er als „beliefs in one’s capabilities to organize and execute the courses of action required to produce given attainments” (Bandura, 1998, S. 3). Er geht davon aus, dass die Überzeugung eine bestimmte Handlung ausführen zu können, die hauptsächliche Grundlage für Verhalten ist. Der Glaube an die eigene Selbstwirksamkeit gilt als Einflussfaktor für Entscheidungen in Hinblick darauf, welche Herausforderungen angegangen werden, wieviel Anstrengung und Ausdauer hineingesteckt wird und wie mit Rückschlägen umgegangen wird (Bandura, 2001). Bandura betont, dass es dabei auf die subjektive Einschätzung der eigenen Handlungsfähigkeit ankommt und spricht daher explizit von „perceived self-efficacy“ (Bandura, 1998, S. 3), was im Folgenden mit Selbstwirksamkeitserwartung oder Selbstwirksamkeitsüberzeugung übersetzt wird. Genau betrachtet geht es weder um die tatsächlichen noch die selbst-eingeschätzten Fertigkeiten eines Individuums, sondern um die konkrete Erwartung die gegebenen Fertigkeiten unter bestimmten Umständen in Verhalten umsetzen zu können (Bandura, 1998). Entscheidend ist also neben dem Vorhandensein der benötigten einzelnen Kompetenzen im Verhaltensrepertoire auch die Meinung diese unter Berücksichtigung der aktuellen Bedingungen erfolgreich aktivieren, koordinieren und aufrechterhalten zu können. Selbstwirksamkeitserwartungen beziehen sich somit auf eine Reihe verschiedener Fähigkeiten, wie das Management von Gedanken, Affekten, Handlungen und Motivation. Banduras Konzept der Selbstwirksamkeitsüberzeugung darf nicht als allumfassendes Persönlichkeitsmerkmal verstanden werden, sondern als differenziertes Set selbstbezogener Überzeugungen in verschiedenen Funktionsbereichen (Bandura, 1998). Viel untersucht wurden beispielsweise die Bereiche schulische Leistung, sportliche Leistung und Gesundheitsverhalten (Bandura, 1998). Die Selbstwirksamkeitserwartungen in verschiedenen Bereichen müssen nicht zwangsläufig ähnlich ausgeprägt sein. Ein hoher Erklärungs- und Vorhersagewert von Selbstwirksamkeitsüberzeugungen für tatsächlich gezeigtes Verhalten ist daher nur gegeben, wenn die Selbstwirksamkeitsüberzeugung zugeschnitten auf die Domäne des interessierenden Verhaltens erhoben wird. Das Konzept der Selbstwirksamkeitserwartung entspricht der wahrgenommenen Verhaltenskontrolle (perceived behavioral control) in Ajzens Theorie des geplanten Verhaltens (Ajzen & Madden, 1986; Ajzen, 1991). Die wahrgenommene Verhaltenskontrolle stellt in dieser Theorie neben der Einstellung zum Verhalten sowie der subjektiven Norm einen wesentlichen Prädiktor für die Bildung einer Verhaltensabsicht dar.

Eng verbunden mit der wahrgenommenen Selbstwirksamkeit oder Verhaltenskontrolle, jedoch keinesfalls gleichzusetzen, ist die Handlungsergebniserwartung (outcome expectation). Während es bei der Selbstwirksamkeitsüberzeugung um die Einschätzung geht, ob und wie leicht ein Verhalten ausgeführt werden kann, betrifft die Handlungsergebniserwartung die Konsequenzen, die aus dem Verhalten resultieren (Bandura, 1998). Die Selbstwirksamkeitsüberzeugung stellt folglich das Bindeglied zwischen Person und Verhalten dar, die Handlungsergebniserwartung hingegen das Bindeglied zwischen Verhalten und dessen Auswirkungen (Bandura, 1998). Handlungsergebniserwartungen können sich auf körperliche, soziale sowie selbst-evaluative Folgen beziehen.

Selbstwirksamkeitsüberzeugung (wahrgenommene Verhaltenskontrolle)

= der Glaube an das eigene Vermögen, die für das Erreichen bestimmter Ziele erforderlichen Verhaltensweisen ausführen und koordinieren zu können

Handlungsergebniserwartungen

= die physischen, sozialen oder selbst-evaluativen Auswirkungen, die aus einem bestimmten Verhalten resultieren

Die sozial-kognitive Theorie inklusive der Idee der Selbstwirksamkeitserwartung wurde von Bandura selbst auf moralisches Verhalten angewendet (Bandura, 1991) und kann demzufolge zur Erklärung aggressiven und prosozialen Verhaltens herangezogen werden. Auch die Theorie geplanten Verhaltens (Ajzen, 1991), die nicht für einen speziellen Verhaltensbereich formuliert wurde, kann zur Erklärung prosozialen Verhaltens eingesetzt werden. Eine Theorie speziell zu Hilfeverhalten, die den Selbstwirksamkeitsansatz beinhaltet, ist das normative Entscheidungsmodell des Altruismus (Schwartz & Howard, 1981). Darin erfolgt im ersten Schritt eine Einschätzung von Notlage, erforderlichen Maßnahmen sowie auch der eigenen Fähigkeiten diese auszuführen, was der Selbstwirksamkeitserwartung entspricht. Im nächsten Schritt folgt eine Abschätzung möglicher physischer, sozialer und moralischer Auswirkungen des Verhaltens, was den Klassen von Handlungsergebniserwartungen bei Bandura (1998) gleichkommt. Generell werden die Handlungsergebniserwartungen in verschiedenen Theorien prosozialen Verhaltens im Sinne von Kosten berücksichtigt. Im Erregung:Kosten-Belohnungsmodell (Dovidio et al., 1991) werden eine Vielzahl möglicher Kosten und Belohnungen für Hilfeverhalten oder unterlassene Hilfeleistung aufgeführt, die sich letztlich in die drei Kategorien von Schwartz und Howard (1981) oder Bandura (1998) einordnen lassen. Auch Batson lässt in seiner Empathie-Altruismus-Hypothese die Kosten dafür, keine Hilfe zu leisten, nicht außer Acht: Ist die empathische Anteilnahme und damit die altruistische Motivation zu helfen gering, kommt die egoistische Motivation zum Tragen, welche nur Hilfeverhalten auslöst, wenn das Nichthelfen mit hohen Kosten verbunden ist (Batson, Duncan, Ackerman, Buckley & Birch, 1981).

Hinsichtlich Alters- und Geschlechtsunterschieden deutet eine Studie mit zwei Messzeitpunkten im Abstand von fünf Jahren darauf hin, dass bei Jugendlichen die akademische und selbst-regulatorische Selbstwirksamkeitsüberzeugung insbesondere bei Jungen absinkt, welche ein generell geringeres Level als Mädchen aufweisen (Vecchio, Gerbino, Pastorelli, Del Bove & Caprara, 2007). Die soziale Selbstwirksamkeitsüberzeugung betreffend zeigten sich hingegen weder Zeit- noch Geschlechtseffekte (Vecchio et al., 2007). Laut einer anderen Studie der Forschungsgruppe erleben sich Mädchen nur in der Regulation positiver Gefühle als wirkungsvoller als Jungen, während es bei negativen Gefühlen umgekehrt ist und keine Geschlechtsunterschiede bezüglich sozialer Selbstwirksamkeit auftreten (Caprara, Steca, Gerbino, Paciello & Vecchio, 2006). Grundsätzlich ist die Forschungslage diesbezüglich allerdings äußerst heterogen: Es findet sich teils, dass Mädchen höhere Werte in sozialer Selbstwirksamkeit (Gini et al., 2008) und in Verteidiger-Selbstwirksamkeit (Peets, Pöyhönen, Juvonen & Salmivalli, 2015; Pöyhönen, Juvonen & Salmivalli, 2010) aufweisen, teils aber auch dass die Verteidiger-Selbstwirksamkeit bei Jungen höher ausgeprägt ist (Thornberg & Jungert, 2013) oder es keine Geschlechtsunterschiede gibt (Bussey, Luo, Fitzpatrick & Allison, 2020; Rigby & Johnson, 2006; Sjögren, Thornberg, Wänström & Gini, 2020; Thornberg, Wänström, Elmelid, Johansson & Mellander, 2020). Auch hinsichtlich Alterseffekten zeigen sich uneinheitliche Befunde für soziale oder verteidigungsbezogene Selbstwirksamkeit: In querschnittlichen Studien finden sich teils keine Altersunterschiede (Pöyhönen et al., 2010; Rigby & Johnson, 2006), teils eine höhere Selbstwirksamkeit bei höherem Alter (Peets et al., 2015), meist aber eine geringere (Bussey et al., 2020; Sjögren et al., 2020; Thornberg et al., 2020).

Erste empirische Hinweise für die Bedeutsamkeit von Selbstwirksamkeitserwartungen für prosoziales Verhalten liefern Untersuchungen von Bandura (1993), die Zusammenhänge zwischen prosozialem Verhalten und verschiedenen Domänen der Selbstwirksamkeit (akademisch, selbst-regulatorisch, sozial) aufzeigen. Jüngere Studien finden gleichermaßen Zusammenhänge, wobei insbesondere die Selbstwirksamkeitserwartung hinsichtlich Emotionsregulation, Beziehungsgestaltung und Einfühlungsvermögen untersucht wurden (Caprara & Steca, 2005; Caprara, Alessandri & Eisenberg, 2012; Mesurado, Vidal & Mestre, 2018). In einer Studie mit Jugendlichen über zwei Messzeitpunkte hinweg konnte eindrucksvoll das Zusammenspiel verschiedener Formen von Selbstwirksamkeit bei der Entwicklung prosozialen und delinquenten Verhaltens nachgezeichnet werden (Bandura, Caprara, Barbaranelli, Gerbino & Pastorelli, 2003): Selbstwirksamkeitsüberzeugungen in Bezug auf Emotionsregulation hatten vermittelt über Selbstwirksamkeitsüberzeugungen in Bezug auf Empathievermögen und Widerstandsfähigkeit gegen Gruppendruck einen positiven Effekt auf prosoziales Verhalten und einen negativen Effekt auf Delinquenz. Auch die wahrgenommene Verhaltenskontrolle konnte als Prädiktor für konkrete prosoziale Verhaltensweisen wie Organspenden oder ehrenamtliches Engagement bestätigt werden (Okun & Sloane, 2002; Rocheleau, 2013).

Auch die Assoziation von verteidigendem Verhalten bei Bullying mit einer hohen sozialen oder speziell auf verteidigendes Verhalten bezogenen Selbstwirksamkeitserwartung konnte in einigen Studien bestätigt werden (Gini et al., 2008; Peets et al., 2015; Pöyhönen et al., 2010, 2012; Thornberg & Jungert, 2013; Thornberg et al., 2017). In Bezug auf Cyberbullying steht eine hohe soziale Selbstwirksamkeitsüberzeugung beziehungsweise eine feste Erwartung Cyberbullying beenden zu können in Zusammenhang mit unterstützendem Verhalten (M. Clark & Bussey, 2020; DeSmet et al., 2016; Macháčková, Dedkova & Mezulanikova, 2015). Insgesamt ist die Verbindung von Verteidigen und Selbstwirksamkeitsüberzeugung also gut dokumentiert, obgleich sie in einer Studie nur für Mädchen gefunden wurde (Cappadocia et al., 2012). Darüber hinaus gibt es zwei Studien, in denen die Selbstwirksamkeitsüberzeugung nach Berücksichtigung anderer Prädiktoren keinen Vorhersagewert für das Eingreifen oder die Absicht einzugreifen hatte (Barhight, Hubbard & Hyde, 2013; Rigby & Johnson, 2006). In einer weiteren Studie gab es quer- und längsschnittliche Korrelationen zwischen Selbstwirksamkeitserwartungen und Verteidiger-Verhalten bei aggressiven Vorfällen (Barchia & Bussey, 2011b). Unter Berücksichtigung weiterer Prädiktoren war in dieser Studie zwar die persönliche Selbstwirksamkeitserwartung nicht mehr signifikant, wohl aber die kollektive Selbstwirksamkeitserwartung Aggression gemeinsam stoppen zu können (Barchia & Bussey, 2011b). Im Gegensatz zum verteidigenden Verhalten ist passives Verhalten in Bullying-Situationen mit einer geringen Selbstwirksamkeitserwartung assoziiert (Gini et al., 2008; Thornberg & Jungert, 2013; Thornberg et al., 2017). Nur eine Studie konnte diesen Zusammenhang nicht bestätigen (Pöyhönen et al., 2012). Zudem unterschieden sich bei Olenik-Shemesh et al. (2015) helfende und passive Bystander von Cyberbullying nicht in ihrer sozialen und emotionalen Selbstwirksamkeitserwartung.

Eine Klassiker-Studie zu den Kosten von Hilfeverhalten ist das Experiment von Darley und Batson (1973), in dem ein Teil der Probanden unter Zeitdruck gesetzt wurde, wodurch Helfen mit den Kosten des Zuspätkommens verbunden war. Probanden unter Zeitdruck halfen weniger. Auch neuere Studien mit hypothetischen Szenarien oder ökonomischen Spielen zeigen einen Einfluss der Kosten auf die Hilfsbereitschaft (Böhm, Theelen, Rusch & Van Lange, 2018; LaBuda, Rivarado, Fidazzo & Smith, 2015).

