Gegenstand unserer empirischen Studie ist die Lebensführung in den deutschen Mittelschichten. Indem wir Lebensführung soziologisch als einen Deutungsrahmen verstehen, der alltägliche und biographische Orientierungen zusammenführt, knüpfen wir für heute an die Studien Max Webers (1905) zur „protestantischen Ethik“ an. Wir haben dafür mit 40 Angehörigen der Mittelschichten lebensgeschichtliche Interviews geführt. Dabei leitet uns das theoretische Modell der investiven Statusarbeit an – ein komplexer Idealtypus, der als ‚Scheinwerfer‘ hilft, die empirische Komplexität in einem theoretisch strukturierten und historisch informierten Licht zu betrachten.

Gemäß dieser Leithypothese basieren Praktiken investiver Statusarbeit auf soziostrukturellen Bedingungen und werden von kulturellen Rahmungen orientiert. Demnach befinden sich Mittelschichtenangehörige auf der Grundlage einer mittleren Ausstattung mit ökonomischem und kulturellem Kapital in einer Position, in der sie einerseits die Möglichkeit haben, über die Auseinandersetzung mit unmittelbar gegebenen Notwendigkeiten hinaus in einen Statusaufstieg zu investieren, andererseits aber nicht über genügend Ressourcen verfügen, um völlig auf Investitionen in den eigenen Status verzichten zu können. Auf dieser Grundlage, so die Vermutung, befleißigen sich Mittelschichtenangehörige einer beständigen umsichtigen Investitionspraxis – die auch Episoden der Suspension von Statusarbeit zeigt und dadurch auf Dauer gestellt möglich wird. Als kulturelle Triebkräfte dienen dabei das Ideal eines zielgerichteten planvollen Strebens und ein Leistungsethos.

Diese Leithypothese fügt sich nicht, wie bereits in Kap. 1 angedeutet, glatt in das Bild, das zahlreiche Beiträge als eine ‚Krise der Mitte‘ diagnostizieren und mit Wohlstandskonflikten (Vogel 2009), Statuspanik (Mau 2012), Krisen in der Aufstiegsorientierung (Voswinkel 2013), Abstiegsdynamiken und -ängsten (Nachtwey 2016) sowie Konkurrenzen zwischen Mittelschichtfraktionen (Reckwitz 2019) verbinden. Sie alle legen, unterschiedlich akzentuiert, nahe, dass investive Statusarbeit für relevante Teile der Mittelschichten nicht mehr oder nur unter erschwerten Bedingungen als Handlungsmaxime gelte und realisierbar sei. Wir sehen zwar diese denkbaren Irritationen investiver Statusarbeit ebenfalls, nehmen aber weiterhin an, dass es nach wie vor größere Teilgruppen der Mittelschichten gibt, bei denen sich die für investive Statusarbeit typischen biographischen Orientierungen und Praktiken finden.

Was sind nun unsere Ergebnisse, und wie positionieren wir uns mit ihnen in der Debatte zur ‚Krise der Mitte‘? Im Folgenden werden zunächst Anlage und Ergebnisse unserer Studie rekapituliert (Abschn. 6.1) und dann mit Rückbezug auf die theoretischen Ausgangsannahmen und das methodische Vorgehen reflektiert (Abschn. 6.2). Abschließend geht es um eine Verortung unserer Ergebnisse im Lichte jener Gegenwartsdiagnosen, die aktuelle Wandlungsprozesse mit Blick auf ‚die Mitte‘ als Bruch der wohlfahrtsstaatlich strukturierten industriegesellschaftlichen Ordnung der Nachkriegsjahrzehnte deuten (Abschn. 6.3).

6.1 Empirische Rekonstruktion von Lebensführungen: differente sinnstiftende Orientierungen und vielfältige statusbezogene Praktiken

Die Hypothese der investiven Statusarbeit dient als sensibilisierende theoretische Heuristik für die Anlage der Studie in Form von narrativ-biographischen Interviews mit 40 Mittelschichtenangehörigen unterschiedlicher Bildungsabschlüsse, Berufe und Einkommen, verschiedener Altersgruppen und beiderlei Geschlechts. Der Schwerpunkt der lebensgeschichtlich-narrativen Interviews lag darauf, den Befragten Raum zu geben, eigene Sinnstrukturen mit Bezug auf den gesamten Lebenszusammenhang zu entfalten, deren Rekonstruktion uns später die Möglichkeit geben würde, ihre Lebensführung als einen situations- und lebensbereichsübergreifenden Mechanismus zu identifizieren. Für die Auswertung nutzen wir das Instrumentarium der dokumentarischen Methode. Dieses eröffnet die Perspektive auf Orientierungen und gelebte Erfahrungen, die sich zwischen positiven und negativen Horizonten aufspannen, so dass deutlich wird, welche Szenarien und Bilder Gegenstand von Aspiration und Hoffnung sind – aber auch, welche Zustände oder Entwicklungen als problematisch angesehen und deshalb gemieden oder verhindert werden. Neben der Ermittlung expliziter, reflexiver Wissensbestände erlaubt diese Methode auch einen Blick auf das implizite, sedimentierte Wissen, das die gelebten Erfahrungen vorbewusst strukturiert.

Im Zuge dieser Auswertung schält sich bald heraus, dass die im theoretischen Modell unterstellte enge Kopplung von kulturell gerahmten biographischen Orientierungen auf der einen und Praktiken der Enaktierung von Lebensführung der empirisch vorfindlichen Vielfalt investiver Statusarbeit nicht gerecht wird. Wir haben daher in der Präsentation unserer empirischen Ergebnisse die handlungsleitenden biographischen Orientierungen auf der einen und die enaktierten Praktiken auf der anderen Seite auseinandergehalten, um aufzeigen zu können, dass es durchaus Kopplungen zwischen ihnen gibt, die aber nicht eng, also ein-eindeutig, sondern lose sind und genauer spezifiziert werden müssen. Anders gesagt haben wir sowohl Entkopplungen als auch spezifische Kopplungen zwischen kulturellen Rahmungen und Praktiken investiver Statusarbeit aufgedeckt. Daraus haben sich instruktive Einblicke in das Funktionieren wie auch in die unterschiedliche Konturierung dieses Modus der Lebensführung, der insbesondere Mittelschichtenangehörigen als kulturell hegemoniale Vorstellung des ‚guten Lebens‘ auferlegt ist, ergeben.

Zunächst zu den Orientierungen: Mit der Unterscheidung in drei Typen von Lebensführungen wird der empirischen Beobachtung Rechnung getragen, dass sich in einer Reihe von Interviews biographische Orientierungsmuster darbieten, die so stark von den theoretischen Vorannahmen abweichen, dass nicht nur von Idiosynkrasien oder Variationen gesprochen werden kann: Einige unserer Interviewpartner*innen lehnen Beförderungen ab, zeigen keine Ambitionen, ihr Leben als Ergebnis eines Planes zu erzählen, oder erzählen geradezu mit Stolz, dass sie ein repetitives Leben führen würden, in dem Statusaufstieg keine Rolle spielt. Die drei rekonstruierten Modi der Lebensführung unterscheiden sich systematisch in verschiedenen Dimensionen – entscheidend ist aber, ob Gemeinschaften, Berufsstolz oder sozialer Status im Zentrum der Orientierung stehen.

In der gemeinschaftszentrierten Lebensführung, die in etwa der Hälfte der Fälle, also am häufigsten, identifiziert werden konnte, steht das Ziel, akzeptiertes Mitglied der Gemeinschaften des sozialen Nahumfeldes zu werden, im Zentrum der Bestrebungen. Der ökonomische Status stellt dafür nur eine Ermöglichungsbedingung dar. Jenseits eines hinreichenden Lebensstandards, der es erlaubt, sich auf die Anerkennung in der Gemeinschaft zu konzentrieren, sind von weiteren Statusverbesserungen schlicht keine relevanten Anerkennungsgewinne mehr zu erwarten. Mehr noch: Gesteigertes Statusstreben kann geradezu als Loyalitätsverletzung gegenüber den Bezugs-Gemeinschaften gedeutet werden und damit in Konflikt mit dem Bestreben, ‚dazu zu gehören‘, geraten. Entsprechend nimmt das Erwerbsleben – sofern es nicht zur Quelle von Problemen oder zum Ort des Gemeinschaftsstrebens wird – in den Erzählungen oft eine vergleichsweise randständige Bedeutung ein. Die enge Bindung an das soziale Nahumfeld bedingt schließlich auch, dass Planung in den Lebensführungen nur eine untergeordnete Rolle spielt. Die kurzen Rückkopplungsschlaufen, die sich durch die engmaschige Verwobenheit in soziale Netze ergeben, stellen vielmehr Quellen direkterer Bestätigung dafür dar, dass man es ‚geschafft‘ hat. Dadurch sind die Berufsbiographien häufiger durch ein Tasten und ein Navigieren auf Sicht gekennzeichnet.

Die berufsstolzorientierte Lebensführung – für die wir nur sehr wenige Fälle gefunden haben – wird hingegen deutlich von einem geplanten, ambitionierten Aufstiegsstreben getrieben. Dieses richtet sich allerdings nicht auf den sozialen Status, insbesondere auf Einkommenssteigerung, sondern darauf, berufliche Meisterschaft zu erlangen. Im Vordergrund steht die Betonung der intrinsischen Motivation und die Ausrichtung an einer Anerkennung für ‚das Besondere‘, die den Charakter eines schrankenlosen Strebens nach ‚Exzellenz‘ annehmen kann; zugleich sind Gemeinschaftsbezüge wenig ortsgebunden und vorrangig berufsvermittelt. Der soziale Status stellt auch hier eine Ermöglichungsbedingung dar und kann überdies im Streben nach praktischer Meisterschaft Indikator für Erfolg sein, aber ebenso in negativer Form als ‚Verrat an der Sache‘ eine Gefährdung des Berufsethos darstellen.

Investive Statusarbeit im engeren Sinn, also als biographische Ausrichtung, die sich über investive Praktiken hinaus auch auf eine entsprechende kulturelle Rahmung der Lebensführung bezieht, finden wir in etwa einem Drittel unserer Fälle vor. Diese Lebensführung zeichnet sich durch ein geradliniges, auf Berufserfolg ausgerichtetes Statusstreben aus, welches die Erwerbsbiographie in den Mittelpunkt der Lebensführung und der biographischen Erzählung rückt. Gemeinschaften spielen hier kaum eine Rolle – der Statuserfolg muss einem eher als ‚feindlich‘ erlebten sozialen Umfeld manchmal geradezu abgetrotzt werden. Abgesehen von der eigenen Kernfamilie sind entsprechend auch kaum soziale Bezugsgruppen auszumachen, die den ‚Erfolg‘, nach dem gestrebt wird, bestätigen könnten. Das uferlose Statusstreben erscheint so als ein generalisiertes Streben nach Anerkennung durch ein vorgestelltes, ‚virtuelles‘ Publikum wie z. B. frühere Lehrer, denen man es nun ‚zeigen‘ könne.

So unterschiedlich diese Lebensführungen in einigen Dimensionen auch sein mögen, zeigen sich doch charakteristische Gemeinsamkeiten. Zum einen stellen alle drei Orientierungen verschiedene Spielarten eines ‚Statusprojektes‘ dar, insofern sie unterschiedliche handlungsleitende Konzeptionen davon repräsentieren, wann man es ‚zu etwas gebracht‘ hat. Beim Verfolgen dieser Projekte kann man sich aber nicht auf eine gesicherte sozioökonomische Position verlassen; insofern bleiben Praktiken investiver Statusarbeit unabdingbar. Diese gemeinsame Mittelschichtsspezifik tritt durch eine Kontrastierung mit Lebensführungen, die durch eine niedrigere beziehungsweise eine höhere Ressourcenausstattung gekennzeichnet sind, noch deutlicher hervor. So stellen sich Lebensführungen unter einer Schwelle von etwa 100 % des Nettoäquivalenzeinkommens als ein Kampf um Konsolidierung dar, in dem sich kaum Möglichkeitsräume öffnen, eine Statusorientierung im Sinne eines dauerhaften, habitualisierten Zielens auf anerkennende Identitätsbestätigung als ‚besonders‘ – als anerkanntes Mitglied von Gemeinschaften, als exzellente*r Praktiker*in oder als beruflich ‚erfolgreich‘ – auszubilden und zu verfolgen. In der oberen Mittelschicht und Oberschicht hingegen findet zwar auch Statusarbeit statt, aber unter gesicherten Bedingungen und damit mit deutlich höheren Freiheitsgraden. Hier scheint die viel bessere Ressourcenausstattung dazu zu führen, dass die oben genannten unterschiedlichen Orientierungen, die in den bei uns im Zentrum stehenden Mittelschichtsfällen getrennt auftreten, für die Einzelnen eher miteinander vereinbar erscheinen und zumindest zum Teil als integrierbare Projekte verfolgt werden können.

