Der in Kap. 2 theoretisch konstruierte Idealtypus der investiven Statusarbeit geht von zwei Kräften aus, die die Lebensführung entlang zweier Dimensionen prägen. Zum einen üben die soziostrukturellen Bedingungen Druck auf die Subjekte aus, sich Praktiken der investiven Statusarbeit zu befleißigen, um zumindest der Entwertung der eigenen Ressourcen entgegenzuwirken. Zum anderen prägen die kulturellen Rahmungen biographische Orientierungsmuster, die den Subjekten erlauben, sich das Ensemble ihrer biographischen Praktiken als sinnerfüllte Lebensführung im empathischen Sinne zu eigen zu machen. Es ist ein, in diesem und dem nächsten Kapitel darzulegendes, erstes wichtiges Ergebnis unserer empirischen Untersuchung, dass die Rekonstruktion der Lebensführung unserer Interviewpartner*innen entlang dieser beiden Dimensionen Unterschiedliches zu Tage fördert.

Wie im Modell angenommen, ist es in der Bundesrepublik des frühen 21. Jahrhunderts für Mittelschichtenangehörige nahezu unumgänglich, in ihrer Lebensführung Praktiken investiver Statusarbeit zum Einsatz zu bringen. Ohne diese investive Statusarbeit im weiteren Sinne gehört schon eine ordentliche Portion Glück oder anderweitige Absicherung dazu, sich mittelfristig in den Mittelschichten zu behaupten und nicht, um Oliver Nachtweys (2016, 126) einprägsames Bild zu nutzen, mit der Rolltreppe nach unten zu fahren. Diesen Praxen wird sich das fünfte Kapitel ausführlich widmen.

In diesem Kapitel geht es darum, zu verstehen, wie die Befragten sich diese Praktiken sinnhaft zu eigen machen. Hier finden sich nämlich markante Unterschiede: Nur für einen Typus ist investive Statusarbeit das zentrale biographische Orientierungsmuster, das handlungsleitende Prinzip der Lebensführung. Dies ist der Typus investiver Statusarbeit im engeren Sinne – nicht nur als Ensemble von Praktiken, sondern auch als Modus der Lebensführung.Footnote 1 Auch wenn die Sorge um den eigenen Status durchaus als „stahlhartes Gehäuse“ (Weber 1905, 201) verstanden werden kann, das die biographische Bewegungsfreiheit deutlich limitiert, können die Subjekte diesem „Gehäuse“ doch sehr unterschiedlichen Sinn verleihen – und sich dementsprechend auch ganz manifest daran reiben. Das Ergebnis unserer Rekonstruktion der biographischen Orientierungsmuster der Mittelschichten ist eine Typologie aus drei Modi der Lebensführung – also zwei weiteren neben der investiven Statusarbeit. Das Kapitel wendet sich dabei zunächst demjenigen Typus zu, dessen Lebensführung auf den ersten Blick die stärksten Abweichungen vom Idealtypus der investiven Statusarbeit aufweist. Die gemeinschaftszentrierte Lebensführung zeichnet sich durch einen sehr geringen Planungsanspruch, geringe Karriereambitionen und eine enge Orientierung an den Beziehungen des sozialen Nahumfelds aus (Abschn. 4.1). Sodann betrachten wir mit der Lebensführung des Berufsstolzes einen Modus, in dem große Karriereambitionen und Planungsansprüche sich auf ein sehr spezifisches Statusprojekt richten: die Anerkennung als ‚Meister*in‘ in einem besonderen Feld beruflicher Praxis (Abschn. 4.2). Als dritter Typus schließlich wird die investive Statusarbeit im engeren Sinne als eine biographische Orientierung vorgestellt, bei der Statusverbesserung selbst als dominantes Streben wirkt, was mit einem hohen Planungsanspruch und starken Karriereambitionen einhergeht (Abschn. 4.3).

Diese auf den ersten Blick vielleicht irritierende Reihenfolge der Darstellung, die als Ausgangspunkt eben gerade nicht den Typus wählt, der die größte Nähe zum entwickelten Idealtypus aufweist, bildet den Gang unserer Rekonstruktion ab, die zum Ausgangspunkt zunächst den maximalen Kontrast suchte. Sie erlaubt aber vor allem, den Realtypus der investiven Statusarbeit im engeren Sinne durch den doppelten Vergleich deutlich nuancierter herauszuarbeiten und damit auch die empirische Vertiefung gegenüber den Annahmen des Idealtypus sichtbar zu machen.

Die Darstellung der Typen folgt nicht einzelnen Fallrekonstruktionen, sondern trägt der komparativen Logik der Rekonstruktion und dem überindividuellen Charakter der Orientierungsmuster Rechnung, indem sie die Besonderheiten der Typen anhand von Passagen aus verschiedenen Interviews über die verschiedenen Fälle hinweg verfolgt (Bohnsack 2010, 141). Dabei werden als Ausgangspunkt besonders prägnante Eingangspassagen gewählt, anhand derer die Grundgestalt des Lebensführungsmodus vorgestellt wird, um dann in der Folge Sequenzen aus den Interviews mit verschiedenen Fällen als Vergleich hinzuzuziehen.

Abschließend wird die Typologie noch einmal systematisierend-vergleichend zusammengefasst (Abschn. 4.4.1). Dabei wird zusätzlich im kursorischen Vergleich mit Unter- und Oberschichtenlebensführung das Spezifische der drei Typen als Modi der Mittelschichtenlebensführung herausgestellt (Abschn. 4.4.2). Wie sich zeigen wird, setzen alle drei herausgearbeiteten Modi einen Grad an materieller Sicherheit voraus, der es erlaubt, spezifische Strategien der Statusorientierung im weitesten Sinne konsistent zu verfolgen, was die Mittelschichtenlebensführung von den von uns betrachteten Fällen aus den Unterschichten unterscheidet. Zugleich erweist sich als eine Differenz zu den von uns betrachteten Fällen der Oberschichtenlebensführung, dass die dennoch bestehende Begrenztheit der verfügbaren Ressourcen die Mittelschichtenangehörigen nötigt, sich in ihrem Statusstreben auf ein spezifisches Statusprojekt zu konzentrieren, dem eventuelle andere Statusorientierungen untergeordnet werden.

Eine Übersicht aller von uns erhobenen Fälle, die deren Verteilung im sozialen Raum anhand von kulturellen und ökonomischen Ressourcen zeigt, ermöglicht bei der Betrachtung je spezifischer Fälle deren Einordnung im Vergleich zu anderen Fällen (Abb. 4.1).

Abb. 4.1
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(Quelle: Eigene Darstellung)

Verteilung der Fälle im sozialen Raum.

4.1 Die gemeinschaftszentrierte Lebensführung

Der Typus der gemeinschaftszentrierten Lebensführung steht im besonders scharfen Kontrast zum Idealtypus der investiven Statusarbeit – und eignet sich deswegen besonders gut als Ausgangspunkt für die Darstellung unserer Ergebnisse. Die gemeinschaftszentrierte Lebensführung hat große Ähnlichkeiten mit einem Modus der Lebensführung, den auch Max Weber (1905) in seiner Studie zur Protestantischen Ethik skizziert und vor allem der katholischen Bevölkerung zugeschrieben hat, um im Kontrast die Protestantische Ethik klarer herausstellen zu können: Unsere Gemeinschaftszentrierten zeichnen sich dadurch aus, dass ihr Leben nicht von einem rastlosen Vorwärtsstreben gekennzeichnet ist. Weder wird nach einer kontinuierlichen Verbesserung des eigenen Status gestrebt, noch wird die Statusarbeit in einer geplanten, systematischen Art und Weise verfolgt. Es scheint darum auf den ersten Blick naheliegend, diesen Typus in Anlehnung an Weber als traditionale Lebensführung zu fassen – allerdings droht diese Bezeichnung den zeitdiagnostischen Kurzschluss zu befördern, dass dieser Typus ein historisches Relikt darstellt und deswegen früher oder später verschwinden werde.Footnote 2 Die Benennung als gemeinschaftszentrierte Lebensführung hebt dagegen hervor, was diesen Typus in seiner inneren Logik positiv bestimmt – und formuliert so den Kontrast zur Orientierung an investiver Statusarbeit, ohne ihn vorschnell zeitdiagnostisch aufzuladen.

Das folgende Porträt dieses Typus beruht auf der detaillierten Auswertung von sechs biographisch-narrativen Interviews mit:

  • Herrn Lohse, einem ausgebildeten Handwerker, der wegen einer chronischen Erkrankung seinen ursprünglichen Beruf aufgegeben hat und Hausmeister wird,

  • Herrn Wisch, einem Facharbeiter, der nach dem Fachabitur das Studium einer Naturwissenschaft beginnt, dies dann aber abbricht,

  • Herrn Schulz, dem Leiter des Hauptschulzweigs einer Gesamtschule,

  • Herrn Molchau, einem ausgebildeten Verwaltungsangestellten,

  • Frau Reuter, die zunächst Geographie studiert hat, das aber abbricht und nun als Grundschullehrerin arbeitet, sowie

  • Frau Traute, die zunächst Regionalwissenschaft studiert, nun aber ebenfalls als Lehrerin tätig ist.

Als Ausgangspunkt der Fallanalysen werden die zu erklärenden Abweichungen vom Idealtypus der investiven Statusarbeit gewählt – das Ausbleiben eines vom Leistungsethos getriebenen Strebens nach Statusverbesserung und der Umstand, dass die Berufsbiographien dieser Befragten keinem erkennbaren Planungsimperativ folgten.Footnote 3 Gemäß der Typologie der kulturellen Rahmung der Lebensführung in Abschn. 2.2.1 müsste man von Ablehnung investiver Statusarbeit sprechen. Aus Gründen der besseren Nachvollziehbarkeit konzentriert sich die Darstellung zunächst auf die vier erstgenannten Fälle (I02, I03, I08 und I12). Die ihnen gemeinsame große räumliche Kontinuität des Lebensverlaufs lässt die Spezifika des Typus besonders klar hervortreten, droht allerdings auch, den genannten zeitdiagnostischen Kurzschluss zu befördern. Darum wird anhand einer ausführlicheren Darstellung der beiden letztgenannten Fälle (I22 und I27) anschließend dargelegt, dass räumliche Kontinuität mit dem Korrelat einer Kontinuität der sinnstiftenden Gemeinschaft von Kindesbeinen an kein notwendiges Merkmal des Typus darstellt. Vielmehr kann sich diese Gemeinschaft, in die man früh hineingewachsen ist, auch gegen temporäre räumliche Veränderungen durchsetzen; alternativ kann eine Gemeinschaft, an der das biographische Handeln sich orientiert, nach einem Ortswechsel auch neu aufgebaut werden (Tab. 4.1).

Tab. 4.1 Fälle der gemeinschaftszentrierten Lebensführung. (Quelle: Eigene Darstellung)

4.1.1 Bescheidung und Verzicht auf ‚große Pläne‘

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In dieser kurzen Eingangspassage der biographischen Stegreiferzählung von Herrn Wisch zeigen sich fast alle Merkmale, die den Typus der gemeinschaftszentrierten Lebensführung auszeichnen. Konzentriert man sich zunächst auf die Informationen zur Ausbildungs- und Berufsbiographie und kontrastiert diese mit dem Idealtypus der investiven Statusarbeit, so fällt zunächst vor allem auf, dass eine Aufstiegskarriere noch nicht einmal als gescheiterter Anspruch formuliert wird. Knapp und vielleicht auch mit Stolz bilanziert Herr Wisch, dass er seit Beginn seiner Berufslaufbahn „bei der gleichen Firma, am gleichen Arbeitsplatz, im gleichen Labor“ gearbeitet habe. Aus dem weiteren Interviewverlauf ergibt sich, dass auch kein firmeninterner Aufstieg stattgefunden hat – Herr Wisch hat wirklich noch dieselbe Position wie vor 28 Jahren.

Überhaupt ist der Stellenwert der Berufsarbeit für die biographische Selbstpräsentation nicht besonders hoch. Selbst in dieser äußerst knapp gehaltenen Passage wird anderen Lebensbereichen, namentlich den eigenen Eltern und der jetzigen Familie und auch ihrem geteilten Hobby, jeweils mindestens genau so viel Raum gegeben. Auch wenn die schwere Erkrankung der Mutter, die Herrn Wischs Kindheit geprägt hat, dies in Teilen erklären kann, und auch wenn diese Gewichtung nicht in derselben Deutlichkeit in allen Interviews mit Vertreter*innen dieses Typus hervortritt, so ist doch bei ihnen allen auffällig, dass sie die eigene Ausbildungs- und Berufsbiographie gegenüber den anderen Lebensbereichen eindeutig schwächer gewichten als die Vertreter*innen der Lebensführung des Berufsstolzes und der investiven Statusarbeit. Das zeigt sich im Hinblick auf die rekonstruierbare alltagspraktische Zeiteinteilung, aber vor allem auch in der je eigenen Wertung, die Herr Wisch in der reflektierenden Hinwendung auf die eigene Biographie vornimmt.

Dabei wäre es falsch, anzunehmen, dass Einkommen für die Vertreter*innen dieses Typs keine Rolle spielen würde. Herr Wisch erwähnt im Verlauf des Interviews, dass er in zahlreichen Nebenjobs sein Gehalt aufzubessern suchte und sich zumindest über die Sicherheit seiner Stelle durchaus immer wieder Gedanken gemacht hat. Beides nimmt allerdings keinen Selbstzweckcharakter an, sondern orientiert sich daran, seiner Familie als Alleinverdiener einen bestimmten, konstanten Lebensstandard zu ermöglichen, der sich, wie sich ebenfalls zeigt, an dem seiner eigenen Eltern misst. An beruflichem Aufstieg und immer weiteren Einkommenssteigerungen ist Herr Wisch hingegen nicht interessiert.

Wenn die Vertreter*innen dieses Typus so etwas wie eine Karriere absolvieren, dann läuft diese auf eine Art ‚Sättigungspunkt‘ zu, bei dessen Erreichen keine weiteren Aufstiegsambitionen mehr erkennbar sind. Herr Wisch antwortet auf die spät im Interview gestellte Frage danach, ob Karriereaussichten in seinem Berufsleben eine Rolle gespielt hätten, lakonisch: „Nee. (.) Wie gesagt ich bin jetzt 28 Jahre auf dem gleichen Posten. (..) Die letzten 12, 13 Jahre schaffe ich auch noch. (lacht)“ (I03: 676/677) Er stellt in dieser Hinsicht sicherlich ein Extrembeispiel dar. Aber auch Herr Schulz, der als Lehrer durchaus so etwas wie eine Karriere absolviert hat, an dessen Ende er nun Leiter des Hauptschulzweiges seiner Gesamtschule ist, lehnt auf der Position, die er mittlerweile seit 15 Jahren innehat, weitere Beförderungen ab, weil das entsprechende höhere Gehalt und Prestige mit Aufgaben verbunden wäre, die ihm weniger zusagen als die jetzigen – von einem ‚rastlosen Vorwärtsstreben‘ kann hier kaum die Rede sein. Und wenn ein ‚Sättigungspunkt‘ nicht erreicht wird, wie von Herrn Lohse, der als Handwerker nicht zum Meisterlehrgang zugelassen wird und seinen Beruf schließlich wegen gesundheitlicher Probleme ganz zugunsten einer Tätigkeit als Hausmeister aufgeben muss, führt dies eher zu einem zunächst resignierten und dann affirmativen ‚Sich-einrichten‘ in der jeweiligen neuen Position und nicht zum Bemühen um einen anderweitigen Aufstieg.Footnote 4

Weiterhin wirken die Berufsbiographien der Vertreter*innen dieses Typus auffällig ‚ungeplant‘. Das abgebrochene Studium von Herrn Wisch, welches er nach eigenem Bekunden eher aus Verlegenheit beginnt, weil er keine anderen konkreten Perspektiven sah, und das er dann abbricht, weil er keine BAföG-Zahlungen mehr bekommt, ist in dieser Hinsicht eine typische Episode. Auch die Ausbildungs- und Berufsbiographie von Herrn Schulz gleicht bereits in der ersten kurzen Schilderung, die er in der Eingangspassage seiner biographischen Stegreiferzählung gibt, eher einem mäandernden Tasten mit immer wieder wechselnden Zielen:

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Nun ist die „biographische Illusion“ (Bourdieu 1990), nach der das Leben ein klarer ‚Weg‘ mit einem intentional bestimmten Ziel ist, sicherlich generell zu hinterfragen (Schimank 1988), und auch in den Berufsbiographien der anderen Typen zeigen sich Verschiebungen und kontingente Brüche. Auffällig ist aber dennoch, dass Herr Schulz und die anderen Vertreter*innen der gemeinschaftszentrierten Lebensführung noch nicht einmal Bestrebungen zeigen, ihre Berufsbiographie auf der Ebene der Selbstpräsentation in der Eingangserzählung zu glätten, sich dem Planungsimperativ also zumindest als von außen gesetztem kulturellen Appell zu beugen. Ganz im Gegenteil: Selbst in dieser Eingangspassage, wo doch die Kontrolle des Sprechenden über das in der Erzählung transportierte Selbstbild höher ist als in späteren Teilen des Interviews, scheint es, als würden unerwartete Wendungen und auch die eigene ‚Planlosigkeit‘ mit einer gewissen Freude vorgeführt – ein Eindruck, der sich in der Interpretation des weiteren Verlaufs des Interviews bestätigt. Immer wieder beschreibt Herr Schulz biographische Weichenstellungen als so nicht intendierte glückliche Fügungen, die nicht nur den ursprünglichen, ohnehin diffusen und wenig elaborierten ‚Plan‘ obsolet machen, sondern meist auch zu besseren als den anfänglich intendierten Ergebnissen führen.

In zwei entscheidenden Aspekten unterscheidet sich die gemeinschaftszentrierte Lebensführung also vom Idealtypus der investiven Statusarbeit: Es ist erstens kein Bestreben um eine andauernde Verbesserung der eigenen sozio-ökonomischen Position auszumachen, und die Statusarbeit folgt zweitens, wo sie stattfindet, weder praktisch noch in der rückwendenden Rationalisierung einem Planungsimperativ. Es ist dabei wichtig festzuhalten, dass diese Abweichungen nicht einfach als ‚Mängel‘ gegenüber der investiven Statusarbeit als Modus der Lebensführung erfahren, vielleicht gar erlitten werden, wie es in soziologischen Studien in Bezug auf die dann fälschlicherweise so bezeichneten „Statusverweigerer“ oft suggeriert wird (kritisch hierzu: Voswinkel 2018) – dass es sich also zum Beispiel um berufsbiographische Sackgassen oder Biographien unter außergewöhnlicher Unsicherheit handelt und deswegen irgendwann Ambitionen und Planung aufgegeben werden. Vielmehr entspringen die biographischen Phänomene, die in Abgrenzung zur investiven Statusarbeit zunächst als ‚Bescheidung‘ und ‚Planlosigkeit‘ erscheinen, der positiven Orientierung der Vertreter*innen dieses Typus an der eigenen Verwurzelung in Gemeinschaften.

4.1.2 Die Gemeinschaftszentrierung

Bereits sehr früh stellten wir unter den Vertreter*innen der gemeinschaftszentrierten Lebensführung eine auffällige Gemeinsamkeit fest, die sich ebenfalls schon in der Eingangspassage von Herrn Wisch zeigt, die aber auch in den Eingangspassagen von Herrn Schulz und Herrn Lohse sowie in der folgenden Eingangspassage von Herrn Molchau deutlich hervortritt:

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Die ersten Vertreter dieses Typus, deren Lebensgeschichten wir interpretierten, stammten aus kleinstädtisch-ländlichen Milieus, und alle Vertreter zeigen in ihrer Lebensgeschichte eine ausgeprägte räumliche Kontinuität des Lebensumfelds,Footnote 5 die die biographische Eingangserzählung gewissermaßen ‚umklammert‘: Sie beginnt mit der Geburt und dem Aufwachsen an diesem Ort, den man nur in kurzen Episoden vorübergehend verlässt,Footnote 6 und endet damit, dass man sich auch jetzt und heute an diesem Ort befindet. Herr Wisch lebt in dem Haus, in dem er aufgewachsen ist, Herr Schulz, Herr Lohse und Herr Molchau wohnen in unmittelbarer Nähe ihres ursprünglichen Elternhauses – ein Umstand, den sie alle selbst betonen, Herr Schulz und Herr Molchau auch mit sichtlichem Stolz. Kein*e Vertreter*in der anderen beiden Typen ist dauerhaft vergleichbar nah am eigenen Geburtsort verblieben.

Die genauere Interpretation legt unter dieser auffälligen räumlichen Kontinuität eine bei allen vorhandene, lebenspraktisch dominierende Orientierung am sozialen Nahumfeld frei: Ein enges Verhältnis zur Herkunftsfamilie ist ein Ausdruck dieser Orientierung, genau wie die Kontinuität von Freundeskreisen, die bis in die Schulzeit zurückreichen, das ehrenamtliche oder lokalpolitische Engagement, die Mitgliedschaft in Sportvereinen oder eben die regelmäßige Runde, in der man gemeinsam Alkohol trinkt und ‚Sprüche klopft‘. Diese Orientierung am sozialen Nahumfeld entpuppt sich als Schlüssel zu den meisten Charakteristika der Biographien und der biographischen Selbstpräsentation dieses Typs. So zeigt sie sich als impliziter, gelegentlich aber auch explizierter Grund für die räumliche Kontinuität. Man kann sich schlicht nicht vorstellen, diese Bezüge aufzugeben, und sucht sich darum einen Studien- oder Ausbildungsplatz sowie später einen Arbeitsplatz in unmittelbarer Nähe.Footnote 7

Auch die relativ hohe Bedeutung anderer Lebensbereiche gegenüber der Erwerbsarbeit ist mit dieser Orientierung am sozialen Nahumfeld verbunden. Zum einen ist einleuchtend, dass gerade der Freizeitbereich und das Familienleben in einer am sozialen Nahumfeld orientierten Lebensführung eine hohe Bedeutung haben. Dies ist besonders deutlich bei Herrn Wisch und Herrn Molchau, die ihre Erwerbstätigkeit mit wenig intrinsischer Motivation ausüben und bei denen sie deshalb deutlich als lediglich Mittel zu Zwecken in anderen Lebensbereichen hervortritt. Aber auch Frau Traute schildert in einem detaillierten Bericht, in dem sie sich mit ihrer Entscheidung auseinandersetzt, doch noch Lehrerin zu werden (dazu später noch mehr), dass sie ihren vorherigen Plan einer akademischen Karriere auch deswegen verwirft, weil ihr damit zu wenig Zeit für ihre Freizeitaktivitäten, in deren Mittelpunkt gemeinsames Musizieren steht, bleiben würde.