Eine Abwägung von Kosten oder möglichen negativen Konsequenzen ist auch im Fall von Bullying von Bedeutung. Die Angst vor Vergeltung, davor sich selbst in Gefahr oder Schwierigkeiten zu bringen, in Verruf zu kommen oder einfach nur aufzufallen wurde in vielen Studien zum Bystander-Verhalten bei Schul- und Cyberbullying von Heranwachsenden als Grund dafür genannt, dem Opfer nicht zu helfen (Chen et al., 2016; DeSmet et al., 2014; Mishna, Saini & Solomon, 2009; Olenik-Shemesh et al., 2015; Shultz et al., 2014; Slee, 1994; Van Cleemput et al., 2014; Wójcik & Mondry, 2020). Neben dem Argument der eigenen Sicherheit wurde passives Verhalten zum Teil auch mit der Unsicherheit, was zu tun sei, begründet (Bellmore et al., 2012; Van Cleemput et al., 2014), mit mangelnden Erfolgsaussichten (Cappadocia et al., 2012; Shultz et al., 2014) oder der Befürchtung es zu verschlimmern (Shultz et al., 2014). Graeff (2014) identifizierte anhand von Interviews zu hypothetischen Szenarien verschiedene Typen passiver Bystander, unter anderem solche, die aus Hilflosigkeit oder aus Sorge um sich selbst passiv bleiben. Interessanterweise ist Selbstschutz auch ein genanntes Motiv dafür beim Schikanieren mitzumachen (Bellmore et al., 2012). Als Grund dafür die Täter zu konfrontieren oder eine Lehrkraft zu informieren wurde die Zuversicht genannt, dass dies das Bullying stoppen kann (Bellmore et al., 2012).

Nur zwei quantitative Studien liegen zum Zusammenhang zwischen Bystander-Verhalten bei Bullying und Handlungsergebniserwartungen vor. Die eine zeigt, dass verteidigendes Verhalten mit einer Reihe positiver Erwartungen, wie das Wohlergehen des Opfers zu fördern oder das Schikanieren zu stoppen, sowie deren persönlicher Wertschätzung assoziiert ist (Pöyhönen et al., 2012). Hingegen ist passives Verhalten zwar auch mit einer persönlichen Wertschätzung für das Stoppen von Bullying assoziiert, gleichzeitig aber mit einer geringen Erwartung, dass dies durch verteidigendes Verhalten erreicht werden kann (Pöyhönen et al., 2012). Die andere Studie erfasste, welchen Anreize Schülerinnen und Schüler Gewicht beimaßen: Stimmten Heranwachsende zu, dass eigene Vorteile und geringe Risiken (z. B. selbst zum Opfer zu werden) Bedingung für das Intervenieren seien, wurden sie seltener als Verteidiger genannt – kein Zusammenhang zeigte sich für die Nominierungszahl für die Außenstehenden-Rolle (Pronk et al., 2016). Auf Persönlichkeitsebene zeigte sich hingegen, dass Bestrafungssensitivität (punishment sensitivity) mit passivem Verhalten einhergeht, aber nicht mit Verteidiger-Verhalten assoziiert ist (Pronk et al., 2015).

Fasst man zusammen, spielen Selbstwirksamkeitsüberzeugung und Handlungsergebniserwartungen in allgemeinen Theorien des menschlichen Verhaltens sowie in Theorien zu prosozialem Verhalten eine wichtige Rolle. Im Bystander-Intervention-Modell werden sie hingegen nicht explizit angesprochen. In Bezug auf die vierte Stufe, also der Entscheidung für eine Interventionsform, weisen die Autoren darauf hin, dass verschiedene Interventionsmöglichkeiten verschiedene Kompetenzen erfordern (Latané & Darley, 1970). Zusammengenommen mit den Ansichten von Bandura (1998) und Ajzen (1991) sollte jedoch nicht nur das tatsächliche, sondern vor allem das subjektiv wahrgenommene Vermögen sowie auch die erwarteten Konsequenzen relevant für die Interventionsentscheidung sein. Studien zu verteidigendem Verhalten bei schulischer Aggression und Bullying untermauern diese Annahme. Die wahrgenommene Selbstwirksamkeit und erwarteten Handlungsergebnisse differenzieren insbesondere zwischen passivem und helfendem Verhalten.

1.4.6 Sozial-kognitive und affektive Reaktionen bei Schul- und Cyberbullying

Wie die vorausgehenden Abschnitte zeigen, ist die Bedeutsamkeit von Empathie, Moral Disengagement, Verantwortungsbewusstsein, Selbstwirksamkeitsüberzeugungen und Handlungsergebniserwartungen für das Verhalten von Bystandern in Notsituationen theoretisch solide herleitbar und hat sich auch empirisch nachweisen lassen. Zu den meisten dieser sozial-kognitiven und affektiven Reaktionen liegen Studien vor, welche deren Zusammenhang mit helfendem oder passivem Verhalten im Fall von sowohl Bullying als auch Cyberbullying aufzeigen können. Grundsätzlich scheinen in beiden Kontexten demnach ähnliche Einflussfaktoren relevant zu sein (Domínguez-Hernández, Bonell & Martínez-González, 2018). Zu potenziellen Unterschieden zwischen den Bystander-Reaktionen im Schul- und Cyberkontext gibt es eine Vielzahl theoretischer Überlegungen, welche wiederum entlang des Bystander-Intervention-Modells organisiert werden können.

Schon das Erkennen eines Notfalls könnte online erschwert sein, weil möglicherweise nur ein Ausschnitt des Geschehens beobachtet wird, weniger Hintergrundinformationen zugänglich sind und non- oder paraverbale emotionale Cues wie Gesichtsausdruck, Haltung oder Prosodie fehlen (vgl. Runions & Bak, 2015). Diese sind hilfreich zur Differenzierung zwischen Ernst und Spaß sowie zur Einschätzung, wie gut das Opfer mit den Angriffen umgehen und selbst fertig werden kann. Im Gegensatz zu Bullying, das in einer fest zusammengesetzten Gruppe stattfindet, die regelmäßig viel Zeit zusammen verbringt, wie es bei Schulklassen der Fall ist, sollte es bei Vorfällen im digitalen Kontext schwieriger sein Schädigungsabsicht, Machtungleichgewicht und Wiederholungscharakter richtig einzuschätzen (vgl. Kazerooni et al., 2018). Hinzu kommt, dass die Aktualität des Vorfalls nicht immer klar ist (Domínguez-Hernández et al., 2018). Zusammengenommen scheint es plausibel, dass der Cyberkontext empathische Reaktionen erschwert und – wie Runions und Bak (2015) es ausdrücken – Affordanzen für Moral Disengagement bietet. Sind zugefügter Schmerz und Schaden nicht unmittelbar erkennbar, entsteht eine emotionale Lücke (emotional gap), welche affektiv-empathische Reaktionen hindert und ermöglicht, die Konsequenzen des aggressiven Verhaltens zu verkennen, herunterzuspielen und zu beschönigen – beispielsweise als Spaß darzustellen (Runions & Bak, 2015). Der Mangel an emotionalen Hinweisreizen, welche menschliche Wesen in besonderer Weise auszeichnen, kommt laut Runions und Bak (2015) einer strukturellen Dehumanisierung gleich. Hinzu kommt, dass mehrdeutige Inhalte eher als feindselig interpretiert und so zur Rechtfertigung des eigenen aggressiven oder passiven Verhaltens angeführt werden können und die Schuld so dem Opfer zugewiesen werden kann (Runions & Bak, 2015).

Auch die Verantwortungsübernahme kann im Online-Kontext vermindert sein. Zum einen ist an dieser Stelle die Verantwortungsdiffusion durch die große Anzahl an Mit-Bystandern anzuführen, welche intervenierende Verhaltensweisen hemmt (Obermaier et al., 2015). Gerade im Online-Kontext kann es schwer sein einzuschätzen, ob andere Bystander eingreifen werden, da kein Blickkontakt aufgebaut werden kann. Zudem sind die für das Verantwortungsgefühl relevanten persönlichen Beziehungen im Online-Kontext oftmals nicht gegeben oder möglicherweise auch weniger salient. Weiterhin müssen im Online-Kontext oftmals anonyme oder unsichtbare Zeugen keine sozialen Sanktionen für das Nicht-Eingreifen befürchten (Wong-Lo & Bullock, 2014) und nicht fürchten, verantwortlich gemacht zu werden. Zum anderen kann auch die Verantwortung für schädigende Verhaltensweisen zwischen vielen Tätern aufgeteilt und die Hauptverantwortung an die ursprünglichen Urheber eines verletzenden Inhaltes, den man selbst nur kommentiert, geteilt oder weitergeleitet hat, abgeschoben werden (Runions & Bak, 2015). In diesem Zusammenhang sind auch das Konzept der Deindividuation sowie der Online-Disinhibition-Effekt zu nennen. Deindividuation beschreibt das Phänomen, dass unter Bedingungen der Anonymität und des Untergehens in der Gruppe „nicht-normative“ Verhaltensweisen enthemmt werden (Postmes & Spears, 1998; Spears, Postmes, Lea & Wolbert, 2002). Dies wurde ursprünglich auf eine geringere Eigenwahrnehmung und verminderte soziale Reguliertheit zurückgeführt (Postmes & Spears, 1998; Spears et al., 2002). Forschung zum SIDE-Modell (social identity model of deindividuation effects) zeigt jedoch auf, dass unter deindividualisierten Umständen gerade die Orientierung an lokalen Gruppennormen zunimmt, welche aber oftmals allgemeine gesellschaftliche Verhaltensstandards verletzen (Postmes & Spears, 1998). Herrscht in einem Kontext – wie beispielsweise in sozialen Medien – also eine dissoziale Verhaltensnorm, führen Anonymität und eine große Gruppengröße dazu, dass diese dissozialen Normen einen stärkeren Einfluss als die prosozialen gesellschaftlichen Normen haben. Ähnlich könnten auch lokale passive Gruppennormen wirksam werden. Der Online-Disinhibition-Effekt geht ebenfalls davon aus, dass Besonderheiten des Online-Kontexts, wie Anonymität, Unsichtbarkeit, Asynchronität, verminderte Realitätswahrnehmung und verminderter Autoritäteneinfluss Verhalten im Allgemeinen und speziell auch dissoziales Verhalten enthemmen können (Suler, 2004). Für beide theoretische Ansätze – Deindividuation und Online-Disinhibition – könnte eine verminderte persönliche Verantwortungswahrnehmung eine Rolle spielen.

Hinsichtlich der Selbstwirksamkeitserwartung etwas gegen das Bullying tun zu können und den damit verbundenen Handlungsergebniserwartungen, sind gegensätzliche Argumentationsstränge möglich. Einerseits bietet der Cyberspace mit seiner möglichen Anonymität und Unsichtbarkeit sowie der physischen Distanz nicht nur Tätern, sondern auch potenziellen Verteidigern technische Möglichkeiten und eine gewisse Macht, dem Opfer zu helfen und sich selbst zu schützen (Wong-Lo & Bullock, 2014). Andererseits könnten Täter aufgrund ihrer Reichweite als übermächtig wahrgenommen und eigene Einflussmöglichkeiten gering eingeschätzt werden. Auch das Risiko der Vergeltung könnte vor diesem Hintergrund besonders ängstigend sein.

Obgleich eine Vielzahl theoretischer Annahmen zu potenziellen Auswirkungen des Online-Kontexts auf Bystander-Reaktionen vorliegen, wurden oftmals nur einzelne Aspekte tatsächlich empirisch überprüft. Direkte Vergleiche zwischen Online- und Offline-Kontext liegen kaum vor. Das Verhalten von Bystandern betreffend, fand eine experimentelle Studie, dass sich Zeugen in der Online-Bedingung häufiger für negative Verhaltensoptionen entschieden als in der Face-to-Face-Bedingung (Barlińska et al., 2013). Bei einer Befragung von Opfern berichteten diese hingegen ähnliche Raten an sowohl positiven als auch negativen Bystander-Verhaltensweisen für Online- und Offline-Schikanen (Jones et al., 2015). Tiefeninterviews bestätigen, dass Jugendliche Unterschiede zwischen Aggression im Cyber- und Schulkontext als relevant für das Bystander-Verhalten sehen (Patterson, Allan & Cross, 2016). So wurde unter anderem genannt, dass ohne physische Präsenz und Körpersprache die Situation schwer zu verstehen und schwer zu entscheiden sei, was zu tun ist. Zudem sei es im Cyberkontext leichter Vorfälle zu ignorieren und keine Verantwortung zu übernehmen. Außerdem wurde angeführt, dass es online weniger klare Regeln und damit verbunden auch weniger Instanzen gibt, an die sich Jugendliche wenden können und die negative Verhaltensweisen daraufhin wirkungsvoll sanktionieren. Das Eingreifen im Online-Kontext schien Jugendlichen daher verglichen mit dem Schulkontext mit mehr eigenem Aufwand verbunden. Andererseits bedarf eine Konfrontation der Täter von Angesicht zu Angesicht mehr Mut und Selbstbewusstsein als es bei schriftlichen Reaktionen im Online-Kontext der Fall ist. Diese Befunde von Patterson et al. (2016) deuten auf Unterschiede hinsichtlich der sozial-kognitiven und affektiven Reaktionen zwischen beiden Kontexten. Quantitative Überprüfungen liegen bislang offenbar nicht vor.

1.5 Forschungsstand zur Charakterisierung der Rollen

Nachdem in den vorangegangenen Kapiteln die Phänomene Schul- und Cyberbullying beschrieben und die verschiedenen Rollen oder Verhaltensmuster im Bullying-Geschehen eingeführt wurden sowie ein Zusammenhang mit sozial-kognitiven und affektiven Reaktionen hergestellt wurde, soll es in diesem Kapitel nun darum gehen, die verschiedenen am Bullying-Prozess beteiligten Rollen prägnant zu charakterisieren. Hierbei sollen Zusammenhänge mit Geschlecht, Alter, schulischem Leistungsniveau und soziometrischem Status (siehe Infobox) aufgezeigt werden sowie assoziierte sozial-kognitive und affektive Reaktionen beleuchtet werden. Dazu werden zum Teil die in vorausgehenden Kapiteln dargestellten Befunde wieder aufgegriffen, zusammengefasst und ergänzt, um so eine klare Grundlage für die Herleitung der Hypothesen darzustellen.

Infobox

Soziometrie ist die Erhebung, Darstellung und Analyse interpersoneller Beziehungen (Dollarse, 2020).