Unsere Anpassungen in der Samplebildung, das heißt der Einbezug auch höherer Einkommensgruppen (150–200 % und 200–250 % des mittleren Haushalts-Nettoäquivalenzeinkommens) in der zweiten Welle der Untersuchung, und die entsprechenden Befunde haben gezeigt, dass investive Statusarbeit eher in den mittleren und oberen Einkommensschichten anzutreffen ist. Dies könnte darauf hindeuten, dass sich die Möglichkeiten für dauerhaft durch investive Statusarbeit gekennzeichnete Lebensführungen nach dem Ende des „kurzen Traums der immerwährenden Prosperität“ (Lutz 1984) tatsächlich ‚nach oben‘ verschoben haben. Mit dem entsprechend erhöhten Wettbewerb um knappe Ressourcen steigt nicht nur die Wahrscheinlichkeit, dass Aufstiegs- und Sicherheitserwartungen in der Mitte enttäuscht werden können, sondern auch, dass die für eine mehr oder weniger erfolgreiche Statusreproduktion notwendige investive Statusarbeit unsicherer, aufwändiger und anstrengender geworden ist.

Dies dürfte stärker für jüngere Altersgruppen in der Phase des Arbeitsmarkteinstiegs und der Familiengründung als für ältere, bereits beruflich etablierte Mittelschichtenangehörige gelten. Darauf, dass investive Statusarbeit auch eine Antwort auf diese Unsicherheitserfahrung sein kann, weisen die Befunde von Stefan Holubek-Schaum (2021) hin, der genauer untersucht hat, wie sich die hier rekonstruierten Orientierungen in der frühen Erwerbsphase bei den Mitte der 1970er bis Mitte der 1980er Jahre Geborenen und heute zwischen 34- und 45-Jährigen herausgebildet haben. Er zeigt unter anderem, wie die Erfahrung von ökonomischer Unsicherheit in der frühen Erwerbsphase, die in jungen Jahrgängen verbreiteter ist als in älteren, dazu führen kann, dass die Orientierung auf investive Statusarbeit als ein ,Sicherungsexzess‘ erlebt wird, in dem ein beständig als gefährdet angesehener Status in Form eines unermüdlichen Aufstiegsstrebens gesichert werden muss. Auch wenn dies aufgrund der Größe des Samples nicht überinterpretiert werden sollte, ist auffällig, dass die Charakteristika der Orientierung an investiver Statusarbeit besonders bei jüngeren Fällen deutlich zu Tage treten. Auch die Orientierung an Gemeinschaft nimmt in diesen Jahrgängen eine besondere Gestalt an, da sie von der kollektiven Erfahrung lokaler und sozialräumlicher Diskontinuität geprägt ist und damit besondere Praktiken der Rück- oder Neueinbettung erfordert.Footnote 1

Die Schwierigkeiten bei der Statusreproduktion zeigen sich auch in unseren Ergebnissen zu den Praktiken der Statusarbeit. Als wichtiger Befund ist zunächst festzuhalten, dass sich die Lebensführung aller Interviewten in unserer Studie, ungeachtet ihrer unterschiedlichen biographischen Orientierungen, durch ein ausgesprochen vielfältiges Repertoire an Praktiken auszeichnet, die auf eine Sicherung oder Verbesserung des eigenen Status zielen: von Investitionen in die eigene Bildung und beruflichen Aufstieg, in die kaum thematisierte, gleichsam als selbstverständlich angesehene, mehr oder weniger homogame Paarbildung und Familiengründung, in Ausbildung und Unterhalt der Kinder, bis hin zu Wohneigentum und Geldanlagen. Verbreitung und Selbstverständlichkeit, mit der diese Praktiken in den Interviews zu Tage treten, deuten darauf hin, dass Mittelschichtenangehörige ‚nicht anders können‘, als in ihren sozialen Status zu investieren (Schimank et al. 2014). Auch wenn diese Statusinvestitionen im Großen und Ganzen mehr oder weniger erfolgreich sind, finden sich doch gleichzeitig auch aufschlussreiche Anzeichen für wahrgenommene, von außen auferlegte, wie selbst gesetzte Grenzen und damit auch spezifische Konturierungen dieser Statusarbeit.

Bezogen auf den für investive Statusarbeit charakteristischen Planungsimperativ fällt auf, dass insbesondere bei berufsbiographischen Entscheidungen Planungsanspruch und Planungschance keineswegs immer zusammenfallen. Eine erfolgreiche Planungspraxis, in der vorhandene Planungschancen und -ansprüche in eine zielstrebige Verfolgung einer beruflichen Karriere münden, finden sich am ehesten bei jenen Interviewten, die als investive Statusarbeiter*innen über eine relativ hohe Ressourcenausstattung verfügen. Demgegenüber realisieren Vertreter*innen der gemeinschaftsorientierten Lebensführung, die eher durch eine mittlere oder geringere Ressourcenausstattung gekennzeichnet sind, beruflichen Aufstieg nicht um jeden Preis und sehen ihre Berufsbiographien zum Teil eher als ‚glückliche Fügung‘ denn Resultat von zielstrebiger Planung. Daneben gibt es auch noch Beispiele eines ‚Bounded Planning‘, wo ein Planungsanspruch, etwa die Realisierung von beruflicher Selbstständigkeit, zwar besteht, die Chancen auf Realisierung aber kaum vorhanden sind, bis hin zu Beispielen, wo fehlende Planungschancen in Planungsresignation münden. Letztere finden sich vor allem in den bereits angesprochenen Fällen geringer Ressourcenausstattung, die planvolle Statusinvestitionen kaum mehr möglich erscheinen lassen.

Gewisse Grenzen eines uferlosen Statusstrebens zeigen sich auch in Bezug auf das Leistungsethos. So gibt es, in der sachlichen Dimension, moralische Grenzen, wenn etwa eine als hoch wahrgenommene Arbeitsintensivierung es nicht mehr erlaubt, die eigenen Ansprüche an eine ‚gute Arbeit‘ zu erfüllen, aber auch Belastungs- und Fähigkeitsgrenzen, anhand derer Mittelschichtenangehörige entscheiden, was sie im Sinn von Statusarbeit nicht mehr bereit sind zu leisten. Als ein besonders sensibles Feld erweist sich hier die Klärung des Verhältnisses zwischen Erwerbsarbeit und anderen Sphären der Lebensführung. Die Sphäre der Freizeit kann neben der Erwerbsarbeit zu einem weiteren Ort der Statusarbeit werden oder aber gerade der Suspension von beruflicher Statusarbeit dienen. Insbesondere in jenen Fällen, in denen sich eine an Exzellenz ausgerichtete berufliche Orientierung in der Berufstätigkeit nicht realisieren lässt, dient die Freizeit gleichsam kompensatorisch zur Enaktierung dieser Orientierung.

Eine Infragestellung des im bürgerlichen Lebensmodell klassischen funktionalen Zusammenwirkens von Statusarbeit und temporärer Statussuspension findet sich schließlich in Fällen beruflicher Hyperinklusion, wenn die ohnehin zu knappe Freizeit kaum mehr zum Erholen reicht. In diesen Fällen lassen sich auch Anzeichen für die Wirksamkeit eines allumfassenden Anspruchs permanenter Selbstoptimierung finden, wenn selbst die Freizeit, die eigentlich als Bereich legitimer Statussuspension gilt, etwa unter der Devise des sich ‚Fithalten müssens‘ wahrgenommen wird – einer Devise, der man angesichts von extremer Erschöpfung bis hin zu gesundheitlicher Gefährdung kaum mehr nachkommen kann. Entsprechende – wenige – Fälle finden sich wohl nicht zufällig unter investiven Statusarbeiter*innen, die sich überwiegend in stark wettbewerblich geprägten privatwirtschaftlichen beruflichen Kontexten bewegen.

Auch in einer zeitlichen, hier biographischen Dimension wird deutlich, dass es Begrenzungen des Leistungsethos gibt. Während sich in einigen Fällen anhand von ‚Gründungsszenen‘ nachzeichnen lässt, wie investive Statusarbeit zum biographisch angeeigneten Zentrum der Lebensführung wird, wird in anderen Fällen deutlich, wie der Anspruch, den Beruf nicht nur als ‚Broterwerb‘, sondern auch darüber hinaus als sinnstiftend zu erleben, im Erwerbsverlauf vor dem Hintergrund von enttäuschten Erwartungen reduziert beziehungsweise schließlich ganz fallen gelassen wird.

Grenzen investiver Statusarbeit zeigen sich weiterhin darin, dass diese erst im Kontext sozialer Vergleiche Kontur gewinnt, einschließlich der Bezugnahme auf imaginierte Andere. Diese Bezugnahmen können nicht nur, wie im Fall des schrankenlosen Strebens nach fachlicher Exzellenz, tendenziell durch Unerreichbarkeit gekennzeichnet sein, sondern umgekehrt auch durch ‚Statussättigung‘, wenn etwa, wie insbesondere in der gemeinschaftsorientierten Lebensführung, der Korridor eines ‚angemessenen‘ Status und die damit einhergehenden Praktiken durch den Bezug auf die oft lokalen und meist herkunftsnahen Gemeinschaften eng definiert wird. In diesen Fällen dienen soziale Nahbeziehungen zu Eltern, Geschwistern, Verwandten und Freunden dazu, auszuloten, was anstrebenswert und erfolgsversprechend ist, aber auch, wann es ‚genug‘ ist und worauf man lieber verzichten sollte.

Unsere Ergebnisse zeigen weiterhin, dass die Entfaltung des Leistungsethos kein individuelles Projekt ist; vielmehr findet investive Statusarbeit und Statusreproduktion nicht nur im Beruf, sondern auch im Rahmen von Familie und Partnerschaften und zeitlich diachron wie synchron statt. Auch wenn die Interviewten in der Selbstdarstellung ihres ‚Statusprojekts‘ die eigene Person in den Mittelpunkt stellen, besonders deutlich in den Fällen einer am Berufsstolz orientierten Lebensführung, zeigen die Narrationen, dass intergenerationale Statusarbeit eine wichtige Rolle für die subjektive wie objektive Statuspositionierung spielt. Dies gilt in beide Richtungen, das heißt mit Blick auf erhaltene Unterstützungsleistungen durch die eigenen Eltern wie auch mit Blick auf vielfältige, insbesondere auch auf die Einübung in investive Statusarbeit zielende Praktiken gegenüber den eigenen Kindern. Dass elterliche Unterstützung nicht zuletzt in potentiell oder manifest krisenhaften Situationen vor allem für den Statuserhalt wichtig ist, könnte darauf hindeuten, dass sich die Bedingungen der Statusreproduktion für die Generation der Befragten im Vergleich zu Zeiten des „Golden Age“ beziehungsweise der Elterngeneration eher verschlechtert haben. Dass die Aspirationen für die eigenen Kinder in der Tendenz eher auf eine möglichst gute Ausgangsposition für erfolgreiche Statusarbeit und weniger auf als sicher erwarteten Aufstieg angelegt sind, zeigt darüber hinaus, dass die Unsicherheiten einer erfolgreichen intergenerationalen Statusreproduktion reflektiert werden.

Während Praktiken investiver Statusarbeit in Bezug auf Kinder in der eigenen Statusdarstellung einen relativ großen Raum einnehmen, werden Unterstützungsleistungen durch Partner und damit auch bestimmte Aspekte geschlechtsspezifischer Gestaltung der Paarbeziehung deutlich weniger artikuliert. Insbesondere die Übernahme von Haus- und Familienarbeit durch Partnerinnen und die damit einhergehende dauerhafte alltägliche Entlastung wie auch biographische Unterstützung für die Erwerbskarriere wird von den männlichen Mittelschichtenangehörigen oft nicht als solche thematisiert, sondern als neigungsorientierte Arbeitsteilung präsentiert. Damit erscheint das in diesen Fällen vorherrschende Familienerwerbsmodell mit vollerwerbstätigem ‚Ernährerehemann‘ und nicht oder nur teilzeiterwerbstätiger Partnerin und Mutter, das über Jahrzehnte insbesondere in Westdeutschland sozial- und steuerpolitisch gestützt wurde (Gottschall und Schröder 2013) und auch aktuell in Paarhaushalten mit jüngeren Kindern sehr verbreitet ist, weniger als Ausdruck einer rigiden traditionellen Geschlechterrollennorm, sondern versucht sich eher im spätmodernen Gewand der Individualisierung zu kleiden.