Auch darüber hinaus ist bei den Vertreter*innen dieses Typus die Ausbildungs- und Berufsbiographie fester und dichter mit den anderen Lebensbereichen verwoben als bei den Vertreter*innen der anderen Typen. Als Beispiel für diese Verwobenheit der Lebensbereiche kann hier ein Ausschnitt aus der Biographie von Herrn Schulz dienen: Nachdem sich dessen ursprünglicher, von seinem jugendlichen Engagement für Tier- und Naturschutz motivierte Wunsch, Tiermediziner zu werden, wegen des zu hohen Numerus Clausus zerschlagen hat und aus seiner Ausweichstrategie, Biologie zu studieren, ein Lehramtsstudium geworden ist, sieht er sich nach dem Referendariat mit Schwierigkeiten konfrontiert, eine Anstellung zu finden:

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An der Beschreibung der eigentlichen Stellensuche (3–9) ist zunächst interessant, was nicht erwähnt wird. Vertreter*innen der anderen beiden Lebensführungstypen machen bei ihren Schilderungen ähnlich schwieriger berufsbiographischer Stationen die eigenen Strategien der Stellensuche sehr viel transparenter – und sei es nur, indem sie hervorheben, wie viele Bewerbungen sie geschrieben haben oder an welche Institutionen sie sich wenden. Demgegenüber scheint es Herrn Schulz selbstverständlich, dass Freunde und Bekannte, die entweder selbst in entscheidenden Positionen sind (4) (oder ‚jemanden kennen, der ‚jemanden kennt‘ [7–8]), als Ansprechpartner*innen bei der Stellensuche dienen – so selbstverständlich, dass er in dieser Passage, wie im ganzen Interview, obwohl er oft den Rat oder die Hilfe dieser Bekannten in verschiedenen Situationen erwähnt, nie thematisiert, Rat und Hilfe gesucht oder um diese gebeten zu haben. Sie sind gewissermaßen ‚einfach da‘, wenn er vor einem Problem steht.

Auch wenn er nicht explizit macht, woher diese Kontakte stammen, so legen doch der Arbeitgeber des Freundes sowie Herrn Schulz‘ bisherige biographische Schilderungen nahe, dass es sich dabei nicht um Kommilitonen aus dem Lehramtsstudium handelt, also um Kontakte, die er im Rahmen seiner Ausbildungs- und Berufsbiographie etabliert hat. Er hat während des Studiums weiter in seinem Heimatdorf gewohnt, ist in die nächste Universitätsstadt gependelt und spricht keinerlei Teilhabe am ‚Studentenleben‘ an. Die hilfreichen Kontakte beim Berufseinstieg sind vielmehr „Fußballkumpels“ (I08: 926), die ihm auch schon beim Ausbau seiner ersten Wohnung und später auch beim Hausbau helfen, oder Bekannte aus seinem lokal- und jugendpolitischen Engagement.

Im Vorstellungsgespräch ist die ausschlaggebende Qualifikation für eine Aufgabe, für die er mit seinem Studienfach ja gar nicht qualifiziert wäre (22/23), wiederum sein Hobby Fußball. Ganz auf dieser Linie versteht Herr Schulz auch seinen Erfolg darin, als Autoritätsperson bei den Schüler*innen Anerkennung zu finden, die sich ja, wie er in dem prägnanten Bild des Zeugnisse-aus-dem-Fenster-werfens darstellt (23–26), gegenüber der Rollenautorität der Lehrenden nicht besonders aufgeschlossen zeigen, als Ergebnis seiner Identität als „guter und harter Fußballer“ (28). Und dass sein Vorgesetzter genau dies so vorausgesehen habe, schreibt Herr Schulz ihm folgerichtig im Nachhinein zu (27/28), findet also seine Identität in dessen Entscheidung für ihn bestätigt.

Jenseits dieser rekonstruierbaren oder von Herrn Schulz selbst thematisierten entscheidenden Weichenstellungen von freizeitbezogenen Kontakten und Fähigkeiten für den Verlauf der Berufsbiographie lohnt es sich, zwei der in dieser Passage skizzierten Interaktionen genauer zu betrachten. Ein entscheidender Grund dafür, dass Herr Schulz, anders als zum Beispiel Herr Wisch und Herr Molchau, seinen Beruf durchaus mit einer gewissen intrinsischen Motivation und nicht lediglich als Mittel zu Zwecken in anderen Lebensbereichen wahrnimmt, ist nämlich darin zu suchen, dass er seine lebensbereichsübergreifende biographische Orientierung auch in der Rolle des Hauptschullehrers verwirklichen kann. Hier liegt eine wesentliche Besonderheit der gemeinschaftszentrierten Lebensführung: Die Vertreter*innen der investiven Statusarbeit üben ihren Beruf mit sehr geringer intrinsischer Motivation aus, was die beruflichen Inhalte anbelangt; eine berufsstolzgeprägte Lebensführung geht demgegenüber mit sehr hoher intrinsischer Motivation einher. Im Fall der gemeinschaftszentrierten Lebensführung ist der Grad der intrinsischen Motivation bei der beruflichen Tätigkeit hingegen variabel – abhängig davon, inwiefern sich eine Orientierungskontinuität mit den anderen Lebensbereichen herstellen lässt.

In der dem Direktor zugeschriebenen Aussage ihm gegenüber (12/13) kommentiert Herr Schulz den ungeplanten Charakter seiner Berufsbiographie auf ironische Weise. Die von ihm gewählte Fächerkombination entspricht, wie er an anderer Stelle deutlich macht, vor allem seinen eigenen Interessen, vagen Ideen, wie man vielleicht doch noch Tierarzt hätte werden können, und den Erfolgserlebnissen im Schulunterricht, folgt also keinem berufsbiographischen Plan, was diese Fächerkombination eben ‚idiotisch‘ macht. Dennoch gibt der Direktor ihm die Gelegenheit, sich persönlich vorzustellen – und dies ist entscheidend, um die ‚Idiotie‘ seiner Studienfachwahl, die er, wenn nicht mit Stolz, so doch zumindest ohne Scham präsentiert, zu kompensieren. Der herzlich-ruppige Tonfall des Direktors, den Herr Schulz nicht negativ kommentiert, ist aufgrund seiner ‚Direktheit‘ vermutlich positiv konnotiert – auch weil er eine auffällige Ähnlichkeit mit Herrn Schulz‘ eigenem Verhalten in der zweiten skizzierten Interaktion hat, in der er die Schüler*innen im Sportunterricht „umgrätscht“ (29/30). Diese körperlich-unmittelbare Interaktion ist es in den Augen von Herrn Schulz, die ihn für die Schüler*innen vor den anderen Lehrer*innen heraushebt und ihm Anerkennung verschafft.

Dabei ist auffällig, dass die Schilderung seiner weiteren Tätigkeit an der Hauptschule (31–42) erneut einen Kontrast aktualisiert, der sich homolog auch in der Spannung zwischen ‚formaler Qualifikation‘ und dem ‚als Person zur Geltung kommen‘ dokumentiert: Es ist nicht der eigentliche Unterricht, sondern es sind „so praktische Arbeiten im Schulgarten“ und die „Klassenfahrt“, die den für ihn wichtigsten Teil seiner Tätigkeit ausmachen und dafür sorgen, dass er die Tätigkeit als Hauptschullehrer schätzen lernt. Das verbindet sich mit einer grundlegenden Orientierung, die schon in seinen Ausführungen zum Referendariat auszumachen war. Dort hatte er sein Unwohlsein damit, auf formale Art und Weise beim Unterrichten bewertet zu werden, seiner Freude am Unterricht als Interaktion mit den Schüler*innen gegenübergestellt. Die formale Logik der Institution widerstrebt ihm, aber Unterrichten liegt ihm so sehr, dass es sein Unbehagen an der Institution ausgleicht.

Die sich hier herauskristallisierenden, einander entgegengesetzten Elemente des Orientierungsrahmens – auf der einen Seite die positiv konnotierte direkte Interaktion und Anerkennung als ganze Person, und auf der anderen Seite die negativ konnotierte formalisierte Rolleninteraktion, bei der man nie weiß, ‚woran man bei dem anderen wirklich ist‘ – dokumentiert sich noch einmal sehr klar in einer Entscheidung von Herrn Schulz, die er direkt an die oben zitierte Passage anschließend erläutert. Ihm wird nach einiger Zeit eine prestigeträchtigere und besser entlohnte Stelle als Gymnasiallehrer angeboten; und er entscheidet sich, sie nicht anzunehmen und bei seinen Hauptschüler*innen zu bleiben. Sind letztere ihm „wegen ihrer Gradlinigkeit ans Herz gewachsen“, so hat er bei den Gymnasiast*innen das Gefühl, sie haben ihn „abgecheckt“ (I08: 749) und richten sich in ihren Äußerungen strategisch danach, was sie ihm für Erwartungshaltungen unterstellen. Und auch die Beförderung zum Schulleiter lehnt er ab – nicht nur wegen der zu erwartenden höheren Arbeitsbelastung, sondern auch, weil es ihm widerstrebt, „mit irgendwelchen blöden Kollegen Dienstgespräche zu führen“ (I08: 990). Es ist somit im Falle von Herrn Schulz nicht nur so, dass die Berufsbiographie an allen Weichenstellungen auf Beziehungen aus anderen Lebensbereichen verweist. Vielmehr ist die für einen Vertreter des Typus der gemeinschaftszentrierten Lebensführung relativ hohe Bedeutung des Berufs überdies dadurch zu erklären, dass die Tätigkeit des Hauptschullehrers selbst sich an Orientierungen ausrichten lässt, die auch in anderen Lebensbereichen bestimmend sind und damit für Herrn Schulz gewissermaßen als Metaphern für eine gelingende Lebensführung fungieren können.

Der positive Horizont des Orientierungsrahmens von Herrn Schulz wird von drei Elementen bestimmt. Es geht erstens um ‚echte Autorität‘, also darum, Anerkennung als ganze, besondere Person zu erfahren. Das negative Gegenstück ist die Angst, ‚nicht zu wissen, woran man ist‘. Zweitens kommt es ihm darauf an, in seinem Handeln auch seiner Intuition folgen zu können und, wie er es formuliert, einfach „machen zu können“ (I08: 753) – im Gegensatz dazu, sich formalen Beurteilungen und auferlegten Reglementierungen unterwerfen zu müssen. Drittens strebt er an, „sicher“ zu sein, was sich besonders prägnant vor dem auch in anderen Passagen aktualisierten negativen Bild der Situation der „Asylbewerber“ (I08: 711) abhebt, die „keinerlei Perspektiven“ (I08: 725) hätten und demnach ‚in der Luft hingen‘. Dieser Orientierungsrahmen verweist in seiner Logik auf die den Typus definierende Gemeinschaftszentriertheit: Als ‚echte Autorität‘ wahrgenommen zu werden, ist eben Anerkennung in Sozialbeziehungen, in denen man nicht anhand von abstrakten Maßstäben an Rollenverhalten evaluiert wird, was voraussetzt, dass sie hinreichend funktional diffus sind (Parsons 1951, 55/56). Nicht völlig diffus: Auch in der Interaktion zwischen Herrn Schulz und seinen Schüler*innen ist vieles von vornherein ausgeschlossen. Aber eben diffus genug, dass man immer wieder auch anders als im strengen Sinne rollenkonform zur Geltung kommen kann – was man auch will. Sich in solchen Beziehungen erfolgreich zu bewähren setzt allerdings voraus, dass man mit ihnen hinreichend vertraut ist.

Es verwundert vor diesem Hintergrund nicht, dass die Vertreter*innen dieses Typus, wo möglich, die räumliche Kontinuität wie auch die ihres sozialen Umfelds suchen. Wo sie gezwungen werden, den Ort oder das soziale Umfeld auch nur temporär zu wechseln, reagieren sie oft mit Unbehagen oder Hilflosigkeit. So absolviert Herr Wisch sein Fachabitur in einem Fach, das ihm erkennbar nicht zusagt und auch für seine weiteren beruflichen Perspektiven wenig anschlussfähig scheint, weil er sonst gezwungen gewesen wäre, den Wohnort zu wechseln. Die Zeit bei der Bundeswehr, die ihn dann schließlich zum Umzug zwingt, kommentiert er knapp und lakonisch mit den Worten „Ich brauchte nicht viel aushalten, [Auslassung] ist nicht viel hängen geblieben. (..) Wer da nicht hingeht, hat nicht viel verpasst. (…) Aber das musste man damals eben. Okay. Ging nicht anders.“ (I03: 286–290). Von seiner Zeit des Studiums in einer nahegelegenen Stadt, während dessen er weiter in seinem Dorf wohnen geblieben ist, auch wenn das bedeutet, über eine Stunde Hin- und Rückreisezeit auf sich zu nehmen, berichtet er schließlich, er habe die Nachmittage damit verbracht, alleine ziellos mit der Straßenbahn durch die Stadt zu fahren, um auf den Bus zu warten, der ihn wieder in sein Heimatdorf zurückbringen solle. Man weiß als Gemeinschaftszentrierter in diesen Situationen, in denen man sich außerhalb seines sozialen Nahumfeldes findet, schlicht erst einmal nicht, was man mit sich anfangen soll. In einer dichten und detaillierten Passage schildert Herr Schulz zum Beispiel den ersten Tag seines ersten Ferienjobs als Schüler, als er sich morgens auf der Baustelle wiederfand:

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Jenseits von biographischen Episoden, in denen die Gemeinschaftlichkeit als prekär erlebt wird oder in denen sie für die Erläuterung von Entscheidungen oder Handlungsverläufen herangezogen werden muss, wird sie in den Interviews trotz ihrer zentralen Bedeutung – oder vielmehr gerade wegen ihrer Selbstverständlichkeit – oft nur am Rande thematisch. Diese Beiläufigkeit mag auf den ersten Blick wirken, als würden sie der Zentralität der Gemeinschaftlichkeit für die gelebte Erfahrung der Vertreter*innen dieses Typus widersprechen. Der Grund dafür ist allerdings in der Form der gelebten Gemeinschaftlichkeit selbst zu suchen, die sich klar von den sozialen Nahbeziehungen der Vertreter*innen der beiden anderen Typen abhebt. Wo diese einzelne Freund*innen und Bekannte hervorheben, bei denen längere Geschichten oder Argumentationen begründen, warum gerade sie zum ‚engsten‘ Freundeskreis gehören, konstituiert sich die Gemeinschaftlichkeit der Vertreter*innen der gemeinschaftszentrierten Lebensführung gegenüber thematisch wie praktisch undifferenzierten, eben funktional diffusen Gruppen. So spricht Herr Schulz zwar zum Beispiel von den langjährigen Freundschaften, die sich über seinen Fußballverein ergeben hätten, adressiert diese Freunde jedoch nicht einzeln oder namentlich, sondern spricht immer nur von seinen „Fußballkumpels“ (I08: 926), und Herr Wisch hebt als positives Merkmal verschiedener biographischer Phasen die „schöne(n) Truppe(n)“ (I03: 304) hervor, in denen er sich damals bewegt hätte, differenziert diese Gruppen jedoch ebenfalls nicht weiter.

Gemeinschaftszentrierte Lebensführung und Einsamkeit: Herr Lohse

Während die meisten in diesem Kapitel herangezogenen Fälle sich durch ein im Vergleich mit den Vertreter*innen der anderen Lebensführungsmodi besonders ausgeprägtes und überwiegend positiv konnotiertes Sozialleben auszeichnen, was mitunter ein fast schon idyllisches Bild der gemeinschaftszentrierten Lebensführung suggerieren könnte, zeigt der Fall von Herrn Lohse, dass die gemeinschaftszentrierte Lebensführung auch eine eigene Form des sozialen Leids erzeugen kann:

Herr Lohse beginnt seine biographische Stegreiferzählung mit einem frühen Umzug aus der Kleinstadt in ein nahegelegenes Dorf, den er mit den Worten kommentiert: „was zur Folge hat, dass man da seine Freunde verliert und neue aufbauen ist natürlich schwierig, die Gruppen sind (..) da. Eigentlich. //mhm// Da ist man immer so in der zweiten Reihe.“ (I02: 19–21) Die etwas ungelenke Formulierung, nach der es „natürlich schwierig“ sei, Freunde „aufzubauen“, erweist sich in der Interpretation des restlichen Interviews als Hinweis auf ein zentrales Dilemma seiner gemeinschaftszentrierten Lebensführung. Der positiven Orientierung an der Gemeinschaftszugehörigkeit entspricht, nun, da sie einmal verloren gegangen ist, kein wirkliches Potential, sich neue Gemeinschaftlichkeit aufzubauen.

Herr Lohse vermeidet es, wie andere Vertreter*innen dieses Typus, wo immer es geht, sich zu exponieren und sich gegebenenfalls dem möglichen Spott der anderen auszusetzen. Dieses Element des negativen Horizonts dokumentiert sich unter anderem an einer anderen Stelle des Interviews in einem detaillierten Bericht über einen Kollegen in der Lehre, der Zielscheibe bösartiger Streiche geworden sei, von dem er aber eben auch herausstellt, dieser „forderte das heraus“ (I02: 234). Herr Lohse bleibt deshalb auch wohlweislich „immer so in der zweiten Reihe“.

Ohne die selbstverständliche Unterstützung aus dem sozialen Nahumfeld, auf die die anderen Vertreter*innen der gemeinschaftszentrierten Lebensführung sich verlassen können, weicht Herr Lohse in verschiedenen Entscheidungssituationen Unsicherheit und Konflikt aus, was seine Position langfristig verschlechtert. Als er im Wehrdienst chronisch erkrankt, verklagt er die Bundeswehr nicht, wie ursprünglich geplant, da sein Vorgesetzter ihm androht, ihn in diesem Fall nicht vorzeitig nach Hause zu entlassen. In seiner Anstellung als Handwerker geht er, weil es kein anderer will und er sich bei seinen Kollegen im Betrieb nicht besonders wohl fühlt, in den Außendienst, was er zwar dadurch zu rationalisieren versucht, dass er so mehr Geld verdiene und Menschen kennenlerne, wodurch sich aber seine chronische Krankheit derart verschlimmert, dass er den Beruf schließlich ganz aufgeben muss.

Auch wenn Herr Lohse sich sichtlich bemüht, sich das Ergebnis der wiederholten biographischen Rückschläge positiv zu eigen zu machen – etwa indem er sich als Hausmeister der Privatschule, an der er schlussendlich arbeitet, mit deren Erfolg bei der zwischenschulischen Konkurrenz um begabte Schüler*innen identifiziert: Hinter diesen Bemühungen, sich selbst Zugehörigkeit einzureden, bleibt der Verdacht, nicht wirklich dazu zu gehören, der Missachtung der anderen ausgesetzt zu sein, und damit auch der Drang, sich zu rechtfertigen. Wie schwer er sich dem entziehen kann, zeigt sich in einer eindrücklichen Szene, in der er es als entschlossenen und außergewöhnlichen Akt seinerseits darstellt, dass er, als ihn jemand wegen seiner Kinderlosigkeit „ausgeschimpft“ (I02: 843) habe, den Raum verlassen habe, ohne dieser Person sein „Leben preis(zu)geben“ (I02: 846): Herr Lohse wünscht sich schon immer Kinder, ist aber zeugungsunfähig.Footnote 8

4.1.3 Lokale und sozialräumliche Diskontinuität und gemeinschaftszentrierte Lebensführung

Bis hierher haben Fälle die Darstellung des Typus bestimmt, die durch eine starke räumliche und soziale Kontinuität gekennzeichnet sind, die höchstens für kurze Episoden unterbrochen wird, wenn es nicht zu vermeiden ist. Außerdem handelt es sich zumeist um Personen, die in ländlichen oder kleinstädtischen Milieus eingebunden waren und sind. Ist vielleicht der Impuls, diesen Modus der Lebensführung als traditional einzustufen, nicht doch insofern zutreffend, als dass, wie etwa Katrin Alle und Vera Kallfaß-de Frênes (2016, 15) beobachten, eine Reihe soziologischer Klassiker wie Georg Simmel, Emile Durkheim, Max Weber und Ferdinand Tönnies Modernität mit Urbanität gleichsetzen? Mit anderen Worten: Sehen wir in diesen Fällen nicht Reminiszenzen einer vormodernen Lebensführung, in der die Kontinuität der lokalen Gemeinschaft einen Identitätsanker darstellt? Wie schon in der soziologischen Diskussion über Individualisierung herausgearbeitet, geht die Frontstellung einer modernen individualisierten gegenüber einer traditionalen gemeinschaftsorientierten Lebensführung aber fehl (Wohlrab-Sahr 1992). Wie im Folgenden anhand zweier unserer Fälle gezeigt wird, geht die gemeinschaftszentrierte biographische Orientierung überdies auch nicht zwingend mit räumlicher und sozialer Kontinuität der Lebensführung einher.Footnote 9

Im Kontrast zu den bisher besprochenen Fällen verlassen sowohl Frau Traute als auch Frau Reuter ihren Geburtsort. Mit der Lebensgeschichte von Frau Traute sieht man einen Verlauf, in dem auf eine intentionale Absatzbewegung eine Rückkehr in die vertraute Gemeinschaft folgt. Frau Traute geht noch während der Schulzeit ins Ausland,Footnote 10 und als es nach Abschluss des Abiturs darum geht, sich für ein Studienfach zu entscheiden, folgt sie ihrem „sehr starken Drang“, ihr „eigenes Ding zu machen“ (I27: 989–990), und studiert Regionalwissenschaften in einer 300 km vom Wohnort der Eltern entfernten Universitätsstadt. Während eines Weihnachtsbesuches bei den Eltern wird ihr jedoch schlagartig klar, dass sie den falschen Weg eingeschlagen hat, und sie schwenkt mit deren Hilfe auf ein Lehramtsstudium um, für das der Studienort näher gelegen ist. So findet sie den als verlorengegangen empfundenen Anschluss zur familiären Gemeinschaft wieder. Bei Frau Reuter sehen wir demgegenüber einen Verlauf, der durch mehrmalige Neu-Einbettung und teilweise durch personale Kontinuität im sozialen Umfeld trotz räumlicher Mobilität gekennzeichnet ist: Nach dem Abitur studiert sie zunächst Geologie, bricht dann aber ab und macht eine Ausbildung zur Krankenschwester. Nach etwa 10 Jahren der Praxis in wechselnden Institutionen absolviert sie noch ein Lehramtsstudium und arbeitet seitdem als Lehrerin.