Der soziometrische Status (Coie, Dodge & Coppotelli, 1982; Parkhurst & Hopmeyer, 1998) ergibt sich aus den unabhängigen Dimensionen der sozialen Akzeptanz oder Zuneigung (social acceptance oder liking, erfasst durch „liked most“-Nominierungen) und der sozialen Ablehnung oder Abneigung (social rejection oder dislike, erfasst durch „liked least“-Nominierungen). Diese können wiederum zu den Konstrukten soziale Präferenz (social preference = „liked most“ minus „liked least“) und sozialer Impakt (social impact = „liked most“ plus „liked least“) kombiniert werden. Auch lassen sich fünf Statusgruppen bilden: soziometrisch Beliebte (popular, hohe Zuneigung und geringe Ablehnung), soziometrisch Abgelehnte (rejected, geringe Zuneigung und hohe Ablehnung), Kontroverse (controversial, hohe Zuneigung und hohe Ablehnung), Unbeachtete (neglected, geringe Zuneigung und geringe Ablehnung) sowie Durchschnittliche (average, durchschnittliche Zuneigung und Ablehnung).

Von der soziometrischen Beliebtheit (sociometric popularity) abzugrenzen ist die wahrgenommene Beliebtheit oder Popularität (perceived popularity), also inwiefern eine Person in der Peer-Gruppe als beliebt gilt oder anders gesagt den Ruf hat, beliebt zu sein (Parkhurst & Hopmeyer, 1998).

1.5.1 Opfer von Bullying

Die Opfer von Bullying sind diejenigen Mitglieder einer Gruppe, die über einen langen Zeitraum hinweg immer wieder systematisch angegriffen werden und sich nicht effektiv dagegen zur Wehr setzen können. Durch welche Merkmale zeichnen sich diese Individuen aus? Großangelegte Studien wie die HBSC-Studie (Inchley et al., 2016) und die PISA-Studie (OECD, 2017, 2019) sowie eine Metaanalyse (Cook, Williams, Guerra & Kim, 2010) zeigen, dass Jungen allgemein häufiger Opfer von Schulbullying werden als Mädchen, obgleich dies je nach Bullyingform variieren kann (OECD, 2017, 2019; Scheithauer et al., 2006). Die neuste HBSC-Studie findet keinen generellen Geschlechtsunterschied hinsichtlich Viktimisierung (Inchley et al., 2020). In den Ländern, in denen ein signifikanter Geschlechtsunterschied vorliegt, sind bis auf eine Ausnahme Jungen stärker betroffen (Inchley et al., 2020). Hinsichtlich der Cyberviktimisierung ist die Forschungslage zu Geschlechtsunterschieden deutlich heterogener (Inchley et al., 2016). Sofern überhaupt Geschlechtsunterschiede gefunden werden scheinen es hier jedoch die Mädchen zu sein, die häufiger zum Opfer werden (S. Guo, 2016; Inchley et al., 2020; R. M. Kowalski et al., 2014; Tokunaga, 2010).

Die Zahl der Opfer von Schulbullying scheint mit zunehmendem Alter beziehungsweise in den höheren Klassenstufen abzunehmen (Inchley et al., 2016; Inchley et al., 2020; Scheithauer et al., 2006), obgleich eine Metaanalyse keinen Alterseffekt finden konnte (Cook, Williams, Guerra, Kim & Sadek, 2010). Auch hinsichtlich Cyberviktimisierung wurde metaanalytisch kein Zusammenhang mit dem Alter gefunden (S. Guo, 2016; R. M. Kowalski et al., 2014), was daran liegen könnte, dass der Zusammenhang geschlechtsspezifisch und möglicherweise nicht linear ist, sondern die Cyberviktimisierung ihren Höhepunkt in der mittleren Jugend hat (Inchley et al., 2020; Tokunaga, 2010).

Der Status in der Peer-Gruppe erwies sich in der Metaanalyse von Cook, Williams, Guerra, Kim und Sadek (2010) als stärkster Prädiktor für die Viktimisierung. Auch eine Reihe von Peer-Nominierungsstudien, die sich dezidiert mit Bullying befassen, bekräftigen, dass die Opfer von Bullying einen geringen soziometrischen Status in der Klassenhierarchie haben, das heißt von wenigen Klassenkameraden gemocht und von vielen abgelehnt werden (Goossens et al., 2006; Herrmann, 2010; Knauf et al., 2017; Pouwels et al., 2016; Salmivalli et al., 1996; Schäfer & Korn, 2004a). Weiterhin klärten einige Studien auf, dass neben der soziometrischen Beliebtheit oder der sozialen Akzeptanz ferner die wahrgenommene Popularität der Opfer gering ist: Die Opfer von Bullying gelten in der Klasse als unbeliebt oder nicht beliebt (Bruyn, Cillessen & Wissink, 2010; Olthof et al., 2011; Pouwels et al., 2016; Sijtsema, Veenstra, Lindenberg & Salmivalli, 2009). Weniger umfangreich und weniger eindeutig ist die Forschungslage zu Cyberviktimisierung. Zwar scheinen sich Cyberopfer weniger beliebt zu fühlen (Katzer et al., 2009b; Vandebosch & Van Cleemput, 2009), doch gibt es auch Studien, in denen positive Zusammenhänge von Viktimisierung mit der peer-eingeschätzten Popularität gefunden wurden (Badaly, Kelly, Schwartz & Dabney-Lieras, 2013; Badaly, Duong, Ross & Schwartz, 2015). Auch zeigten sich im Gegensatz zu Befunden zur Offline-Viktimisierung positive Assoziationen mit sozialer Akzeptanz (Badaly et al., 2013). Wiederum im Einklang mit der Offline-Viktimisierungsforschung stehen Befunde, die positive Zusammenhänge von Cyberviktimisierung mit sozialer Ablehnung (Badaly et al., 2015) oder ein erhöhtes Risiko der Cyberviktimisierung bei einer geringen Zahl erhaltener Freundschaftsnominierungen zeigen (Festl, Scharkow & Quandt, 2013).

Hinsichtlich schulischer Leistungen fand eine Metaanalyse (Cook, Williams, Guerra, Kim & Sadek, 2010) keinen, eine andere Metaanalyse (Nakamoto & Schwartz, 2010) hingegen einen schwach negativen Zusammenhang mit Peer-Viktimisierung. Ebenso gegensätzlich sind die Befunde speziell zu Cyberviktimisierung: Eine Metaanalyse fand einen Zusammenhang mit Schulleistungsproblemen (Gardella, Fisher & Teurbe-Tolon, 2017), eine andere hingegen keine signifikante Assoziation zwischen Cyberviktimisierung und akademischer Leistung (R. M. Kowalski et al., 2014). Studien, die einen Zusammenhang zwischen Viktimisierung und Schulleistung finden, stehen im Einklang mit einer Metaanalyse, die nachweisen konnte, dass Bildungserfolg positiv mit sozialer Akzeptanz zusammenhängt (Wentzel, Jablansky & Scalise, 2020): Bei den wenig gemochten Opfern sind dementsprechend schwache schulische Leistungen zu erwarten. Dafür, dass leistungsschwächere Schülerinnen und Schüler mit größerer Wahrscheinlichkeit Opfer von Bullying werden, sprechen auch die Befunde der PISA-Studien (OECD, 2017, 2019). In einer jüngeren Längsschnittstudie erwies sich Cyberviktimisierung zudem – neben Cybertäterschaft und über Face-to-Face-Viktimisierung und -Täterschaft hinaus – als prädiktiv für spätere schulische Leistungen (Wright, 2015). All diese leistungsbezogenen Studien differenzieren allerdings nicht eindeutig zwischen den Opfern von Bullying und den Opfern von Peer-Aggression im allgemeineren Sinne. Die Schulleistungen Peer-nominierter Opfer von Schulbullying lagen in einer großangelegten deutschen Studie im Mittelfeld und fielen nicht schlechter aus als jene von Klassenkameraden ohne klare Rolle (Knauf et al., 2017).

Die sozial-kognitiven und affektiven Reaktionen, welche zentral für die vorliegende Arbeit sind und vielfach mit Bystander-Verhalten in Verbindung gebracht wurden, wurden in manchen Studien auch bei Opfern untersucht. Der Review-Artikel von Van Noorden et al. (2015) kommt zum Schluss, dass Viktimisierung negativ mit kognitiver Empathie assoziiert ist, jedoch keine klare Assoziation mit affektiver Empathie besteht. Metaanalytisch zeigt sich kein signifikanter Zusammenhang zwischen Cyberviktimisierung und Empathie (R. M. Kowalski et al., 2014; Zych, Baldry et al., 2019), dahingegen aber ein positiver Zusammenhang mit Moral Disengagement (R. M. Kowalski et al., 2014). Möglicherweise könnte dieser durch Überschneidungen mit der Täterschaft bei Schulbullying erklärt werden. Wird für das Bullying-Verhalten kontrolliert ist schulische Viktimisierung nicht mit Moral Disengagement assoziiert (Obermann, 2011b; Thornberg & Jungert, 2014). Eine aktuelle Metaanalyse deckt auf, dass Cyberviktimisierung stärker mit Moral Disengagement assoziiert ist als schulische Viktimisierung (Killer, Bussey, Hawes & Hunt, 2019). In einer Studie mit Grundschulkindern war des Weiteren die allgemeine Selbstwirksamkeitserwartung sowie ihre drei Subkomponenten (sozial, akademisch, emotional) negativ mit Viktimisierung korreliert, jedoch bei Berücksichtigung von Geschlecht und emotionaler Intelligenz nicht prädiktiv (Kokkinos & Kipritsi, 2012). Studien speziell zur Verteidiger-Selbstwirksamkeit sowie zu Verantwortungsgefühl und Handlungsergebniserwartungen von Opfern sind nicht bekannt.

Opfer von Schulbullying

sind öfter männlich, sind häufiger in der frühen Jugend zu finden, werden von wenigen Mitschülern gemocht und von vielen abgelehnt, haben eine geringe Popularität und zeigen tendenziell schlechtere schulische Leistungen.

Opfer von Cyberbullying

sind tendenziell öfter weiblich, scheinen einen kontroversen Status zu haben und zeigen schlechtere schulische Leistungen.

1.5.2 Bullying-Täter

Wer aktiv an den systematischen Schikanen eines unterlegenen Opfers beteiligt ist, wird als Bully oder als Täter bezeichnet. Sofern eine Abgrenzung zwischen anführenden, initiierenden Tätern (ringleader-bullies) und – teils ebenfalls aktiven – Mitläufern möglich ist, geht es im Folgenden vornehmlich um erstere. Im Geschlechtervergleich treten Jungen relativ konsistent häufiger als Täter in Erscheinung als Mädchen (Cook, Williams, Guerra, Kim & Sadek, 2010; Inchley et al., 2016; Inchley et al., 2020; Mitsopoulou & Giovazolias, 2015; Scheithauer et al., 2006). Zu diesem Ergebnis kommen auch Peer-Nominierungs-Studien (Goossens et al., 2006; Olthof et al., 2011; Pouwels et al., 2016; Salmivalli et al., 1996; Salmivalli et al., 1998; Salmivalli & Voeten, 2004; Schäfer & Korn, 2004a). Für Cyberbullying scheint dies jedoch nur bedingt zu gelten, da es auch einige Studien gibt, in denen Mädchen häufiger als Täter identifiziert wurden oder kein Geschlechtsunterschied bestand, was möglicherweise mit dem moderierenden Effekt des Alters (Barlett & Coyne, 2014) oder aggressionstypspezifischen Geschlechtseffekten (Vanden Abeele & Cock, 2013) erklärt werden kann. Metaanalytisch und in der jüngsten HBSC-Studie zeigt sich die generelle Assoziation zwischen Täterschaft und männlichem Geschlecht jedoch auch im Bereich Cyberbullying (S. Guo, 2016; Inchley et al., 2020).

Was das Alter anbelangt so finden Metaanalysen schwach positive Zusammenhänge mit Bullying (Cook, Williams, Guerra, Kim & Sadek, 2010) und Cyberbullying (S. Guo, 2016; R. M. Kowalski et al., 2014), eine andere Metaanalyse hingegen eine negative Assoziation zwischen Alter und Bullying (Mitsopoulou & Giovazolias, 2015). Zugleich gibt es Hinweise dafür, dass die meisten Schul-Bullies in den mittleren Klassenstufen der weiterführenden Schule vertreten sind (Scheithauer et al., 2006), was möglicherweise für einen nicht-linearen Entwicklungsverlauf spricht. Auch die Befunde der HBSC-Studie deuten darauf hin, dass Bullying am stärksten in der Gruppe der 15-Jährigen auftritt, während der Höhepunkt der Cybertäterschaft bei Mädchen schon bei 13 Jahren liegt (Inchley et al., 2020).

Der Status unter Gleichaltrigen erwies sich in der Metaanalyse von Cook, Williams, Guerra, Kim und Sadek (2010) als der schwächste, aber nichtsdestoweniger signifikanter Prädiktor für Bullying. Die Arbeitsgruppe fand weiterhin, dass nur im Kindesalter, nicht aber im Jugendalter, ein signifikant negativer Zusammenhang zwischen Status und Bullying-Verhalten bestand. Die geringe Ausprägung des Zusammenhangs kann möglicherweise weiterhin damit erklärt werden, dass zum einen zwischen soziometrischer Beliebtheit, sozialer Akzeptanz und wahrgenommener Popularität differenziert werden muss und dass zum anderen die Zusammenhänge teils geschlechtsspezifisch sind. Im Großen und Ganzen ergibt sich – auch bei der Untersuchung von Jugendlichen – das Bild, dass die Täterschaft bei Schulbullying mit einer geringen sozialen Akzeptanz (Caravita, Di Blasio & Salmivalli, 2009) beziehungsweise mit sozialer Ablehnung (Goossens et al., 2006; Pouwels et al., 2016; Salmivalli et al., 1996; Sijtsema et al., 2009), gleichzeitig aber auch mit einer hohen wahrgenommenen Popularität einhergeht (Caravita et al., 2009; Duffy, Penn, Nesdale & Zimmer-Gembeck, 2017; Olthof et al., 2011; Pouwels et al., 2016; Sijtsema et al., 2009). Der Zusammenhang zwischen Bullying und geringer soziometrischer Beliebtheit ist dabei bei Mädchen besonders stark ausgeprägt, während der Zusammenhang zwischen Bullying und hoher Popularität vor allem bei Jungen stark ausgeprägt ist (Caravita et al., 2012). Schul-Bullies zeigen in manchen Studien auch ein kontroverses Profil (Goossens et al., 2006), das heißt sie werden von vielen abgelehnt und zugleich von vielen gemocht. Dies trifft bei Salmivalli et al. (1996) insbesondere auf weibliche Täter zu, die sowohl überdurchschnittliche Akzeptanzwerte als auch überdurchschnittliche Ablehnungswerte aufweisen. Interessant ist auch der Vergleich mit den anderen Rollen: So werden Bullies nicht weniger gemocht als Verteidiger und Außenstehende (Pouwels et al., 2016), jedoch genauso stark abgelehnt wie Opfer (Pouwels et al., 2016; Sijtsema et al., 2009). Über drei Messzeitpunkte hinweg zeigte sich, dass Heranwachsende mit einem hohen Bullying-Niveau auch ein hohes Niveau an Popularität und ein mittleres Niveau an sozialer Akzeptanz hatten (Reijntjes et al., 2013).