Bei den interviewten weiblichen Erwerbstätigen finden sich hingegen, auch im Fall einer stark auf beruflichen Erfolg ausgerichteten Lebensführung, kaum Hinweise auf Entlastung in Haushalt und Privatleben durch den Partner; insbesondere im Fall einer gemeinschaftsorientierten Lebensführung zeigt sich eher eine Anpassung der eigenen beruflichen Karriere an die familiale Situation. Diese Konstellationen sind freilich im Fall des Scheiterns der Partnerschaft mit erheblichen sozialen Abstiegsrisiken behaftet, wie auch in unserem Sample der Fall einer nach Trennung alleinerziehenden Mutter zeigt, der mit ihrer Erwerbsarbeit kaum mehr Statussicherung gelingt. In der Tendenz bestätigt sich hier der Befund eines Beharrungsvermögens geschlechtsspezifischer Rollenteilung auch unter Bedingungen stärker individualisierter und erwerbsorientierter weiblicher Biographien (Koppetsch und Burkhardt 1999; Treas und Drobnič 2010) wie auch, im Fall von Dual-Career-Konstellationen, gewisser mittelschichtsspezifischer Externalisierungsstrategien (Solga und Wimbauer 2005, 2012). Hinweise auf eine faktische Relevanz geschlechteregalitärer Vorstellungen, die als ein wichtiges Kennzeichen der „neuen Mittelklasse“, also akademischer Mittelschichtenangehöriger in modernen Dienstleistungssektoren gelten (Reckwitz 2019, 91), finden sich bei uns am ehesten in der Form, dass inzwischen Männer durchaus bereit sind, Statusgewinne aus einer relativ hohen Statusposition und Ressourcenausstattung der Partnerin zu ziehen. Hier könnte sich eine gewisse Relativierung des männlichen Alleinernährermodells andeuten. Bildungsgewinne und Erwerbsintegration von Frauen können in Fällen partiell unsicherer männlicher Erwerbsbiographien eine wichtige Funktion für die andernfalls eventuell gefährdete Statusreproduktion des Haushalts übernehmen (Klenner et al. 2012), ohne dass allerdings die Sorgearbeit egalitärer geteilt wird.

Grenzen investiver Statusarbeit manifestieren sich in unserer Studie auch in verschiedenen Formen von Statusverunsicherung. Neben Erfahrungen, berufliche Pläne nicht realisieren zu können, und vereinzelt auch Erfahrungen von ‚Statusschocks‘ im Privatbereich – etwa Scheidung – finden wir Irritationen von investiver Statusarbeit im Feld der finanziellen Sicherungsstrategien. So werden, wie unsere Ergebnisse in Überstimmung mit anderen Studien (Schimank 2011a) zeigen, insbesondere Finanzmarkttransaktionen, die nur bei höherer Ressourcenausstattung möglich sind, oder auch Anlageberatungen, die eher von Mittelschichtenangehörigen mit mittlerer und unterer Ressourcenausstattung in Anspruch genommen werden, überwiegend als undurchsichtig wahrgenommen – bis hin zu ausgesprochenen Hilflosigkeitserfahrungen (Schimank 2011b).

Eine spezifische Konturierung von investiver Statusarbeit zeigt sich schließlich darin, dass und wie Statusbehauptung und -legitimation über Abgrenzung erfolgt. So werden in zahlreichen Fällen Praktiken des Strebens nach sozialem Status danach bewertet, ob es sich um ‚gute‘ oder nur ‚erfolgreiche‘ Statusarbeit handelt. Dabei wird das Leistungsethos insbesondere in der Bewertung der Statusarbeit von Anderen mobilisiert, wohingegen die eigene Statusarbeit allein schon durch den Statuserfolg legitimiert sein kann. Diese ‚Doppelmoral‘ könnte als Reflex auf die jüngere gesellschaftliche Aufwertung einer ‚Erfolgskultur‘ gegenüber den eher traditionellen meritokratischen Legitimationen gesehen werden (Neckel 2008; Nachtwey 2016). Eine weitere wichtige Funktion der Aufrechterhaltung eines Leistungsethos besteht in der Statusabgrenzung ‚nach unten‘. Mittels symbolischer Statusarbeit wird Leistung zum zentralen Bewertungsmaßstab nicht nur der eigenen Positionierung, sondern auch der Positionierung Anderer, und trägt so zur Legitimation von sozialer Ungleichheit bei. Zu vermuten ist, dass diese Abgrenzungspraktiken in einem durch verstärkten Wettbewerb, arbeitsgesellschaftliche Subjektivierung und wohlfahrtsstaatliche Aktivierung geprägten gesellschaftlichen Umfeld eine Art sekundäre Legitimation erfahren und damit umso leichter praktizierbar sind (Sachweh et al. 2018).

6.2 Theorie und Methodik revisited

Die resümierten empirischen Befunde unserer Untersuchung substantiieren, was bereits bei der Vorstellung des Theoriemodells angedeutet wurde: Das Modell stellt keine vollständige Abbildung der von ihm erfassten gesellschaftlichen Wirklichkeit dar. In zweierlei Hinsicht erweist es sich vielmehr als unvollständig: Zum einen zeigt investive Statusarbeit noch mehr und andere relevante Facetten als im Modell postuliert; und zum anderen führt die Lebensführung vieler der untersuchten Mittelschichtenangehörigen vor, dass investive Statusarbeit im Sinne eines gesteigerten Strebens nach beruflichem Erfolg nicht immer das dominante biographische Orientierungsmuster darstellt, sondern lediglich als Praktiken im Rahmen einer andersartigen biographischen Orientierung vorkommt.

Die erste Art von Unvollständigkeit ist nichts Außergewöhnliches, sondern findet regelmäßig statt, wenn theoriegeleitete empirische Sozialforschung gegenstandssensibel vorgeht, also nicht einfach nur das an ihrem Untersuchungsgegenstand zur Kenntnis nimmt, was sie theoretisch erwartet – um zu prüfen, ob diese Erwartungen zutreffen oder falsifiziert werden. Gegenstandssensibilität schließt demgegenüber ein, dass vorgefundene neue Aspekte – wie etwa symbolische Statusarbeit – zur weiteren Verfeinerung und Differenzierung des theoretischen Modells genutzt werden können. Ohne hier noch einmal aufzulisten, wo überall wir solche empirischen Anstöße aufgegriffen haben, soll der Gewinn eines solcherart theoriegeleiteten und dennoch explorativen Vorgehens nochmals unterstrichen werden.

Die zweite Art von Unvollständigkeit ist hingegen grundlegenderer Art: Wir haben nach investiver Statusarbeit als biographischer Orientierung gesucht und nicht nur sie, sondern auch noch und – was die Zahl der von uns betrachteten Fälle anbetrifft – sogar überwiegend Anderes gefunden. Anders gesagt: Das theoretische Modell ging von einem fixen Nexus zwischen dieser biographischen Orientierung und entsprechenden Praktiken der Lebensführung aus. Stattdessen haben wir zwar die Praktiken investiver Statusarbeit ubiquitär in unseren Fällen gefunden – aber längst nicht immer in Verbindung mit investiver Statusarbeit als biographischer Orientierung. In diesem Punkt ist das theoretische Modell klar falsifiziert worden. Dies wirft die Frage auf, ob die Ausgangsannahme dieses Nexus sinnvoll war oder am Ende nur einen gar nicht so häufigen, vielleicht gar eher seltenen Spezialfall von Mittelschichtenlebensführung abdeckt.

Aus der quantitativen Verteilung von gut vierzig Fällen, die unsere Studie umfasst, auf die drei gefundenen biographischen Orientierungen lassen sich keine belastbaren Schlüsse auf die Grundgesamtheit ziehen. Insofern ist als Ergebnis der Studie streng genommen nur festzuhalten, dass wir neben investiven Statusarbeiter*innen, wie wir sie theoretisch erwartet hatten, noch zwei weitere Typen der Lebensführung gefunden haben, die in den deutschen Mittelschichten vorkommen. Gleichwohl ist zu vermuten, dass es sich bei beiden nicht um äußerst seltene Sonderfälle handelt. Denn die von uns jeweils herausgearbeiteten Bedingungsfaktoren dafür, dass sich eine an Gemeinschaften oder am Berufsstolz orientierte Lebensführung ausprägt, scheinen unter Mittelschichtenangehörigen weiter verbreitet zu sein. Dies gilt freilich auch für die investive Statusarbeit als biographische Orientierung. So ganz selten kommt sie wohl auch nicht vor. Dies verweist auf die Notwendigkeit weiterer, dann quantitativer Untersuchungen zur Ermittlung der Verbreitung der identifizierten verschiedenen Typen.

Dass wir uns mit der Leithypothese dieser Studie nur auf investive Statusarbeit als theoretisches Konstrukt beschränkt haben, scheint gleichwohl gerechtfertigt, handelt es sich hier doch um den seit über zweihundert Jahren kulturell hegemonialen Lebensführungsmodus der westlichen Moderne, und hier insbesondere der Mittelschichten. Demgegenüber haben die gemeinschafts- und die berufsstolzgeprägte Lebensführung immer nur einen sub-hegemonialen Status erlangt. Unabhängig von ihrer faktischen Häufigkeit sind sie lediglich in speziellen Milieus und unter bestimmten Lebensumständen als ‚gutes Leben‘ explizit vertreten und anderen anempfohlen worden. Der sub-hegemoniale kulturelle Status der beiden anderen Typen macht sie überdies öffentlich weniger sichtbar und führt so auch zu einer Überschätzung der Verbreitung des kulturell hegemonialen Typs – jedenfalls dann, wenn zentrale Bedingungen, um diesen lebenspraktisch umzusetzen, gegeben zu sein scheinen. Dass die bürgerliche Lebensführung des 19. Jahrhunderts als Ausprägung investiver Statusarbeit zwar kulturell hegemonial ist, also den allgemeinen Maßstab darstellt, dennoch aber nur von einer kleinen Minderheit gelebt werden kann, ist damals offensichtlich. Spätestens in der „nivellierten Mittelstandsgesellschaft“ sieht sich dann aber eine deutliche Mehrheit der Bevölkerung, darunter die allermeisten Mittelschichtenangehörigen, prinzipiell in der Lage, investive Statusarbeit erfolgversprechend zu betreiben. Entsprechend unangefochtener fällt deren kulturelle Hegemonie nun aus, und öffentliche Bekenntnisse zu den beiden anderen Lebensführungsmodi werden seltener; man muss sie vielleicht sogar verschwiegen praktizieren und so tun, als sei man investiver Statusarbeiter.

An der kulturellen Hegemonie investiver Statusarbeit hat sich bis heute nichts grundlegend geändert, auch nicht daran, dass als deren Trägergruppe weiterhin die Mittelschichten in ihrer ganzen Breite angesehen werden. Allerdings reflektiert die erwähnte Sampleanpassung im Verlauf unserer Untersuchung, dass Praktiken investiver Statusarbeit in der derzeitigen gesellschaftlichen Situation tendenziell eine Ressourcenausstattung deutlich oberhalb einer Schwelle von 100 % des durchschnittlichen Nettoäquivalenzeinkommens erfordern. Mehr noch: Die Fälle investiver Statusarbeit als biographischer Orientierung, auf die wir gestoßen sind, müssen hinsichtlich ihrer Ausstattung mit ökonomischem Kapital der oberen Mittelschicht zugeordnet werden. Dies könnte reiner Zufall sein – aber auch ein Anzeichen für veränderte soziostrukturelle Rahmenbedingungen für investive Statusarbeit als biographische Orientierung. Während die Bildungsexpansion seit den 1960er Jahren dafür gesorgt hat, dass es hinsichtlich des kulturellen Kapitals einen massiven „Fahrstuhleffekt“ (Beck 1986, 122) nach oben gegeben hat, also ungleich mehr Mittelschichtenangehörige nicht nur das Abitur, sondern einen Studienabschluss vorweisen können,Footnote 2 sind nach dem „Golden Age“, als die Mittelschichten die ökonomischen Hauptgewinner langanhaltender wirtschaftlicher Prosperität sind, seit Ende der 1970er Jahre größere Teile der Mittelschichten zu Verlierern geworden beziehungsweise befürchten, dass sie oder spätestens ihre Kinder es werden könnten (Lengfeld und Hirschle 2009; Milanovic 2016, 55–126; Reckwitz 2019, 63–125). Angesichts dessen ist es nicht weit hergeholt, zu vermuten, dass die investiven Statusarbeiter in den 1960er Jahren den quantitativen Höhepunkt ihrer Verbreitung gefunden haben und seit den 1980er Jahren – wie objektiv berechtigt oder auch nicht – in größerer Zahl entmutigt worden sind, weiter investive Statusarbeit als dominante biographische Ausrichtung beizubehalten. Entsprechend hätte es eine Zunahme der beiden anderen Typen geben müssen, sofern nicht noch ganz andere, in unseren Fällen gar nicht vorkommende Typen wie hedonistische Lebensausrichtungen aufgekommen sind. Auch solchen Veränderungen der Verbreitung der verschiedenen Modi von Mittelschichtenlebensführung müsste man versuchen, mit repräsentativen Studien nachzugehen, die freilich für die Vergangenheit keine Befragungen sein können.