Um die nähere Betrachtung mit Frau Traute zu beginnen: Sie geht noch während ihrer Schulzeit für einen einjährigen Gastaufenthalt ins nicht-europäische Ausland und verlängert den Aufenthalt vor Ort noch einmal um ein halbes Jahr. Vor dem Hintergrund unserer Analyse, nach der sich in der Lebensführung Frau Trautes eine gemeinschaftszentrierte Orientierung dokumentiert, mag diese Episode zunächst überraschen. Doch die Schilderungen dazu verweisen stark auf Beziehungen im sozialen Nahumfeld. Die Entscheidung für den Aufenthalt wird auch in der Retrospektive nicht als zielgerichtete Qualifikationsentscheidung beschrieben, sondern habe „sich irgendwie (.) durch verschiedene Umwege so ergeben.“ (I27: 92–93). Die Anbahnung und den Aufenthalt selbst beschreibt Frau Traute als stark an den Gasteltern, besonders an der Mutter, die sie „Mama“ und dann berichtigend „also meine Gast-Mama“ (I27: 842–843) nennt, orientiert. Obwohl sie die Landessprache nicht sprach, fasste sie Vertrauen, dass der Aufenthalt gelingen würde, nachdem sie Kontakt mit der Gast-Mutter – wie ihre eigene Mutter ebenfalls eine Grundschullehrerin – hatte:

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Frau Traute beschreibt den anschließenden Aufenthalt bildhaft und konnotiert ihn positiv, wobei der Schwerpunkt auf den Beziehungen zu den Familienmitgliedern liegt. Anders als im Austauschprogramm vorgesehen, reist ihre Gastschwester im Anschluss zusammen mit ihr nach Deutschland und lebt ihrerseits ein Jahr lang in der Familie von Frau Traute – ebenfalls ein Hinweis darauf, dass der Abschnitt nicht so sehr als früher Karriereschritt zu lesen ist, sondern eine Orientierung an der Kontinuität sozialer Beziehungen dokumentiert.

Frau Traute entschließt sich nach Abschluss des Abiturs für ein Studium. Noch unter dem Eindruck des Auslandsaufenthaltes beschließt sie dabei, anders als ihre Eltern und Großeltern, nicht Lehrerin zu werden: „Und ich hab dann nach B-Land nen sehr starken Drang gehabt, irgendwie mein eigenes Ding zu machen. Ich //mhm// wollte eben nicht das, was alle in meiner Familie machen“ (I27: 988–990). Stattdessen studiert sie Regionalwissenschaften mit Schwerpunkt auf der Region ihres Gastaufenthaltes. Das Studium scheint nicht so sehr ein vorwärts gerichtetes Statusprojekt, sondern eine Reminiszenz an den Auslandsaufenthalt zu sein. Es ist der Versuch, an die geglückte ‚Entbettung‘ aus dem heimischen Nahumfeld anzuschließen – wobei sich diese ‚Entbettung‘ ja genau besehen als geglückte Erweiterung des sozialen Nahumfelds, also wiederum als ‚Einbettung‘, vollzieht. Nicht zu studieren oder auszuwandern steht nicht zur Disposition: Alles muss in ‚geordneten Bahnen‘ verlaufen. Dafür spricht auch, dass Frau Traute den ersten Gedanken, Journalistin zu werden, verwirft, da sie befürchtet, dafür „unglaublich Karrierearbeit leisten“ (I27: 1000) zu müssen – eine Befürchtung, die der Idealtypus des investiven Statusarbeiters nie haben dürfte. Ihr Studium erweist sich aber schließlich als zu herausfordernd und zu anstrengend. Zusätzlich argumentiert sie, dass sie „gar nicht [wusste], wo’s hinführen soll. Und was ich damit irgendwann mal machen will“ (I27: 1029–1030).

Die Ausbildungsentscheidung führt also nicht zur Etablierung eines eigenen beruflichen Statusprojekts. Die ‚Korrektur‘, die Frau Traute anschließend vornimmt, wird folgerichtig in einer der bildlichsten Szenen des Interviews explizit als eine ‚Rückbettung‘ in Gestalt einer Wiedereingliederung in die Herkunftsfamilie präsentiert: Frau Traute entscheidet sich im Rahmen eines weihnachtlichen Familienbesuches dafür, das Studium abzubrechen.

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Frau Traute entscheidet sich nicht angesichts neuer Informationen um, sondern unter dem Eindruck eines unmittelbaren Erlebens im relevanten sozialen Nahumfeld. Das orientierende Element des Studienfachwechsels ist damit kein Aufstiegsstreben, sondern der Anschluss an die etablierten Lebensführungsmuster der Familie.

Auch wenn Frau Traute heute in einer etwa 150 km entfernten Großstadt wohnt, beschreibt sie ihr Verhältnis zur Familie weiterhin als sehr gut und eng. So hätten die Eltern beispielsweise auch ein eigenes Kinderzimmer für die Enkelkinder eingerichtet. Trotz der lokalen Entfernung kann Frau Traute durch ihre Eingliederung in die familiale Tradition und Wertegemeinschaft und durch entsprechende Bereitschaft zur Mobilität also die gemeinschaftliche Nähe und Verbundenheit aufrechterhalten. Insofern ist sie zwar räumlich weiter von ihrem ursprünglichen sozialen Nahumfeld entfernt, als die bisher besprochenen Vertreter der gemeinschaftszentrierten Lebensführung. Sie bleibt ihm aber sozial enger verbunden, als das bei Vertreter*innen der anderen Lebensführungsmodi allgemein der Fall ist. Die Musik spielt in der Entscheidung zwar eine zentrale Rolle. Anders als im Abschn. 4.2 am Fall von Herrn Röseler als einem Vertreter der am Berufsstolz orientierten Lebensführung gezeigt wird, ist Musik für Frau Traute aber keine Arena, in der sie sich als ‚besonders‘ profilieren kann, sondern eher vergleichbar mit Herrn Schulzes Fußballspielleidenschaft. Musik ist eine Tätigkeit, die sie zum einen aus Freude am Musizieren selbst, zum anderen als willkommenen Anlass zur Vergemeinschaftung ausübt. Folgerichtig steht „im Mittelpunkt“ (I27: 1791) ihrer Freizeitgestaltung ein Chor, also das gemeinschaftliche Musizieren.

Eine andere Verlaufsform sehen wir bei Freu Reuter, die im Rahmen ihrer Berufsbiographie sowohl Anschluss an bestehende Netzwerke zu halten sucht als auch immer wieder eine Neu-Verwurzelung in vorgefundenen Gemeinschaften vornimmt. Nach dem Abbruch des ersten Studiums, das sie, weil im Mittelpunkt ihres Engagements eher ihre hochschulpolitische Gruppe als das Studium selbst steht, schon früh eher ‚schleifen‘ lässt, kehrt sie zunächst noch in die Nähe ihres Geburtsortes zurück:

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Obwohl sie „kirchenfern erzogen“ (I22: 846) wird, absolviert Frau Reuter die Ausbildung in einem konfessionellen Haus, „einfach weil es das Nächstliegende war“ (I22: 848–849). Auch ihr zweites Studium findet in einer 20 km nahen Universitätsstadt statt, wobei sie sich damit für die nähere Variante ihrer beiden Studienplatzzusagen entscheidet. Für das Referendariat bewirbt sie sich wiederum in den beiden nahen Universitätsstädten, zusätzlich aber noch an einem Ort an der Nordsee, wo sie zuvor eine Freundin besucht hatte. Obwohl sie eigentlich eher die Ostsee liebe, habe sie sich dort beworben, denn die Ostsee gebe es in ihrem Bundesland eben nicht. Der ‚Ausflug in die Ferne‘ hat also nicht nur einen zeitlich begrenzten Charakter, sondern auch räumlich deutlich definierte Grenzen. Über ihre Strategie zur Suche nach einem Referendariatsplatz sagt sie schließlich: „ich war einfach total offen. Wäre mir völlig egal gewesen, wo es hingeht“ (I22: 1022–1023). Zum einen hat auch diese Einschätzung, sie sei während dieser Bewerbungsphase „überall rumgekommen“ (I22: 1020–1021), implizite Grenzen, denn sie verbleibt bei der Suche in ihrem Bundesland. Zum anderen leitet sie die Beschreibung der Phase selbst mit der Anmerkung ein, dass kurz zuvor ihre zwölfjährige Beziehung geendet habe und auch der Vater bereits drei Jahre zuvor gestorben sei. Auch diese Entscheidung wird handlungsleitend von der Orientierung am sozialen Nahumfeld geprägt: Umbrüche vermitteln ihr das Gefühl, nicht mehr selbstverständlich aufgehoben zu sein, so dass sie sich ‚auf die Suche‘ nach Gemeinschaftlichkeit macht.

Allgemein treten in den Schilderungen dieser Episoden viele Personen auf. Beziehungen werden eingeführt, verändern sich und enden wieder. Die Personen sind dabei allerdings beständig, wie in einem Geflecht, untereinander verbunden. Als Frau Reuter am Ende einer knapp zehnminütigen Passage über die Entwicklung ihrer Beziehung zu einer ehemalig besten Freundin schließlich damit endet, dass sie mit dem älteren Bruder der neuen und aktuellen besten Freundin früher schon einmal im Kindergarten gewesen sei, schließt sie mit: „Also die Welt ist sehr klein manchmal“ (I22: 386). Diese Konklusion beschreibt in der Tat, dass sich Frau Reuters Leben innerhalb eines, wenn auch lokal ausgreifenden, so doch personal deutlich umrissenen Rahmens abspielt.

Dabei ist Frau Reuters Bemühung aber auch darauf gerichtet, in neuen Umfeldern Akzeptanz in neuen Gemeinschaften zu gewinnen. Ihren neuen Arbeitsplatz und Wohnort bewertet sie nach entsprechenden Kriterien: „Und ich habe auch noch nie einen Ort erlebt, und ich bin ja schon in mehreren gewesen, wo ich so mit offenen Armen empfangen wurde und auch mitmachen durfte. Also fand ich cool.“ (I22: 1043–1045). So erzählt sie in einer der bildlichsten Passagen des Interviews, wie sie auf dem Geburtstag eines Pastors gleichermaßen umworben wird, in den Kirchenvorstand einzutreten, wie auch, sich in den Gemeinderat wählen zu lassen. Ihre zuvor thematisierte Kirchenferne steht dazu in keinem von ihr gesehenen Widerspruch, was die Interpretation bekräftigt, dass der entscheidende Impetus die Mitgliedschaft in der Gemeinschaft – nicht deren ‚Programm‘ – ist. Eine kurze Einlassung zu ihrer Arbeit im Gemeinderat hat zum Gegenstand, welche Personen und Fraktionen aufgrund welcher Vorkommnisse welche Beziehung zueinander haben. Bereits in der Eingangspassage erzählt sie: „mit dem Bürgermeister bin ich befreundet, mit dem Pastor auch, und wir sagen immer, irgendwann machen wir einen Stammtisch aus/ aus/ äh auf wie früher in den 50ern“ (I22: 123–125), und gibt damit früh zu verstehen, dass sie zum ‚inneren Kreis‘ der Gemeinschaft gehöre. Als Anzeichen dafür, dass sie erfolgreich und aufgenommen sei, führt sie an, sie habe sich „einen relativ guten Ruf, glaube ich, auch in der Elternschaft erarbeitet und äh (.) hm naja und bin jetzt halt drin“ (I22: 1190–1192).

In beiden Fällen zeigt sich also eine durchgängige Gemeinschaftszentrierung, die Diskontinuitäten in Bezug auf das unmittelbare räumliche und soziale Nahumfeld überdauert – im Fall von Frau Traute, indem eine frühe Absetzbewegung durch Rückanbindung korrigiert wird. Dabei scheint es bei genauerem Hinsehen, als ob bereits diese Absetzbewegung auf paradoxe Art und Weise innerhalb des eigenen sozialen Nahumfelds vollzogen worden sei – als eine Identitätsbehauptung als ‚selbstständig‘ und ‚abenteuerlustig‘ – gegenüber dem verspürten impliziten Sog, in elterliche Fußstapfen zu treten. Auf jeden Fall hat, wie in den glücklichen Fügungen, die wir am Beispiel von Herrn Schulz bereits erwähnt hatten, das soziale Nahumfeld letzten Endes die Orientierung und praktische Hilfestellung geboten, die zur Berufswahl führt. Frau Reuters Geschichte zeigt komplexere Verschiebungen des sozialen Nahumfelds und vor allem eine Umbettung in ein neues Umfeld. Allerdings sind auch hier die Suche nach Gemeinschaft und ein dauerhaftes Geflecht von Beziehungen im sozialen Nahumfeld kontinuierlich als orientierende Elemente ihrer Weichenstellungen rekonstruierbar.

4.1.4 Status, Planung und gemeinschaftszentrierte Lebensführung

Die Gemeinschaftszentriertheit dieses Lebensführungsmodus bildet den Schlüssel zum Verständnis der beiden eingangs herausgestellten auffälligen Differenzen zum Idealtypus der investiven Statusarbeit – der ‚Statusbescheidung‘ und der ‚ungeplanten‘ Statusarbeit. Ein elaborierter und ambitionierter Plan der eigenen Berufsbiographie ist generell angesichts verschiedenster Bedingungen – ungewisse und wechselnde Arbeitsmarktsituation, unvollständige Informationen über Möglichkeiten und wenig geordnete eigene Präferenzen – zumeist eine Illusion, wenn man nicht von vornherein einsieht, dass man bestenfalls ‚auf Sicht fahren‘ kann (Schimank 2015). Die Gemeinschaftszentriertheit wirkt hier einerseits als eine zusätzliche Limitation berufsbiographischer Planung: Wer Kontakte nicht abreißen lassen will, dem erscheinen bestimmte Entscheidungsoptionen, die höhere soziale und geographische Mobilität voraussetzen, von vornherein unattraktiv. Als Beispiel mag Herrn Wischs Entscheidung dienen, sein Fachabitur in einem Fach zu absolvieren, das mit keinem ausbildungs- und berufsbiographischen Ziel in Verbindung zu bringen ist, nur um einen Umzug und die Trennung von seinen Freunden zu vermeiden. Aber auch Frau Reuters Entscheidung, ihre Ausbildung trotz ihrer bekundeten Kirchenferne in einem konfessionellen Krankenhaus zu absolvieren, aus dem sie zuletzt auch deswegen im Streit ausscheidet, einfach „weil es das Nächstliegende war“ (I22: 848–849), lässt sich in diesem Licht verstehen.

Andererseits bietet die Gemeinschaft aber als Unterstützungsnetzwerk auch sonst nicht verfügbare Möglichkeiten. So kann sich Herr Schulz seine erste Wohnung leisten, weil er sie über einen ‚Fußballkumpel‘ mietfrei beziehen kann, nachdem er sie, ebenfalls mit deren Hilfe, renoviert hatte – wie er auch sein Haus später mit ihnen gemeinsam bauen wird. Konfrontiert mit der Arbeitslosigkeit nach dem Referendariat, findet sich für ihn die Lösung wieder im Freundes- und Bekanntenkreis: Nicht nur kommen die entscheidenden Hinweise zur Stellensuche von Bekannten – sondern die Bewältigung der doppelten Herausforderung, sich als ausgebildeter Gymnasiallehrer auf eine Hauptschullehrerposition zu bewerben und sich dann als Hauptschullehrer zu beweisen, gelingt hauptsächlich mit Hilfe des für Herrn Schulz besonders eng mit seinem sozialen Nahumfeld verbundenen Hobbies Fußball. Und auch Frau Traute überwindet die Sinnkrise ihres ersten Studiums mit Hilfe des sozialen Nahumfelds – indem sie sich an der Familientradition des Lehrer*innenberufs orientiert, aber auch, indem sie auf das Netzwerk der Mutter zurückgreift und deren Schule besichtigt. Entscheidungssoziologisch betrachtet bildet die enge Verflochtenheit in das soziale Nahumfeld eine Gelegenheitsstruktur für Coping: Es erlaubt eine gelassene Haltung des Wartens und Zugreifens (Schimank 2019).

Wo dies immer wieder gelingt, verdichtet sich diese Erfahrung zu einem tragenden Element der biographischen Orientierung. Im Fall von Herrn Schulz steigert sich das zu einem derart ausgeprägten „strukturellen Optimismus“ (Oevermann 2016), dass man, in Anlehnung an Manuel Franzmanns (2017) Konzept des „säkularisierten Glaubens“, von „säkularisiertem Gottvertrauen“ sprechen kann – wobei Gott hier, um Emile Durkheim 1912 (2014) zu paraphrasieren, recht eindeutig der bildhafte Ausdruck der Gemeinschaft ist. Es ist das Vertrauen, dass es im Moment unerwarteter Wendungen nicht nur ‚irgendwie gutgehen‘, sondern wahrscheinlich sogar besser werde als ursprünglich erwartet. Ohne auf die Figur einer gütigen und mächtigen Autorität zurückgreifen zu müssen, ist man sich aus der gelebten Erfahrung vergangener Krisensituationen schon irgendwie sicher, dass man, wenn es hart auf hart kommt, nicht auf sich allein gestellt ist, sondern aufgefangen wird. In der biographischen Stegreiferzählung verdichtet sich dieses Gemeinschaftsvertrauen in Erzählungen, die nicht nur in ihrem Gehalt Zeugnis über den auf die Gemeinschaft bauenden Optimismus ablegen, sondern in ihrer Form auch die Freude an einer bestimmten Art der gemeinschaftlichen Interaktion dokumentieren – als zugespitzte, oft selbstironische Anekdoten nach dem Muster ‚Du wirst nicht glauben, was mir kürzlich passiert ist‘. So etwa in Herrn Schulz‘ Erzählung zu seiner Einstellung als Hauptschullehrer, in der er die Unwahrscheinlichkeit und Ungeplantheit seiner beruflichen Karriere, in der unklare Erwartungen und ‚idiotische‘ Strategien sich am Ende zum Guten fügen, offen und vor allem lachend ausstellt.

In ähnlicher Weise muss auch die ‚Statusbescheidung‘ der Vertreter*innen dieses Typus als das Resultat der für die eigene Statusarbeit einerseits beschränkenden und andererseits bestärkenden Gemeinschaftlichkeit verstanden werden. Wie schon für Planung angemerkt, bewirkt die positive Orientierung an Gemeinschaft allein dadurch eine Beschränkung der Ambitionen, dass bestimmte Möglichkeiten dadurch ausgeschlossen sind, dass sie einen Wechsel des Umfelds bedeuten würden. Auch die Anerkennung durch die Gemeinschaft mag dadurch gefährdet werden, dass man einen Korridor des Angemessenen verlässt: Ein auffälliges Element der biographischen Erzählung einiger Vertreter*innen dieses Typus – das in den Erzählungen der Vertreter*innen der anderen Typen nie auftaucht – ist die ‚Ikarus-Erzählung‘ über Personen, die ‚zu hoch hinauswollten‘ und damit unvermeidlich scheitern (Abschn. 5.3.4). Die Lektion, die man aus diesen Fabeln zieht, deutet sich in Herrn Wischs Beteuerung an: „habe ich mich nie nach gedrängt. Habe ich mich nie in den Vordergrund gedrängt und habe auch nie irgendwie das Bedürfnis gehabt, das machen zu müssen“ (I03: 600–601).

Doch die ‚kurzen Feedbackschlaufen‘, über welche die Gemeinschaft kommuniziert, was sie von den Ambitionen und dem Erreichten ihrer einzelnen Mitglieder hält, haben nicht nur negativ-sanktionierenden, sondern oft auch positiv-bestärkenden Charakter. Sehr viel klarer als die Vertreter*innen der beiden anderen Lebensführungstypen wissen die Vertreter*innen der gemeinschaftszentrierten Lebensführung, wann sie es ‚geschafft‘ haben. Herrn Wischs Gleichgültigkeit gegenüber einer Karriere dürfte nicht zuletzt darauf beruhen, dass sein Einkommen reicht, als Alleinverdiener seine Familie zu versorgen und das Haus seiner Eltern übernehmen zu können, und dass er seine Erfolgs- und Anerkennungserlebnisse dadurch in anderen Lebensbereichen suchen kann – weil er die Zeit hat, in seiner Freizeit als Ehrenamtlicher eines Sportclubs dessen Siege mitzufeiern und am Wochenende seinen „top-fitten“ Kindern beim Sport am Spielfeldrand zuzujubeln. Ein anderes prägnantes Beispiel bietet wiederum Herr Schulz. Er zählt sich, auf die abschließende Frage nach seiner gesellschaftlichen Selbsteinordnung, ohne Zögern zur „Oberschicht“ (I08: 1483). Diese, vor dem Hintergrund seines Einkommens zunächst irritierende Einordnung wird verständlich, wenn man berücksichtigt, dass über das ganze Interview hinweg der Vergleich von Lebenschancen und -standards immer nur in Bezug auf das eigene soziale Nahumfeld stattfindet – in dem er als Leiter des Hauptschulzweiges seiner Schule in der Tat immer gut abschneidet. Wohl auch deswegen bildet diese berufliche Position gewissermaßen den ‚Sättigungspunkt‘ seiner beruflichen Ambitionen, und er weist mögliche Beförderungen zurück.