Auch in Hinblick auf Cyberbullying beziehungsweise Cyberaggression zeigen viele Studien eine Assoziation zwischen Täterschaft und hoher Popularität (Badaly et al., 2013; Badaly et al., 2015; Vanden Abeele & Cock, 2013; Wegge, Vandebosch, Eggermont & Pabian, 2016; Wright, 2014). Eine Studie bestätigt diesen Zusammenhang nicht (Festl, Scharkow & Quandt, 2015). Des Weiteren gibt es Studien, in denen die Cybertäterschaft positiv mit soziometrischer Beliebtheit zusammenhängt (Badaly et al., 2013; Festl et al., 2015). Andere hingegen zeigen, dass Cybertäterschaft mit geringer sozialer Akzeptanz oder mit Ablehnung verknüpft ist (Badaly et al., 2015; Vanden Abeele & Cock, 2013; Wright & Li, 2013; Wright, 2014). Eine Studie findet keine Assoziation mit Akzeptanz und Ablehnung (Calvete, Orue, Estévez, Villardón & Padilla, 2010). Die Freundschaftsverhältnisse (Freundeszahl, Anzahl erhaltener Freundschaftsnominierungen, selbstberichtete Leichtigkeit Freunde zu finden) scheinen irrelevant für die Wahrscheinlichkeit zum Cybertäter zu werden (Festl et al., 2013; Vandebosch & Van Cleemput, 2009; J. Wang, Iannotti & Nansel, 2009).

Nicht nur die Opfer von Bullying wurden in Bezug auf ihre schulischen Leistungen untersucht – auch die Täterschaft bei Schul- und Cyberbullying scheint mit Leistungsdefiziten einherzugehen (Cook, Williams, Guerra, Kim & Sadek, 2010; R. M. Kowalski et al., 2014). Interessant sind dazu auch zwei jüngere Studien, von denen die eine Peer-nominierte Cyberaggression mit schlechterer Schulleistung (Notenschnitt sowie standardisierter Leistungstest) in Zusammenhang bringt (Badaly et al., 2015) und die andere Cyberaggression in Kombination mit Cyberviktimisierung erfolgreich zu Vorhersage späterer Schulleistung heranzieht (Wright, 2015).

Wie bereits in Abschnitt 1.4.2 dargestellt ist Empathiemangel ein charakteristisches Merkmal der Bullying-Täter. Der Review-Artikel von Van Noorden et al. (2015), welcher Schul- und Cyberbullying berücksichtigt, arbeitet heraus, dass die meisten Studien zu diesem Thema eine negative Assoziation zwischen Bullying und Empathie aufweisen. Teils zeigt sich der Zusammenhang jedoch nur für eine Teilstichprobe, zum Beispiel nur ein Geschlecht oder nur eine Altersgruppe, wobei sich allerdings kein einheitliches Muster ergibt. Des Weiteren scheint der Zusammenhang spezifisch für die Art der Empathie: Einheitlicher ist die Befundlage diesbezüglich für affektive Empathie beziehungsweise empathische Anteilnahme, während hinsichtlich kognitiver Empathie häufiger kein Zusammenhang und vereinzelt sogar ein positiver Zusammenhang gefunden wurde. Dies mag unter anderem daran liegen, dass die Perspektivenübernahme erst zu manch relationalen und verbalen Formen von Bullying befähigt (Sutton et al., 1999) und unterschiedliche Arten von Bullying dementsprechend unterschiedlich mit kognitiver Empathie verknüpft sein könnten. Neuere Metaanalysen haben die Assoziation von Täterschaft mit geringer Empathie für Schulbullying (Mitsopoulou & Giovazolias, 2015; Zych, Ttofi & Farrington, 2019) sowie für Cyberbullying (Zych, Baldry et al., 2019) bestätigt.

Darüber hinaus geht Bullying-Verhalten mit Moral Disengagement einher (siehe Abschnitt 1.4.3). Dies gilt wie Metaanalysen zeigen gleichermaßen für Schul- und für Cyberbullying (Gini et al., 2014; Killer et al., 2019). Die Metaanalyse von Killer et al. (2019) deckt allerdings auf, dass der Zusammenhang zwischen Moral Disengagement und Bullying-Verhalten stärker ausgeprägt ist, je höher der Anteil weiblicher Teilnehmer ist und dass er bei selbstberichtetem im Gegensatz zu Peer-nominierten Bullying-Verhalten höher ausfällt. Studien, die nicht zwischen Schul- und Cyberbullying differenzieren, bestätigen den Einfluss von Moral Disengagement auf Bullying auch längsschnittlich (Sticca & Perren, 2015; C. Wang et al., 2017). Doch auch bei separater Betrachtung untermauern aktuelle Studien die Relevanz von Moral Disengagement für Schulbullying (Kokkinos & Kipritsi, 2018; Thornberg et al., 2019) wie auch für Cyberbullying (Bussey, Fitzpatrick & Raman, 2015; X. Wang et al., 2016). Spannend sind an dieser Stelle Studien, die zeigen, dass die Verbindung zwischen Empathiedefiziten und Bullying teils durch Moral Disengagement mediiert wird (Kokkinos & Kipritsi, 2018; Zych & Llorent, 2019).

Inwiefern sich die Täter von Schul- oder Cyberbullying selbst in der Verantwortung sehen, das Bullying zu beenden beziehungsweise zu einem Bullying-freien Miteinander beizutragen ist empirisch bislang nicht untersucht, allerdings sprechen schwach ausgeprägte moralische Emotionen (Mazzone et al., 2016; Perren & Gutzwiller-Helfenfinger, 2012) für ein geringes Verantwortungsbewusstsein. Ebenso ist nichts darüber bekannt, ob sich Schul- oder Cyberbullies selbst zutrauen würden, das Bullying zu beenden. Sofern Untersuchungen der Selbstwirksamkeit von Tätern vorliegen, betrachten diese speziell die Selbstwirksamkeitserwartung zu Bullying-Handlungen (Bussey et al., 2015) oder die Bereiche der akademischen, emotionalen und sozialen Selbstwirksamkeitserwartung (Kokkinos & Kipritsi, 2012). Letztere Studie fand nur eine bivariate negative Korrelation zwischen Bullying und akademischer, nicht aber emotionaler oder sozialer Selbstwirksamkeit (Kokkinos & Kipritsi, 2012).

Täter bei Schulbullying

sind öfter männlich, häufiger in der mittleren bis späten Jugend zu finden, werden von vielen Mitschülern abgelehnt, erzielen jedoch eine hohe Popularität und teils ein kontroverses Statusprofil, erbringen schlechtere schulische Leistungen, sind wenig empathisch und praktizieren Moral Disengagement.

Täter bei Cyberbullying

sind öfter männlich, häufiger in der mittleren bis späten Jugend zu finden, erzielen eine hohe Popularität, erbringen schlechtere schulische Leistungen, sind wenig empathisch und praktizieren Moral Disengagement.

1.5.3 Pro-Bullying-Bystander

Als Pro-Bullying-Rollen werden oftmals all jene Verhaltensmuster zusammengefasst, die aktiv an den Schikanen beteiligt sind oder diese befördern (Knauf et al., 2017; Pouwels, Salmivalli et al., 2018; Sutton & Smith, 1999). An dieser Stelle sollen nun – nachdem die Rolle des anführenden Bullying-Täters bereits eingehend inspiziert wurde – auch die Mitläufer, das heißt die Assistenten und Verstärker, charakterisiert und soweit wie möglich eine Differenzierung vorgenommen werden. Wie bei der Täter-Rolle zeigt auch bei der Assistenten- und Verstärker-Rolle der Geschlechtervergleich, dass diese Rollen häufiger von Jungen vertreten werden (Olthof et al., 2011; Pouwels et al., 2016; Salmivalli et al., 1996; Salmivalli et al., 1998; Salmivalli & Voeten, 2004; Schäfer & Korn, 2004a). Ebenso, wenn Assistenten und Verstärker zu Anhängern zusammengefasst (Goossens et al., 2006) oder Täter, Assistenten und Verstärker gemeinsam als Pro-Bullying-Akteure analysiert werden (Herrmann, 2010; Knauf et al., 2017). Auch im Selbstbericht geben Jungen häufiger als Mädchen an bei Bullying Täter und Mitläufer zu sein (Demaray, Summers, Jenkins & Becker, 2016). Hinsichtlich negativem Bystander-Verhalten bei Cyberbullying ist die Befundlage wieder weniger eindeutig: Zwar gibt es einzelne Studien, in denen Jungen häufiger berichten beim Cyberbullying mitzumachen (Cao & Lin, 2015; Quirk & Campbell, 2015) oder bei hypothetischen Szenarien öfter angeben, sie würden den Cyberbully verstärken (Bastiaensens et al., 2014), doch gibt es auch einige Studien, in denen sich keine Geschlechtsunterschiede hinsichtlich Verstärken (Macháčková & Pfetsch, 2016), Assistieren (Wachs, 2012) oder Mitmachen (Bastiaensens et al., 2016; Van Cleemput et al., 2014) im Cyberspace zeigten. Auch die Absicht herabwürdigende Inhalte öffentlich zu machen oder weiterzuleiten unterschied sich im experimentellen Setting nicht zwischen Jungen und Mädchen (Barlińska et al., 2013). In einer weiteren Studie war das Geschlecht für negatives Cyberbystander-Verhalten (verstärkendes aber auch passives Verhalten) nur marginal signifikant, wenn weitere Prädiktoren berücksichtigt wurden (DeSmet et al., 2016).

Zu den Mitläufer-Rollen liegen wenig stichhaltige Erkenntnisse hinsichtlich Alterseffekten in der Jugend vor. Die Befundlage ist äußerst heterogen. Die Daten von Salmivalli et al. (1998) zeigen von der sechsten zur achten Klassenstufe einen deskriptiven Anstieg von sowohl Bully- als auch Assistentenzahlen, während die Verstärkerzahlen tendenziell leicht zurückgehen. Demgegenüber steht der Befund einer leicht positiven Korrelation zwischen Alter und selbstberichtetem Verstärker-Verhalten (Thornberg et al., 2020). In einer anderen Selbstberichtstudie weisen Achtklässler jedoch nur auf der Bully-Skala, nicht aber der Assistenten-Skala höhere Werte auf als Sechstklässler (Demaray et al., 2016). Dem entgegen steht eine Studie, in der die Pro-Bullying-Rolle in den neunten Klassen seltener ist als in den sechsten (Knauf et al., 2017) und zwei Studien, in denen Alter in einer Spanne von 10 bis 15 Jahren negativ mit verstärkendem Verhalten zusammenhängt (Bjärehed et al., 2020; Sjögren et al., 2020). Schließlich gibt es auch Hinweise, dass die Alterseffekte geschlechtsspezifisch sind. So gab es in der Gesamtstichprobe von Pouwels et al. (2018) keinen Unterschied zwischen Grundschule (Klassen 4–6) sowie unteren (Klassen 7–8) und höheren (Klassen 9–11) Stufen der weiterführenden Schule. Wohl aber zeigte sich, dass die Anzahl weiblicher Pro-Bullying-Akteure an weiterführenden Schulen höher als an der Grundschule war. Innerhalb der Stufen vier bis sechs besteht in einer anderen Studie hingegen ein positiver Zusammenhang zwischen Alter und verstärkendem Verhalten nur bei Jungen (Salmivalli & Voeten, 2004). Im Kontext von Cyberbullying zeigen die meisten Studien mit Jugendlichen keinen Alterseffekt auf antisoziales Bystander-Verhalten wie Mitmachen oder Verstärken (Bastiaensens et al., 2016; Cao & Lin, 2015; DeSmet et al., 2016; Macháčková & Pfetsch, 2016). Nur in der Untersuchung von Van Cleemput et al. (2014) gaben ältere Jugendliche eher an beim Cyberbullying mitzumachen.

Im Vergleich zu den anführenden Tätern ist der soziometrische Status der Mitläufer-Rollen gemäßigter, in dem Sinne, dass sie eher im Durchschnitt liegen, weniger abgelehnt oder mehr gemocht werden als die anführenden Täter (Goossens et al., 2006; Pouwels et al., 2016; Schäfer & Korn, 2004b). Dies gilt in der Studie von Salmivalli et al. (1996) nur für die männlichen Assistenten und Verstärker, während die weiblichen Mitläufer sogar weniger gemocht werden als die Haupttäterinnen. Die Popularität der Mitläufer scheint annähernd so hoch wie die der Täter (Olthof et al., 2011; Pouwels et al., 2016). Werden die Pro-Bullying-Rollen undifferenziert ausgewertet zeigt sich ein ähnliches Muster: Pro-Bullying-Akteure werden oft als gemocht, aber auch oft als abgelehnt nominiert (Knauf et al., 2017), liegen in puncto soziometrischer Beliebtheit im Mittelfeld und werden als sehr populär wahrgenommen (Pouwels, Salmivalli et al., 2018; Pouwels, Van Noorden et al., 2018). Zum soziometrischen Status von Cyberbystandern, die mitmachen oder das Bullying verstärken, liegen keine quantitativen Befunde vor. In Fokusgruppeninterviews zu Cyberbullying werden Verstärker abgewertet und ihr Verhalten damit erklärt, dass sie versuchen sich anzupassen und akzeptiert zu werden (DeSmet et al., 2014).