Die Ausrichtung des Suchscheinwerfers auf investive Statusarbeit im Rahmen eines explorativen Vorgehens hat sich nicht nur mit Blick auf die Entdeckung von zwei weiteren Typen biographischer Orientierung, den an Gemeinschaft und Berufsstolz orientierten Lebensführungen, gelohnt. Vielmehr konnten wir so auch identifizieren, dass Praktiken der investiven Statusarbeit bei allen den Mittelschichten zuzuordnenden empirischen Fällen in erheblichem Maße vorzufinden sind, und so einen wesentlichen Teil der Ausgangshypothese bestätigen. Auch gemeinschafts- und berufsstolzgeprägte Mittelschichtenangehörige haben ein ganzes Stück weit und über längere Strecken ihres Lebensweges investive Statusarbeit betrieben und, wie viele Fälle zeigen, betreiben müssen, um die eigene ökonomische Existenz zu sichern und nicht sozial abzusteigen. Der Unterschied ist freilich, dass bei ihnen die dominante biographische Ausrichtung keine der investiven Statusarbeit ist. Die Praktiken investiver Statusarbeit werden als Mittel zum Zweck, als unumgängliche Notwendigkeit, der man teils auch nur widerwillig Tribut zollt, angesehen, aber nicht als Selbstzweck – wie dies bei der investiven Statusarbeit als biographischer Orientierung der Fall ist. Das heißt zugleich, dass der Sachzwang zur investiven Statusarbeit nicht mit einer subjektiv als biographischen Ausrichtung zu eigen gemachten kulturellen Rahmung einhergehen muss, die investive Statusarbeit auch als „Mission Statement“ einer gelungenen Lebensführung fasst.

Das Verhältnis von theoretischem Modell und empirischen Befunden lässt sich damit folgendermaßen auf den Punkt bringen:

  • Unsere theoretische Erwartung war, dass investive Statusarbeit in den Mittelschichten der selbstzweckhaft verabsolutierte Lebensführungsmodus ist – und dies nicht nur als kulturelles Leitbild eines ‚guten Lebens‘, sondern als von diesem Leitbild beseelte Lebenspraxis.

  • Empirisch vorgefunden haben wir stattdessen ein differenzierteres Bild: Neben diesem theoretisch erwarteten Typus gibt es zwei weitere Typen, die anderen biographischen Ausrichtungen – Gemeinschaftsorientierung und Berufsstolz – folgen, sich aber dennoch zur Verfolgung dieses jeweiligen Selbstzwecks auch in beträchtlichem Maße Praktiken investiver Statusarbeit bedienen müssen.

Noch kürzer: Neben investiver Statusarbeit als Kombination von Selbstzweck und Mitteln gibt es weiterhin investive Statusarbeit nur als Mittel zur Verfolgung anderer Selbstzwecke – wobei auch diese untergeordnete Nutzung investiver Statusarbeit immer noch eine erhebliche Prägekraft auf die Lebensführung entfaltet.

Wie lässt sich im Lichte dieser Ergebnisse nun das methodische Vorgehen bewerten? Hat sich das gewählte Forschungsdesign bewährt, wo liegen die Grenzen der verwendeten Verfahren? Rückblickend können wir sagen, dass sich für die im Mittelpunkt unserer Studie stehenden handlungsleitenden Orientierungen der Lebensführung und die sinnhaften Bezüge zwischen verschiedenen Lebensbereichen das aufwändige Vorgehen gelohnt hat. Die Stehgreiferzählungen bieten eine gute Grundlage, um den Stellenwert von Statusarbeit in den Orientierungsmustern zu rekonstruieren. Dabei muss betont werden, dass gerade die immanenten, ebenfalls auf Narrationen zielenden Nachfrageteile zu der biographischen Ersterzählung häufig besonders aufschlussreiche Informationen erbringen und die eher auf Konsistenz angelegte Ersterzählung in wichtigen Aspekten korrigieren. So ist die Ersterzählung oft weniger stark narrativ angelegt als die detailreichen Erzählungen, die auf Nachfragen zu bestimmten Situationen, Episoden und Lebensphasen produziert werden. In der Ersterzählung wird vieles nur angedeutet, was sich dann auf die Aufforderung hin, noch einmal „genauer zu erzählen“, als wichtiges Puzzleteil zum Verständnis der Orientierungsmuster erweist und tiefere Einblicke in die biographische Erfahrungsaufschichtung und die Muster der Sinnbezüge ermöglicht. Dies trifft insbesondere auf die Rekonstruktion des beruflichen Werdegangs zu, und zwar sowohl hinsichtlich der früheren Entscheidungssituationen und der damaligen Rahmenbedingungen, wie sie sich aus der Sicht der Interviewpartner*innen darstellten (Schütze 2008), wie auch der individuellen Handlungsorientierungen. Mithilfe des rekonstruktiven, sequenzanalytischen Auswertungsverfahrens war es auf Basis dieser Daten möglich, zumindest partiell auch Veränderungen von biographischen Orientierungen zu erfassen (Hollstein 2019).Footnote 3

Dies ist vor allem für den Kohortenvergleich instruktiv, auch wenn dieser natürlich in quantitativer Hinsicht nicht verallgemeinert werden kann. So zeigen die Auswertungen von Stefan Holubek-Schaum (2021), dass viele der jüngeren, zwischen Mitte der 1970er und Mitte der 1980er Jahre geborenen Befragten während der Ausbildung beziehungsweise während des Studiums noch die Vorstellung haben, intrinsische Berufsorientierung, sozioökonomische Statussicherung und Gemeinschaftsorientierung verbinden zu können, diese Orientierungen sich dann jedoch im Laufe der Zeit immer mehr auf Statusarbeit als Zentrum der Lebensführung verengen. Im Kontrast finden wir die Gemeinschaftsorientierung als Zentrum der Lebensführung vor allem bei den älteren, zwischen Mitte der 1950er bis 1970er Jahre Geborenen, die zum Zeitpunkt der Befragung zwischen 45 und 65 Jahren alt sind. Hier könnte man nun vermuten, dass man es sich in einer konsolidierten Lebensphase gewissermaßen eher ‚leisten kann‘, nicht mehr zentral auf Statusarbeit zu setzen und entsprechend im mittleren und höheren Lebensalter möglicherweise eine Umorientierung stattgefunden hat. Zumindest für einige Fälle lässt sich jedoch zeigen, dass bereits frühe berufsbiographisch relevante Entscheidungen schon im Lichte einer Orientierung am persönlichen Nahumfeld getroffen werden und dafür Einbußen bezogen auf Aufstiegs- und Karrieremöglichkeiten in Kauf genommen werden (Hollstein 2019; Holubek-Schaum 2021). Es scheint also eher umgekehrt so zu sein, dass sich die heute Älteren während ihres Berufseinstiegs in den 1970er und 1980er Jahren eine Gemeinschaftsorientierung bei gleichzeitiger ökonomischer Absicherung eher leisten können als diejenigen, die zu einem historisch späteren Zeitpunkt unter ökonomisch unsichereren Bedingungen in den Arbeitsmarkt eintreten. Die Auswertungen geben also Hinweise auf Lebenslaufeffekte und erlauben damit auch vorsichtige Schlussfolgerungen – zumindest in thesenhafter Form – zu möglichen Generationenunterschieden.

Deutliche Begrenztheiten des Forschungsdesigns werden hinsichtlich der Rekonstruktion der Praktiken der Statusarbeit sichtbar. Dies betrifft vor allem die Praktiken der Statusdarstellung und der Statussuspension. Hier zeigen sich die Grenzen des in Interviews Sag- und Ausdrückbaren. Auch die ergänzenden Informationen aus den Beobachtungen der Lebensführung, insbesondere der Wohnsituation und -ausstattung sowie der sozialräumlichen Umgebung, können hier nur vereinzelt Hinweise geben. Bezüglich der konkreten Praktiken der Lebensführung, insbesondere hinsichtlich der Statusdarstellung und -suspension, würde ein ethnographisches Vorgehen mit längeren Feldaufenthalten und Teilnahme an beruflichen und privaten Treffen sicherlich aufschlussreiche Informationen erbringen.Footnote 4 Für künftige Untersuchungen der Lebensführung wäre auch zu erwägen, ethnographische Methoden mit dem Instrumentarium der Lebensstilforschung zu verbinden, ganz in Richtung dessen, was Bourdieu (1979) in seiner Studie zu den „Feinen Unterschieden“ im Sinne hat – der allerdings auf standardisierte Befragungsdaten verwiesen ist. Entsprechende weiterführende Untersuchungen müssten weiterhin auch systematischer, als es hier möglich war, die Unterstützungsressourcen aus dem persönlichen und beruflichen Netzwerk erheben (Lin 2001), die unter Umständen ganz erheblich zur Statussicherung beitragen (Lüdicke und Diewald 2007).Footnote 5

6.3 Gesellschaftsdiagnostische Einordnung

Wie passen nun die empirischen Hauptergebnisse unserer Studie, dass zwar alle Mittelschichtenangehörigen investive Statusarbeit betreiben, viele aber berufliches Erfolgsstreben nicht zum „Mission Statement“ ihrer Lebensführung machen, zum zeitdiagnostischen Porträt der Mittelschichten? Der Tenor dieser Zeitdiagnosen lässt sich pointiert so zusammenfassen:Footnote 6

  • Die Mittelschichten seien in den zurückliegenden Jahrzehnten von einer kollektiven Verunsicherung ihrer Lebensführung erfasst worden. Als verbreitete Stimmungslage wird dies in den einschlägigen Studien durch einige empirische Evidenz gestützt. Weniger gesichert ist, für einen wie großen Anteil der Mittelschichtenangehörigen gilt, dass diesen subjektiven Verunsicherungen tatsächliche Gefährdungen zugrunde liegen oder sogar soziale Abstiege korrespondieren. Weitere Forschungen wären nötig, um dazu mit größerer Verlässlichkeit und Genauigkeit Aussagen treffen zu können.

  • Ein kleinerer Teil der Mittelschichtenangehörigen habe gegenläufige Erfahrungen gemacht, nämlich im selben Zeitraum erfolgreiche soziale Aufstiege und Verbesserungen ihrer Lebenssituation verzeichnet. Zumindest hinsichtlich der ökonomischen Ressourcenausstattung lässt sich das zeigen.

  • Zwischen diesen beiden Fraktionen – den Verunsicherten und Absteigenden einerseits und den Aufsteigenden andererseits – werden Spannungen ausgemacht, die als Erklärung für die zu beobachtende politische Polarisierung der letzten Jahre, vor allem für den Aufstieg des Rechtspopulismus, herangezogen werden.

Aus diesem Dreiklang von Verunsicherungen, Gefährdungen und Abstiegen, kombiniert mit dem, freilich deutlich leiseren, Kontrapunkt Aufstiege und der aus dieser Spannung resultierenden Polarisierung setzt sich der Mittelschichten-Blues der sozialwissenschaftlichen Zeitdiagnostik zusammen. Wir wollen im Weiteren keineswegs bestreiten, dass es in den letzten Jahrzehnten die angesprochenen Phänomene vermehrt in den deutschen Mittelschichten gegeben hat und gibt. Mit unseren qualitativen Daten können wir ohnehin nicht viel dazu beitragen, die jeweiligen Größenordnungen der Phänomene genauer zu bestimmen. Wir wollen vielmehr in einer Auseinandersetzung mit zwei prominenten aktuellen Diagnosen, derjenigen von Oliver Nachtwey (2016) und derjenigen von Andreas Reckwitz (2019, 63–133), eine etwas andere Tonlage in die Diskussion darüber bringen, wie es den Mittelschichten derzeit geht – nicht als Gegenthese zum Mittelschichten-Blues, sondern als dessen notwendige Ergänzung.Footnote 7

Diese beiden Diagnosen bieten sich an, weil sie wichtige und einander teilweise widersprechende, teilweise ergänzende Positionen besetzen, die das Spektrum der Diskussion gut abstecken; zudem handelt es sich um prominent, auch in einer breiteren Öffentlichkeit debattierte Beiträge. Die Gemeinsamkeit beider, und damit dieser Diskussion über die Mittelschichten insgesamt, besteht darin, dass ein historischer Bruch konstatiert wird, der die Lebensführung der Mittelschichten mit dem Ende des „Golden Age“ ab Mitte der 1970er Jahre grundlegend erschüttert habe – mit wenigen Gewinnern, aber deutlich mehr Verlierern und noch mehr Verunsicherten. Vor allem Reckwitz diagnostiziert, dass mit diesen Gruppen die gesamte gegenwärtige Mittelschicht beschrieben ist. Anders gesagt: Die Diskussion geht von einer seit geraumer Zeit verunsicherten, mit dem sozialen Abstieg ringenden Mittelschicht aus. Wir hingegen haben in unserer Untersuchung einen deutlichen Kontrast dazu gefunden: ziemlich unaufgeregte Mittelschichtenangehörige, die beharrlich ihre biographischen Orientierungen verfolgen – in diesem Aspekt ihrer Stimmungslage nicht viel anders, als es für das „Golden Age“ gewöhnlich angenommen wird. Wie passt das zusammen?