Anfangs haben wir angemerkt, dass wir die Bezeichnung als „traditionale“ Lebensführung, die wir anfangs in Anlehnung an Webers Studie zur protestantischen Ethik für diesen Typus der Lebensführung gewählt haben, wieder verwerfen, weil sie einen zeitdiagnostischen Kurzschluss nahelegen könnte. Dazu muss an dieser Stelle noch etwas mehr gesagt werden. Weber eröffnet seine Studie bekanntermaßen mit einem mehrschichtigen Vergleich der unterschiedlichen wirtschaftlichen Entwicklung katholischer und protestantischer Bevölkerungen. Die Details dieses Vergleichs wie auch die Kritik daran müssen an dieser Stelle nicht weiter ausgeführt werden. Es geht hier nur darum, dass für Weber die katholischen Bevölkerungsgruppen insofern ‚schlechter‘ abschneiden, als sie dem „Geist“ des okzidentalen Kapitalismus, dieser „Schicksalsmacht“ der Moderne, historisch weniger offen gegenübergestanden hätten. Da diese „Schicksalsmacht“ sich aber als „stahlhartes Gehäuse“ (Weber 1905, 201) etablieren und sich so von ihren religiös-ethischen Wurzeln lösen kann, müssen auch die katholischen Bevölkerungsgruppen sich über kurz oder lang anpassen, und die Entwicklungsunterschiede müssten mit der Zeit verschwinden. Die traditionale Lebensführung dieser Gruppen, einst das feindliche Umfeld, in dem die protestantische Ethik sich nur unter großer Mühe durchsetzen kann, befindet sich Weber zu Folge – schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts – auf dem Rückzug. Doch nicht nur die Nähe zu der traditionalen Lebensführung, wie Weber sie darstellt, legt nahe, in der gemeinschaftszentrierten Lebensführung vor allem ein Relikt der Vergangenheit zu sehen. Die beschriebene Orientierung an der Anerkennung einer lokal verankerten Gemeinschaft erinnert auch an die verschiedentlich der Vergangenheit zugeschriebenen Ethik der Gemeinschaft, die in der modernen Gesellschaft im Auflösen begriffen sei oder sich schon aufgelöst habe (klassisch: Tönnies 1887; MacIntyre 1981). Und auch jenseits theoretischer Affinitäten scheinen Merkmale der beschriebenen Fälle den Verdacht zu erhärten, dass hier eine Tradition auf dem Rückzug beschrieben wird: u. a. die dörflichen und kleinstädtischen Milieus, in denen die Fälle heimisch sind; der Umstand, dass die Form der Lebensführung offenbar von den Vätern übernommen wurde; oder, dass keiner der Befragten in neuer entstandenen Berufsfeldern tätig ist.

Drei Aspekte sprechen jedoch gegen diesen naheliegenden Schluss. Der erste und theoretisch abstrakteste ist, dass der historisch ältere ‚Stammbaum‘ kein Beleg dafür sein muss, dass etwas dauerhaft auf dem Rückzug ist. Es mag sich unter veränderten Umständen, vielleicht zur Bewältigung nicht-antizipierter Herausforderungen, sogar als ‚fortschrittlicher‘ präsentieren.Footnote 11 Dieser Punkt ist letztendlich eine Frage futurologischer Spekulation, sollte aber nicht unerwähnt bleiben. Der zweite Aspekt ist ebenso theoretischer Natur, bezieht seine Plausibilität aber aus unseren Auswertungen: Wie in der Darstellung der beiden anderen Typen deutlich werden wird, bildet die Gemeinschaftszentriertheit in gewisser Weise einen allgemeinen Horizont der Statusorientierung. Zumindest in der biographischen Jugendphase ist die Anerkennung durch das soziale Nahumfeld die zentrale Arena der Identitätsbehauptung, und die Verlagerung dieser Arena hin zu anderen Publika der Anerkennung, wie sie die berufsstolzgeprägte Lebensführung und die investive Statusarbeit kennzeichnet, ist ein voraussetzungsvoller Prozess. Drittens schließlich stießen wir in unserer Auswertung auch auf Fälle, die nahelegen, dass es diese Lebensführung – obwohl sie in ihrer klarsten Form in ländlichen und kleinstädtischen Milieus mit räumlicher und sozialer Kontinuität des Nahumfelds vorkommt – auch in ‚moderneren‘ Kontexten gibt. Gemeinschaftszentriertheit schließt räumliche Mobilität und den Austausch der Gemeinschaften nicht aus.Footnote 12

Was alle behandelten Fälle als Vertreter*innen der gemeinschaftszentrierten Lebensführung auszeichnet, ist also nicht die manifeste räumliche Kontinuität und die Verankerung in tradierten kleinstädtischen oder ländlichen Milieus, sondern das zugrundeliegende Orientierungsmuster, als akzeptiertes Mitglied einer über die untereinander relativ schwach differenzierten Lebensbereiche hinweg gelebten Gemeinschaft zu wirken und anerkannt zu werden. Der konkrete Gehalt mag mit hinzutretenden Orientierungselementen variieren. Man mag als Lehrerin bildlich am Stammtisch von Pastor und Bürgermeister sitzen wie Frau Reuter und dabei danach streben, persönlich ‚gebraucht‘ zu werden. Man mag als Familienvater und -ernährer stolz die sportlichen Leistungen der Kinder verfolgen, wie Herr Wisch, oder Grill- und Whiskyabende mit langjährigen Freunden zelebrieren und im Ehrenamt glänzen wie Herr Molchau, und dabei stärker eine Form der ‚unproblematischen Zugehörigkeit‘ in den Mittelpunkt der Bestrebungen stellen: Immer richtet sich das Statusstreben auf die Gemeinschaften, in denen man ‚etwas gelten‘ will. Ohne freilich ‚zu viel‘ zu wollen: Negativ begrenzend wirkt ebenfalls über die Fälle hinweg, dass man vermeidet, die Zugehörigkeit zur Gemeinschaft aufs Spiel zu setzen.

Im nächsten Teilkapitel werden wir uns demgegenüber der Rekonstruktion eines Typus zuwenden, bei dem diese Vermeidungshaltung dezidiert nicht der Fall ist: der Lebensführung des Berufsstolzes. Die Vertreter*innen dieses Typus haben nicht nur die Verbindungen zu ihrem Herkunftsmilieu weitgehend abgebrochen, sondern orientieren sich in ihrem neuen Lebensumfeld an einer anderen Form der sozialen Anerkennung, die Gemeinschaftlichkeit nur in nachgeordneter Form zulässt – als Gemeinschaft derer, die nach beruflicher Meisterschaft streben.

4.2 Die berufsstolzorientierte Lebensführung

Stellt die gemeinschaftszentrierte Lebensführung einen besonders scharfen Kontrast zum Idealtypus der investiven Statusarbeit dar, ist die Lebensführung des Berufsstolzes diesem Idealtypus in mancher Hinsicht sehr viel ähnlicher: Die Vertreter*innen dieses Typus räumen der Ausbildungs- und Berufstätigkeit den höchsten biographischen Stellenwert ein und streben in ihrem Beruf erkennbar nach einem Aufstieg, der sich durchaus auch als Statusaufstieg interpretieren lässt. Das unterscheidet sie von den Vertreter*innen der gemeinschaftszentrierten Lebensführung. Auf der anderen Seite zeigen die Berufsstolzen dabei ein Maß an intrinsischer Motivation für den gewählten Beruf, das im Idealtypus der investiven Statusarbeit als Identifikation mit den Inhalten der beruflichen Tätigkeit nicht vorgesehen ist und das auch im noch anzusprechenden rekonstruierten Realtypus der investiven Statusarbeit nicht vorkommt.Footnote 13 Aufstiegsstreben heißt in der berufsstolzorientierten Lebensführung ein Streben nach ‚Meisterschaft‘ in der Tätigkeit, über die man den Beruf hauptsächlich definiert, und nicht nach einer Karriere im herkömmlichen Sinne.

Der folgenden Darstellung des Typus (Tab. 4.2) liegen drei Fälle zugrunde:

Tab. 4.2 Fälle der Lebensführung des Berufsstolzes. (Quelle: Eigene Darstellung)
  • Herr Röseler, ein studierter Musiker, der, nachdem er acht Jahre als – durchaus auch erfolgreicher – freier Musiker gearbeitet hat, aus verschiedenen Gründen diesen Beruf aufgibt und nun als Pädagoge an der Hauptschule arbeitet;

  • Herr Nikolaidis, ein promovierter Geschichtswissenschaftler, der sich nach zwölf Jahren Tätigkeit im Wissenschaftsbetrieb wegen persönlicher Konflikte aus der Universität gedrängt fand und nun als Volkshochschuldozent arbeitet;

  • und Frau Renner, die nach einer Ausbildung zur Schneiderin ein Aufbaustudium und eine Meisterausbildung absolviert und in wechselnden kleineren Ateliers und größeren Betrieben arbeitet.

Dabei konzentrieren wir uns bei den beiden männlichen Fällen auf ihre jeweilige Biographie vor dem Berufswechsel, da die biographische Orientierung sich in diesen Abschnitten klarer herausstellen lässt und da ihr jeweiliges Scheitern Entwicklungen zuzuschreiben ist, die nur bedingt etwas mit ihrem biographischen Orientierungsmuster zu tun haben.Footnote 14

4.2.1 Geplant, zielgerichtet, exzellent

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An dieser Eingangserzählung von Herrn Nikolaidis stechen im Vergleich zu derjenigen von Herrn Wisch (I03), die als Ausgangspunkt für die Rekonstruktion der gemeinschaftszentrierten Lebensführung gedient hat, vor allem zwei Dinge hervor. Zunächst ist da die marginale Rolle von Lebensbereichen jenseits der Ausbildungs- und Erwerbsbiographie. Freizeit wird von Herrn Nikolaidis überhaupt nicht thematisiert und seine Partner- und Elternschaft nur am Rande eingeführt – wobei seine Frau selbst im Kontext der Ausbildungs- und Erwerbsbiographie und sogleich als jemand mit einer vergleichbaren Ausbildungslaufbahn vorgestellt wird. Anders als Herr Wisch thematisiert Herr Nikolaidis weiterhin seine Kindheit nicht, seine Eltern werden nicht erwähnt, und seine Heimatstadt ist vor allem der Ort, aus dem er mit Beginn des Studiums wegzieht und an den er auch nicht zurückkehrt.

Die Ausbildungs- und Erwerbsbiographie von Herrn Nikolaidis scheint für ihn selbst nicht nur von relativ hoher Bedeutung zu sein, sie ist auch in der Phase bis zum Ausscheiden aus der Universität – um die es ja zunächst vor allem gehen soll – von einer ganz anderen Gestalt als bei den Vertreter*innen der gemeinschaftszentrierten Lebensführung: Es gibt in den ersten vierzig Jahren seines Lebens keine ‚toten Enden‘, wie sie sich bei den mäandernden Suchbewegungen der gemeinschaftszentrierten Lebensführung nahezu zwangsläufig ergeben und auch freimütig eingeräumt werden. Jeder Schritt einer von Berufsstolz geprägten Biographie führt zu einem nächsten, und die Gesamtheit bildet einen klaren ‚Aufstieg‘: vom Studium zur wissenschaftlichen Arbeit: von der Studentischen Hilfskraft zum Wissenschaftlichen Mitarbeiter, der ein – wie aus dem weiteren Interview deutlich wird – großes und langfristiges Forschungsprojekt im Ausland de facto leitet, bis zur Promotion an einem der angesehensten Lehrstühle in seinem Fachgebiet. Die zweimalige Betonung von Leitungsfunktionen (13 und 23) – einmal seiner eigenen und dann der seiner Frau – kann dabei als Dokument einer Aufstiegsorientierung gelesen werden. Im Vergleich mit der gemeinschaftszentrierten Lebensführung und dem Idealtypus der investiven Statusarbeit ähnelt dieser Fall also eher Letzterem. Hier wirkt die Ausbildungs- und Erwerbsbiographie – zumindest im Rückblick – geplanter; und sie folgt einem Aufstiegsverlauf, der sich als statusorientiert interpretieren lässt.

Für Irritation sorgt in diesem Vergleich mit dem Idealtypus der investiven Statusarbeit dann zunächst die Feststellung, er habe im Museum „nicht wissenschaftlich, sondern nur SO zum Geld verdienen“ (20/21) gearbeitet. Deutet sich hier eine Abwertung des ‚schnöden Mammons‘ gegenüber der ‚hehren Wissenschaft‘ an, die nicht recht zu einer Orientierung am sozio-ökonomischen Status passen möchte? Es handelt sich zunächst nur um eine Spur, die auch anders interpretiert werden könnte, der nachzugehen sich aber lohnt. Denn noch eine zweite, kleinere Besonderheit ist in dieser Eingangserzählung auffällig: Herr Nikolaidis qualifiziert in einer ersten Zwischenkonklusion seine Biographie bis einschließlich des Zivildienstes als „relativ normal“ (3). Seine im Gegensatz dazu ‚besondere‘ und damit in seinen Augen erst wirklich berichtenswerte Biographie, die nur etwas mehr als die Hälfte seines 47-jährigen Lebens ausmacht, hier aber siebenmal so viel Raum einnimmt, beginnt also mit dem Umzug und vor allem mit dem Studium – dessen ursprünglich etwas weiteren fachlichen Fokus er überspringt und gleich unter der Überschrift des sehr spezifischen geschichtswissenschaftlichen Subfeldes zusammenfasst, in dem er schließlich arbeiten und promovieren wird.

Anders als Herr Wisch, der seinen Beruf in der Eingangserzählung gar nicht benennt, sondern nur erklärt, in welcher Stadt er arbeite, oder Herr Schulz, der angibt, sich „für die Hauptschule entschieden“ (I08: 45) zu haben, erklärt Herr Nikolaidis sich, wie auch seine Frau, zum promovierten Wissenschaftler, auch wenn er gar nicht mehr als ein solcher tätig ist. Anders als die Vertreter*innen der gemeinschaftszentrierten Lebensführung und die investiven Statusarbeiter zeigen die Vertreter*innen der berufsstolzorientierten Lebensführung eine enge, identitätsstiftende Bindung an den Inhalt ihrer Tätigkeit. Diese strukturiert die biographische Selbstpräsentation als ein Streben nach ‚Meisterschaft‘. So berichtet auch Herr Röseler schon in seiner Eingangserzählung auf prägnante Weise von seiner Ausbildung, in der diese Orientierung an Meisterschaft sich bereits recht deutlich rekonstruieren lässt:

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Dieser Abschnitt zur Ausbildungs- und Berufsbiographie zeigt noch prägnanter als die Erzählung von Herrn Nikolaidis (der später im Interview aber durchaus ähnlich weiter berichtet), wie Herr Röseler seine Biographie als Aufstiegsbewegung interpretiert. Zunächst ist da ganz am Anfang die Feststellung, im Lehramtsstudium der Musik sei „das Niveau so schlecht“ gewesen, dass ihm das nicht „gereicht“ habe (1/2). Nun könnte sich das „Niveau“ sowohl auf seine damaligen Kommiliton*innen wie auch auf die Lehrinhalte oder die Lehrenden beziehen – außer Frage steht aber, dass es sich um ein Niveau des musikalischen Könnens handelt. Die Musik, der er sich mit „Leidenschaft“ verschrieben habe (3), ist der Grund, sich gegen ein Studium in der Nähe seines Elternhauses und für den Besuch einer kostenpflichtigen Hochschule im Ausland zu entscheiden. Ein stärkerer Kontrast zur pragmatischen Wahl von Ausbildungsorten und -richtungen durch die Vertreter*innen der gemeinschaftszentrierten Lebensführung, die sich ja primär daran ausrichtet, in das bisherige Lebensumfeld integrierbar zu sein, ist kaum denkbar.Footnote 15 Anders als wir anhand des Idealtypus der investiven Statusarbeit vermuten würden, sind hier aber Karriereerwägungen im ökonomischen Sinne nicht handlungsleitend.Footnote 16

Der nicht ohne Stolz beschriebene Selektionsdruck im Studium, dem außer ihm und einem weiteren Kommilitonen niemand aus seiner Klasse standgehalten habe, wird eingeführt, um zu verdeutlichen, wie schwer das Erreichen des Bachelorabschlusses in diesem Studium gewesen sei – wohl, weil Herr Röseler befürchtet, die Interviewer würden den Wert dieses Abschlusses sonst zu gering veranschlagen. Auch Frau Renner berichtet immer wieder von vergleichbaren Erfahrungen während ihrer Ausbildungsbiographie – so zum Beispiel von der ersten Ausbildungsstation:

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An weiteren Stellen des Interviews stellt auch sie heraus, dass andere an denselben Situationen gescheitert seien. Sie berichtet von Tränen, „Stress“ und „Burn-Out“, während sie sich durch ihre Fähigkeiten bewährt und als besonders auszeichnet – hier, indem sie zur Lieblingsauszubildenden der Meisterin wird (3–6). Die Schilderung der exklusiven Kundschaft des Ausbildungsbetriebs, bei dem „alle Kunden (…) ihren Chauffeur“ hatten, dokumentiert dabei zunächst, parallel zu den Schilderungen zur privaten Musikhochschule Herr Röselers und der prestigeträchtigen geschichtswissenschaftlichen Fakultät, an der Herr Nikolaidis studierte, eine positive Orientierung daran, nicht nur innerhalb der Ausbildung, sondern bereits über die Ausbildungsstelle selbst besondere Fähigkeiten zu beweisen. Man hat „wirklich schöne Sachen gemacht“ (13/14), also nicht das ‚Null-acht-fünfzehn‘-Schneiderhandwerk, sondern qualitativ hochwertige Schneiderei gelernt. In der abschließenden Feststellung, der Kundendienst sei anstrengend gewesen (14/15), dokumentiert sich überdies, dass die intrinsisch motivierende Praxis des Schneiderns von anderen Elementen der beruflichen Tätigkeit abgetrennt wird, die als nicht ‚eigentlich‘ zur Praxis gehörend negativ bewertet werden.

Hier zeigt sich noch einmal deutlicher, was sich auch oben in der Eingangserzählung von Herrn Nikolaidis bereits abgezeichnet hat: Es geht nicht nur darum, in seinem Beruf eine intrinsisch motivierende Tätigkeit auszuüben, was man gegenüber anderen Lebensbereichen und auch gegenüber anderen Elementen der beruflichen Tätigkeit stärker gewichtet als die Vertreter*innen der beiden anderen Lebensführungsmodi; es geht auch und insbesondere darum, in dieser Tätigkeit, die als ‚eigentlicher‘ Kern des Berufs verstanden wird, besonders gut zu sein. Man ist „promovierter A-Geschichtswissenschaftler“ oder hat eine Ausbildungslaufbahn absolviert, die vom „Niveau“ her so anspruchsvoll ist, dass die meisten anderen, die ja vermutlich einen ähnlichen Anspruch an sich haben, daran scheitern.

So lässt sich dieser Modus der Lebensführung gegenüber den beiden anderen Modi anhand der ausbildungs- und berufsbiographischen Orientierung abgrenzen: Anders als für die gemeinschaftszentrierte Lebensführung nimmt der Lebensbereich der Ausbildung und des Berufs einen zentralen Stellenwert für die gesamte biographische Orientierung ein. Man ist zuallererst Schneiderin, Musiker oder Geschichtswissenschaftler. Die intrinsische Motivation, mit der dieser Beruf angestrebt und „mit Leidenschaft“ ausgeführt wird, unterscheidet sich dabei von der intrinsischen Motivation, die etwa Herr Schulz als Vertreter der gemeinschaftszentrierten Lebensführung an den Tag legt. Nicht, dass es Herrn Schulz nicht darum gehen würde, ein guter Lehrer zu sein – aber den Vertreter*innen der Lebensführung des Berufsstolzes geht es um mehr und noch anderes. Es geht um die eigene Vervollkommnung als ständige Verbesserung hin zu Exzellenz oder Meisterschaft in dem, was als ‚eigentliche‘ Praxis dieses Berufs erlebt wird. Dies ist ein Motiv, das bei Herrn Schulz und den anderen Vertreter*innen der gemeinschaftszentrierten Lebensführung völlig fehlt. So fühlt er sich ja nicht nur von den vergleichend-bewertenden Überprüfungen seiner pädagogischen Fähigkeiten während des Referendariats abgestoßen, sondern sucht die Anerkennung als Lehrer gerade über solche Elemente seiner beruflichen Tätigkeit, die auch in seiner eigenen Wahrnehmung nicht unbedingt zu den ‚eigentlichen‘ Aufgaben der Lehrerrolle gehören.