Zu den schulischen Leistungen der Assistenten und Verstärker liegt so gut wie keine Forschung vor. In einer Peer-Nominierungs-Studie zu schulischem Bullying erbringen Pro-Bullying-Akteure – also Täter, Assistenten und Verstärker gemeinsam erfasst – unterdurchschnittliche Leistungen (Knauf et al., 2017). Es sind keine Untersuchungen der Schulnoten von Verstärkern oder Mitläufern von Cyberbullying bekannt.

Relativ einheitlich zeigt sich die Forschungslage zur Empathie der Pro-Bullying-Bystander. Selbstberichtetes Assistenten-Verhalten ist negativ mit Empathie korreliert (Demaray et al., 2016). Des Weiteren ist Pro-Bullying-Verhalten von Bystandern (Assistieren und Verstärken zusammengefasst) auch negativ mit der basalen moralischen Sensitivität (basic moral sensitivity) assoziiert, welche umfasst, das Leid des Opfers zu erkennen und Mitleid zu haben (Thornberg & Jungert, 2013). Werden alle Pro-Bullying-Akteure inklusive der Täter zusammengefasst, zeigt sich ebenfalls eine negative Assoziation mit empathischer Anteilnahme und Perspektivenübernahme. Über ein Schulhalbjahr hinweg sagt ein geringes Empathielevel Pro-Bullying-Verhalten im Kontext von Schulbullying vorher, eine bivariate negative Korrelation zeigt sich hier jedoch nur für Mädchen (Troop-Gordon et al., 2019). Auch im digitalen Kontext sagen geringe kognitive und affektive Empathie die Geneigtheit Cybertätern zu assistieren voraus (Schultze-Krumbholz, Zagorscak, Hess & Scheithauer, 2020). Zudem lässt sich durch geringe affektive Empathie die Zugehörigkeit zu einem Antwortprofil vorhersagen, das sich vor allem durch die Bereitschaft dem Cybertäter zu assistieren auszeichnet (Schultze-Krumbholz, Hess, Pfetsch & Scheithauer, 2018). Für negatives Bystander-Verhalten (passiv bleiben oder mitmachen) bei Cyberbullying erwies sich die entsprechende Intention als der stärkste Prädiktor, welche wiederum durch geringe affektive Empathie mitbedingt war (DeSmet et al., 2016). Dem entgegen stehen eine Studie, in der das Verstärker-Verhalten bei sowohl Offline- als auch Online-Bullying nicht mit Empathie assoziiert war (Macháčková & Pfetsch, 2016), eine Studie, in der Empathie nicht zwischen Mitläufern und Nicht-Involvierten differenzierte (Choi & Cho, 2013) und eine Studie, in der Empathie unter Berücksichtigung weiterer Variablen nicht prädiktiv für die Tendenz zu verteidigen versus Pro-Bullying-Verhalten zu zeigen war (Song & Oh, 2018).

Recht gut zusammenfassen lässt sich die Forschungslage zu Moral Disengagement bei Assistenten und Verstärkern. Alle Pro-Bullying-Rollen – unabhängig davon, ob sie separat und gemeinsam erfasst wurden – teilen die Tendenz zu Moral Disengagement (Bjärehed et al., 2020; Caravita, Strohmeier, Salmivalli & Di Blasio, 2019; Gini, 2006; Pozzoli, Gini & Vieno, 2012; Sjögren et al., 2020; Thornberg & Jungert, 2013; Thornberg et al., 2020). Zudem sagt Moral Disengagement auch Pro-Bullying-Verhalten ein halbes Jahr später voraus, allerdings nur bei Jungen (Troop-Gordon et al., 2019). Auch für negatives Bystander-Verhalten im Kontext von Cyberbullying liegen entsprechende Befunde vor, wenn auch wenige (DeSmet et al., 2016; Song & Oh, 2018; Van Cleemput et al., 2014).

Noch weniger bekannt ist über das Verantwortungsbewusstsein von Assistenten, Verstärkern und Mitläufern. Nur eine Studie berichtet, dass Verantwortung nicht zwischen Assistenten von Schulbullies und nicht-involvierten Schülerinnen und Schülern differenziert (Choi & Cho, 2013). Die Selbstwirksamkeitsüberzeugung hinsichtlich verteidigendem Verhalten war in drei Studien negativ mit Pro-Bullying-Verhalten der Bystander von Schulbullying assoziiert (Sjögren et al., 2020; Thornberg & Jungert, 2013; Thornberg et al., 2020), in einer anderen hingegen nicht (Pöyhönen et al., 2012). In letzterer zeigten die Pro-Bullying-Bystander auch keine typischen Erwartungen durch Verteidigen den eigenen Status zu verändern. Wohl aber zeichneten sie sich durch eine geringe Erwartung aus, dass durch Verteidigen das Bullying gestoppt werden kann und es dem Opfer dadurch besser geht (Pöyhönen et al., 2012). Für negatives Bystander-Verhalten (passiv oder pro-Bullying) bei Cyberbullying wurde die Verteidiger-Selbstwirksamkeit als Prädiktor nicht signifikant (DeSmet et al., 2016). Bei optimaler Skalierung des Bystander-Verhaltens bei Cyberbullying auf einer Dimension mit assistierendem (niedrige Werte) versus verteidigendem Verhalten (hohe Werte) als Gegenpole zeigte sich eine positive Assoziation mit der Überzeugung die Situation stoppen zu können (Song & Oh, 2018). Pro-Bullying-Bystander-Verhalten geht also mit einer geringen Überzeugung einher, etwas gegen das Cyberbullying tun zu können.

Pro-Bullying-Bystander oder Mitläufer (Assistenten und Verstärker) bei Schulbullying

sind öfter männlich, haben tendenziell eine hohe Popularität und eine durchschnittliche soziale Akzeptanz, sind wenig empathisch, zeigen hohes Moral Disengagement und eine geringe Selbstwirksamkeitserwartungen bezüglich verteidigendem Verhalten.

Pro-Bullying-Bystander oder Mitläufer (Assistenten und Verstärker) bei Cyberbullying

sind tendenziell öfter männlich, sind eher wenig empathisch und zeigen hohes Moral Disengagement.

1.5.4 Verteidiger

Den Verteidigern im Bullying-Geschehen, also jenen, die das Opfer verteidigen oder trösten oder etwas unternehmen, um die Schikanen zu stoppen, kommt seit den 90er-Jahren zunehmend Aufmerksamkeit zu. Ein aktueller Review-Artikel kommt zu dem Schluss, dass das Geschlecht der Verteidiger – sowohl offline als auch online – meist weiblich ist (Lambe, Della Cioppa, Hong & Craig, 2019). Einheitlich sind in dieser Hinsicht insbesondere die Befunde von Peer-Nominierungs-Studien zu Schulbullying (Caravita et al., 2012; Goossens et al., 2006; Herrmann, 2010; Knauf et al., 2017; Mazzone et al., 2016; Olthof et al., 2011; Pronk et al., 2015; Salmivalli et al., 1996; Salmivalli et al., 1998; Schäfer & Korn, 2004a), mit Ausnahme einer Studie (Lucas-Molina, Pérez-Albéniz, Fonseca-Pedrero & Giménez-Dasí, 2018). Wird das Verteidiger-Verhalten hingegen über Selbstbericht – teils mit nur einem Item – erfasst, so gibt es auch Studien, in denen keine Geschlechtsunterschiede nachgewiesen werden können (Cappadocia et al., 2012; Menesini et al., 1997) oder in denen sogar Jungen ein ausgeprägteres Verteidiger-Verhalten berichten (Demaray et al., 2016). Wird verteidigendes Verhalten in einer Stichprobe sowohl mit Selbst- als auch mit Fremdbericht erfasst, zeigt sich der Haupteffekt für das weibliche Geschlecht ebenfalls nur für die Peer-Nominierungen (Doramajian & Bukowski, 2015). Nichtsdestoweniger gibt es auch mehrere Studien, in denen Mädchen selbst mehr verteidigendes Verhalten berichten (Fitzpatrick & Bussey, 2011; Macháčková & Pfetsch, 2016; Trach, Hymel, Waterhouse & Neale, 2010).

Insbesondere zur Untersuchung von prosozialem Verhalten bei Cyberbullying wurden bislang ausschließlich Selbstberichtsdaten herangezogen, welche überwiegend bestätigen, dass Mädchen auch im Cyberspace mehr helfen als Jungen (Campbell et al., 2017; Cao & Lin, 2015; Olenik-Shemesh et al., 2015; Quirk & Campbell, 2015). Obgleich die bivariaten Korrelationen mit dem weiblichen Geschlecht durchweg positiv ausfallen, ist das Geschlecht dennoch in vielen Studien nicht prädiktiv für verteidigendes Verhalten von Cyberbystandern, wenn andere Prädiktoren wie beispielsweise Empathie oder Bestürzung berücksichtigt werden (DeSmet et al., 2016; Erreygers, Pabian, Vandebosch & Baillien, 2016; Macháčková et al., 2013; Macháčková & Pfetsch, 2016; Van Cleemput et al., 2014). Differenziertere Untersuchungen haben zudem gezeigt, dass sich Jungen und Mädchen in der Art einzugreifen unterscheiden: Jungen berichten eher aggressiv zu intervenieren, während Mädchen mehr konstruktive Interventionen wählen (Moxey & Bussey, 2020); Jungen bevorzugen bei Cyberbullying online zu intervenieren, Mädchen hingegen face-to-face (Sheppard & Campbell, 2017).

Das Alter betreffend zeichnet sich ein Trend ab, dass unter älteren Jugendlichen die Bereitschaft zu intervenieren geringer und verteidigendes Verhalten seltener ist (Caravita et al., 2012; Knauf et al., 2017; Pöyhönen et al., 2010, 2012; Salmivalli et al., 1998; Salmivalli & Voeten, 2004; Thornberg et al., 2020; Wachs, Bilz, Fischer, Schubarth & Wright, 2018). Verglichen wurden dabei querschnittlich je nach Studie Schülerinnen und Schüler im Spektrum der Stufen vier bis neun. Bei differenzierterer Betrachtung ist die Verteidiger-Rolle bei Jungen in der Grundschule am häufigsten, während sie bei Mädchen zu Beginn der weiterführenden Schule (Klasse 7 und 8) am häufigsten ist (Pouwels, Van Noorden et al., 2018). Im Selbstbericht deuten sich vergleichbare Befunde an (Trach et al., 2010), auch wenn diese nicht immer konsistent für alle Messzeitpunkte gefunden werden (Doramajian & Bukowski, 2015). Bei der gesonderten Untersuchung von Cyberbullying kristallisiert sich ebenfalls heraus, dass aktives Hilfeverhalten typischer für jüngere Jugendliche ist (Erreygers et al., 2016; Quirk & Campbell, 2015). Dies gilt insbesondere für konstruktives Hilfeverhalten (Moxey & Bussey, 2020). Desmet und Kolleginnen (2016) zeigen, dass Alter nicht direkt prädiktiv für positives Bystander-Verhalten bei Cyberbullying ist, wohl aber geben ältere Jugendliche eine geringere positive Verhaltensabsicht an, welche wiederum das tatsächliche Verhalten vorhersagt. Untersucht wurden in den genannten Studien Jugendliche im Alter von etwa 12 bis 18 Jahren. Freilich gibt es auch Studien, welche in dieser Altersspanne keine Alterseffekte finden (Cao & Lin, 2015; Macháčková et al., 2013; Macháčková & Pfetsch, 2016). In der Zusammenschau sprechen die meisten Studien jedoch dafür, dass Verteidiger bei Schul- oder Cyberbullying eher jünger sind (Lambe et al., 2019).

Sehr umfassend ist wiederum die Forschung zum soziometrischen Status der Verteidiger bei Schulbullying. In allen gefundenen Studien legen Verteidiger eine hohe soziometrische Beliebtheit beziehungsweise eine hohe Akzeptanz und geringe Ablehnung an den Tag (Caravita et al., 2009, 2010; Caravita et al., 2012; Goossens et al., 2006; Knauf et al., 2017; Lucas-Molina, Williamson, Pulido & Calderón, 2014; Lucas-Molina et al., 2018; Pouwels et al., 2016; Pouwels, Van Noorden et al., 2018; Pöyhönen et al., 2010; Salmivalli et al., 1996; Schäfer & Korn, 2004a). In einer Studie war die Akzeptanz nur bivariat mit verteidigendem Verhalten assoziiert, nicht aber bei Kontrolle der Popularität (Sainio, Veenstra, Huitsing & Salmivalli, 2011). Auch in Bezug auf die Popularität weisen Verteidiger in den meisten Studien hohe Werte auf (Caravita et al., 2010; Pöyhönen et al., 2010; Sainio et al., 2011). In manchen Studien zeigt sich dieser Zusammenhang jedoch nur bivariat (Caravita et al., 2012), nur bei Mädchen (Duffy et al., 2017) oder nur bei Jüngeren (Caravita et al., 2009). Im Vergleich mit den anderen Rollen offenbart sich, dass Verteidiger populärer als Opfer oder andere nicht-schikanierende Kinder sind, jedoch meist weniger populär als die Täter, insbesondere in höheren Klassenstufen (Olthof et al., 2011; Pouwels et al., 2016; Pouwels, Van Noorden et al., 2018). Lambe und Kolleginnen (2019) identifizierten für ihren Review-Artikel 15 querschnittliche Befunde zur Popularität und 13 querschnittliche Befunde zur soziometrischen Beliebtheit, die allesamt eine positive Assoziation mit Verteidigen aufwiesen. Bei längsschnittlicher Betrachtung sind Verteidiger in einem Entwicklungscluster überrepräsentiert, das sich durch hohe Akzeptanz und durchschnittliche Popularität auszeichnet (Pouwels, Salmivalli et al., 2018). Zudem sagt verteidigendes Verhalten die spätere Popularität positiv voraus (Van der Ploeg et al., 2017). Eine andere Studie zu verteidigendem Verhalten bei Peer-Aggressionen hingegen findet, dass Verteidigen nicht durch die von Peers wahrgenommene Zuneigung (perceived liking) vorhergesagt wird, jedoch eine Abnahme von wahrgenommener Zuneigung nach sich zieht (Meter & Card, 2015). Diese Studie scheint jedoch eine Ausnahme zu sein. Gerade vor dem Hintergrund einer äußerst umfangreichen Forschungslage zum soziometrischen Status der Verteidiger bei Schulbullying ist es umso überraschender, dass für die Verteidiger bei Cyberbullying diesbezüglich keine quantitativen Befunde vorliegen (siehe auch Lambe et al., 2019). In Fokusgruppendiskussionen wurde Popularität als entscheidend für das Zeugenverhalten bei Cyberbullying erachtet: Verteidiger werden als populär angesehen und jene mit hoher Popularität werden in der Pflicht gesehen zu verteidigen (DeSmet et al., 2014).