Zunächst einmal sollen die vielfältigen gesellschaftlichen Umbrüche, die es seit Mitte der 1970er Jahre gegeben hat, nicht in Abrede gestellt werden. Es ist soziologisch auch nicht plausibel, dass diese Umbrüche – um nur die üblichen Verdächtigen schlagwortartig anzuführen: Individualisierung, Globalisierung, Ökonomisierung, Digitalisierung – sich gar nicht oder nur marginal auf die Lebensführung der Gesellschaftsmitglieder generell und der hier interessierenden Mittelschichten ausgewirkt hätten. Doch diese Auswirkungen scheinen längst nicht in jedem Fall derart beschaffen zu sein, dass gravierende gesellschaftliche Umbrüche zwangsläufig als ebenso gravierende Irritationen der Lebensführung durchschlagen.

Um die Auseinandersetzung mit Nachtweys Sicht der Mittelschichten zu beginnen: Er geht davon aus, dass die wirtschaftliche Globalisierung, gepaart mit einer globalen „Neoliberalisierung“ der Gesellschaften, „zwei Welten“ – hier zitiert Nachtwey (2016, 109) Ralf Dahrendorf – geschaffen habe: „… eine der Chancen und eine des Ausschlusses…“ Die ungleich größere letztere habe in Gesellschaften wie der deutschen vor allem vier Erscheinungsformen einer „Abstiegsgesellschaft“ angenommen. Erstens seien mehr und mehr Menschen durch Vergleiche mit anderen, die soziale Abstiege erlebt haben, verunsichert – nach dem Motto: ‚Das könnte mir auch passieren‘ (Nachtwey 2016, 152/153)! Zweitens sei eine „neue Unterklasse“ von Menschen entstanden, die Mittelschichtenberufe ausüben, aber kein Normalarbeitsverhältnis innehaben (Nachtwey 2016, 174). Drittens seien die Jüngeren besonders betroffen: gut ausgebildet, oft mit Studium, aber mit schlechten Arbeitsmarktchancen (Nachtwey 2016, 206). Viertens schließlich könne aus solchen Verunsicherungen nicht nur linker Protest wie bei Occupy hervorgehen; die Verunsicherten könnten auch, was in Deutschland vorrangig geschehen sei, zu rechten „Wutbürgern“ werden (Nachtwey 2016, 216–224).

Abgesehen davon, dass man manches hinterfragen könnteFootnote 8 und dass die tatsächlichen Abstiege deutlich seltener vorkommen als entsprechende Verunsicherungen, ist zunächst einmal festzuhalten, dass es eine bestimmte Teilmenge von Mittelschichtenangehörigen gibt, auf die das so umrissene Szenario „Abstiegsgesellschaft“ zutrifft. Insofern trägt Nachtwey mit den von ihm zusammengestellten, teilweise auch selbst erhobenen Befunden zu einem empirisch fundierten Bild der heutigen Mittelschichten bei. Wir finden unter unseren Fällen jedoch keinen, der in das von ihm gezeichnete Szenario „Abstiegsgesellschaft“ passt oder sich auch nur subjektiv darin wähnt. Den wenigen Fällen von Absteigern, auf die wir gestoßen sind, liegen besondere Ursachen zugrunde, die mit den von Nachtwey angesprochenen gesellschaftlichen Umbrüchen nur bedingt etwas zu tun haben.Footnote 9 Bedeutsamer aber scheint uns, dass nur einige der Interviewten tiefergehende Verunsicherungen hinsichtlich der eigenen Zukunft äußern; und diese beziehen sich weniger auf die beruflichen Chancen, sondern sind Ausdruck von Ratlosigkeit darüber, wie es um die eigene Alterssicherung bestellt ist – was sicherlich ein wichtiges Thema, aber nicht als erstes gemeint ist, wenn von Prekarisierung und Zukunftsangst gesprochen wird. Auch hinsichtlich der Zukunft der eigenen Kinder sind unsere Befragten nicht überwiegend pessimistisch. Vielmehr gehen die meisten eher davon aus, dass ihre Kinder eine Chance bekommen werden, und tun auch Einiges dafür, ihren Kindern den Weg in eine gute Zukunft zu bereiten; dies würde wenig Sinn machen, wenn bei ihnen Fatalismus vorherrschte.

Eine genauere Analyse unserer Fälle mit Blick auf die von Nachtwey angesprochenen Triebkräfte der „Abstiegsgesellschaft“ würde sicherlich hier und da Aspekte der Lebensführung finden, in denen sich Globalisierung und „Neoliberalisierung“ niederschlagen – aber eben weniger heftig, als von ihm und anderen postuliert. Dass viele Mittelschichtenangehörige hier offenbar ein sprichwörtliches ‚dickes Fell‘ haben,Footnote 10 könnte daran liegen, dass die Beharrungskräfte, die in der Kapitalausstattung mittlerer sozialer Lagen sowie in deren kulturellen Orientierungen fundiert sind, größer sind, als in den Zeitdiagnosen unterstellt wird. All diese Diagnosen – so auch Nachtwey – würden ja, in unserem Theoriemodell gedacht, davon ausgehen, dass investive Statusarbeit für mehr und mehr Mittelschichtenangehörige gar nicht mehr oder nur unter sehr erschwerten Bedingungen und mit äußerst bescheidenen Erträgen praktikabel ist. Infolgedessen verliere man den Glauben an das Leistungsethos und den Planungsimperativ; und zusammengenommen liefe das auf eine sich selbst erfüllende Prophezeiung hinaus: ‚Du hast keine Chance, also lass‘ es!‘ Wer es aber lässt, hat erst recht keine Chance. Wer nicht immer wieder, auch nach Rückschlägen, mutig investiert, um Schritt für Schritt wieder zurück und weiter vorankommen zu können, erntet statt bestärkender Erfolgserlebnisse Nicht-Erfolgserlebnisse, die – da Investitions-Stillstand schnell auf Kapitalentwertung hinausläuft – zu Misserfolgserlebnissen werden, die weitere Misserfolgserlebnisse nach sich ziehen.

Unsere Fälle praktizieren aber dauerhaft investive Statusarbeit, auch auf teilweise bescheidenem Niveau, und ohne damit ‚große Sprünge‘ zu machen, die sie sich davon auch gar nicht erhoffen. Ohnehin sind ja die biographischen Orientierungsmuster der Berufsstolzen und Gemeinschaftszentrierten nicht auf schrankenloses sozioökonomisches Statusstreben hin ausgerichtet. Nostalgische Vergleiche derart, dass die eigenen Eltern oder Großeltern es unter deren gesellschaftlichen Bedingungen so viel einfacher mit investiver Statusarbeit gehabt hätten, finden sich nicht. Es herrscht vielmehr die pragmatische Haltung vor, dass jede Generation mit der von ihr vorgefundenen Situation zurechtkommen müsse – und auch könne. Immer habe man zu kämpfen gehabt und musste auch Rückschläge wegstecken, doch immer konnte man etwas für sich tun und sogar größere oder zumindest kleinere Erfolge verbuchen. Ein historischer Umbruch wird hinsichtlich der Bedingungen investiver Statusarbeit nicht gesehen – weder von den investiven Statusarbeiter*innen noch von denjenigen mit einer gemeinschaftszentrierten oder berufsstolzgeprägten Lebensführung. Insbesondere gibt es unter unseren Fällen keine Anzeichen dafür, dass jemand zur gemeinschaftszentrierten Lebensführung erst dann gefunden hat, als er oder sie mit investiver Statusarbeit Schiffbruch erlitten hatte. Wie Hürtgen und Voswinkel in ihrer Studie zu „Anspruchslogiken aus der Arbeitnehmermitte“ (2014) ebenfalls herausgearbeitet haben, halten unsere Mittelschichtenangehörigen an ihren biographischen Orientierungen und den damit zusammenhängenden evaluativen und normativen Selbstansprüchen und Praktiken der Statusarbeit fest – und nehmen diese, stärker noch als die von Hürtgen und Voswinkel betrachteten Fälle, auch nicht als besonders gefährdet oder problematisch wahr.Footnote 11

Die eine Erklärung dafür, dass die von uns untersuchten Fälle so beharrlich die seit dem 19. Jahrhundert etablierte historische Kontinuität investiver Statusarbeit wahren, dürfte die ungebrochene Hegemonie der kulturellen Rahmung sein. Man darf zwar heute, wie auch schon früher, den Planungsimperativ in seiner konsequenten Auslegung als etwas weltfremd relativieren und sich mehr Planungssicherheit wünschen, diesen Wunsch aber zugleich als wenig realistisch einstufen (Schimank 2015). Man darf sogar, wie auch einige unserer Fälle, auf ‚glückliche Fügungen‘ verweisen, die letztlich ausschlaggebender gewesen sind als eigene Pläne. Doch eine dezidierte Erklärung des eigenen Planungsverzichts gibt niemand abFootnote 12 – schon gar nicht als Empfehlung, etwa an die eigenen Kinder. Beim Leistungsethos sieht es ambivalenter aus, bis hin zu der bei unseren Fällen gefundenen Doppelmoral. Generell findet dieses Ethos nach wie vor beträchtliche Zustimmung, allerdings wird zunehmend beklagt, dass der Leistungsdruck gestiegen sei, die Voraussetzungen dafür, dass Leistungsgerechtigkeit herrscht, schlechter geworden seien und man weniger Anerkennung für die erbrachte Leistung bekomme (Schimank 2017). Angesichts dessen neigen viele der von uns befragten Mittelschichtenangehörigen dazu, andere am Maßstab des Leistungsethos zu messen, für sich selbst aber durchaus eher – wenn die investive Statusarbeit klappt – ein Erfolgsethos in Anspruch zu nehmen: Wenn es um einen selbst geht, findet man auch solche Statuserfolge legitim, die man nicht eigener Leistungsüberlegenheit zurechnen kann, sondern wofür andere Faktoren wie ‚Beziehungen‘ oder ‚Glück‘ ursächlich sind. Dieser doppelte Maßstab bringt zum Ausdruck, dass man dem Leistungsethos weiterhin anhängt, aber – sofern man selbst Begünstigter ist – gleichsam achselzuckend, vielleicht auch heimlich schuldbewusst zur Kenntnis nimmt, dass nicht immer alles mit rechten Dingen zugeht. Planungsimperativ und Leistungsethos stehen somit beide alles andere als glänzend dar; doch es gilt eben: ‚You can’t beat something with nothing.‘ Solange kein anderer, deutlich und weithin überzeugenderer normativer und evaluativer kultureller Rahmen propagiert wird, bleibt es beim Alten.

Die andere Erklärung, die sowohl alternativ als auch komplementär zur Beharrungskraft der kulturellen Rahmung investiver Statusarbeit herangezogen werden kann, könnte in der Kapitalausstattung und den diese rahmenden wohlfahrtsstaatlichen Bedingungen zu finden sein. An diesem Punkt passen Nachtweys Einschätzungen und unsere Befunde zusammen. Er hat bei seiner Diagnose ja vor allem die unteren Mittelschichten und die Unterschichten vor Augen.Footnote 13 Die Lebensführung unserer Interviewpartner*innen mit eher geringem Einkommen (mittleres Haushalts-Nettoäquivalenzeinkommen unter 100 %) ist in der Tat gegenwärtig dadurch charakterisiert, dass ein planvolles Streben nach dauerhafter Statusverbesserung aufgrund der geringen Ausstattung vor allem mit ökonomischem Kapital kaum realisierbar ist und auch kaum versucht wird. Die Lebensführung dreht sich hier nicht um investive Statusarbeit, sondern stellt eher ein Ringen um Statuskonsolidierung dar, wie auch Untersuchungen zeigen, die die Statusvolatilität mitsamt Verunsicherungen von Aufstiegsaspirationen und Lebensplanung bis hin zu Statusfatalität an den unteren Rändern der Mittelschichten verorten und dies mit Flexibilisierungen und ‚Entsicherungen‘ in Dienstleistungsbranchen und im Wohlfahrtsstaat in Verbindung bringen (Vogel 2009; Heinze 2011; Bahl 2014, 2018; Grimm 2016).