4.2.2 Meisterschaft und Anerkennung

Dass die Vertreter*innen der berufsstolzorientierten Lebensführung nach Meisterschaft streben, bedeutet, dass sich ihre spezifische intrinsische Berufsmotivation nicht nur in dem Sinne auf die dabei ausgeübten Tätigkeiten selbst bezieht, dass man ‚einfach‘ Spaß daran hat, zu schneidern, zu musizieren oder zu forschen, sondern dass dabei durchaus eine Art von Erfolg angestrebt wird. Der Erfolg kommt jedoch nicht ‚zufällig‘, losgelöst von der eigentlichen Praxis, zu Stande, sondern die Vervollkommnung der praktischen Meisterschaft ist selbst Element dessen, was man als Erfolg dieser Praxis verstehen kann, und muss sich im Produkt spiegeln.Footnote 17 Dieses Streben nach in Praxis und Produkt gespiegelter Weiterentwicklung zeigt sich zum Beispiel in Frau Renners Schilderungen ihrer beruflichen Tätigkeit als Schneiderin für einen größeren Unterhaltungsbetrieb, die sie nach ihrem Aufbaustudium zunächst selbstständig ausübt und die sie wegen der neuartigen Herausforderung der Kostümschneiderei anfangs als aufregend und „ziemlich cool cool“ empfunden habe:

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Frau Renner erlebt die Festanstellung als Anerkennung ihrer Leistungen und ist damit zunächst auch erkennbar zufrieden. Schon in der Feststellung, dass es „irgendwie easy“ gewesen sei (4), könnte man vor dem Hintergrund des bisher dargelegten allerdings die Vorwegnahme eines gewissen Unbehagens vermuten, das sich dann auch direkt in drastischen Worten Bahn bricht. Die Tätigkeit, die ursprünglich als Herausforderung gesucht und genossen wurde, wird, nachdem sie eine kurze Zeit „easy“ war, zunehmend als repetitiv erlebt, was sich als Überdruss gegenüber der Tätigkeit selbst, aber auch gegenüber ihren Produkten äußert. Als Element des negativen Horizonts des biographischen Orientierungsrahmens lässt sich in allen drei Fällen rekonstruieren, dass man fürchtet, in seiner Tätigkeit ‚nicht voranzukommen‘ beziehungsweise ‚beschränkt‘ zu sein und ‚auf der Stelle zu treten‘. Als metaphorische Verdichtung dieses negativen Horizonts zeichnet Frau Renner beispielsweise das Bild des späteren Freundes ihrer Mutter, den sie als Jugendliche als „krasse(n) Luftikus“ wahrnimmt, weil er „immer noch n Hippie“ (I40: 201/202) war, also sich nicht seinem Alter angemessen weiterentwickelt hätte.

Herr Röseler spricht in diesem Sinne schon in der Eingangspassage davon, dass er sein „Potential“ ausschöpfen wolle, dass immer wieder „noch irgendwie mehr gehen“ müsse, und fasst diese gelebte Erfahrung schließlich in einem Bild zusammen, in dem sich dieses Streben metaphorisch verdichtet:

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In dieser Metapher dokumentieren sich vier Aspekte des Strebens nach Meisterschaft, die an anderen Stellen oft nur einzeln oder eher implizit abgerufen werden. Es geht erstens um ein Vorwärtsstreben, das zweitens als Vervollkommnung des eigenen Selbst erlebt und angestrebt wird: Bei dieser stark normativ aufgeladenen „Richterskala“Footnote 18 der „Erleuchtung“ handelt es sich um eine Lebensaufgabe; insofern wird von „Entwicklungsstufen“ und nicht bloß Karrierestufen gesprochen. Drittens kann man es in dieser Entwicklung weiter bringen als andere, die „nur drei Entwicklungsstufen“ schaffen. Auch wenn das hier nicht ganz eindeutig formuliert ist, wird doch an verschiedenen anderen Stellen des Interviews klar dokumentiert, dass es beim Streben nach Exzellenz eben – durchaus im Wortsinn – auch darum geht, ‚heraus zu ragen‘. Die Metaphorik der „Hausaufgaben“ und der „Skala“ wirft schließlich viertens eine in der Metapher selbst implizit als beantwortet vorausgesetzte weitere Frage auf: Woran soll man eigentlich messen, wie weit man gekommen ist, und wer soll das tun? Das Ringen um die Beantwortung dieser Frage zieht sich als roter Faden durch alle drei Interviews.

Im Fall der oben als Beispiele herangezogenen ausbildungsbiographischen Episoden scheint das weitgehend unkompliziert: Die Promotion, der Bachelor nach einem hochselektiven Musikstudiengang oder die erfolgreiche Meisterausbildung bescheinigen einem ja gewissermaßen, dass man ein guter Wissenschaftler, Musiker oder eine gute Schneiderin ist. Doch bereits in Bezug hierauf hatte Herr Röseler ja in der oben zitierten Passage Kritik daran geübt, dass sein Titel eigentlich seiner viel größeren Leistung nicht angemessen sei. Nach dem Abschluss der Ausbildung wird die Lage ungleich komplizierter. In einer Fokussierungsmetapher des Interviews, also einer Passage, die sich durch einen außergewöhnlich hohen Detaillierungsgrad und hohes emotionales Engagement des Befragten auszeichnet, bearbeitet Herr Röseler dieses Problem, wie und wann er sich seines ‚Erfolgs‘ als Musiker eigentlich sicher gewesen sei, besonders prägnant. Das Thema ist in gewisser Weise selbst gewählt – ein weiterer Indikator für den Charakter als Fokussierungsmetapher. Eigentlich hat der Interviewer nämlich nach der zuvor erwähnten Zeit gefragt, in der Herr Röseler sich „kläglich über Wasser gehalten“ (I05: 505) hatte. Diese tut er allerdings mit einem Satz ab, um sich dann, ganz im Gegensatz dazu, seiner „glücklichsten Zeit“ (I05: 508–509) zuzuwenden:

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In dieser dichten Beschreibung seines Erlebens, das er selbst, ohne Ironie, sondern eher melancholisch-distanziert, dem ‚Jung-sein‘ zuordnet, werden drei verschiedene Zeichen des Erfolgs aufgezählt: das Geld (3), das er verdient habe (dessen prominente Stellung als erstes Glied der Aufzählung sicherlich auch dem Kontrast zur eigentlich ja erfragten Erfahrung des materiellen Mangels geschuldet ist); die „großen Konzerte“ (5/6), also der Publikumserfolg; sowie die „Plattenaufnahmen“ (5), also der Erfolg in der Musikindustrie. Im Zusammenwirken sorgen diese dafür, dass er sich zum „König“ (4) erhoben fühlt.

Allerdings wirken sie in seiner gelebten Erfahrung eben nicht als eigenständige Ziele, sondern vor allem als Zeichen beziehungsweise als Anerkennungsmedien. Auffällig ist schon in dieser Passage die Erwähnung von „Rock’n’Roll“ (9). Herr Röseler ist kein Rockmusiker, so dass diese Erwähnung am ehesten als ein Hinweis auf das Bild des ‚Rockstars‘ gelesen werden sollte: der gefeierte Musiker, dessen klassische Attribute eben Geld, Jubel und Plattenverträge sind, der aber ein davon abhebbares Identitätskonzept darstellt. Noch deutlicher wird dies im Anschluss, als Herr Röseler die „wahre Musik“ vom „Business“ abgrenzt:

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Obwohl manche Musiker wie zum Beispiel Bach (16/17), und ebenso Herr Röseler zu seiner „glücklichsten Zeit“, auch mit „wahre(r)“, „tiefe(r) Musik“ materielle Erfolge feiern können, ist für Letzteren klar, dass das zweite vom ersten zu trennen ist. Die von ihm gerade als zentrale Zeichen seines Erfolgs angeführten Dinge ließen sich nämlich alle mit dem als Metapher für den negativen Horizont herangezogenen „Show-Business“ und „Management“ (10/11) genauso oder sogar viel einfacher erreichen. Insofern ist auch das Bild des ‚Rockstars‘, das er gerade als Illustration für sein angestrebtes ‚Königtum‘ gewählt hat, zumindest potentiell irreführend, da es ja auch so gelesen werden könnte, als ob es in erster Linie um gefeierte oder ökonomische Erfolge gehen würde. Herr Röseler scheint aber mit dem Rockstar auch eine Idee von Authentizität zu verbinden, die im Gegensatz zum „Business“ stehen kann.

Ganz ähnlich formuliert auch Frau Renner ihre anfängliche Begeisterung für die Arbeit für den Unterhaltungsbetrieb mit dem Ausdruck „was kostet die Welt“ (I40: 645). Darin zeigt sich aber, wie schnell die Begeisterung dem Überdruss darüber weicht, keine wertige, echte Arbeit leisten zu können. Den zugrundeliegenden Gegensatz fasst Frau Renner analog zu Herr Röselers Gegenüberstellung von „wahrer Musik“ und „Business“ als einen zwischen „Handwerk“ und „Kapitalismus“ (I40: 982/983), beziehungsweise „schöne(n) Sachen“ und „Wegwerfklamotten“ (I40: 990).

Präzisierend muss im Falle von Herrn Röseler festgestellt werden, dass die angestrebte Anerkennung durch ein Publikum eben „wahre(r)“ Musik, also einem wirklich wertigen Produkt, gelten muss, um legitimes Zeichen der eigenen Meisterschaft zu sein – dass also nicht jedwede Anerkennung von Seiten des Publikums ‚zählt‘. Diese „wahre“ Musik ist aber zugleich nicht vom Publikum abzulösen, sondern nur innerhalb einer Publikumsbeziehung denkbar. Hierzu stellt Herr Röseler heraus, dass „wahre“ Musik sich gerade dadurch auszeichne, dass sie andere Menschen „so berührt, dass die anfangen sich zu lösen“ (13/14), also sich nur innerhalb einer Publikumsbeziehung verwirklichen kann. Er räumt durch die Feststellung, dass die als Beispiel herangezogenen Musiker*innen selbst nicht wüssten, was sie tun, die beunruhigende Möglichkeit ein, dass man selbst sich über den Charakter seiner Musik täuscht und sich deshalb ohne Publikum auch nicht gewiss sein könnte, ob man gerade „wahre“ Musik praktiziert. Die in dieser Passage sich andeutende Antwort, dass das ‚Lösen‘ des Publikums auch daran zu erkennen sein könnte, dass es zu „weinen“ (13/14) beginnt, ist sicherlich für diesen speziellen Fall aufschlussreich in Bezug auf die gewünschte Art der Publikumsbeziehung, bleibt aber zu unspezifisch – denn auch auf den Konzerten von Helene Fischer und Wolfgang Petry fließen ohne Frage Tränen der Ergriffenheit. Damit das Publikum sinnvoll bestätigen kann, dass es sich um ‚echte‘ Musik handelt, muss es sich vielmehr um ein ‚kompetentes‘ und damit auf gewisse Art und Weise ‚erlesenes‘ Publikum handeln, das den impliziten positiven Gegenpart zu der in dieser Passage wiederholt in negativer Weise evozierten „Masse“ (3–6) bildet. Auch hier ruft Frau Renner ein ganz ähnliches Gegensatzpaar ab: auf der einen Seite die ‚erlesene‘ Kundschaft („altes Geld“) des ersten Ausbildungsbetriebs und die Käufer von Maßanzügen, auf der anderen Seite das Publikum der Unterhaltungsshows, für die sie Kostüme entwerfen muss. In diesem Sinne impliziert die Orientierung an Anerkennung durch das Publikum auch ein wechselseitiges Anerkennungsverhältnis: Um sich als ‚Meister*in‘ der Praxis anerkennen zu lassen, muss man selbst das Publikum als kompetent anerkennen – sonst ist die Anerkennung wertlos.Footnote 19

So spricht Herr Röseler an anderer Stelle davon, dass er, wenn es nicht „so gut bezahlt (ist), dass es egal ist, wie schlecht die Musik ist“ (I05: 851–852), eigentlich nur noch Musik mache, wenn die anderen „so gut“ seien, dass es „eine Herausforderung“ sei, mit ihnen und für sie zu musizieren (I05: 853). Als negativen Gegenhorizont entwirft er detailliert und mit erkennbarer Abscheu den „Pöbel“ (I05: 580), vor dem er auch schon musizieren musste, und dessen fehlende Achtung vor der Musik er in geradezu apokalyptischen Farben malt: Er berichtet von Menschen, die sich hinter dem Mischpult erbrochen hätten, von schreienden alleingelassenen Kindern, deren Eltern während des Konzerts Sex auf der Toilette gehabt hätten, und fasst all dies darunter zusammen, dass es „musikalisch“ „ganz tief“ gewesen sei (I05: 580–581).Footnote 20

Bei Herrn Nikolaidis ist diese Orientierungsfrage über die Erzählung seiner Promotionszeit hinweg ebenfalls dokumentiert – wenn auch, bis auf das Ende, weniger konflikthaft und oft eher implizit. Dies liegt wohl auch daran, dass der Wissenschaftsbetrieb von ganz allein dafür sorgt, dass das Publikum seiner Bemühungen vor allem aus gleich- oder höherqualifizierten Wissenschaftler*innen besteht.Footnote 21 Dennoch grenzt er sich in der biographischen Erzählung zum Beispiel deutlich von einer als negativer Gegenhorizont fungierenden Ex-Partnerin ab, der er unterstellt, ihre wissenschaftliche Arbeit an materiellen Karriereerwägungen und nicht wie er an einer Affinität zur „ideale(n)“ und „nutzlos(en)“ Wissenschaft (I11: 432–433) ausgerichtet zu haben. Ganz ähnlich berichtet auch Frau Renner von einer Freundin, die als leitende Angestellte einer international bekannten Modemarke erfolgreich sei, deren Stelle sie aber als „Head of blablabla“ und „Head of hahaha“ verlacht (I40: 475), womit sie unterstreicht, dass dieser ökonomische Erfolg den in ihren Augen entscheidenden Maßstab der handwerklichen Meisterschaft verfehlt.

Um besser zu verstehen, inwiefern die Orientierung an Meisterschaft, die sich in den Deutungen und Handlungen der Vertreter*innen der Berufsstolzlebensführung so klar dokumentiert, eine Orientierung an der Anerkennung durch ein spezifisches Publikum ist, ist es hilfreich, den Blick auf die Soziogenese dieser Orientierung zu richten, also sich zu fragen, welche soziobiographischen Grundlagen dieser Orientierung identifiziert werden können.

4.2.3 „Im Kern geweckt“: Die Soziogenese der Berufsstolzlebensführung

Eine Auffälligkeit in den biographischen Erzählungen der Vertreter*innen der vom Berufsstolz geprägten Lebensführung im Vergleich zu denen der gemeinschaftszentrierten Lebensführung ist die völlige Abwesenheit „schöne(r) Truppe(n)“ (I03: 304) bei ersteren: Freund*innen treten nie als nicht weiter differenzierte Gruppen auf, die so typisch für die gelebte Erfahrung der gemeinschaftszentrierten Lebensführung sind,Footnote 22 sondern werden einzeln hervorgehoben und als ‚besondere‘ Freund*innen qualifiziert. Sie sind entweder besonders ‚interessant‘, weil sie einen anderen Lebensweg gewählt haben. So berichtet Herr Nikolaidis von einem Künstler und von einem Studienkollegen, der nach dem Studium nicht an der Uni geblieben ist, sondern in der Verwaltung arbeitet. Oder man fühlt sich Personen freundschaftlich verbunden, weil sie eine sehr ähnliche berufliche Laufbahn haben wie man selbst. Diese Freunde leben nur selten am aktuellen Wohnort der Befragten. So schildert Herr Röseler, er habe

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Und Frau Renner berichtet, nicht ohne Stolz, sie habe Freund*innen in „London, Berlin, München halt irgendwie so“ (I40: 903). Ihrem Heimatort haben beide offenbar nicht nur geographisch, sondern auch sozial den Rücken zugewandt. Auch Freund*innen bilden also in gewisser Weise einen ‚erlesenen‘ Kreis, der in starkem Kontrast zu den selbstverständlichen Sozialbeziehungen der gemeinschaftszentrierten Lebensführung steht.

Kontakt zu den Eltern besteht zwar in allen Fällen noch, wird aber eher im Duktus eines zu bearbeitenden Problems als in dem eines Berichts über einen selbstverständlichen Teil des sozialen Umfelds präsentiert. Völlig undenkbar erscheint, dass einer der drei – wie Herr Wisch – im Haus seiner Eltern wohnen und mit seinem Vater ein Hobby teilen könnte. Das Aufwachsen in ihrem Herkunftsmilieu wird als entfremdend oder beengend beschrieben: bei Herrn Röseler ein kleinbürgerlich-handwerkliches, bei Herrn Nikolaidis ein proletarisches und im Fall von Frau Renner nach ihrer eigenen Einschätzung „brav“ (I40: 1351), mit einem Vater als „krassem Kapitalisten“ (I40: 1096). Alle drei fühlten sich vereinzelt, weil dem, was sie als für ihr Leben entscheidend suchten und entdeckten, Unverständnis oder Missachtung entgegenschlug.

So schildert Frau Renner es als befreiend, wie sie, nachdem sie wegen der Scheidung ihrer Eltern als Jugendliche mit ihrer Mutter in die nahegelegene Großstadt gezogen ist, die Schule gemeinsam mit einer guten Freundin auf eigene Initiative gewechselt habe: „das war halt cool, weil da hatte man plötzlich Leute, die irgendwie anders waren, die waren anders als die Leute auf unsrer alten Schule, die waren irgendwie offen, die warn verrückt, die ((gedehnt)) pft haben Musik gemacht und so und (.) das war irgendwie (.) sehr sehr gut also“. (I40: 147–150) Hier beginnt sie unter der Anleitung von Älteren, sich in linksalternativen politischen Zusammenhängen zu bewegen, in einer Band zu musizieren und damit, zunächst tastend ungerichtet, dann immer zielstrebiger, ihren ‚eigenen‘ Weg in Abgrenzung von den Erfolgsmaßstäben der Schule und ihres Elternhauses zu suchen. Sie macht Politik und sucht Freund*innen, mit denen sie in einer Band spielen kann. Wobei sie bis heute damit hadert, dass ihr Vater ihre ‚Leistungen‘ auf diesem Weg nicht angemessen anerkennt: Ihren Erfolg bei der Ausbildungsplatzsuche nimmt er in ihrer Erinnerung schlicht nicht zur Kenntnis, und auch aktuell, also vor dem Hintergrund einer erfolgreichen Meisterausbildung, gibt er ihr durch das Angebot, ihr im Zweifelsfall gern noch ein Medizinstudium zu finanzieren, zu verstehen, dass er ihre Berufswahl als grundlegende biographische Entscheidung bis heute ablehnt.

Bei Herrn Röseler und Herrn Nikolaidis findet die Schilderung der Befreiung weniger als eine der Interaktion mit Gleichaltrigen statt.Footnote 23 Sie berichten stattdessen in den Erzählungen über die Zeit ihres Aufwachsens eher von einzelnen Autoritätspersonen, die sie deutlich herausstellen. So spricht Herr Nikolaidis von einer „engagierten Bibliothekarin“, die ihn, anders als die Eltern, die Schwierigkeiten damit gehabt hätten, wie „geistig rege“ er gewesen sei, aber auch anders als die anderen Angestellten der Bibliothek, schon als Jugendlichen „richtig unterstützt“ und ihm Bücher besorgt habe, die „eigentlich für Erwachsene“ gewesen wären, weil sie es „total super“ fand, dass er sich dafür interessiert hätte (I11: 273–278). Und Herr Röseler erzählt, er habe eine Begeisterung für „richtige Literatur“ als Schüler vor allem mit Hilfe weniger Lehrer entdeckt, die ihn „gesehen“ und „beachtet“ hätten, was ihn „im Kern“ geweckt habe (I05: 405–430). Derart emphatische Erzählungen von Cliquen oder Autoritäten, die ‚das Besondere‘ in einem gesehen und geweckt hätten, fehlen bei den Vertreter*innen der gemeinschaftszentrierten Lebensführung wie bei den investiven Statusarbeiter*innen völlig.

Besonders Herr Nikolaidis‘ Erzählung dokumentiert die gelebte Erfahrung der Zeit vor seinem Studium als gekennzeichnet von dem Unbehagen, in einem Umfeld zu leben, in dem er mit seinen Ambitionen einfach nicht zur Geltung kommt. Vor diesem Hintergrund erlebt er dann auch den Gang an die Universität als „Riesen-Befreiung“:

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Dieses Muster wiederholt sich biographisch. Auch an der Universität findet sich zum Beispiel Herr Röseler in einer Gruppe wieder, deren „Niveau“ er „zu schlecht“ findet, um seiner „Leidenschaft“ zu genügen, und sucht sich eine bessere Universität, an der dann bis auf ihn fast alle anderen im Verlauf des Studiums „rausgeflogen“ (I05: 71–78) sind. Und Herr Nikolaidis hat an der Universität erneut eine „Sinnkrise“ (I11: 307), weil der Inhalt des Studiums für ihn nicht sinnfüllend ist. Er erwägt den Wechsel zu einem Studium der Medizin, bis er einem Professor begegnet, der ihm als Vorbild und Förderer einen Weg aufzeigt, sich als ‚Mensch mit weitem Horizont‘ weiter praktisch zu artikulieren. Die Soziogenese der Lebensführung des Berufsstolzes stellt sich dabei als eine Dialektik von erlebter Verkennung und Anerkennung dar. Diese Dialektik wird nicht nur einmal durchlaufen, sondern wiederholt sich, solange man diesem Lebensführungsmodus folgt, auf immer höherer Stufenleiter. Denn die Anerkennung als ‚Herausragender‘ wird immer wieder gesucht, sodass die jeweils neu gefundene Gemeinschaft nur eine vorübergehende Stufe sein kann, über die man dann wieder hinauszuwachsen sucht.

4.2.4 Lebensführung des Berufsstolzes: Zusammenfassung und Vergleich

Die Lebensführung des Berufsstolzes zeichnet sich durch eine vor allem im Beruf wirksame Orientierung an der Anerkennung als ‚besonders‘ im Sinne einer praktischen Meisterschaft aus: Es geht also darum, sich in einer spezifischen beruflichen Praxis immer weiter zu vervollkommnen, was sich in den Produkten der Tätigkeit wie auch in der Anerkennung durch ein als kompetent erlebtes Publikum beständig beweisen muss. Aus dieser biographischen Orientierung erwachsen weitere Besonderheiten der Lebensführung des Berufsstolzes im Vergleich zur bereits diskutierten gemeinschaftszentrierten Lebensführung wie auch zur investiven Statusarbeit.