Eine Metaanalyse findet einen positiven Zusammenhang von Bildungserfolg mit einer hohen sozialer Akzeptanz (Wentzel et al., 2020), durch welche sich Verteidiger – wie im vorigen Abschnitt ausgeführt – besonders auszeichnen. Des Weiteren geht allgemeines prosoziales Verhalten mit guten schulischen Leistungen einher und sagt diese sogar längsschnittlich voraus (Caprara, Barbaranelli, Pastorelli, Bandura & Zimbardo, 2000; Q. Guo, Zhou & Feng, 2018). Doch ist nur eine Studie bekannt, die prosoziales Verhalten im Kontext von Schulbullying mit Schulleistungen in Zusammenhang bringt. Darin erzielten Peer-nominierte Verteidiger einen besseren Notenschnitt als die übrigen Rollen (Knauf et al., 2017). Zur schulischen Leistung von Cyberverteidigern liegen keine Studienbefunde vor.

Eine Metaanalyse zu Verteidiger-Verhalten und Empathie belegt eine positive Korrelation (Nickerson, Aloe & Werth, 2015). In einem Review-Artikel wird zudem differenziert herausgearbeitet, dass bis auf jeweils eine Ausnahme alle betrachteten Studien eine positive Korrelation zwischen Verteidigen und affektiver beziehungsweise kognitiver Empathie vorwiesen (Van Noorden et al., 2015). In einzelnen Studien hatte Empathie jedoch keinen prädiktiven Wert in machen Subgruppen oder wenn für Alter oder Geschlecht kontrolliert wurde (Van Noorden et al., 2015). Sowohl Metaanalyse als auch Review-Artikel differenzieren nicht zwischen Schul- und Cyberbullying, konnten zum damaligen Zeitpunkt jedoch nur eine Studie zu Cyberverteidigern einbeziehen. Lambe und Kolleginnen (2019) finden für ihren Review-Artikel immerhin fünf Studien zur Empathie von Cyberverteidigern und kommen zu dem Schluss, dass Verteidiger konsistent über beide Kontexte eine hoch ausgeprägte Empathie besitzen. Eine aktuelle Studie der gleichen Arbeitsgruppe (Lambe & Craig, 2020), die nicht zwischen Schul- und Cyberkontext trennt, deckt differenzielle Zusammenhänge mit unterschiedlichen Arten verteidigenden Verhaltens auf: So ist kognitive Empathie positiv mit Trösten und lösungsorientiertem Verhalten, aber negativ mit dem Melden des Vorfalls assoziiert, affektive Empathie hingegen negativ mit lösungsorientiertem Verhalten. Weder kognitive noch affektive Empathie sind mit aggressivem Verteidiger-Verhalten verknüpft.

Konkret zur Empathie der Verteidiger bei Schulbullying sind beispielhaft zwei Studien zu nennen: Gini, Albiero, Benelli und Altoe (2007) führten eine der ersten Studien zu dieser Forschungsfrage durch und fanden eine positive Assoziation zwischen Empathie – Perspektivenübernahme und empathische Anteilnahme – und Peer-nominiertem Verteidiger-Verhalten. Eine sehr aktuelle Studie von Longobardi, Borello, Thornberg und Settanni (2019) deckt zudem auf, dass Empathie sowohl direkten Einfluss auf selbstberichtetes Verteidiger-Verhalten hat als auch vermittelt über die intrinsische Motivation.

In Bezug auf Cyberbullying ist die Forschungslage etwas heterogener: Während eine frühe Studie fand, dass Cyberopfern zu helfen mit ausgeprägter Empathie assoziiert ist (Van Cleemput et al., 2014), zeigte sich in einer Folgestudie bei Berücksichtigung einer Vielzahl weiterer Prädiktoren kein Zusammenhang mehr (DeSmet et al., 2016). Weitere Studien ergaben, dass nur die Aktivierung kognitiver Empathie einen experimentellen Einfluss auf hypothetisches Hilfeverhalten hat (Barlińska et al., 2018) oder dem entgegengesetzt, dass selbstberichtetes Verteidiger-Verhalten nur mit affektiver Empathie zusammenhängt (Macháčková & Pfetsch, 2016). Eine metaanalytische Zusammenfassung der drei nicht-experimentellen Studien deutet nichtsdestoweniger darauf hin, dass das Verteidigen von Cyberopfern mit hoher Empathie einhergeht, muss allerding aufgrund der dünnen Datenlage vorsichtig interpretiert werden (Zych, Baldry et al., 2019). Auch zwei jüngere Studien zeigen, dass sowohl kognitive als auch affektive Empathie die Bereitschaft bei Cyberbullying zu intervenieren beziehungsweise das Antwortprofil eines prosozialen Verteidigers vorsagt (Schultze-Krumbholz et al., 2018; Schultze-Krumbholz et al., 2020). Eine andere hingegen findet bei Berücksichtigung weiterer Variablen wie Moral Disengagement keinen signifikanten Einfluss von Empathie auf die Tendenz zu verteidigendem gegenüber assistierendem Verhalten (Song & Oh, 2018).

Eine umfangreiche Forschungslage zeigt fast durchgängig negative Zusammenhänge zwischen Moral Disengagement und Verteidiger-Verhalten bei Schulbullying (Caravita et al., 2012; Doramajian & Bukowski, 2015; Gini, 2006; Gini, Pozzoli & Hauser, 2011; Gini et al., 2015; Obermann, 2011b; Thornberg & Jungert, 2013, 2014; Thornberg, Pozzoli, Gini & Jungert, 2015; Thornberg et al., 2017). In wenigen Studien ist der Zusammenhang nicht signifikant (Barchia & Bussey, 2011b; Sjögren et al., 2020; Thornberg et al., 2020). Bestätigt wird der negative Zusammenhang in einer Metaanalyse von Killer et al. (2019) mit 21 Studien zu Verteidigern bei Schulbullying sowie einem Review-Artikel (Lambe et al., 2019). Letzterer berücksichtigt auch das Verteidigen im Cyberkontext und zieht als Fazit, dass Verteidiger in beiden Kontexten wenig Moral Disengagement aufweisen, obgleich nur eine Studie zu Moral Disengagement bei Cyberverteidigern angeführt wird. Dem entgegen steht allerdings die Metaanalyse von Killer et al. (2019), die für Verteidigen bei Cyberbullying zwei Studien heranzieht, wobei sich insgesamt eine positive Effektstärke ergibt. Die beiden berücksichtigten Studien zeigen eine positive und eine nicht signifikante Korrelation (Allison & Bussey, 2017; Bussey et al., 2015). In weiteren Studien hingegen hängen Moral Disengagement oder zumindest einzelne Mechanismen des Moral Disengagement (Verantwortungsleugnung und Schuldzuweisung) negativ mit der Intention zu positivem Cyberbystander-Verhalten (DeSmet et al., 2016) oder der Tendenz zu verteidigendem gegenüber assistierendem Verhalten (Song & Oh, 2018) zusammen. Neuste Studien zu Cyberbullying klären auf, dass insbesondere konstruktives Verteidiger-Verhalten mit geringem Moral Disengagement assoziiert ist, aggressives Verteidigen hingegen mit hohem (Bussey et al., 2020; Moxey & Bussey, 2020).

Während das Leugnen oder Abweisen von Verantwortung als Facette des Moral Disengagement also vielfach mit reduziertem Hilfeverhalten in Bullying-Situationen in Zusammenhang gebracht wurde, gibt es kaum Studien, die Verantwortungsbewusstsein positiv operationalisieren und dessen Bedeutsamkeit für verteidigendes Verhalten untersuchen. Die Befunde sind nicht ganz eindeutig. Das Verantwortungsgefühl für eine gewaltfreie Klassengemeinschaft ist – zumindest bei geringem prosozialem Gruppendruck – positiv mit selbstberichtetem Verteidiger-Verhalten assoziiert (Pozzoli & Gini, 2010). Zudem hängt es positiv mit einem annäherndem Copingverhalten zusammen, welches wiederum die Wahrscheinlichkeit für verteidigendes Verhalten erhöht (Pozzoli & Gini, 2012). Weiterhin sind moralische Emotionen wie Schuld- und Schamgefühle, die relevant für die Verantwortungsübernahme scheinen, mit verteidigendem Verhalten assoziiert (Menesini & Camodeca, 2008). Allerdings finden sich teils auch negative Zusammenhänge, wenn das Verteidiger-Verhalten durch Lehrkräfte eingeschätzt wurde (Pozzoli & Gini, 2010) oder Verantwortung offenbar eher im Sinne von Rollenkonformität erfasst wurde (Choi & Cho, 2013). Studien zum Verantwortungsgefühl im Kontext von Cyberbullying sind nicht bekannt.

Die Selbstwirksamkeitsüberzeugung von Verteidigern ist wiederum mehr beforscht. Erste Studien zeigten eine positive Assoziation zwischen allgemeiner oder sozialer Selbstwirksamkeitserwartung und der Bereitschaft zu intervenieren (Rigby & Johnson, 2006) sowie aktivem Verteidiger-Verhalten (Gini et al., 2008). Zahlreiche weitere Studien bestätigen den Zusammenhang zwischen Verteidiger-Selbstwirksamkeit und Peer-nominiertem oder selbstberichtetem Verteidiger-Verhalten (Pöyhönen et al., 2010, 2012; Sjögren et al., 2020; Song & Oh, 2018; Thornberg & Jungert, 2013; Thornberg et al., 2017; Thornberg et al., 2020; Van der Ploeg et al., 2017). Hochinteressant ist in diesem Zusammenhang eine Studie, die Verteidiger und Außenstehende hinsichtlich ihrer Selbstwirksamkeitserwartung zum Intervenieren vergleicht (Pronk, Goossens, Olthof, Mey & Willemen, 2013). Verteidiger berichten hier eine höhere Selbstwirksamkeitserwartung – bei differenzierter Betrachtung allerdings nur hinsichtlich direkter Interventionsformen (Täter konfrontieren), nicht aber hinsichtlich indirekter Interventionsformen (Opfer trösten, Hilfe holen). Erste Befunde zum Verteidigen im Cyberkontext gehen in dieselbe Richtung. So ist die Überzeugung Cyberbullying beenden zu können prädiktiv für positives Bystander-Verhalten sowie die Absicht dazu (M. Clark & Bussey, 2020; DeSmet et al., 2016; Song & Oh, 2018). Die Verteidiger-Selbstwirksamkeit ist nur positiv mit konstruktivem Verteidiger-Verhalten im Cyberkontext assoziiert, hingegen negativ mit aggressivem Verteidigen (Bussey et al., 2020). Eine andere Studie hingegen, die nicht zwischen Schul- und Cyberbullying trennt, findet unerwartet keine Assoziation von sozialer Selbstwirksamkeitserwartung mit verschiedenen Arten verteidigenden Verhaltens (Lambe & Craig, 2020).

Die Handlungsergebniserwartungen der Verteidiger wurden schließlich in nur zwei Studien quantitativ untersucht. Positive Erwartungen, dass durch Verteidigen das Bullying weniger wird, das Opfer sich besser fühlt und der eigene Status sich verbessert, waren prädiktiv für Peer-nominiertes Verteidiger-Verhalten (Pöyhönen et al., 2012). Wer jedoch Kosten und Nutzen als ausschlaggebend für verteidigendes Verhalten sah, wurde seltener als Verteidiger nominiert (Pronk et al., 2016).

Verteidiger bei Schulbullying

sind öfter weiblich, eher in der frühen Jugend zu finden, zeichnen sich durch eine hohe soziometrische Beliebtheit sowie eine durchschnittliche bis hohe Popularität aus, erzielen tendenziell gute Schulleistungen, sind sehr empathisch, praktizieren wenig Moral Disengagement, zeigen tendenziell ein hohes Verantwortungsbewusstsein, trauen sich das Verteidigen zu und erwarten tendenziell positive Ergebnisse davon.

Verteidiger bei Cyberbullying

sind tendenziell öfter weiblich, eher in der frühen Jugend zu finden, sind tendenziell empathisch und haben tendenziell eine hohe Verteidiger-Selbstwirksamkeit.