Auch wir haben in den der unteren Mittelschicht zuzuordnenden Einkommensgruppen keine investiven Statusarbeiter*innen vorgefunden und unsere Fallauswahl daher, wie schon erwähnt, in der zweiten Interviewwelle durch den Einbezug höherer Einkommensgruppen (150–200 % und 200–250 % des mittleren Haushalts-Nettoäquivalenzeinkommens) angepasst. Diese Einkommensgruppen sind deutlich weniger als die oben Genannten von den in den letzten beiden Jahrzehnten implementierten Arbeitsmarktreformen, die Statussicherung durch Grundsicherungen ersetzt haben, oder von Ökonomisierungen in öffentlichen Beschäftigungsbereichen (Verwaltung, Bildungs- und Gesundheitswesen) betroffen; sie haben eher noch von steuerlichen Entlastungen und dem Ausbau von familienpolitischen Leistungen wie etwa der Einführung des Elterngeldes als Lohnersatzleistung profitiert (Henninger et al. 2008). In diesen Gruppen fanden wir dann die meisten unserer Fälle mit investiver Statusarbeit als dominanter biographischer Orientierung – in einem Fall an der Grenze zu den Oberschichten. Dass sich eine biographische Ausrichtung auf investive Statusarbeit auch in den Oberschichten findet, die diesen Lebensführungsmodus nicht betreiben müssten, ihn jedoch unter ökonomisch gesicherten Bedingungen relativ mühelos betreiben können, deutet nicht nur auf einen nach wie vor relativ gefestigten hegemonialen Status dieser Form der Statusarbeit hin. Vielmehr zeigt sich darin auch, dass sich der Ort dieses Typus des ‚guten Lebens‘ „nach dem Boom“ (Doering-Manteuffel und Raphael 2008) nach oben verschoben haben dürfte.

Zu nennen ist ein letzter Punkt, an dem unsere Untersuchung weniger voreingestellt gewesen ist als Nachtweys Perspektive: Er ist auf Statusarbeit als biographisches Orientierungsmuster fixiert und daher geneigt, alles, was nicht als Statuserfolg bilanziert werden kann, als Abstieg oder zumindest als Stagnation einzustufen.Footnote 14 Obwohl unser theoretisches Modell ähnlich rigoros angelegt ist, sind wir empirisch offen dafür geblieben, davon abweichende biographische Ausrichtungen nicht nur als Scheitern investiver Statusarbeit verbuchen zu können.

Zunächst einmal finden wir auch eine berufsstolzgeprägte Lebensführung, die es in einer ‚neoliberalen‘ Gesellschaft eigentlich nicht mehr geben dürfte: künstlerisch oder wissenschaftlich ambitionierte ‚Kreative‘, die sich auf wenig Kompromisse mit ökonomischen Zwängen einlassen wollen, aber auch solide wirtschaftende Handwerker, die für ‚gute Arbeit‘ zwar ‚gutes Geld‘ sehen wollen, ohne jedoch Profitmaximierung auf Kosten beruflicher Qualitätsstandards zu betreiben.Footnote 15 Dass unsere beiden künstlerische beziehungsweise wissenschaftliche Karrieren verfolgenden Protagonisten am Ende große Kompromisse eingehen mussten, um für sich und ihre Familie mehr ökonomische Sicherheit zu erlangen, ist ein altes Lied lange vor der „Abstiegsgesellschaft“.

In der intrinsischen Motivation und der Ausrichtung sozialer Bezüge vorrangig auf das berufliche Feld weist dieser Typus eine gewisse Übereinstimmung mit Befunden der Studie von Nicole Burzan et al. (2014) auf. In Bezug auf den Umgang von Mittelschichtenangehörigen mit Statusunsicherheiten wird dort für freiberufliche Journalisten – im Vergleich mit Angestellten in der Privatwirtschaft – konstatiert, dass sich die Journalisten auch unter unsicheren beruflichen Bedingungen eher an ‚Neigung‘ als an ökonomischem ‚Erfolg‘ orientieren, gepaart mit Strategien von Netzwerkbildung und persönlicher Ungebundenheit (Burzan et al. 2014, 137 ff., 162). Das an höchsten inhaltlichen Ansprüchen ausgerichtete Leistungsstreben der Berufsstolz-Lebensführung, das sich vorrangig im Berufsbereich realisiert, aber eben auch auf andere Lebensbereiche übergreift, legt einerseits Bezüge zur Lebensführung einer „neuen Mittelklasse“ nahe, wie sie Reckwitz (2017, 285–349; 2019, 90–96) porträtiert: geprägt durch eine hohe Ausstattung mit kulturellem Kapital, ein hohes Identifikationspotential der Berufstätigkeit, die zugleich immer neue Herausforderungen und Leistungsanforderungen stellt.Footnote 16 Die Handwerkerin verdeutlicht andererseits, dass sich dieser Lebensführungsmodus auch bei Menschen ohne akademischen Abschluss findet, die Reckwitz aus seiner „neuen Mittelklasse“ ausschließt.Footnote 17

Die gemeinschaftszentrierte Lebensführung verkompliziert das Bild ebenfalls in einer Weise, die in Nachtweys, aber auch in Reckwitz‘ Unterscheidung auf- und absteigender Mittelschichtenangehöriger nicht vorgesehen ist. Diese Lebensführung weist Ähnlichkeiten zu Reckwitz‘ (2019, 97–102) Beschreibungen einer „alten Mittelklasse“ als „sesshaftem“ Milieu auf. Deren Lebensführung stellt sich als – Reckwitz (2019, 99) zitiert hier eine Formulierung von Arlie Hochschild – „verwurzeltes Selbst“ dar, dem es weniger um individualistische Selbstverwirklichung als vielmehr darum geht, ein akzeptiertes Mitglied nahräumlicher, die verschiedenen Lebensbereiche übergreifender Gemeinschaften zu sein. Sobald ein als angemessen erachteter Status erreicht und gesichert worden ist, tritt sozusagen ‚Statussättigung‘ ein. Die Angemessenheit ergibt sich aus den Bezugsgemeinschaften, mit deren Mitgliedern man mithalten will, die man aber nicht permanent zu übertreffen trachtet. Nicht selten sind diese Gemeinschaften herkunftsnah. Die lokale Kontinuität von Geburt an ist allerdings nicht zwingend, wie jene Fälle in unserem Sample zeigen, wo diese Orientierung auch bei Mobilität im Lebensverlauf zu finden ist. Soziostrukturell prototypisch für die gemeinschaftsgeprägte Lebensführung sind Beschäftigte im öffentlichen Dienst – etwa Verwaltungsangestellte oder Lehrer*innen. Diese Berufslaufbahnen gewährleisten hohe Statussicherheit, nicht nur in der aktiven Erwerbsphase, sondern auch darüber hinaus, und können so von permanentem Statusstreben entlasten und damit Orientierungen auf andere Lebensbereiche ohne Risiken von Statusverlusten ermöglichen. Aber auch Facharbeiter*innen und Fachangestellte in Großbetrieben mit starken Gewerkschaften – die sogenannte Kernbelegschaft, die es durchaus auch noch gibt – können sich als „Industriebeamte“Footnote 18 ohne größere berufliche Zukunftsunsicherheiten fühlen.

So ist eine Orientierung an Statusverbesserung, die keine Grenzen kennt, gepaart mit mehr oder weniger langfristigen biographischen Planungsansprüchen, nur bei den Vertreter*innen der investiven Statusarbeit als biographischer Ausrichtung vorzufinden. Demgegenüber realisieren Vertreter*innen der gemeinschaftszentrierten Lebensführung, die eher durch eine mittlere oder geringere Kapitalausstattung gekennzeichnet sind, beruflichen Aufstieg nicht um jeden Preis und sehen ihre Berufsbiographien zum Teil eher durch ‚glückliche Umstände‘ bestimmt, denn als Resultat zielstrebiger Planung. Diese Bescheidung in Statusaspirationen und Planungshandeln ist allerdings konditional. So rücken auch bei Vertreter*innen dieser Lebensführung Planungsanspruch und Statusaktivitäten dann in den Vordergrund, wenn ein als angemessen erachteter Lebensstandard gefährdet erscheint – etwa durch Erfahrungen von beruflicher Statusverunsicherung oder durch ‚Statusschocks‘ im Privatleben wie etwa Scheidung. Verunsicherung kann ferner auch daraus resultieren, dass bestimmte Sicherungsstrategien, wie etwa Geldanlagen zur Alterssicherung, als riskant und undurchsichtig wahrgenommen werden (Schimank 2011a).

Die gemeinschaftszentrierte Lebensführung ist mit ihrem begrenzten Statusstreben am stärksten gefeit dagegen, dass durch berufliche Hyperinklusion die Suspension von der Statusarbeit zu kurz kommt. Bei einigen – nicht bei allen – unserer Fälle, die investive Statusarbeit im engeren Sinne betreiben, ist demgegenüber das funktionale Zusammenwirken von Statusarbeit und temporärer Statussuspension in Frage gestellt, weil die ohnehin zu knappe Freizeit kaum mehr zum Erholen reicht. Ähnliches ist auch für die berufsstolzgeprägte Lebensführung vorstellbar, wenn etwa künstlerischer oder wissenschaftlicher Ehrgeiz in die extreme Erschöpfung bis hin zu gesundheitlicher Gefährdung führen kann. Man sollte aber wiederum nicht vorschnell pauschal von einer „erschöpften Mitte“ (Heinze 2011; Koppetsch 2013, 68–89) sprechen. Erst extremere Varianten investiver Statusarbeit auf der Linie eines sich permanent im Wettbewerb sehenden „unternehmerischen Selbst“ (Bröckling 2007) sowie analoge Ausprägungen von Berufsstolzfixierung führen zu einem selbstschädigenden Erschöpfungssyndrom (Rosa 2005; Neckel und Wagner 2014; Voß und Weiss 2014).

Etwas zugespitzt könnte man Nachtweys Perspektive als eine ökonomistisch verengte einstufen. Es geht in der „Abstiegsgesellschaft“ um den ökonomischen Status als Basis der Lebensführung – einschließlich des Versprechens, mehr aus diesem Status machen, also aufsteigen zu können. Diese Status- und Statusverbesserungsgarantie, die es im „Golden Age“ für viele gibt, ist verlorengegangen. Es ist eine Pointe unserer Ergebnisse, dass dies aber, selbst wo es zutreffen sollte, nicht unbedingt die gelebte Erfahrung bestimmt und die Lebensführung erschüttert – sondern dass die meisten unserer Befragten beharrlich ihren biographischen Orientierungen weiter folgen und sich dabei weder eindeutig auf der Verlierer- noch auf der Gewinnerstraße verorten.

Die Perspektive von Reckwitz, der wir uns nun zuwenden,Footnote 19 stellt sich demgegenüber, ebenfalls zugespitzt, als kulturalistisch akzentuiert dar. Wo Nachtwey den historischen Bruch auf einer Linie, eben in befürchteten und stattfindenden sozialen Abstiegen verortet, macht Reckwitz (2019, 85–90) zwei Bruchlinien aus.Footnote 20 Für ihn gab es im „Golden Age“ eine große, zwar differenzierte, aber doch in sich integrierte „Mittelklasse“, die sich seitdem in drei stark separierte „Klassen“ zerlegt habe, von denen eine gar nicht mehr zur ‚Mitte‘ gehört: „Während die Dynamik der Postindustrialisierung und der Bildungsexpansion die neue aus der alten Mittelklasse nach oben emporhebt, treiben die gleichen Mechanismen von Postindustrialisierung und Bildungsexpansion nach unten eine neue prekäre Klasse aus der alten Mittelklasse heraus.“ (Reckwitz 2019, 87, Hervorhebung weggelassen).