So erschließen sich der gegenüber der gemeinschaftszentrierten Lebensführung besonders hohe Stellenwert des Beruflichen gegenüber anderen Lebensbereichen wie auch das ständige Vorwärtsstreben, das der gemeinschaftszentrierten Lebensführung ebenfalls fremd ist, aus der Dialektik der Anerkennung als ‚besonders‘, die immer wieder über das Erreichte hinaustreibt. Auch die am Berufsstolz orientierte Lebensführung weist einen Gemeinschaftsbezug auf, der allerdings ‚berufsvermittelt‘ und als solcher deshalb in der gelebten Erfahrung instabiler ist: Die Anerkennung jener, deren Anerkennung man sich sicher sein kann, verliert schnell an Wert, was durch die Bewährung an einem neuen, kompetenteren Publikum kompensiert werden muss.

Während das ständige Weiterstreben an sich durchaus mit dem Idealtypus der investiven Statusarbeit vereinbar wäre, nimmt es jedoch im Falle der Lebensführung des Berufsstolzes eine besondere Form an, die diesem und vor allem dem noch zu entfaltenden Realtypus der investiven Statusarbeit entgegensteht: Auch wenn die Karrieren der Berufsstolzen sich durchaus im Erfolgsfalle als Trajektorien der Statusverbesserung beschreiben lassen, sind sie doch von einem gespaltenen Verhältnis zum ökonomischen Erfolg gekennzeichnet. Einerseits zeigt sich ein Streben nach einem als ausreichend und ‚angemessen‘ empfundenen Lebensstandard – ganz ähnlich wie bei der gemeinschaftszentrierten Lebensführung, und ebenfalls basierend auf vielfältigen Praktiken investiver Statusarbeit. Auch darüberhinausgehend ist monetärer Erfolg als Medium der Anerkennung der eigenen Meisterschaft durchaus willkommen. Man fühlt sich als „Rockstar“ und freut sich, wenn man nicht fragen muss „was (…) die Welt (kostet)“. Andererseits ist ein offenes Streben nach diesem ökonomischen Erfolg um seiner selbst willen illegitim. Es wird, bei anderen beobachtet, verurteilt, und beim eigenen Handeln nicht thematisiert.

Eine wichtige soziogenetische Wurzel dieser Form der Orientierung findet sich, zumindest in den hier ausgewerteten Fällen, in der frühen Ausbildungsbiographie. Anders als die Vertreter*innen der gemeinschaftszentrierten Lebensführung schildern Herr Röseler und Herr Nikolaidis ihre Jugend als eine Phase, in der sie sich zu wenig geachtet fanden: Nur von wenigen Lehrer*innen werden sie „gesehen“ und „beachtet“ (I05: 420 f.), die Eltern können ihren Interessen nichts abgewinnen, man hat das Gefühl, das soziale Umfeld sehe einen an „wie ein Auto“ (I11: 265) – und Freund*innen aus dieser Zeit werden überhaupt nicht thematisiert. Gegenüber der ‚Befreiung‘ des Schulwechsels erscheint auch die frühe Jugend von Frau Renner in einem ähnlichen Licht – als eng und wenig „offen“ (I40: 149). Umso deutlicher heben sich vor diesem Hintergrund diejenigen Bezugspersonen heraus, von denen man eben doch „gesehen“ wurde – die Bibliothekarin bei Herrn Nikolaidis, die Clique der „Freaks“, in die Frau Renner gerät, oder der Lehrer, der Herrn Röseler und nur „wenige Auserwählte“ sogar zu sich nach Hause einlädt.

Diese Form der Suche nach Anerkennung stabilisiert sich über die Wiederholung im Verlauf der Biographie und findet eine spezifische Form durch den Eintritt in ein hochspezialisiertes soziales Feld – in den hier diskutierten Fällen das Schneiderhandwerk, die Musik und die Wissenschaft. Dort wird jeweils der Ehrgeiz wachgehalten und gegenüber ‚unzulässigen‘, vor allem aufs pure Geldverdienen ausgerichteten Formen des Statusstrebens abgegrenzt. Die anderen Lebensbereiche werden deutlich geringer gewichtet als in der gemeinschaftszentrierten Lebensführung, vor allem aber werden sie in einer Logik erlebt, die eng an die Berufspraxis angebunden ist. Exemplarisch werden Freundschaften angesprochen, aber ähnliches findet sich auch in der allgemeineren Freizeitgestaltung, in der auch ‚Hobbies‘ nach den Maßstäben des ‚besonderen‘ und ‚echten‘ ausgerichtet werden. Herr Röseler betätigt sich zum Beispiel als Hobby-Filmer, erklärt aber, sich zu weigern, Hochzeiten zu filmen oder Werbefilme zu produzieren (I05: 580); und Frau Renner singt zunächst in einer Band und arbeitet später als Tanzlehrerin. In diesen Lebensbereichen wird an der zugrundeliegenden Orientierung auch – oder gerade dann – festgehalten, wenn die Ambitionen, die den eigentlichen Gegenstand des Berufsstolzes bilden, scheitern.

Herr Röseler und das Ende einer Musikerkarriere

Dieses Teilkapitel konzentriert sich auf die Lebensphasen vor dem Ende der Universitätslaufbahn (Herr Nikolaidis) und vor dem Ende der Musikerkarriere (Herr Röseler), um die dem Lebensführungsmodus zugrundeliegende Orientierung des Berufsstolzes gleichsam ‚ungebrochen‘ darstellen zu können. Dennoch wollen wir nicht einfach über das Scheitern der diese biographischen Phasen anleitenden berufsbiographischen Projekte hinweggehen. Denn wie sich am Beispiel des Endes von Herrn Röselers Musikerkarriere zeigt, ist auch dieses Scheitern instruktiv für das Verständnis der Lebensführung des Berufsstolzes – und allgemeiner für die etwa auch auf investive Statusarbeiter beziehbare Frage, was aus gescheiterten biographischen Orientierungen wird.

Direkt im Anschluss an seine Schilderung der „glücklichsten Zeit“ (I05: 508–509) kommt Herr Röseler auf das Ende seiner Karriere zu sprechen:

Boah, jetzt gehts los, so könnt’s weitergehen. Aber es geht nicht so weiter. ((lacht)) Oder es ging nicht so weiter. Es hätte weitergehen können, vielleicht, irgendwie. Ich mach niemanden dafür verantwortlich, ne? [Auslassung]

I: Äh, können Sie mir dazu noch was erzählen?

B: Ich weiß gar nicht, das ist schleichend irgendwie zurückgegangen. (..) Es ist wahrscheinlich auch/ (..) Ich hab’ die Durststrecken nicht durchgezogen. (.) Äh, als ich dann Lehrer wurde, wurde es schlagartig. Dann gings schlagartig zurück. Weil äh, so die, du gehörst nicht mehr zur Meute. //mhm// Ja? Dieser, dieser, du bist jetzt Lehrer, du bist jetzt Spießer, du bist jetzt Norm. Du bist nicht mehr cool, @(.)@ so ungefähr. Es war n riesen Einbruch. Nachdem ich dann 2000, 2002 Lehrer wurde, äh, hats richtig gekracht. (I05: 519–564)

Dabei fällt auf, dass Herr Röseler auch auf Nachfrage Schwierigkeiten hat, zu substantiieren, was eigentlich vorgefallen ist. Einkommenssorgen haben eine Rolle gespielt, reichen aber als Erklärung augenscheinlich nicht aus. Denn der „Einbruch“ kommt ja erst, als er bereits als Lehrer nebenbei arbeitet. Wichtiger scheint, dass die Karriere selbst „nicht so weiter“, also aufwärts, geht. Durch die Dialektik aus Anerkennung und Missachtung, die der Orientierung an Anerkennung als ‚besonders‘ entspringt, ist Stillstand fatal. Sein Umfeld sanktioniert scharf, dass Herr Röseler nicht mehr alles auf ‚eine Karte‘ setzt und damit den Lebensentwurf des exzellenten Musikers praktisch in Frage stellt – er ist jetzt nicht mehr ‚besonders‘, er ist jetzt „Norm“. Doch Herr Röseler ringt auch selbst erkennbar damit, ‚aufgegeben‘ zu haben. Das im Vergleich zu den Vertreter*innen der gemeinschaftszentrierten Lebensführung als viel höher erlebte Potential, seine Orientierung auch selbstwirksam in die Tat umzusetzen, schlägt in dieser Situation in nagende Zweifel an den eigenen Fähigkeiten und dem gesamten Lebensentwurf um. Wo Erfolg nicht als Fügung, sondern als Leistung erlebt wird, droht eben auch Scheitern immer ein Versagen zu sein. Herr Röseler schildert, wie ihm, sobald „es“ nicht mehr vorangeht, das ganze Musikerdasein widerstrebt:Footnote 24

Ein, ein latentes, permanent, eine permanent schleichende Unzufriedenheit, ((Auslassung)) Das einfach sagt, okay, das ist nicht, das ist keine Erfüllung. (..) Ich hab später oftmals gesagt, okay, wenn ich jetzt n Konzert gespielt hab, dann krieg ich den Applaus und super. Aber es war oft nach diesen Konzerten, dass ich ne Leere hatte auch. //mhm// Es war nicht nachhaltig. Überhaupt nicht nachhaltig. (..) Ich bin sehr leer nach Hause gefahren. Und ja, im Grunde genommen, es ist/ Das bin ich nicht. (..) Das bin ich nicht. Das ist nicht das, was ich will. (4) Das ist ähm, dafür, (.) dafür hab ich nicht studiert oder das (..) ist auch nicht Anerkenn/ Es ist nichts. (I05: 593–601).

Dass der ‚exzellente Musiker‘ als Lebensentwurf aufgegeben wird, ist dann, wie sich oben schon andeutet, eher ein schrittweiser Prozess, in dem sich verändernde Rahmenbedingungen und die sich verschiebende eigene Einstellung miteinander verschränken, als ein einmaliger Entscheidungsakt, auch wenn Herr Röseler Letzteres immer wieder zu suggerieren sucht.

Im Anschluss stellt Herr Röseler auf eine Lebensführung um, deren berufliches Profil und Freizeitprofil eine starke Ähnlichkeit mit der gemeinschaftszentrierten Lebensführung haben: Er wird Lehrer, engagiert sich in der Kirchengemeinde, spielt in einer Band und wird Amateur-Dokumentarfilmer. Die Interpretation der Berichte zu diesem Lebensabschnitt fördert allerdings eine starke Kontinuität in der zugrundeliegenden biographischen Orientierung des Berufsstolzes zutage. Nicht nur strebt Herr Röseler in allen aufgezählten Tätigkeiten weiter nach Meisterschaft. Er macht Fortbildungen als ehrenamtlicher Seelsorger und als Mediator, wirbt Förderungen für Filmprojekte in Südostasien ein, weigert sich, Hochzeiten zu filmen, und spielt nur mit „richtig guten“ Musikern. In allen Bereichen strebt er dabei ein Verhältnis zu seinem ‚Publikum‘ an, wie er es auch schon zu seinen Zuhörer*innen als Musiker gesucht hat, und baut keine wirklichen Gemeinschaftsbeziehungen zu Kolleg*innen oder Bekannten auf.

Dabei bearbeitet er in den Berichten über diese Lebensbereiche immer eine Defiziterfahrung, die er schließlich symbolisch in der bereits zitierten Metapher der „Richter-Skala“ „der Erleuchtung“ (I05: 1232) auflöst, indem er die Aufgabe der Musikerkarriere selbst als Entwicklungsfortschritt interpretiert, der ihn wieder vor anderen als besonders auszeichnet. Dass dies keine rückstandslose Auflösung des Konflikts ist, macht sich vor allem in der Interaktion mit den Interviewern immer wieder bemerkbar: Das Interview wird von zwei Interviewern geführt – doch obwohl die Fragen ausschließlich vom älteren der beiden gestellt werden, antwortet Herr Röseler fast nur dem jüngeren zugewandt, dem er dabei immer wieder Ratschläge dazu erteilt, wie „das Leben“ zu verstehen sei, und von dessen angenommenem jugendlichen Ehrgeiz er sich abgrenzt, so dass er unter Nutzung des jüngeren vor dem älteren Interviewer die eigene gewonnene ‚Lebensweisheit‘ immer wieder praktisch in Szene setzt.

4.3 Investive Statusarbeit

Im Kontrast zur gemeinschaftszentrierten Lebensführung und der Lebensführung des Berufsstolzes lässt sich der Realtypus der investiven Statusarbeit nun klarer konturieren. Es ist dabei wichtig, noch einmal die eingangs getroffene, selbst schon ein empirisches Resultat unserer Studie darstellende Unterscheidung zwischen den Praktiken der investiven Statusarbeit – wie sie auch die gemeinschaftszentrierte und die am Berufsstolz orientierte Lebensführung einsetzen – als investiver Statusarbeit im weiteren Sinne und investiver Statusarbeit im engeren Sinne als Orientierungsmuster der Lebensführung in Erinnerung zu rufen: Nur wo die investive Statusarbeit als übergreifender Orientierungsrahmen der Lebensführung der Subjekte rekonstruierbar ist, sprechen wir von ihr als einem Lebensführungsmodus.

Als solcher steht er nun als dritter hier behandelter Typus neben der gemeinschaftszentrierten und der am Berufsstolz ausgerichteten Lebensführung. Während das theoretische Modell in Kap. 2 unterstellt, dass mit der kulturellen Hegemonie investiver Statusarbeit die entsprechend orientierte Lebensführung in den Mittelschichten weit verbreitet sei, können wir davon nun nicht mehr ausgehen – auch wenn wir aus unserem Sample an Fällen keine Schlüsse auf die Häufigkeit des Vorkommens der drei Typen ziehen können. Doch es gibt keinen Grund anzunehmen, die empirisch herausgearbeiteten Konstellationen, aus denen Gemeinschaft oder Berufsstolz als dominante biographische Orientierungsmuster hervorgehen, seien unwahrscheinlicher als diejenigen Konstellationen, die investive Statusarbeit als biographische Orientierung hervorbringt. Wie sich zeigen wird, sind nämlich auch letztere durchaus voraussetzungsvoll.

In diesem Teilkapitel geht es also um die Frage, wie sich – eventuell abweichend vom Idealtypus des theoretischen Modells – investive Statusarbeit als empirisch vorfindlicher Realtypus darstellt: welche biographisch handlungsleitenden Vorstellungen vom erstrebenswerten Leben ihr zugrunde liegen und welche soziogenetischen Ursprünge sich rekonstruieren lassen.

Der folgenden Charakterisierung investiver Statusarbeit liegen vor allem sechs Fälle zugrunde:

  • Herr Steiger, ein Handwerker, der im Laufe seines Lebens verschiedene Anläufe unternimmt, sich mit seiner Familie niederzulassen, dabei wiederholt migriert und zum jetzigen Zeitpunkt in einem Dorf in den neuen Bundesländern formal arbeitslos auf die unmittelbar bevorstehende Eröffnung seines eigenen Meisterbetriebs hinarbeitet;

  • Frau Schröder, die als Arzthelferin durch Stellenwechsel und betriebsinterne Karriere in eine Verwaltungsposition gelangt;

  • Frau Michels, die nach einer Ausbildung im Bereich Finanzen ebenfalls durch Stellenwechsel und betriebsinterne Karriere sowie, nach einem verfehlten Versuch der Selbstständigkeit im Bereich Einzelhandel, nun als Sachgebietsleiterin in einer größeren Firma arbeitet;

  • Frau Brilla, der es nach einer Ausbildung über verschiedene, strategisch ausgewählte Weiterbildungen gelingt, zur leitenden Bürokraft zu werden;

  • Herr Steinhauer, der nach erfolgreicher Ausbildung mit einem Studium und durch planvolle Stellenwechsel in die Position eines Werkleiters in der Industrie gelangt und von dort aus sein Fortkommen sondiert;

  • sowie Herr Huber, der als angestellter und selbstständiger Handwerker Immobilien- und Anlagevermögen erworben hat.Footnote 25

Die Darstellung (Tab. 4.3) nimmt als Ausgangspunkt zunächst die den Fällen gemeinsamen Merkmale der Berufsbiographie und fragt, wie sich ein Leben darstellt, das im Modus investiver Statusarbeit geführt wird – sowohl in Bezug auf die relative Gewichtung, Separierung und Verknüpfung verschiedener Lebensbereiche, als auch in Bezug auf den berufsbiographischen Verlauf. Dabei zeigt sich, dass die investiven Statusarbeiter*innen die Erwerbsarbeit ins Zentrum ihrer Selbstpräsentation und ihres alltäglichen Lebens stellen und es schärfer von den anderen Lebensbereichen abgrenzen, als das bei den anderen beiden Typen der Fall ist. Der erwerbsbiographische Verlauf selbst weist – auch nach Rückschlägen – durchgängig eine Tendenz in Richtung eines höheren sozio-ökonomischen Status auf.Footnote 26 Das außerberufliche Sozialleben hingegen ist vor allem im Vergleich zur gemeinschaftszentrierten Lebensführung auffällig schwach ausgeprägt.

Tab. 4.3 Fälle der investiven Statusarbeit im engeren Sinne. (Quelle: Eigene Darstellung)

Zunächst wird die sinnhafte Gestalt dieser Lebensführung beschrieben, wobei besonders zwei Elemente herausgestellt werden: Erstens zeigt sich, dass die investive Statusarbeit stärker als die beiden anderen biographischen Orientierungen von der gelebten Erfahrung der Einzelkämpferin oder des Einzelkämpfers geprägt ist und sich die instrumentell-distanzierten Sozialbeziehungen, die diesen Typus im Beruf auszeichnen, auch auf andere Lebensbereiche erstrecken. Zweitens muss investive Statusarbeit dennoch, wie die Lebensführung des Berufsstolzes und die gemeinschaftszentrierte Lebensführung, als ein Streben nach Anerkennung verstanden werden. Aber das ‚Publikum‘ dieses Strebens lässt sich nicht an einer klar abgrenzbaren Gemeinschaft als Bezugsgruppe festmachen, sondern changiert zwischen dem Vergleich mit der Herkunftsfamilie, Vergleichshorizonten wie den ehemaligen Klassenkamerad*innen aus Schulzeiten und einer eher abstrakten Idee von Leistungsgesellschaft insgesamt. Damit wird auch die Frage nach der Soziogenese aufgeworfen: Ein biographischer ‚Status-Schock‘ und die im Zusammenhang damit gewählte Bewältigungsstrategie legen die Grundlage für die selbstzweckhafte Orientierung an sozio-ökonomischem Status und dessen grenzenloser Steigerung.

4.3.1 „Wie man weiterkommen kann“: Die Ausrichtung nach ‚oben‘

Nun geht es zunächst um die typische berufsbiographische Verlaufsgestalt investiver Statusarbeit. Die Eingangspassagen der biographischen Stegreiferzählungen von Herrn Huber und Herrn Steinhauer geben diese in besonders prägnanter Weise wieder.

Beginnen wir mit der biographischen Eingangserzählung von Herrn Huber:

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Wie die Vertreter*innen der Lebensführung des Berufsstolzes – und anders als die der gemeinschaftszentrierten Lebensführung – berichten die Vertreter*innen der investiven Statusarbeit in ihren Stegreiferzählungen kaum von Lebensbereichen außerhalb der Ausbildungs- und Erwerbslaufbahn.Footnote 27 Zwar erwähnt Herr Huber seine Familie, allerdings in einer Form, die in ihrer Knappheit fast schon ironisch-schablonenhaft wirkt: „geheiratet, zwei Kinder, Haus, Hund, so richtig nach/ wie’s sein soll“ (13/14). Das Thema Familie wird auch gleich doppelt mit der Berufstätigkeit verschränkt: zum einen habe er wegen des Berufs nicht genug Zeit für die Familie (15/16), und zum anderen sei die Familie selbst auch ein Grund dafür, dass er so viel arbeite (22–28). Die Familie wird damit eher als Legitimation für die Berufstätigkeit eingeführt – und weniger als eine Relativierung von deren zentraler biographischer Bedeutung. Auch dadurch, dass die Frau noch nicht einmal als Person erwähnt, geschweige denn vorgestellt wird, wirkt diese Abschattung von Bereichen jenseits der Erwerbsarbeit in der Selbstpräsentation noch stärker als bei den Berufsstolzen. Freunde, Hobbies oder auch nur das Wohn- und Lebensumfeld werden erst gar nicht thematisiert.

Eine lokale Verankerung oder auch nur Präferenz für einen Wohnort ist nicht nur nicht zu erkennen, sondern wird von Herrn Huber in der Hervorhebung seiner scheinbar ‚wahllosen‘ Bewerbungen im ganzen Bundesgebiet offen dementiert. Diejenigen Vertreter*innen der gemeinschaftszentrierten Lebensführung, die im Verlauf ihrer Berufsbiographie den Wohnort wechseln, wie zum Beispiel Frau Reuter, haben ja zumindest klare Präferenzen für den zukünftigen Wohnort artikuliert, denen sie zu folgen suchen. Nicht alle investiven Statusarbeiter*innen im engeren Sinne äußern sich derart indifferent gegenüber Wohnortentscheidungen. Frau Schröder zum Beispiel zeigt sich ihrem Heimatort, in den sie schließlich auch zurückkehrt, durchaus emotional verbunden und erklärt, sie habe vor Heimweh geweint, als sie aus Karrieregründen wegziehen musste. Allerdings wird eben auch in ihrem Fall diese emotionale Verbundenheit im Zweifelsfall der Karriere untergeordnet, und auch ihre Rückkehr an den Heimatort wird mit wirtschaftlichen Erwägungen begründet: In der Großstadt hätten sie und ihr Mann sich schlicht keine ‚standesgemäße‘ Immobilie leisten können. In diesem Punkt bestätigt sich also, dass der berufliche Status das Zentrum der biographischen Selbstpräsentation und, wie in der Folge noch deutlicher werden wird, des zugrundeliegenden biographischen Orientierungsrahmens darstellt. Das bedeutet nicht unbedingt, dass andere positive Horizonte, wie zum Beispiel intrinsische Freude am Beruf oder soziale Anbindung, gar nicht handlungsleitend wirken. Allerdings werden diese eben im Konfliktfall dem Statusstreben untergeordnet.