1.5.5 Außenstehende

Neben jenen Bystandern, die sich auf Seiten des Täters oder auf Seiten des Opfers positionieren und sich dementsprechend verstärkend oder verteidigend verhalten, gibt es eine relativ große Gruppe passiver Bystander oder auch Außenstehender, welche sich aus dem Geschehen heraushalten, Bullying-Situationen meiden und nichts tun. Diese sind den Verteidigern in mancherlei Hinsicht relativ ähnlich (vgl. auch Pronk et al., 2013). So zeigen einige Studien, dass das Geschlechterverhältnis bei den Außenstehenden wie bei den Verteidigern zugunsten der Mädchen ausfällt (Goossens et al., 2006; Herrmann, 2010; Olthof et al., 2011; Salmivalli et al., 1996; Salmivalli et al., 1998; Schäfer & Korn, 2004a). Doch gibt es auch Studien, die dies nicht durchgängig für alle Klassenstufen (Pouwels, Van Noorden et al., 2018) oder nur für Peer-nominiertes Verhalten bestätigen (Doramajian & Bukowski, 2015) und Studien die keinen Geschlechtsunterschied fanden (Selbstbericht: Demaray et al., 2016; Trach et al., 2010; Peer-Nominierung: Knauf et al., 2017; Pronk et al., 2013). Zur Differenzierung zwischen Außenstehenden und Verteidigern erwies sich das Geschlecht als nicht prädiktiv (Nickerson et al., 2008), in einer anderen hingegen das männliche Geschlecht als prädiktiv für passives statt verteidigendes Verhalten (Waasdorp & Bradshaw, 2018). Für passives Verhalten bei Cyberbullying gibt es bislang keine Hinweise für Geschlechtsunterschiede (Quirk & Campbell, 2015; Van Cleemput et al., 2014; Wachs, 2012). Nur in einer Studie, in der negatives Bystander-Verhalten sowohl passive als auch verstärkende Verhaltensweisen umfasste, ergab sich ein marginal signifikanter Effekt für das männliche Geschlecht (DeSmet et al., 2016).

Die Forschung zu Altersunterschieden im passiven Bystander-Verhalten ist äußerst heterogen. Manche Studien finden in höheren Altersgruppen mehr Außenstehende (Salmivalli et al., 1998; Trach et al., 2010), teils jedoch nur bei den Mädchen (Salmivalli & Voeten, 2004), dann wieder nur bei den Jungen, während es bei den Mädchen umgekehrt ist (Pouwels, Van Noorden et al., 2018). Andere Studien finden grundsätzlich oder zumindest zu einzelnen Messzeitpunkten das umgekehrte Muster, also weniger passives Verhalten in höheren Altersgruppe (Choi & Cho, 2013; Doramajian & Bukowski, 2015) und wieder andere finden keinen Unterschied zwischen den Klassenstufen beziehungsweise keine Alterseffekte (Knauf et al., 2017; Sjögren et al., 2020; Wachs, 2012). Ähnlich uneinheitlich sind die Befunde zu passivem Verhalten bei Cyberbullying, mit zwei Studien, die das Heraushalten mit höherem Alter in Zusammenhang bringen (Quirk & Campbell, 2015; Van Cleemput et al., 2014) und zweien, die keine Alterseffekte nachweisen können (DeSmet et al., 2016; Wachs, 2012).

Der soziometrische Status der Außenstehenden ist weder in die eine Richtung noch in die andere besonders herausragend. Außenstehende bewegen sich oftmals im soziometrischen Mittelfeld (Knauf et al., 2017; Pouwels et al., 2016; Pouwels, Van Noorden et al., 2018) oder werden soziometrisch vernachlässigt – also wenig gemocht, aber auch wenig abgelehnt (Goossens et al., 2006; Salmivalli et al., 1996). Dazu passend erwies sich das soziometrische Rating bei Lucas-Molina et al. (2018) als nicht prädiktiv für heraushaltendes Verhalten. Im Vergleich mit den anderen Rollen ist die soziometrische Beliebtheit der Außenstehenden höher als die der Opfer, jedoch geringer als die der Verteidiger (Knauf et al., 2017; Pouwels et al., 2016; Pouwels, Salmivalli et al., 2018). Was die Popularität anbelangt, so ist diese bei Außenstehenden relativ gering: Einzig die Opfer sind noch weniger populär (Olthof et al., 2011; Pouwels, Salmivalli et al., 2018), teils sind Außenstehende und Opfer sogar auf einem Level (Pouwels et al., 2016). Auch fühlen sich die passiven Bystander von Schulbullying selbst wenig beliebt (Wachs, 2012). Für die passiven Bystander von Cyberbullying zeigte sich dies jedoch nicht (Wachs, 2012). Soziometrische Untersuchungen zu den Bystandern von Cyberbullying liegen bislang nicht vor.

Die Befundlage zur schulischen Leistung von Außenstehenden ist – wie jene zu den Verteidigern – sehr dünn. Nur eine Studie weist darauf hin, dass Peer-nominierte Außenstehende einen guten Notenschnitt erzielen (Knauf et al., 2017). Für passives Verhalten bei Cyberbullying sind diesbezüglich keine Studien bekannt.

Die systematische Übersichtsarbeit von Van Noorden et al. (2015) zu Empathie bei verschiedenen Bullying-Rollen konnte nur zwei Studien zu passiven Bystandern identifizieren – beide davon im Kontext Offline-Bullying und nur eine in der interessierenden Altersspanne. Diese Studie fand, dass Empathie allgemein positiv mit passivem Bystander-Verhalten assoziiert war, die bivariate Korrelation jedoch nur für die Perspektivenübernahme signifikant wurde (Gini et al., 2008). Ebenfalls positive Assoziationen zwischen Peer-Nominierungen für die Außenstehenden-Rolle und Empathie fanden Rieffe und Camodeca (2016). Eine starke Korrelation fand sich insbesondere – und anders als bei verteidigendem Verhalten – mit empathischem Disstress (Rieffe & Camodeca, 2016). In eine ähnliche Richtung geht die Studie von Lucas-Molina et al. (2018), in der Empathiemangel schwach negativ mit passivem Verhalten assoziiert war – ein Zusammenhang mit Empathie selbst konnte hier jedoch nicht nachgewiesen werden. Dem entgegen wurden auch schon negative Assoziationen zwischen heraushaltendem Verhalten und empathischer Anteilnahme sowie Perspektivenübernahme gefunden (Nickerson & Mele-Taylor, 2014; Pozzoli, Gini & Thornberg, 2017). Im Vergleich mit Verteidigern haben Außenstehende ein geringeres empathisches Mitgefühl (Nickerson et al., 2008), obgleich teils nur bei Jungen (Nickerson & Mele-Taylor, 2014). Von Nicht-Involvierten unterscheiden sich Außenstehende nicht in ihrer Empathie (Choi & Cho, 2013). Im Kontext von Cyberbullying ist Nichtstun wiederum positiv mit Empathie assoziiert (Van Cleemput et al., 2014). Passive Bystander bei Cyberbullying zeichnen sich zudem durch mehr affektive Empathie als Assistenten, aber weniger kognitive und affektive Empathie als Verteidiger aus (Schultze-Krumbholz et al., 2018).

Auch hinsichtlich Moral Disengagement ist die Forschungslage zu den Außenstehenden heterogen. Dies zeigt eine Metaanalyse, welche insgesamt 14 Studien zu passivem Bystander-Verhalten (10 offline, 4 online) zusammenträgt, von denen acht auf eine positive, fünf auf eine negative und zwei auf keine Assoziation hinweisen (Killer et al., 2019). Zusammengenommen ergibt sich kein signifikanter Zusammenhang (Killer et al., 2019). Gegensätzliche Befunde kommen auch innerhalb von Arbeitsgruppen vor (z. B. Gini, 2006; Gini et al., 2015; Thornberg & Jungert, 2013; Thornberg et al., 2017) und lassen kein Muster im Zusammenhang mit Alter oder Erhebungsform (Selbstbericht vs. Peer-Nominierung) erkennen. Im Vergleich mit den anderen Rollen betreiben die Außenstehenden anscheinend weniger Moral Disengagement als die Täter (Gini, 2006; Obermann, 2011b), jedoch mehr als Verteidiger (Gini, 2006). Aufschlussreich für das Verständnis der heterogenen Befundlage ist zudem, dass der Zusammenhang zwischen Moral Disengagement und Bystander-Verhalten durch Schuldgefühle moderiert wird: Nur bei geringen Schuldgefühlen gibt es einen positiven Zusammenhang zwischen Moral Disengagement und passivem Verhalten (Mazzone et al., 2016). Weiterhin sollten die passiven Bystander nicht als homogene Gruppe aufgefasst werden, da sich Subgruppierungen von schuldbewussten versus gleichgültigen Bystandern erkennen lassen, welche sich durch ein geringes respektive hohes Niveau von Moral Disengagement auszeichnen (Obermann, 2011a).

Wenig aussagekräftig sind die Befunde zu Moral Disengagement bei Cyberbystandern. Von den vier in der Metaanalyse von Killer et al. (2019) genannten Studien zeigen zwei eine positive Assoziation, wobei kritisch anzumerken ist, dass die dort eingesetzte Bystanding-Skala nur abfragt, wie oft Cyberbullying gesehen wurde, ohne ausdrücklich das passive Verhalten zu erfassen (Allison & Bussey, 2017; Bussey et al., 2015). Eine weitere Studie erfasst passives und verstärkendes Verhalten gemeinsam als negatives Bystander-Verhalten, welches entgegengesetzte Assoziationen mit verschiedenen Mechanismen des Moral Disengagement (positiv mit kognitiver Umstrukturierung, negativ mit Opferbeschuldigung) und insgesamt keinen Zusammenhang zeigt (DeSmet et al., 2016; siehe auch Killer et al., 2019). Die vierte Studie schließlich dokumentiert einen negativen Zusammenhang zwischen passivem Verhalten und Moral Disengagement (Song & Oh, 2018; zitiert nach Killer et al., 2019). Laut einer aktuellen Review-Studie zeichnet sich dagegen allgemein eine positive Assoziation zwischen Moral Disengagement und passivem Bystander-Verhalten bei Cyberbullying ab (Lo Cricchio et al., 2020).

Obgleich der Zusammenhang zwischen passivem Verhalten und Moral Disengagement quantitativ nicht einheitlich festgemacht werden kann, lassen sich in den genannten Gründen für passives Verhalten bei Offline- oder Online-Bullying Mechanismen des Moral Disengagement erkennen: Oft wird das Ereignis verharmlost („not serious“, „no big deal“, „wasn’t so bad“), das Verhalten gerechtfertigt und die Schuld dem Opfer zugeschrieben („victim provoked it“, „own fault“, „deserved it“), um Untätigkeit zu begründen (Offline-Bullying: Cappadocia et al., 2012; Chen et al., 2016; Online-Bullying: DeSmet et al., 2014; Y. Huang & Chou, 2010; Van Cleemput et al., 2014). Sehr oft lassen Begründungen für Untätigkeit auch ein Leugnen oder Abschieben der Verantwortung erkennen („not my business“, „not my problem“, „someone else should stop it“, „class leaders are in charge“; Offline-Bullying: Cappadocia et al., 2012; Chen et al., 2016; Slee, 1994; Online-Bullying: DeSmet et al., 2014; Y. Huang & Chou, 2010; Olenik-Shemesh et al., 2015; Van Cleemput et al., 2014). Diesbezügliche quantitative Überprüfungen liegen nur für Schulbullying vor. Verantwortungsbewusstsein ist negativ mit passivem Bystander-Verhalten assoziiert (Pozzoli & Gini, 2010) und ist auch indirekt über den Copingstil mit passivem Verhalten verbunden: Geringes Verantwortungsbewusstsein geht mit wenig annäherndem und stark distanzierendem Coping einher, was wiederum Passivität begünstigt (Pozzoli & Gini, 2012). Von Nicht-Involvierten unterscheiden sich Heraushalter hinsichtlich ihres Verantwortungsbewusstseins jedoch nicht (Choi & Cho, 2013).

Die soziale oder verteidigerbezogene Selbstwirksamkeitserwartung ist negativ mit passivem Bystander-Verhalten assoziiert (Gini et al., 2008; Sjögren et al., 2020; Thornberg & Jungert, 2013; Thornberg et al., 2017). Eine Studie kann diesen Zusammenhang nicht bestätigen (Pöyhönen et al., 2012). Zu erinnern ist an dieser Stelle nochmals an die bereits genannte Studie von Pronk et al. (2013), die offenlegt, dass Außenstehende nur hinsichtlich der Konfrontation der Täter eine geringere Selbstwirksamkeitsüberzeugung als Verteidiger hatten. Bezüglich indirekter Interventionsformen wie Trösten oder Hilfeholen hatten Außenstehende und Verteidiger hingegen ein ähnliches Selbstwirksamkeitsniveau (Pronk et al., 2013). Alle gefundenen Studien beziehen sich auf Bullying im Schulkontext.

Was die Handlungsergebniserwartungen anbelangt, werden in Begründungen passiven Verhaltens oftmals Ängste vor negativen Konsequenzen deutlich, beispielsweise die Sorge sich selbst in Schwierigkeiten oder Gefahr zu bringen (Cappadocia et al., 2012; Chen et al., 2016; Y. Huang & Chou, 2010; Spadafora, Marini & Volk, 2020), die Furcht vor Rache (Slee, 1994) und insbesondere die Befürchtung sozialer Sanktionen, wie Ausgrenzung, Freunde zu verlieren oder zum nächsten Opfer zu werden (Cappadocia et al., 2012; Chen et al., 2016; DeSmet et al., 2014; Spadafora et al., 2020; Van Cleemput et al., 2014). Zudem äußern Heranwachsende geringe Erfolgserwartungen, insbesondere in Hinblick auf Hilfe durch Erwachsene (Cappadocia et al., 2012; DeSmet et al., 2014; Y. Huang & Chou, 2010). Inferenzstatistisch wurde passives Verhalten bei Schulbullying mit konfligierenden Erwartungen zum Verteidigen in Zusammenhang gebracht: Außenstehenden scheint es durchaus wichtig, dass das Bullying aufhört, erwarten aber nicht, dass Verteidigen dies bewirkt; weiterhin denken sie zwar, dass es den Opfern durch Verteidigen besser geht, doch ist ihnen dies nicht sonderlich wichtig (Pöyhönen et al., 2012).

Außenstehende bei Schulbullying

sind tendenziell öfter weiblich, erzielen eine durchschnittliche soziometrische Beliebtheit und eine geringe Popularität, zeigen tendenziell ein geringes Verantwortungsbewusstsein, haben tendenziell geringe Selbstwirksamkeitserwartungen.

Außenstehende bei Cyberbullying

praktizieren tendenziell Moral Disengagement.