Auffällig ist zunächst, dass Reckwitz zwar auch, wie Nachtwey, wirtschaftliche Umbrüche als Triebkräfte des Geschehens sieht, wobei er der Digitalisierung einen viel größeren Stellenwert einräumt, als Nachtwey dies tut. Diese ist für Reckwitz die technologische Grundlage wissensbasierter Arbeit, die die Arbeitswelt zunehmend prägt und die Richtung weiterer gesellschaftlicher Dynamiken vorgibt. Weiterhin taucht bei Reckwitz die Bildungsexpansion sehr prominent auf, der Nachtwey eher weniger Aufmerksamkeit schenkt.Footnote 21 Bildungsexpansion und Wissensarbeit sind eng miteinander verknüpft: Erstere ist die Voraussetzung für Letztere. Die „neue Mittelklasse“ stellt bei Reckwitz dann gewissermaßen die Avantgarde gesellschaftlicher Dynamik dar: akademisch gebildet und in Berufen der Wissensarbeit tätig. Demgegenüber sind die Angehörigen der „prekären Klasse“ in der steten Bedrohung, zu „Überflüssigen“ (Bude und Willisch 2006) zu werden und damit gänzlich abzurutschen; und die „alte Mittelklasse“ wird zwar noch gesellschaftlich gebraucht, aber gleichsam als Dienstpersonal der „neuen Mittelklasse“ und zum Teil davon bedroht, in die „prekäre Klasse“ abzusteigen.Footnote 22

Wenn wir unsere Befunde ins Verhältnis zu dieser Diagnose setzen, ist zunächst einzuschränken, dass wir uns mit denjenigen, die für Reckwitz die „prekäre Klasse“ ausmachen, nicht beschäftigt haben, weil sie ja nicht beziehungsweise nicht mehr zu den Mittelschichten gehören.Footnote 23 Mit Blick auf die Mittelschichten gibt es dann in zwei wichtigen Hinsichten Klärungsbedarf. Zum einen haben wir – wie auch schon bei Nachtwey vorgeführt – bestimmte Phänomene, die Reckwitz als sehr wichtig herausstellt, in unseren Fällen wenig gefunden. Das ist in Reckwitz‘ Fall ein gewichtigerer Einwand, da seine Betrachtung erstens die subjektive Sinngebung und die kulturelle Seite der Lebensführung ins Zentrum stellt und er zweitens die Mittelschichten explizit als in ihrer Gänze gespalten beschreibt: Man gehört als Mittelschichtenangehöriger zur „neuen“ oder zur „alten Mittelklasse“, tertium non datur. Zum anderen bedient sich Reckwitz teils implizit, teils aber auch explizit des Konzepts der investiven Statusarbeit, wobei aber Wichtiges unklar bleibt.

Zum ersten Punkt: Wenn wir Reckwitz‘ (2019, 90–102) Porträts beider „Mittelklassen“ als Maßstäbe nehmen, um unsere Fälle an ihnen zu messen, finden wir eine Reihe von Fällen, die wichtige Merkmale seiner „alten Mittelklasse“ aufweisen – und zwar insbesondere Angehörige der unteren und mittleren Mittelschicht mit einer gemeinschaftszentrierten Lebensführung. Bei diesen kommen unsere und Reckwitz‘ Sicht der Mittelschichten am ehesten zur Deckung, auch wenn wir das von Reckwitz für die „alte Mittelklasse“ diagnostizierte Gefühl der Deklassierung und Statusunsicherheit ausgerechnet in diesen Fällen am wenigsten ausmachen konnten. Nur sehr wenige unserer Fälle lassen sich demgegenüber Reckwitz‘ „neuer Mittelklasse“ zuordnen – am ehesten wohl die zwei Vertreter*innen der Oberschichtenlebensführung, die vor dem Hintergrund einer sehr guten Ressourcenausstattung erfolgreiche Statusarbeit mit eigensinnigen biographischen Projekten verknüpfen. Als eine blassere Verkörperung des von ihm gezeichneten Idealtypus könnte die Berufsstolzlebensführung gelten – wo eine Orientierung an Selbstentwicklung und am ‚Besonderen‘ durchaus auszumachen ist, wenn eben auch eher im klassisch-bildungsbürgerlichen Sinne. Völlig ‚zwischen den Stühlen‘ seines Modells hängen die Vertreter*innen der investiven Statusarbeit als biographischer Orientierung, die nicht „verwurzelt“ wie die alte Mittelklasse sind, denen allerdings auch die von Reckwitz wichtig genommene kulturelle Seite des Sich-auslebens im Genuss und in der Zurschaustellung von individuell zusammengestellten Singularitäten fehlt. Soweit wir hier Statusdemonstration finden, bleibt diese äußerst konventionell und soll keineswegs individuelle Einzigartigkeit zum Ausdruck bringen. Vielmehr will man ganz traditionell anderen damit imponieren, dass man mehr von etwas hat, was jene, wie man unterstellt, auch für begehrenswert halten – etwa teure Autos bekannter Edelmarken oder Fernreisen zu den allseits als ‚Geheimtipp‘ kursierenden Orten, die man ‚sich leisten können‘ muss.

Wenn sich also die These einer klar gespaltenen Mittelschicht nicht halten lässt, weil viel zu viele sich nicht eindeutig einer Seite zuordnen lassen, verwundert es nicht, dass wir auf keine durchgängig die Selbstverortung formatierende konfrontative Rhetorik gestoßen sind, mit der Angehörige der „alten“ die „neue Mittelklasse“ abwerten und umgekehrt. Für Reckwitz (2019, 29–61) ist es dieser ‚Kulturkampf‘, der für große Aufgeregtheit in der gesellschaftlichen Mitte sorgt – was bis dahin gehe, dass Teile der „alten Mittelklasse“ anfällig für Rechtspopulismus werden. Die „neue Mittelklasse“ sehe sich als Anhänger einer „Hyperkultur“, die kulturelle Vielfalt als Reservoir für Individualisierung durch Singularitäten nutze und mitleidig bis herablassend auf die „alte Mittelklasse“ schaue, die in einer kulturelle Grenzen ziehenden Gemeinschaft eine kollektive Identität fände. Umgekehrt halte die „alte“ der „neuen Mittelklasse“ vor, dass sie aus der Not ihrer ‚Entwurzelung‘ durch hemmungslosen Individualismus und Karrierismus eine Tugend mache, der alle nachzustreben hätten, anstatt reumütig in die Gemeinschaft zurückzukehren.

Reckwitz stellt hier für beide Seiten heraus, dass sie die je eigene Identität durch Markierung von scharfen – und eindeutig bewerteten – Differenzen herausstreichen. In den medialen Debatten und in manchen Foren und Blogs im Internet findet so etwas auch durchaus statt. In unseren Interviews ist dies aber höchstens vereinzelt die Art und Weise, wie jemand sich selbst gesellschaftlich verortet. Weder haben wir Äußerungen gehört, die einen „Backlash“ der alten, sich auf der Verliererstraße wähnenden kulturellen Hegemonie zum Ausdruck bringen.Footnote 24 Noch gibt es auftrumpfende Stellungnahmen derer, die den ‚Fortschritt‘ auf ihrer Seite sehen. Einzelne Äußerungen, in denen etwa ‚Akademiker‘ als ‚ewige Studenten‘, die sich vor der Arbeit drücken, bezeichnet oder die altbekannten Stereotype in der anderen Richtung geäußert werden, gehen meist auf persönliche Konstellationen, etwa zwischen Geschwistern oder die Abgrenzung gegenüber den Eltern, zurück. Stattdessen finden wir, wenn kulturelle Differenzen überhaupt angesprochen werden, eher Nachdenklichkeit vor, die alles andere als eine selbstbewusste oder gar selbstgerechte Propagierung der eigenen Lebensprinzipien für Alle zum Ausdruck bringt. Damit ist auch die Erklärungskraft dieses Cleavage für die politische Polarisierung der Gegenwart, die ja einen nicht unwesentlichen Teil der Popularität von Reckwitz‘ Thesen ausmacht, aus unserer Sicht deutlich zu relativieren.

Der andere Punkt, den wir zu Reckwitz‘ Diagnose vorbringen wollen, betrifft seine Nutzung unseres Konzepts investiver Statusarbeit. Reckwitz kommt an wenigen, aber wichtigen Stellen seiner Ausführungen explizitFootnote 25 oder implizit auf investive Statusarbeit zu sprechen. Dabei unterscheidet er aber nicht, wie wir es getan haben, zwischen biographischer Orientierung und Praktiken der Lebensführung.Footnote 26

Die heutige „alte Mittelklasse“ ist dasjenige Mittelschichtsegment, das von den Mittelschichten des „Golden Age“ gleichsam übriggeblieben ist: „…die unmittelbare Erbin jener einmal allumfassenden Mittelschicht …“ (Reckwitz 2019, 97). Den damaligen Mittelschichten attestiert Reckwitz (2019, 76/77) insgesamt eine biographische Ausrichtung auf „Statusinvestition“, um dann zu sagen: „Diese nivellierte Mittelstandsgesellschaft gibt es nicht mehr…“ Der heutigen „alten Mittelklasse“ schreibt er, wie schon deutlich wurde, überwiegend Merkmale einer gemeinschaftszentrierten Lebensführung zu. Mit dieser Charakterisierung impliziert Reckwitz somit eine weitreichende Behauptung: einen Wechsel des Lebensführungsmodus dieses Mittelschichtsegments weg von investiver Statusarbeit und hin zu gemeinschaftszentrierter Lebensführung.

Mit der Unterscheidung von Orientierungen und Praktiken kann man an dieser Stelle eine klarere Vermutung formulieren. Es geht in Wirklichkeit auch für die „alte Mittelklasse“ nicht ohne investive Statusarbeit. Diese stellt zwar nicht deren dominante biographische Ausrichtung dar, sondern nur noch ein Mittel zu einem anderen Lebenszweck – allerdings ein Mittel, um das keiner herumkommt. Mit Blick auf das „Golden Age“ wäre dann übrigens auch noch neu zu fragen, ob wirklich investive Statusarbeit als biographische Orientierung der damals vorherrschende Lebensführungsmodus der Mittelschichten ist, oder ob nicht vielleicht auch berufsstolz- oder gemeinschaftszentrierte Lebensführungen durchaus in nennenswertem Maße vorkommen.Footnote 27 Wäre dies der Fall gewesen, hätte es seitdem auf breiter Front gar keinen wirklichen Bruch in der Lebensführung gegeben.

Auch Reckwitz‘ Darstellung der „neuen Mittelklasse“ leidet darunter, dass er nicht zwischen investiver Statusarbeit als biographischem Orientierungsmuster oder als Praktiken der Lebensführung unterscheidet. Der von ihm angeführte Lebensführungsmodus der „erfolgreichen Selbstentfaltung“ enthält unübersehbar investive Statusarbeit. Es geht um „ein erfolgreiches Leben…, das mit hohem sozialen Status … einhergeht“ (Reckwitz 2019, 92). Doch es geht nicht nur darum – sondern darüber hinaus gilt es, „…individuelle Wünsche und Begabungen zu entfalten, ein Leben zu führen, das man als befriedigend, sinnvoll und reichhaltig empfindet“ (Reckwitz 2019, 92). Die „neue Mittelklasse“ kombiniert also investive Statusarbeit auf der einen, „performative Selbstverwirklichung“ in einem „anregenden und erlebnisreichen…Leben“, das man vor anderen aufführt und wofür man von diesen soziale Bestätigung erhält, auf der anderen Seite (Reckwitz 2019, 217). Hinsichtlich der Art, wie diese Kombination beschaffen ist, schwankt Reckwitz zwischen zwei Lesarten, die sehr unterschiedliche Implikationen haben.

Um mit der schwachen Lesart zu beginnen: Sie sieht Selbstentfaltung als die biographische Ausrichtung und beruflichen Erfolg durch investive Statusarbeit – wiewohl bei „erfolgreicher Selbstentfaltung“ im gleichen Atemzug genannt – als nachgeordnetes Mittel zu diesem Zweck. So heißt es etwa für die heutige „Spätmoderne“: „…die Statusarbeit erweist sich mittlerweile als Rahmenbedingung für gelungene Selbstverwirklichung“. Denn investive Statusarbeit verschaffe „…jene Ressourcen, die…nötig sind, um Selbstentfaltung zu realisieren…“ (Reckwitz 2019, 216/217). Damit erkennt Reckwitz, dass investive Statusarbeit keine biographische Orientierung ist, sondern nur als – allerdings unumgänglicheFootnote 28 – Praktiken im Rahmen einer anders ausgerichteten Lebensführung vorkommt.Footnote 29 Und er behauptet für die „neue Mittelklasse“ eine biographische Ausrichtung, die den drei von uns aufgefundenen Orientierungsmustern – investive Statusarbeit, Gemeinschafts- und Berufsstolzorientierung – eine plausible weitere hinzufügt. In sich kann Selbstentfaltung dann Verschiedenes, auch miteinander Kombinierbares heißen: etwa alle Arten von hedonistischen oder bildungsbürgerlichen „schönen Erlebnissen“ (Schulze 1992) oder die moralische Erfüllung durch humanitäres, zivilgesellschaftliches oder politisches Engagement.Footnote 30

Weiterhin scheint Reckwitz hier zu vermuten, dass diese Selbstentfaltungsorientierung nicht nur in gleichem Maße wie die Gemeinschafts- und Berufsstolzorientierung, sondern noch stärker als diese auf Praktiken investiver Statusarbeit beruht, die Raum schaffen müssen für ausgedehnte Phasen der Statussuspension, in denen dann Selbstentfaltung betrieben werden kann. Das könnte zutreffen und ist eine interessante Fragestellung für weitere Untersuchungen. Etwas Neues ist diese Lesart „erfolgreicher Selbstentfaltung“ freilich dann nicht. Sowohl im Bildungs- als auch im Wirtschaftsbürgertum des 19. Jahrhunderts gab es dies: den Unternehmer, der rastlos und diszipliniert seine Geschäfte betreibt, um mit den Gewinnen eine private Kunstsammlung aufzubauen und in seiner Freizeit als ambitionierter Amateur-Kunsthistoriker mit den Fachvertretern auf gleicher Augenhöhe zu kommunizieren; oder den Rechtsanwalt, der seine regelmäßigen ‚Auszeiten‘ nimmt, um abenteuerliche Kulturreisen rund um den Globus zu unternehmen.