Die Prominenz des Berufs gegenüber anderen Lebensbereichen dokumentiert sich nicht nur in der thematischen Gewichtung der knappen Eingangspassage, sondern wird von Herrn Huber in der Konklusion auch reflexiv herausgestellt und gegenüber einem unterstellten gesellschaftlich geteilten Orientierungsschema in Bezug auf die ‚richtige‘ Ausbalancierung verschiedener Lebensbereiche abgegrenzt. Nach seiner Aussage ist er „relativ viel am arbeiten“, „eigentlich viel zu viel“ (15), ist „fast nur ausschließlich an der Arbeit“ (19/20). Was sich wie eine Klage liest, ist zumindest auch ein Kokettieren, das auf Anerkennung für ‚unvernünftige‘ Selbstquälerei zielt.

Im Vergleich zu den anderen beiden Typen stechen dabei zwei Aspekte hervor: Teilen die Vertreter*innen dieses Typus mit denen der Berufsstolzlebensführung die Fokussierung des Selbstbilds und der Selbstdarstellung auf die Berufsarbeit, ähneln ihre Berichte denen der Vertreter*innen der gemeinschaftszentrierten Lebensführung in der Hinsicht, dass der Inhalt dieser Tätigkeit fast keine Rolle spielt.Footnote 28 In der kurzen Eingangspassage aus Herrn Hubers Interview könnte die umgangssprachliche Adressierung des Berufs noch als eine Art liebevoller Identifikation gelesen werden; doch im restlichen Interview finden sich keine Anzeichen dafür, dass er sich mit dem Gehalt der Tätigkeit in irgendeiner Form identifiziert – jenseits dessen, dass er sichtlich stolz ist, immer auf dem neuesten Stand zu sein und, darauf wird zurückzukommen sein, auch ‚Studierten‘ oft durch sein Fachwissen überlegen ist, allerdings eher in dem Sinne, dass er ‚sich nichts sagen lassen muss‘. Auch die beiläufige Aufzählung seiner verschiedenen Tätigkeiten – „bisschen was gemacht, Techniker gemacht, Kundendienstler gemacht“ (12/13) – unterstreicht die Indifferenz gegenüber dem Gehalt der Tätigkeit.

Als treibende Kraft wird stattdessen das Einkommen selbst herausgestellt: Die Motivation für den ersten Stellenwechsel ist, dass die alte Position „relativ schlecht bezahlt“ (6/7) wurde, und auch dafür, dass er bis heute „überall die Fühler ausstreck(t)“ (20/21) um zu sehen, „wie man weiterkommen kann“ (22), führt er als Motivation an, seine ökonomische Situation weiter zu verbessern, so dass seine Kinder einmal auf die „schönste Uni“ (25) gehen könnten.Footnote 29 Selbstpräsentation und Orientierung sind also nicht so sehr auf einen Beruf, sondern eben viel eher auf das damit verbundene Einkommen fixiert.

Deutlich wird dies auch dort, wo Herr Huber andere berufliche Werdegänge als Gegenhorizonte hinzuzieht. So grenzt er sich vor allem von ‚unpraktischen‘ Studierten ab, die sich seiner Meinung nach – wie seine Schwester – „blöd studiert“ hätten. Als letzten Endes schlagendes Argument wird auch hier das Einkommen angeführt: Anders als seine Schwester kann er sich teure Sportwagen leisten; und eine Ebene der Generalisierung darüber konstatiert er, „ein guter Handwerker verdien(e) auf jeden Fall so viel wie ein Arzt im Krankenhaus“ (I37: 235/236), wobei der Arzt hier stellvertretend für gutverdienende Akademiker genannt sein dürfte.

Während die Wahl der Berufsausbildung selbst noch nicht erkennbar von diesem handlungsleitenden Motiv bestimmt ist, also auch auf Nachfragen zur Bildungsgeschichte keine Erzählungen oder Beschreibungen generiert werden, die darauf hindeuten würden, dass die Ausbildungswahl auf Abwägung von Karrierechancen im Sinne eines möglichen ökonomischen Aufstiegs zurückginge, beginnt doch spätestens bei der Station danach ein Weg, der an jeder Gabelung Zeugnis von einer sozioökonomisch nach oben zielenden Handlungsorientierung ablegt. Ist diese Verlaufsform der Karriere bei Herrn Huber in seiner knappen Darstellung in der zitierten Passage nicht unbedingt deutlich, ist sie in Herrn Steinhauers Eingangspassage der biographischen Stegreiferzählung expliziter:

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Wie schon die Vertreter*innen der Lebensführung des Berufsstolzes, so bezeichnet auch Herr Steinhauer den Augenblick, ab dem seine heutige Orientierung sich klar abzeichnet, als einen Moment, ab dem er „wach“ (3) wurde. Schärfer als die Vertreter*innen der gemeinschaftszentrierten Lebensführung grenzen sowohl die Berufsstolzen als auch die investiven Statusarbeiter*innen ihre Berufs- beziehungsweise Erwerbskarriere von einer Phase ab, die wir als Jugendmoratorium der Statusarbeit auch im Idealtypus angenommen hatten. Nach dem Abschluss der Ausbildung, in der er seine „relativ guten Leistungen“ (18) zum ersten Mal anerkannt sieht und die er deswegen verkürzen kann, wägt Herr Steinhauer seine Aufstiegsoptionen ab und entscheidet sich, mit dem ‚Plan-B‘ einer Meisterausbildung, für ein Hochschulstudium. Dabei wirkt es zwar zunächst, als sei dies nur die Reaktion auf eine schwierige Situation, nämlich darauf, dass er sonst „nur einen Platz am Fließband“ (11/12) bekommen hätte. Allerdings zeigt die Auswertung des restlichen Interviews, dass es sich dabei um eine ‚schiefe‘ Darstellung handelt: Im Verlauf entscheidet er sich zuerst für das Studium und bekommt dann, nachdem er seiner Firma mitgeteilt hat, dass er im Vorfeld des Studiums ein wenig Geld verdienen wolle, aber nicht beabsichtige, länger als ein Jahr zu bleiben, einen Platz am Fließband zugeteilt.

Dass dieses Studium, das er, wohl auch weil es für ihn keine Phase der biographischen Orientierungssuche mehr darstellt, schneller als seine Kommiliton*innen abschließen kann, für ihn vor allem eine Investition in sozioökonomischen Aufstieg darstellt, dokumentiert sich in seiner Darstellung an mehreren Aspekten. Zunächst ist es nicht, wie bei den drei besprochenen Fällen der Lebensführung des Berufsstolzes, ein alternativloser oder zumindest über seinen inhaltlichen Gehalt bestimmter Weg; sondern es ging darum, dass „danach noch (irgendwas) kommen musste“ (10/11) – wofür eben auch eine Meisterausbildung in Frage gekommen wäre. Weiterhin hebt er besonders hervor, wie schnell – und damit effizient – dieser Schritt ‚erledigt‘ wird. Schlussendlich zeigt sich der investive Charakter des Studiums in der reflektierenden Rückwendung auch darin, dass Herr Steinhauer es selbst mit dem ökonomisch-zweckrationalen Terminus „Grundstock“ (21/22) als ‚Ausgangskapital‘ für seine Karriere qualifiziert.

Im weiteren Verlauf, den Herr Steinhauer hier wie in der Folge bezeichnenderweise relativ knapp und nur vom Ergebnis her umreißt, hat er sich „durch verschiedene Firmen durchgearbeitet“ (24/25). Die Erzählung dokumentiert dabei in Deutung und Verhalten keine Form der Firmenloyalität oder zumindest Suche nach beruflicher Stabilität, wie wir sie bei den Vertreter*innen der gemeinschaftszentrierten Lebensführung gefunden haben. So hat Frau Reuter ja hervorgehoben, wie sie an ihrem neuen Arbeits- und Wohnort „mit offenen Armen“ empfangen wird, und dass sie sich seitdem und deswegen dort wohlfühle; und Herr Schulz betont dankbar, dass an seiner Schule speziell für ihn eine Stelle eingerichtet worden ist. Demgegenüber zeigen die Vertreter*innen der investiven Statusarbeit ein instrumentelles Verständnis von Arbeitsplätzen als Mittel, um voran- und idealerweise eben auch schnellstmöglich über sie hinauszukommen.

Auffällig ist dabei, dass bei Herrn Steinhauer ebenso wie bei Herrn Huber kein erkennbares Interesse am Inhalt der Tätigkeit besteht – anders als bei einer am Berufsstolz orientierten Lebensführung. Entscheidend ist vielmehr, dass er „Werksleiter für die deutschen Standorte des Unternehmens“ (25/26), also, mit anderen Worten, beruflich auf dem ‚Weg nach oben‘ ist. Das bedeutet selbstverständlich nicht, dass die Erwerbstätigkeit überhaupt nicht mit intrinsischer Motivation jenseits des Erwerbsstrebens verbunden ist. Frau Schröder erklärt zum Beispiel, dass sie immer viel Freude daran gehabt hätte, als Arzthelferin in „Patientenkontakt“ (I21: 1239) zu kommen. Als mögliche Aufstiegsoptionen damit aber in Konflikt geraten, ordnet sie diese Motivation dem Streben nach besseren Erwerbschancen eindeutig unter und zeigt so, dass auch im Falle der intrinsischen Motivation gilt, was wir oben für konfligierende Orientierungen schon einmal festgehalten haben: dass sie, wenn möglich, gerne ‚mitgenommen‘, aber im Falle eines Konflikts mit einer Verbesserung des ökonomischen Status hintangestellt wird – anders als zum Beispiel bei Herrn Schulz, der seine intrinsische Motivation zur Tätigkeit des Hauptschullehrers als Grund heranzieht, sich nicht zum Schulleiter befördern zu lassen.

Auch da Herr Steinhauer in der reflektierenden Rückwendung Stolz auf diese „Karriere“ äußert, die er zweimal so benennt (22/23), stellt sich natürlich die Frage, ob hier nicht eventuell im Nachhinein zumindest deutend begradigt wird, was sich im Verlauf viel weniger eindeutig dargestellt hat. Erklären Herr Steinhauer und die anderen erfolgreichen investiven Statusarbeiter*innen eventuell erst im Nachhinein als stetige Orientierung nach oben, was als Karriere viel kontingenter zustande gekommen ist? Dagegen spricht, dass auch die Interpretation weiterer Passagen aus den Interviews mit den Vertreter*innen dieses Typus nirgendwo Anzeichen für andere, an diesen ‚Weggabelungen‘ wirksame berufsbiographische Orientierungen zutage fördert. Als dominierendes Element des positiven Horizonts des berufsbiographischen Orientierungsrahmens dokumentiert sich vielmehr immer wieder der ökonomische Aufstieg als Möglichkeit, ‚mehr‘ zu erreichen.

Um diesen Punkt weiter zu illustrieren, gehen wir nun noch kurz auf den Fall von Herrn Steiger ein, dessen etwas wechselvollere Berufsbiographie zudem beleuchten hilft, dass die ‚Tendenz nach oben‘ nicht nur für kontinuierlich auf einen verbesserten sozioökonomischen Status zulaufende Karrieren gilt, sondern sich durchaus auch in der Bewältigung von Rückschlägen dokumentieren kann. Herr Steiger ist Handwerker und hat sich nach seiner Ausbildung und einer Zeit bei der Bundeswehr auf Tätigkeiten beim Bau besonderer Häuser spezialisiert, so dass seine Karriere immer wieder von den Ausschlägen des Immobilienmarktes ‚aus der Bahn‘ geworfen wird. Er selbst spricht von einer „Schiene“ (I06: 210–211), in die er so geraten sei, und deutet damit an, dass diese Spezialisierung seine weiteren berufsbiographischen Entscheidungen stark vorstrukturiert hat. Diesen Rückschlägen begegnet er jedoch nicht nur mit Bemühungen um Status-Konsolidierung – im scharfen Kontrast zum Beispiel zu Herrn Lohse, den wir ja als Vertreter der gemeinschaftszentrierten Lebensführung vorgestellt haben, der in vergleichbaren Situationen eben vor allem – vergeblich – versucht, vor Ort seinen Status zu konsolidieren. Sondern Herr Steiger nimmt immer wieder Anläufe, eine dauerhaft bessere Position zu erreichen, wofür er mehrfach den Wohnort wechselt und sogar für einige Jahre auswandert. Auch in Phasen relativer Stabilität richtet sich Herr Steiger allerdings nicht einfach ein, sondern unternimmt von dort aus Versuche, ‚voranzukommen‘: Während einer festen und gutbezahlten Anstellung in einem größeren Betrieb nutzt er die Zeit, um sich zum Meister auszubilden und Zusatzqualifikationen in Betriebsführung zu erwerben, die er schließlich einsetzt, um seine enge Spezialisierung hinter sich zu lassen und sich in einem anderen Teil Deutschlands in einer ländlichen Region erst als Partner in einem Start-Up-Unternehmen und nach dessen Scheitern als selbstständiger Meister niederzulassen.Footnote 30 An allen Punkten seines berufsbiographischen Verlaufs zeigt sich also, dass Herr Steiger seine Handlungen strategisch so ausrichtet, dass es von dort aus ökonomisch ‚weiter nach oben‘ geht.

Neben dieser durchgängigen Tendenz in Richtung einer Verbesserung des sozioökonomischen Status gibt es noch einige weitere Auffälligkeiten des Realtypus des investiven Statusarbeiters, die bereits in den zitierten Eingangserzählungen aufscheinen und hier festgehalten werden sollen. Zunächst ist da die marginale Bedeutung von Lebensbereichen jenseits der Erwerbsarbeit – zumindest in der Selbstpräsentation im Interview – zu nennen. Besonders im Vergleich zu den Vertreter*innen der gemeinschaftszentrierten Lebensführung fällt auf, dass Freund*innen und Bekannte kaum erwähnt werden und die eigene Familie eher als etwas eingeführt wird, das man ‚hat‘ – auffälligerweise in beiden angeführten Fällen in einem Atemzug mit Immobilienbesitz, so dass sich der Verdacht aufdrängt, dass diese beiden, Familie und Immobilien, zusammen ein Bild ergeben, in dem sich das Statusstreben verdichtet. Was die fehlende Gemeinschaftsbindung anbelangt, übertreffen die investiven Statusarbeiter*innen damit sogar die Berufsstolzen, die zumindest andere von ihnen als kompetent erachtete Angehörige ihres Berufs, besondere Freunde und die eigene Kleinfamilie als wichtige Bezugspersonen thematisieren.

Im Vergleich zu den am Berufsstolz Orientierten sticht weiterhin ins Auge, dass der Inhalt der Berufstätigkeit, trotz deren zentraler Bedeutung für die Lebensführung, blass bleibt. Stolz ist man auf die Karriere, auf eine dem zugrundeliegende, nicht näher spezifizierte Leistung und darauf, für das eigene ‚Vorankommen‘ kluge Entscheidungen getroffen zu haben,Footnote 31 nicht aber auf das, was man praktisch im Beruf tut. Schlussendlich fällt bei den investiven Statusarbeiter*innen auf, dass ihr Modus der Lebensführung von ihnen selbst als äußerst anstrengend beschrieben wird.Footnote 32 Herr Huber thematisiert bereits, dass er „eigentlich viel zu viel“ „am Arbeiten“ sei; aber auch Herr Steinhauer berichtet zu einem späteren Moment im Interview, dass er nach der Arbeit „in ein Loch“ (I30: 1615) falle und eigentlich nur noch schlafen könne.

4.3.2 „…nie etwas geschenkt gekriegt, alles selbst erwirtschaftet“: Investive Statusarbeit als Einzelkampf

Um sich der inneren Logik investiver Statusarbeit als Modus der Lebensführung weiter zu nähern, lohnt es sich, Herr Steinhauers oben bereits erwähnte ‚schiefe‘ Darstellung seiner Entscheidung für das Studium noch einmal genauer zu betrachten:

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Offensichtlich sieht Herr Steinhauer einen legitimen Anspruch seinerseits dadurch verletzt, dass er als „landesbester A-Mechaniker“ nur einen Job am Fließband bekommen hat, und stellt seine Entscheidung für das Studium und gegen die Arbeit im Ausbildungsbetrieb so als ‚Retourkutsche‘ dar. Durch die ironische Qualifikation des Angebots der Firma als „netterweise“ (3) wird markiert, dass er die Enttäuschung seiner Erwartung nicht nur als ‚schwierige Situation‘, sondern eben als ‚Unverschämtheit‘ von Seiten des Unternehmens verstanden wissen will. In diesem Sinne wird die Entscheidung für das Studium und damit für eine Karriere außerhalb des Unternehmens gewissermaßen zur ‚Notwehr‘ – ein Motiv, das bei den Ausbildungsstellen- und Arbeitsplatzwechseln der Berufsstolzen und der Gemeinschaftszentrierten so nicht aufgetaucht ist, das sich aber durch alle Interviews der investiven Statusarbeiter*innen zieht. Auch Herr Huber hatte ja seinen Ausbildungsbetrieb, den er wegen der „relativ schlecht(en)“ Bezahlung verlassen hatte, dadurch eingeführt, dass ihn „einer vom Westen“ „für eine Mark“ und damit unter Wert gekauft hat,Footnote 33 und inszeniert um seine eigenen biographischen Entscheidungen herum damit ein Stück, in dem andere Akteure sich zu Unrecht etwas ‚ergaunern‘.

In diesem Sinne bekommt der Stolz auf die Karriere, den Herr Steinhauer bereits in der Eingangspassage seiner biographischen Stegreiferzählung thematisiert, in den Erzählungen der investiven Statusarbeiter*innen einen besonderen Klang. Wie Herr Huber es – im Zusammenhang mit seinem Anlagevermögen – formuliert: Man hat „nie etwas geschenkt gekriegt, alles selbst erwirtschaftet“ (I37: 596). Das heißt, man rechnet sich seine Karriere nicht nur als eigene Leistung zu, wie es ja auch die Vertreter*innen der Berufsstolzlebensführung tun, sondern musste sie einer Umwelt abringen, die in einem kühl-distanzierten Ton beschrieben und immer wieder als feindlich dargestellt wird. Anders als die Berufsstolzen erwähnen investive Statusarbeiter*innen zum Beispiel keine frühen Autoritäten oder interessanten Freundeskreise, die ihr berufsbiographisches Streben angeleitet oder spezifiziert hätten. Diese Darstellung der Umwelt als feindlich erfüllt zwei Funktionen. Sie wertet zum einen das Erreichte auf, indem sie die eigene Leistung durch die schwierigen Umstände besonders herausstellt; und sie legitimiert zugleich das Karrierestreben, da man sich gegen potentielle Übervorteilungen durch das Umfeld präventiv zur Wehr setzen muss, indem man ‚auf seinen eigenen Vorteil schaut‘.

Das deutet sich bereits in Herrn Steinhauers Eingangspassage an, der ja auch die – von ihm so dargestellte – Loyalitätsverletzung durch sein Ausbildungsunternehmen zum Ausgangspunkt seiner Karriere macht, in deren Verlauf er sich durch verschiedene Firmen „durchgearbeitet“ hat, also selbst auch keine ‚Firmenloyalität‘ zeigt. Es setzt sich aber im weiteren Verlauf des Interviews und auch in den Berichten über andere Lebensbereiche fort, etwa wenn er beklagt, dass er sich von seinen Schwiegereltern beim geplanten gemeinsamen Hauskauf „verraten“ gefühlt, als „Doofmann“ hingestellt und deswegen gezwungen fand, seine Schwiegereltern zum Verkauf einer Wohnung an ihn per Ultimatum zu zwingen (I30: 1466–1476). Diese Anekdote zeigt einerseits, dass Herr Steinhauer als investiver Statusarbeiter ein Orientierungsschema anerkennt, nach dem das offene Durchsetzen ökonomischer Interessen in der Sphäre jenseits der Erwerbsarbeit durchaus problematisch und deswegen eben legitimationsbedürftig ist. Andererseits dokumentiert sich aber auch, dass sich die handlungsleitende Orientierung des ‚auf den eigenen Vorteil Schauens‘ im Zweifelsfall über diese Norm hinwegsetzt.Footnote 34

Deutlicher wird dies vielleicht noch bei Herrn Huber, der zwar in der Eingangspassage seinen Firmenwechsel hin zu einem besser bezahlenden Arbeitgeber nicht mit dem Verhalten seines bisherigen Arbeitgebers begründet, der ihn aber auch als normativ disqualifiziert einführt. In der Fortsetzung des Interviews berichtet er dann etwa, dass sein Streben nach Weiterqualifizierung auch darauf zurückzuführen ist, dass sein damaliger Vorgesetzter begonnen habe, die Löhne zu drücken und ihn als austauschbar zu behandeln, obwohl er von seiner Verantwortung her damals schon nicht „irgendein Pappenheimer“ gewesen sei (I37: 1012).