1.6 Forschungsbedarf und eigene Zielsetzungen

Bei der Darstellung des Forschungsstands zu den Participant Roles bei Schul- und Cyberbullying sowie ihren sozial-kognitiven und affektiven Reaktionen fällt zunächst auf, dass es einige bereits sehr umfassend beforschte Bereiche gibt, auf der anderen Seite aber auch kaum beforschte Gebiete. Eine umfangreiche Studienlage kann zu Empathie und Moral Disengagement insbesondere bei Opfern, Tätern und Verteidigern präsentiert werden. Weiterhin wurde die Selbstwirksamkeitserwartung vor allem in Hinblick auf verteidigendes Verhalten untersucht. Relativ wenig ist hingegen über die Pro-Bullying-Bystander und insbesondere die Außenstehenden bekannt. Bei den Außenstehenden ist die Forschungslage zudem oftmals heterogen. Von den sozial-kognitiven und affektiven Reaktionen wurden Verantwortungsübernahme und Handlungsergebniserwartungen am seltensten quantitativ im Zusammenhang mit den Participant Roles untersucht. Insbesondere zu den Pro-Bullying-Bystandern mangelt es diesbezüglich an Untersuchungen. Keinerlei Studien bringen Bullying-bezogene Verantwortungsübernahme, Selbstwirksamkeitsüberzeugung und Handlungsergebniserwartungen auch einmal mit der Opfer- oder Täter-Rolle in Verbindung. Generell liegen zu Schulbullying – vermutlich aufgrund der längeren Forschungstradition – deutlich mehr Befunde vor als zu Cyberbullying. Forschungsbedarf zeigt sich folglich besonders hinsichtlich der Außenstehenden, welche einen nicht zu vernachlässigenden Anteil im Bullying-Geschehen ausmachen und relevant für die Bekämpfung von Bullying sind (Salmivalli, 2010), und hinsichtlich der Pro-Bullying-Bystander. Gerade ein Vergleich der Bystander-Rollen scheint lohnenswert, um Unterschiede festzustellen und Korrelate erwünschten und unerwünschten Bystander-Verhaltens zu identifizieren. Weiterhin sollten neben Empathie, Moral Disengagement und Selbstwirksamkeitserwartungen vermehrt auch Verantwortungsübernahme und Handlungsergebniserwartungen in den Fokus genommen werden, da dies weitere wesentliche Ansatzpunkte zur Mobilisierung von Bystandern sein könnten. Bislang liegt keine Untersuchung vor, die alle Participant Roles einbezieht, dabei Schul- und Cyberbullying berücksichtigt und systematisch hinsichtlich Empathie, Moral Disengagement, Verantwortungsbewusstsein, Selbstwirksamkeitsüberzeugung und Handlungsergebniserwartungen vergleicht.

Im Hinblick auf methodische Aspekte fällt bei der Sichtung der Forschungslage zweierlei auf: Zum einen eine mangelnde Präzision und Transparenz bezüglich der Operationalisierung von Bullying insbesondere in Abgrenzung von Aggressionen und zum anderen eine Unausgewogenheit der Informationsquellen. Nicht selten geben Studien an Bullying zu untersuchen, doch lässt ein Blick in den Methodenteil daran zweifeln, dass die Definitionskriterien von Bullying gewährleistet sind (z. B. Barhight et al., 2013; Calvete et al., 2010; Vandebosch & Van Cleemput, 2009; vgl. hierzu auch Volk et al., 2017). Dies gilt insbesondere, aber nicht ausschließlich für Cyberbullying (vgl. hierzu auch die systematische Übersichtsarbeit zu Cyberbullying-Instrumenten von Berne et al., 2013). Teils werden zentrale Aspekte des Konzeptes, wie die systematische Ausrichtung gegen Schwächere, offensichtlich vernachlässigt, teils geht dies auch einfach nicht eindeutig aus der methodischen Beschreibung hervor. Die Arbeitsgruppe um Cook differenziert für ihre Metaanalysen zwischen Studien, die eine Abfrage aggressiver Verhaltensweisen ohne explizite Bezugnahme auf Bullying vornehmen und solchen, die Bullying explizit benennen und teils auch definieren (Cook, Williams, Guerra, Kim & Sadek, 2010; Cook, Williams, Guerra & Kim, 2010). Obgleich diese Unterscheidung kaum Auswirkungen auf Zusammenhänge mit den untersuchten Prädiktoren hat (Cook, Williams, Guerra, Kim & Sadek, 2010), zeigen sich Diskrepanzen in den Prävalenzschätzungen (Cook, Williams, Guerra & Kim, 2010). Zudem ist nicht auszuschließen, dass differenzielle Assoziationen mit dort nicht untersuchten Prädiktoren wie den sozial-kognitiven und affektiven Reaktionen bestehen. Daher ist eine sorgfältige Operationalisierung von Schul- und Cyberbullying in Abgrenzung von aggressivem Verhalten von hoher Wichtigkeit.

Weiterhin gibt es im Fall von Cyberbullying kaum Studien, die die Rollen über Peer-Nominierungen erfassen. Dies mag der Auffassung entstammen, dass Cyberbullying anonym ablaufe. Allerdings schätzen interviewte Jugendliche, dass anonyme Online-Aggression eher unüblich sei (Patterson, Allan & Cross, 2017). Die Mehrheit der Opfer von Cyberbullying gibt an, die Täter zu kennen – oftmals aus dem schulischen Umfeld (Jäger et al., 2009; Jones et al., 2015; R. M. Kowalski & Limber, 2007; Smith et al., 2008). Hinzu kommt, dass ein Großteil der Cyberopfer und der Cybertäter die jeweilige Rolle auch im schulischen Kontext einnehmen (siehe Abschnitt 1.3.7). Dies spricht für große Überschneidungen zwischen Schul- und Cyberbullying. Betrachtet man also Cyberbullying innerhalb der Klassengemeinschaft, so erscheint es durchaus sinnvoll auch die Wahrnehmung der Klassenkameraden zum Verhalten der anderen Klassenmitglieder zu erfassen. Dass es bei Cyberbullying Zeugen gibt, die befragt werden können, zeigen Studien, in denen bis zu 50% der jugendlichen Studienteilnehmer angaben, schon einmal mitbekommen zuhaben, wie jemand online schikaniert wird (DeSmet et al., 2016; Lapidot-Lefler & Dolev-Cohen, 2015). Mehr als die Hälfe der Bystander von Online-Aggressionen geben an die Identität des Täters zu kennen (Y. Huang & Chou, 2010) und zusammengenommen 80% erklären alle oder zumindest einige am Cyberbullying beteiligten zu kennen (Lapidot-Lefler & Dolev-Cohen, 2015). Erste vielversprechende Versuche die Opfer und Täter elektronischer Aggression über Peer-Nominierungen zu erfassen liegen bereits vor (Badaly et al., 2015). Doch zeichnet sich im Speziellen der Participant-Role-Ansatz durch die Erfassung über Peer-Report aus, was nahelegt gerade die Bystander-Rollen mittels Peer-Nominierungen zu erfassen. Dies hätte den Vorteil, dass eine positive Selbstdarstellung umgangen werden kann, die vermutlich zu einer Unterschätzung der aktiven Beteiligung an Bullying und einer Überschätzung prosozialer Bystander-Reaktionen führt. Gerade für die Vergleichbarkeit des Bystander-Verhaltens bei Schul- und Cyberbullying ist eine einheitliche Erfassung notwendig. Bislang hat sich die Erfassung der Rollen mittels Peer-Report jedoch nur für Schulbullying etabliert, wodurch die Befunde zu Cyberbullying, welche fast ausschließlich über Selbstbericht gewonnen wurden, kaum mit denen zu Schulbullying vergleichbar sind. Obschon selbstverständlich auch die Peer-Nominierungs-Methode mit Nachteilen einhergeht (z. B. mangelndes Erkennen verdeckter Verhaltensweisen), kommt es für die Bullying-bezogenen Gruppenprozesse (z. B. Verstärkung oder Normbildung) letztlich auf die innerhalb des Klassenverbandes wahrgenommenen Verhaltensmuster an. Dementsprechend wichtig ist es, die Participant Roles für Bullying im Klassenverband auch mittels Peer-Nominierungen zu untersuchen – unabhängig davon, ob dieses offline oder online stattfindet.

Daraus ergeben sich im Wesentlichen zwei übergeordnete Zielsetzung für die vorliegende Arbeit: Die Participant Roles bei Offline- und Online-Bullying im Klassenverband sollen erstens mittels Peer-Nominierungen erfasst und zweitens umfassend charakterisiert werden. Näher konkretisiert bedeutet dies, dass geprüft werden soll, inwiefern die Rollen auch bei Cyberbullying von Klassenkameraden wahrgenommen und benannt werden können und wie hoch die Übereinstimmung der so ermittelten Rollen in beiden Kontexten ist. Letztlich soll auch beurteilt werden, ob eine Dichotomisierung zwischen Schul- und Cyberbullying sinnvoll ist. Die mittels Peer-Nominierung identifizierten Rollen sollen hinsichtlich Geschlechts- und Altersunterschieden, soziometrischem Status und schulischen Leistungen verglichen werden. Des Weiteren soll untersucht werden, welche Zusammenhänge zwischen den nach außen hin sichtbaren Verhaltensmustern und den inneren Reaktionen auf Bullying-Vorfälle vorliegen. Neben den vielfach untersuchten Variablen Empathie und Moral Disengagement sollen auch Verantwortungsgefühl, Selbstwirksamkeitsüberzeugung und Handlungsergebniserwartungen zu verteidigendem Verhalten in den Blick genommen werden. Dabei soll der Stellenwert der einzelnen potenziellen Prädiktoren, auch unter Einbezug von Kovariaten wie Geschlecht und Alter festgestellt werden. Von besonderem Interesse ist die Differenzierung zwischen Verstärkern, Verteidigern und passiven Zeugen. Dabei soll geklärt werden, ob die Zusammenhänge zwischen sozial-kognitiven und affektiven Reaktionen und Rollenverhalten gleichermaßen bei Schul- wie bei Cyberbullying erkennbar sind.

ZIELSETZUNGEN

  1. (1)

    Erfassung der Rollen bei Schul- und Cyberbullying mittels Peer-Nominierung:

    Identifiziert werden sollen die Rollen des Opfers, Täters, Verstärkers, Verteidigers und Außenstehenden.

    1. (a)

      Feststellung der Prävalenzen Peer-nominierter Rollen bei Schul- und Cyberbullying

    2. (b)

      Abgleich der Rollen in den beiden Kontexten

    3. (c)

      Untersuchung von Zusammenhängen mit Geschlecht, Alter, soziometrischem Status und schulischer Leistung

  2. (2)

    Charakterisierung der Rollen hinsichtlich ihrer sozial-kognitiven und affektiven Reaktionen auf Bullying:

    Untersucht werden sollen Empathie, Moral Disengagement, Verantwortungsgefühl, Selbstwirksamkeitsüberzeugung und Handlungsergebniserwartungen.

    1. (a)

      Ermittlung von Zusammenhängen des gezeigten Rollenverhaltens mit sozial-kognitiven und affektiven Reaktionen auf das Bullying-Geschehen

    2. (b)

      Vergleich der Assoziationen zwischen den beiden Kontexten

Notwendig für diese Zielsetzungen ist zunächst die Entwicklung geeigneter Erhebungsinstrumente. Bislang liegt kein Erhebungsinstrument vor, welches die Participant Roles mittels Peer-Nominierungen sowohl für Schul- als auch für Cyberbullying erfasst. Relevant ist hierbei, dass auch das Bystander-Verhalten spezifisch für verschiedene Erscheinungsformen von Bullying abgefragt wird. Zur vergleichbaren Erfassung der für das Bystander-Intervention-Modell als relevant angenommenen sozial-kognitiven und affektiven Reaktionen auf Bullying mangelt es zum aktuellen Stand ebenfalls an gut etablierten Instrumenten. Besonderes Augenmerk des neuen Instruments sollte daher auf einer einheitlichen, vergleichbaren Erfassung der mentalen Reaktionen, deren direkten Bezug auf Bullying und der Differenzierung zwischen Schul- und Cyberbullying liegen. Die Entwicklung deutschsprachiger Instrumente, welche das Verhalten und Erleben aller am Bullying beteiligten abbilden, ist nicht allein für die übergeordneten Zielsetzungen der vorliegenden Dissertation notwendig, sondern kann zukünftig auch zu Evaluationszwecken eingesetzt werden, um Bedarf und Erfolg von Anti-Bullying-Programmen festzustellen.

1.7 Projektüberblick und Forschungsdesign

Prägnant zusammengefasst ist das Hauptziel dieses Dissertationsprojektes die Charakterisierung der Rollen im Bullying-Gefüge mit besonderem Schwerpunkt auf den sozial-kognitiven und affektiven Reaktionen unter der Berücksichtigung von Schul- und Cyberbullying. Zu diesem Zweck wird zum einen ein Instrument benötigt, welches das Rollenverhalten bei Schul- und Cyberbullying erfasst, und zum anderen eines, mit dem die interessierenden mentalen Reaktionen erhoben werden können. Da derartige Instrumente bislang nicht vorliegen, ist die Entwicklung geeigneter Fragebögen ein essenzielles Anliegen der Doktorarbeit. Das Gesamtprojekt gliedert sich folglich in drei Teilstudien: Zwei Pilotstudien zur Entwicklung und Erprobung der beiden benötigten Instrumente sowie eine Hauptstudie, in welcher beide Fragebögen zur Beantwortung der Forschungsfrage kombiniert werden. Veranschaulicht wird der Ablauf in Tabelle 1.5. Alle drei Teilstudien sind als korrelative Querschnittserhebungen angelegt. Zielgruppe der Untersuchung sind Schülerinnen und Schüler der weiterführenden Schule. Für das Projekt bestehend aus insgesamt drei Studien liegt ein positives Ethikvotum der Pädagogischen Hochschule Schwäbisch Gmünd vor.

Tabelle 1.5 Überblick über die Abfolge der Teilstudien im Rahmen des Dissertationsprojekts