Gewagter, aber damit auch spannender ist die starke Lesart „erfolgreicher Selbstentfaltung“, die investive Statusarbeit nicht nur als Praktiken der Lebensführung, sondern als biographische Orientierung postuliert. Hier unterliegt die Lebensführung einer „Doppelformel“, in der sich die zwei biographischen Orientierungen – investive Statusarbeit und Selbstentfaltung – gleichberechtigt miteinander verbinden: „Die Doppelformel der erfolgreichen Selbstentfaltung bringt…zwei kulturhistorisch ursprünglich gegensätzliche Motive in eine Synthese: Aus der Romantik stammt die Vorstellung, dass das Individuum sich in seiner individuellen Einzigartigkeit verwirklichen…sollte; der Wertewandel zum Postmaterialismus nimmt diese Tradition auf. Im Bürgertum wurzelt demgegenüber die Lebensmaxime, qua Bildung und Leistung einen hohen sozialen Status zu erreichen. In der neuen Mittelklasse der Spätmoderne haben sich romantische Selbstverwirklichung und bürgerliches Bildungs- und Leistungsinteresse amalgamiert“ (Reckwitz 2019, 92). Reckwitz (2019, 210) unterstreicht ausdrücklich, es gingen „…damit zwei zunächst feindliche Ideale eine Synthese ein…“Footnote 31

Wie ist die ‚Amalgamierung‘ von Ökonomie und Kreativität, Statusstreben und Selbstverwirklichung vorstellbar? Ist sie überhaupt möglich?Footnote 32 Auch wenn es dem Autor vielleicht nicht bewusst ist: Zu behaupten, dass dies nicht nur einzelnen – um Max Weber abzuwandeln – ‚biographischen Virtuosen‘ gelingt,Footnote 33 sondern der gesamten „neuen Mittelklasse“, ist eine sehr starke These. Wie wird dieses Kunststück in Massenanfertigung vollbracht? Möglicherweise ist die These so zu verstehen, dass dieses Kunststück der „neuen Mittelklasse“ heutzutage zwar abverlangt wird, sie daran aber regelmäßig scheitert. So konstatiert Reckwitz (2019, 203–238) als Stimmungslage dieser Klasse eine „erschöpfte Selbstverwirklichung“ und macht u. a. ein „Romantik-Status-Paradox“ als Ursache aus: „Setzen Individuen beispielsweise radikal auf die Karte Selbstverwirklichung – im Beruf, in der Familie, in der Bildung –, laufen sie Gefahr, dass ihr sozialer Status darunter leidet. Dagegen kann sich bei denjenigen, die fleißig Statusinvestition betreiben und auf Sicherheit setzen, irgendwann das Gefühl einstellen, etwas verpasst oder versäumt zu haben, die eigenen Potentiale gar nicht ausgelebt zu haben.“ (Reckwitz 2019, 222)

Solche Fälle müssten, wenn diese Sicht der „neuen Mittelklasse“ zutrifft, häufiger vorkommen – wir haben allerdings keinen einzigen gefunden. Wahrscheinlich hätten wir uns ein gezielteres Sampling, das auch den Prenzlauer Berg einbezieht, überlegen sollen. Weniger polemisch: Reckwitz‘ starke Lesart „erfolgreicher Selbstentfaltung“ – insbesondere, wenn diese Spannung empirisch als kulturell hegemoniale Zumutung an Lebensführung dingfest gemacht werden kann – könnte eine Krisendiagnose der „Spätmoderne“ sein, vergleichbar mit der von Jürgen Habermas (1973, 106–128) Anfang der 1970er Jahre vorgetragenen Analyse einer gesellschaftlichen „Motivationskrise“ des „Spätkapitalismus“. Dies setzt freilich voraus, dass die Mittelschichtenangehörigen nicht längst Mittel und Wege gefunden haben, sich über niedrigschwellige „Micro-resistance“ (Anderson 2008) den ‚Double Binds‘ einer „erfolgreichen Selbstentfaltung“ zu entziehen – oder sie sich gar nicht erst zu eigen zu machen. Unsere Ergebnisse legen letzteres nahe.

Sowohl Nachtwey als auch Reckwitz stellen soziologische Sensoriken für Brüche, Verunsicherungen, Gefährdungen, womöglich gar Krisen der Mittelschichtenlebensführung bereit. Es ist keine Frage, dass diese Sensoriken benötigt werden – nicht zuletzt für Szenarien, die danach fragen, welche längerfristigen gesellschaftlichen Veränderungsdynamiken von derart in Aufregung versetzten Mittelschichtenangehörigen ausgehen könnten. Genau diese mögliche Nutzanwendung solcher Diagnosen macht aber ebenso klar, weshalb auch Sensoriken für die eigensinnigen Beharrungskräfte derjenigen, die mit diesen Veränderungen umgehen müssen, nicht fehlen dürfen. Das theorieästhetisch zweifellos attraktive Bild eines klaren Epochenbruchs wird dadurch definitiv komplexer – aber eben auch aufschlussreicher. Denn wer diese Beharrungskräfte übersieht, dem entgehen auch die Trägheits- oder Beschleunigungsmomente, die der Spannung zwischen wirtschaftlicher und kultureller 'Großwetterlage‘ und deren lebenspraktischer Bewältigung entspringen.

6.4 Schluss

Insgesamt zeigen diese Gegenüberstellungen unseres theoretischen Modells und der daraus gewonnenen empirischen Befunde auf der einen, der zeitdiagnostischen Sichtweisen auf die Mittelschichten auf der anderen Seite, dass beide Herangehensweisen einander fruchtbar ergänzen können. Einseitige Blickrichtungen und blinde Flecke können durch wechselseitige Zur-Kenntnisnahme korrigiert werden. Die Diagnosen von Nachtwey und Reckwitz repräsentieren zusammen ein Perspektivenspektrum, das ökonomische und kulturelle Dimensionen aufweist und dem gemeinsam ist, dass die Mittelschichten in Aufregung sind. Unsere empirischen Befunde – die nicht durch unsere theoretischen Annahmen präformiert sind – zeigen demgegenüber, dass es auch unaufgeregte, beharrlich weiter zumindest in gewissem Maße an ihrem Status arbeitende Mittelschichtenangehörige gibt. Krisenmodus oder Business as usual: Offenbar koexistiert beides, und niemand kann bislang empirisch gesichert sagen, was in welchen Teilgruppen der Mittelschichten vorherrscht. Anstelle eines harten Schwarz-weiß-Kontrasts – entweder aufgeregt oder unaufgeregt, absteigend oder aufsteigend, sesshaft-konventionell oder kosmopolitisch-hyperkulturell – gehen wir eher von einer kontinuierlichen Farbverschiebung mit sehr graduellen Übergängen aus. Auch unsere beharrlich und scheinbar sicher in den Status investierenden Fälle zeigen gelegentlich Verunsicherungen oder kommen ‚ins Stolpern‘; umgekehrt vermuten wir, dass man Nachtweys und Reckwitz‘ in heller Aufregung befindliche Mittelschichtenangehörige in Reinkultur empirisch sehr selten zu sehen bekommt. Auch Zustandsveränderungen in diese Richtung dürften zumeist eher graduell verlaufen.

Wir gehen also von einem vielschichtigen Farbspektrum aus und können mit unseren empirischen Befunden einen Ausschnitt zeigen, der in den zeitdiagnostischen Dramatisierungen bisher weitgehend ausgeblendet wird. Wir behaupten damit nicht, dass der von uns in den Blick genommene, eher undramatische Ausschnitt der ‚eigentlich wichtige‘, vorherrschende ist – allerdings schon, dass er in ein ausgewogenes Gesamtbild unverzichtbar hineingehört.

Dabei sollte mit Blick auf normative Stellungnahmen klar sein: Ob man es gut findet, dass die gesellschaftlichen Verschiebungen der letzten Jahrzehnte weniger Mittelschichtenangehörige in Aufregung zu versetzen scheinen, als die Zeitdiagnosen suggerieren, und dass die vielbeschworene Konfrontation zwischen feindlichen Lagern offenbar viele gar nicht einbezieht, oder ob man dies als beklagenswert einstuft, ist keine generell beantwortbare Frage. Man müsste genauer wissen, welche längerfristigen gesellschaftlichen Auswirkungen denn Krisenmodus und Business as usual haben könnten, um zu dieser Frage überhaupt soziologisch fundiert etwas sagen zu können; und selbst dann, wenn man das könnte, müsste man evaluative und normative Maßstäbe heranziehen, um Auswirkungen nicht nur als funktional oder dysfunktional für bestimmte analytische Bezugsprobleme einstufen, sondern als wünschenswert oder moralisch geboten beziehungsweise als das jeweilige Gegenteil bewerten zu können.

Offensichtlich herrscht gegenwärtig insbesondere die Wahrnehmung vor, größere Teile der Mittelschichten tendierten im Krisenmodus dazu, einer problematischen Aufgeregtheit in Gestalt rechtspopulistischer Neigungen nachzugeben – also Theodor Geigers (1930) „Panik im Mittelstand“ revisited. Betrachtet man dazu u. a. Wahlergebnisse, so sprechen diese in Bezug auf Entscheidungen, die getroffen werden, eine relativ klare Sprache – und diese Entscheidungen setzen dann auch Fakten, bestimmen zum Beispiel, welche Regierungskoalitionen möglich sind. Zu vermuten ist gleichwohl, dass die Beweggründe hinter diesen Entscheidungen vielfältig sind, und zu konstatieren ist auch, dass wir die Trajektorien, wie jemand von der einen Seite des Farbspektrums zur anderen wandert, allenfalls aus mehr oder weniger zufälligen Einzelfällen, aber nicht als analytische Mechanismen kennen. Diese Beweggründe und Trajektorien besser zu verstehen ist aber eine notwendige Voraussetzung dafür, abzuwägen, ob man bestimmte Personen als unbelehrbar abschreiben muss – oder ob und wie es vielleicht eine Chance gibt, mit ihnen wieder ins Gespräch darüber zu kommen, ob zum Beispiel die AfD wirklich der Weisheit letzter Schluss ist. Gerade wenn man diese Ausprägungen von Aufgeregtheit beruhigen will, muss man wissen, wie es dazu gekommen ist, dass aus Unaufgeregtheit Aufgeregtheit geworden ist.

Andere Ausprägungen der massenhaften Aufgeregtheit von Mittelschichtenangehörigen mag man demgegenüber weniger als gesellschaftlich krisenhaft, sondern als gesellschaftlich produktiv einstufen – etwa Proteste, die sich auf den menschengemachten Klimawandel und eine notwendige Energiewende oder auf einen humanitären Umgang mit Flüchtlingen beziehen. So stehen die „Fridays for Future“-Proteste beispielsweise, auch wenn man Manches daran penetrant und naiv finden mag, für konstruktive Impulse eines gesellschaftlichen Wandels. Sozialwissenschaftlich beziehungsweise im Sinn gesellschaftlicher Selbstaufklärung stellt sich aber auch hier die Frage nach Beweggründen und Trajektorien derjenigen, die auf die Straße gehen und auch ansonsten ihre Lebensführung umstellen – keineswegs nur Schülerinnen und Schüler. Es geht nur eben, anders als beim Rechtspopulismus, nicht darum, als gesellschaftlich desintegrativ eingestuften biographischen Dynamiken entgegenzuwirken, sondern umgekehrt biographische Dynamiken, die sich problematischen gesellschaftlichen Dynamiken entgegenstellen, zu stärken. Wie wechselt man von Business as usual zum Krisenmodus? Was bringt jemanden dazu, gesellschaftliche Probleme nicht länger ‚auszusitzen‘, sondern als höchstpersönliche eigene Probleme zu erleben und sich darüber produktiv aufzuregen? Um diese Fragen angehen zu können, muss man wissen, warum jemand bislang unaufgeregt geblieben ist.

Die zeitdiagnostisch vorherrschenden Porträts einer verunsicherten und gespaltenen Mittelschicht zu ergänzen und feiner zu zeichnen, indem die Beharrlichkeit und Selbstverständlichkeit hervorgehoben wird, mit der viele unserer Gesprächspartner*innen weiterhin an ihrer Lebensführung festhalten: Das kann der Beitrag unserer Studie zur gesellschaftlichen Debatte darüber sein, wie die Mittelschichten zum gesellschaftlichen Zusammenhalt beitragen oder ihn gefährden.