Das in seinem Fall für die Illustration der Doppelfunktion der feindlichen Umwelt allerdings prägnanteste Bild entwirft er, als er von der Trennung von seiner ersten Frau berichtet. Diese habe den Umstand, dass er nicht im Grundbuch des gemeinsamen Hauses gestanden habe, dazu ausgenutzt, ihn nach der Trennung schlicht auszusperren, während er danach noch jahrelang die Bauschulden abbezahlen musste:

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In dieser Passage deutet sich schon an, wie Herr Huber diese Episode im weiteren Verlauf des Interviews selbst deuten wird. Seine Frau habe ihn durch die ‚Aussperrung‘ einerseits gezwungen, sehr viel zu sparen und zu arbeiten, und wird damit zu einer wichtigen Initiatorin seines ausgeprägten Erwerbsstrebens – nach einer an das unproblematische Jugendmoratorium der Statusarbeit anschließenden Phase des jugendlichen Hedonismus, in der er „alles für Autos, Weiber, Suff, Scheiße“ (I37: 1019) ausgegeben habe, und einer in Bezug auf Statusstreben unklaren Phase der beruflichen Konsolidierung gegen die ‚Lohndrückerei‘ des Vorgesetzten. Zugleich markiert diese Episode in der biographischen Selbstpräsentation aber auch den Übergang von einer Phase, in der er den Menschen einfach vertraut und wenig Wert auf Formalitäten gelegt habe, hin zu seiner abgeklärten heutigen Perspektive, in der er immer darauf bestehe, dass alles formal seine Richtigkeit habe, um sich abzusichern und zu den Menschen auch in seinem unmittelbaren sozialen UmfeldFootnote 35 ein vorsichtig-distanziertes Verhältnis einzunehmen.

Dieses distanzierte Verhältnis zum unmittelbaren sozialen Umfeld zeigt sich auch in Frau Michels Erzählung ihres Wegs zur „Führungskraft“. An ihrer biographischen Selbstpräsentation ist zunächst aufgefallen, dass, obwohl ihre berufliche Karriere und ihr Stolz auf diese sie zu einer typischen investiven Statusarbeiterin zu prädestinieren scheint, sie persönliche Krisen und Beziehungen vor allem zu ihren drei Ehemännern in einer Weise ins Zentrum rückt, die intuitiv der Zuordnung zu diesem Typus zu widersprechen scheint. Die eingehendere Interpretation des Interviews fördert dann zwei Gründe für diese zentrale Stellung außerberuflicher Krisen zu Tage. Zum einen durchlebt Frau Michels in der Tat im Vergleich zu den meisten anderen Befragten aller Typen eine Reihe von schweren biographischen Krisen: eine eigene frühe Krebserkrankung in ihren 30ern, eine schwere Herzerkrankung ihres dritten Mannes, dazu noch frühe Erfahrungen sexuellen Missbrauchs durch ihren Stiefvater. Dies alles dürfte ihre erlebte Erfahrung auch unabhängig von ihrer berufsbiographischen Orientierung entscheidend geprägt haben. Zum anderen aber, und das ist für die Interpretation in Bezug auf ihren Lebensführungsmodus entscheidend, integriert Frau Michels diese Krisen in ihre biographische Selbstpräsentation vor allem als Begründungszusammenhang für die eigene Statusorientierung, in der die Selbstpräsentation als erfolgreiche „Führungskraft“ im Zentrum steht. Die Krisen waren aus ihrer Sicht vor allem deswegen wichtig, weil sie an ihnen so weit ‚gereift‘ – im Sinne von ‚abgehärtet‘ – ist,Footnote 36 dass sie vor allem in ihrem beruflichen Umfeld in der Finanzverwaltung eines größeren Unternehmens von allen als Autorität wahrgenommen würde.

Dabei praktiziert sie einerseits in den Schilderungen der Sozialbeziehungen am Arbeitsplatz fast schon eine Form der ‚Statuskoketterie‘, indem sie, bei deutlich sichtbarem Stolz auf das Erreichte, immer wieder hervorkehrt, dass sie sich um Aufstiege nicht bemüht habe, sondern ihr diese vielmehr von anderen, auch gegen ihren eigentlichen Willen, angetragen werden, so dass sich hier nicht unbedingt der Eindruck einer ‚feindlichen Umwelt‘ aufdrängt. Allerdings lehnt sie keine dieser Beförderungen ab, und die Rekonstruktion legt überdies nahe, dass ihre Zurückhaltung selbst eher eine strategische Selbstpräsentation ist, die es ihr auch erlaubt haben dürfte, innerhalb der Verwaltung Karriereambitionen zu verfolgen, ohne übermäßig ‚anzuecken‘. Ihre Legitimation als Führungskraft beruht, wie bereits angedeutet, zentral auf ihrer ‚Autorität‘ gegenüber den anderen Beschäftigten, die ihr, so ihre Darstellung, die Führung geradezu ‚aufdrängen‘. Auf die abschließende Frage nach ihrer Selbstzuordnung zu einer gesellschaftlichen Schicht oder Gruppe erläutert sie dann auch treffenderweise: „mental, alles was die Psyche betrifft, bin ich GANZ oben. //@(.)@// Bin ich/ also da FÜHL ich mich in der Oberschicht“ (I28: 1588).

In den Erzählungen zum sozialen Nahumfeld allerdings äußert sich die angesprochene distanzierte – oder besser instrumentelle – Haltung sehr viel deutlicher. Nicht nur gegenüber dem Stiefvater, gegenüber dem sie, wie sie selbst sagt, später ihre „böse Seite“ (I28: 476) herauslässt, indem sie für den eigenen materiellen Vorteil und das berufliche Vorankommen sein schlechtes Gewissen ausnutzt. Auch ihren ersten Ehemann bezeichnet sie in der Rückschau als „Lusche“ (I28: 488), den sie für einen bestimmten biographischen Abschnitt eben gebraucht habe und dessen mangelnde ‚Reife‘ sie aufschlussreicherweise daran veranschaulicht, dass dieser weiterhin ein vertrauensvolles Verhältnis zu ihrer Mutter pflege. Ihren zweiten Ehemann bezeichnet sie als „Workaholic“, der ihr im Nachhinein – nach einem gescheiterten gemeinsamen Versuch der beruflichen Selbstständigkeit – nur noch „leid“ tue (I28: 330–334). Auch die Nachbar*innen, ihr Sohn und ihr dritter und jetziger Mann werden eher im Ton der therapeutischen Zuwendung beschrieben und damit in eine ähnliche Position gerückt wie ihre Kolleg*innen, gegenüber denen sie sich gerade durch ihre „mental(e)“ Überlegenheit als Führungspersönlichkeit auszeichnet.

Auffällig bei allen Vertreter*innen der investiven Statusarbeit im engeren Sinne ist, dass die instrumentelle Logik, die ihre berufsbiographische Orientierung auszeichnet, sich auch in den anderen Lebensbereichen offener zeigt, als das bei den Vertreter*innen der anderen Typen der Fall ist. Wichtig für das Verständnis dieses Aspekts der gelebten Erfahrung der investiven Statusarbeiter*innen ist zunächst nicht, inwiefern die beschriebenen Krisen oder die erfahrene Qualität sozialer Beziehungen tatsächlich soziogenetisch ursächlich für die Herausbildung der berufsbiographischen Orientierung sind. Die Beispiele aus Herrn Hubers und Herrn Steinhauers Eingangspassagen waren ja gerade aufschlussreich, weil sich in der retrospektiven Umdeutung des gelebten Lebens dokumentiert, inwiefern die Orientierung die Präsentation der gelebten Erfahrung auch im Nachhinein mitkonstituiert und sich damit auch vom faktischen Lebensverlauf abheben lässt. Für die Vertreter*innen der investiven Statusarbeit lässt sich auch unabhängig davon festhalten, dass sie alle als Element der gelebten Erfahrung teilen, dass sie sich als ‚Einzelkämpfer‘ verstehen, die ihren Weg im Wesentlichen allein und gegen andere gehen müssen – im Beruf und darüber hinaus und unabhängig davon, wie schlüssig sie diese Form des Erlebens selbst rationalisierend in ihrem Lebenslauf verankern können.

Auch in den Interviews mit den anderen Vertreter*innen der investiven Statusarbeit dokumentiert sich, dass die ‚feindliche Umwelt‘, zu der man also ein instrumentelles Verhältnis einnehmen muss, sich auch jenseits der Sphäre der Erwerbsarbeit erstreckt – wenn auch auf den ersten Blick weniger offensichtlich, da diese Bereiche allgemein kaum angesprochen werden. Gänzlich abwesend sind die „schöne(n) Truppe(n)“ der selbstverständlichen Freundes- und Bekanntenkreise, die für die gemeinschaftszentrierte Lebensführung so entscheidend sind, aber auch die ‚besonderen Freunde‘ fehlen, die das Sozialleben der am Berufsstolz Orientierten bestimmen. Das strukturiert auch die Freizeitgestaltung. So antwortet Frau Schröder auf die Frage nach Freizeitaktivitäten:

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Wie alle Vertreter*innen dieses Typus betont sie, dass sie kaum Freizeit habe. Doch darüber hinaus sticht etwas Zweites ins Auge, das ebenfalls alle teilen: Die Freizeitaktivität, die sie anführt, ist etwas, das sie allein tut. Herr Huber geht vor allem mit dem Hund spazieren oder in die eigene Sauna, Herr Steinhauer spielt Computerspiele oder ‚fällt in ein Loch‘ und Herr Steiger kümmert sich vor allem um den Garten und das eigene Grundstück. Lediglich Frau Michels trifft beim Yoga auf andere – die sie allerdings, auch hier ganz „Führungskraft“ und in der Rolle wiederum allein, vor allem anleitet. Die Freizeitaktivitäten werden hauptsächlich in Bezug auf ihren regenerativen Aspekt besprochen – man erholt sich hier vom Stress auf der Arbeit oder des Familienalltags – und nicht mit Bezug auf Gemeinschaftserlebnisse, wie die Stammtische oder Sportvereine der Vertreter*innen der gemeinschaftszentrierten Lebensführung, oder auf ihren Inhalt, wie die künstlerischen Hobbies und das religiöse Engagement von Herrn Röseler als einem Vertreter der am Berufsstolz orientierten Lebensführung. In diesem Sinne wird die Freizeit als Statussuspension auch rationalisierend auf die Statusarbeit bezogen: Man erholt sich, um im Anschluss wieder leistungsfähig zu sein.Footnote 37

„Zweite Welten“ der Statusarbeit: Herr Huber in der Wildnis

Die erwähnten Freizeitgestaltungen der Vertreter*innen der investiven Statusarbeit im engeren Sinne werden auch von ihnen selbst in einer Weise wahrgenommen, die dem entspricht, was wir im theoretischen Modell als Suspension von der Statusarbeit fassen: Sie dienen der Erholung von den tagtäglichen Mühen des Statusstrebens und werden in diesem Licht evaluiert – auch negativ, wenn Herr Steinhauer zum Beispiel konstatiert, dass er seine Freizeit anders gestalten müsse, wenn er noch länger leben wolle, dass aber gerade die Anstrengungen der Arbeit hintertrieben, dass er für diese Neuorientierung die nötige Kraft aufbringen könne. Frau Michels praktiziert demgegenüber Yoga in einer Weise, die selbst wieder der Logik der investiven Statusarbeit entspricht: Sie qualifiziert sich fort, um als Yogalehrerin arbeiten zu können, bemüht sich, immer auf dem neuesten Stand zu bleiben, und nutzt diese Qualifikation dann ja auch zur Festigung ihrer Führungsautorität im Betrieb.

Neben diesen beiden Formen der Integration von Freizeit in die Lebensführung investiver Statusarbeit – Suspension im Sinne einer ‚Pause‘ und Orientierungskontinuität im Sinne der instrumentellen Nutzbarmachung als Kapital – zeigt sich vor allem im Fall von Herrn Huber noch eine dritte Variante, die wir in Anlehnung an ein Konzept Robert Pfallers (2012) als „zweite Welt“ bezeichnen möchten.

Herr Huber berichtet in sehr detaillierter und lebhafter Weise von Reisen, die er gemeinsam mit seinem Vater seit dessen geheilter Krebserkrankung nach Nordamerika unternommen habe. Anders als die ‚Pausen‘ der investiven Statusarbeit sonst werden diese Reisen also nicht einfach elaborationslos erwähnt und damit an den Rand der Selbstpräsentation verbannt – was sich auch darin dokumentiert, dass Herr Huber dieses Thema früh im Interview von sich aus aufwirft. Genauso wenig dokumentiert die Form und der Inhalt des Erzählten aber einfach eine Kontinuität der Handlungsorientierung mit seiner sonstigen erwerbszentrierten Lebensführung. Ganz im Gegenteil:

Da stehst du dann als kleiner deutscher Hans Bündel und dann kommt irgend so ein durchgeknallter Typ mit einem Revolver an der Seite, mit einem Hut auf, mit einem fetten Jeep, stellt/ fährt vor und da denke ich „Vater, jetzt werden wir überfallen.“ //lacht// Und dann sagt der, „Nee, warte mal ab.“ Und da kommt der dann und fängt an „Hi guys, where you from?“ Und dann denke ich mir „Okay, jetzt gleich.“ Und dann fragt er ob alles okay ist, „Habt ihr genug Sprit im Tank, habt ihr noch Wasser, ist alles okay?“ Ob wir was brauchen, denk ich ja //lacht// (Unv.) Und mein Vater war schon ein paar Mal dort und sagt „Nee, die sind hier alle so“ //mhm// und dann hab ich mir gedacht „Ach, das gibt es doch nicht.“ (I37: 440–448).

Als zentrales Moment des Erlebens der Campingreisen durch die „Wildnis am Arsch der Welt“ stellt sich heraus, dass sie Herrn Hubers alltäglichen Erfahrungen fast schon diametral entgegenstehen – zunächst, wie in dieser Episode erläutert, indem das freundlich-interessierte Entgegenkommen seine misstrauische und hier, in Anbetracht des Revolvers, auch ängstliche Erwartungshaltung gegenüber anderen irritiert, was er, durch den Mund seines Vaters, sofort zu einem alternativen Gesellschaftserleben verallgemeinert: „die sind hier alle so“. Im weiteren Verlauf wird dieses Bild noch weiter elaboriert:

Die sind wirklich, da will dir wirklich kein Mensch irgendwie was Böses, keiner fragt nach Geld. Genau, war mal Auto kaputt. Da friemeln die drei Stunden, ne //mhm// die wollen kein Geld/ dort/ mit dem Geld/ Nein, die wollen kein Geld von uns. ((Auslassung)) das ist nicht wie bei uns, dass alles nur noch materiell ist, da geht es wirklich, Tank muss voll sein, nachts vielleicht einen warmen Arsch und was zu Essen. Und dann sind die zufrieden. (I37: 467–476).

Was also das Erleben dieser anderen Welt ausmacht, ist die Abwesenheit genau der instrumentell-ökonomischen Interaktionsformen, die für Herrn Hubers alltägliches Erleben sonst prägend sind. Damit werden die Reisen nach Nordamerika zu einer Metapher dafür, wie Herr Huber ‚eigentlich‘ ist – wie er ja auch sonst gelegentlich andeutet, dass ihm zum Beispiel die absichernd-formalen Umgangsformen der Geschäftswelt ‚nicht liegen‘. Bezeichnenderweise erklärt er auch, dass diese Reisen bedeuten, dass seine Frau ihm „Freigang“ (I37: 426) gebe, und drückt damit metaphorisch aus, dass er sein alltägliches Leben demgegenüber in gewisser Weise als ‚Gefängnis‘ erlebt. Da diese Schilderungen nicht im Kontext der Legitimation von Verhalten abgerufen werden, kann man überdies davon ausgehen, dass dieses Bild davon, wer man ‚eigentlich‘ ist, nicht nur der Auseinandersetzung mit einer unterstellten Attribuierung geschuldet ist, er also nicht einfach nur gegenüber dem Interviewenden als ‚so einer‘ – der nur aufs Geld achtet – gelten will. Er artikuliert vielmehr ein tatsächliches eigenes Unbehagen darüber, dass seine sonst handlungsleitende Orientierung des Statusstrebens zumindest partiell im umfassenderen biographischen Orientierungsrahmen innere Konflikte erzeugt.

Konsequenterweise setzt sich Herr Huber im Interview dann auch mit der Möglichkeit auseinander, auszuwandern. Er evaluiert Beschäftigungs- und Erwerbschancen sowie Immobilien- und Lebenshaltungskosten und kommt zu dem positiven Schluss, dass es durchaus eine Möglichkeit wäre – bricht diesen Gedanken jedoch mit Verweis auf seine Frau, die das nicht wolle, wieder ab und schließt zunächst resigniert mit der starken, aber vor dem Hintergrund unserer Rekonstruktion durchaus treffenden Feststellung: „nicht in diesem Leben“ (I37: 483–484). Auch wenn er diese Festlegung schlussendlich wieder etwas relativiert und erklärt, in Frage käme das Auswandern „Vielleicht später, wenn wir gesund bleiben. Kommt drauf an. //mhm// Mal gucken“ (I37: 525–526), so bleibt die Perspektive als Handlungshorizont nur virtuell, und im restlichen Interview finden sich keine Anzeichen, dass Planungen in diese Richtung irgendeine Rolle spielten.

Da sich in diesen Schilderungen also weder ein positiver Horizont der biographischen Orientierung dokumentiert, noch sie in Bezug auf die berufsbiographische Orientierung einfach als ‚Pause‘ gefasst werden können, nimmt ‚Nordamerika‘ in den Schilderungen Herrn Hubers eben die Rolle einer „zweiten Welt“ ein – als einer Art innerer Suspension von der Statusarbeit, wodurch eine gewisse Distanz zwischen dem Selbstbild und den alltäglich handlungswirksamen Orientierungen gehalten wird.

4.3.3 „so richtig (…) wie’s sein soll“: Das virtuelle Publikum der Statusarbeit

Im Unterschied zu den beiden anderen Modi der Lebensführung ist bei den investiven Statusarbeiter*innen auf den ersten Blick nicht ersichtlich, ob sie ein Publikum adressieren – und wenn ja: welches – oder woher sie sonst soziale Anerkennung schöpfen. Das Verhältnis zu ihrem sozialen Umfeld ist eher instrumentell, und wenn den Mitmenschen nicht einfach mit offener Geringschätzung begegnet wird, so werden ihnen häufig zumindest unlautere Motive unterstellt. Dies betrifft sowohl das berufliche Umfeld wie private Lebensbereiche. Demgegenüber sind die Statusbemühungen der anderen beiden Lebensführungsmodi gerade durch ihre Bindung an spezifische, relativ symmetrische Anerkennungsformen gekennzeichnet. Es gibt immer ein Publikum, dem – im Fall der Lebensführung des Berufsstolzes zumindest vorübergehend, im Fall der gemeinschaftszentrierten Lebensführung dauerhaft – die Kompetenz zuerkannt wird, zu beurteilen, was man und ‚dass man es‘ geschafft habe. Symmetrisch müssen diese Anerkennungsformen insofern sein, dass zumindest in Bezug auf die Identitätsbestätigung dem Gegenüber Aufrichtigkeit zugeschrieben wirdFootnote 38 und man ihn als mindestens ebenbürtig in dem Sinne anerkennt, dass er die Identität überhaupt kompetent bestätigen kann.

Im Falle der Lebensführung des Berufsstolzes ist dies die anerkennende Identitätsbestätigung als ‚exzellente*r Meister*in‘ in einem bestimmten, gegenüber anderen gesellschaftlichen Bereichen ausdifferenzierten und intern kompetitiven Feld der beruflichen Praxis durch das kundige Fachpublikum. Im Falle der gemeinschaftszentrierten Lebensführung gilt die Anerkennung dem respektierten Mitglied in den betreffenden funktional diffusen Gemeinschaften. Die Vertreter*innen der investiven Statusarbeit pflegen aber weder im Beruf noch in der Freizeit Beziehungen, die eine vergleichbare, symmetrische Form der Anerkennung zu ermöglichen scheinen. Von dieser Auffälligkeit ausgehend stoßen wir vor allem auf zwei Konstellationen, in denen Anerkennungsbeziehungen auch in den Berichten der Vertreter*innen der investiven Statusarbeit als Modus der Lebensführung ins Auge stechen:

  • Die eine kann die Beziehung zur eigenen Herkunftsfamilie sein, besonders zum Vater. Im Falle von Herrn Huber ist der Vater – unter anderem in der oben zitierten Episode – der einzige, der ihm in einer Krisensituation Mut zuspricht, seine Fähigkeiten sowie sein Durchhaltevermögen positiv hervorhebt. Der Vater sieht außerdem, anders als die Mutter, dass Herrn Hubers Entscheidung, ein Handwerk zu erlernen, nicht bedeutet, dass er weniger ‚weit‘ gekommen sei als seine studierte Schwester. Herr Steinhauer berichtet zwar nicht von vergleichbaren Gesprächen mit seinem Vater, hebt aber das gute Verhältnis gerade im Vergleich zur Mutter hervor, zieht die Berufssoldatenlaufbahn des Vaters als positiven Gegenhorizont auch zur eigenen Karriere heran – wieder anders als die Mutter, die nichts aus sich gemacht habe – und stellt den Vater als ‚harten Kerl‘ und ‚ehrlichen Typ‘ auch allgemeiner als positiven Gegenhorizont dar. Frau Schröder vergleicht ihre Karriereleistung ebenfalls mit der ihres Vaters, der es wie sie durch Aufstieg zum „Sesselpupser“Footnote 39 gebracht habe. Und selbst Frau Michels, die sich wegen ihrer Missbrauchserfahrung stark von ihrem Stiefvater abgrenzt, misst ihren Karriereverlauf explizit an seinem. Allerdings finden sich ähnliche Auseinandersetzungen mit der Herkunftsfamilie und besonders die implizite Orientierung an oder Abgrenzung von ihren Erwartungen und ihrem Lebensstandard auch bei den Vertreter*innen der anderen Typen, so dass die Vermutung naheliegt, dass die Prominenz dieser Bezugsgruppe in den Berichten der investiven Statusarbeiter*innen auch dem Umstand geschuldet ist, dass bei ihnen keine andere Gruppen um die thematische Aufmerksamkeit konkurrieren.

  • Die zweite Anerkennungskonstellation ist als Indiz noch aufschlussreicher: In der biographisch außergewöhnlichen Situation des Interviews selbst scheinen die Vertreter*innen der investiven Statusarbeit im engeren Sinne performativ besonders darauf zu drängen, vom Interviewer als Publikum ihrer Lebensgeschichte als erfolgreich anerkannt zu werden: So bekundet Herr Steinhauer ja bereits in der Eingangspassage seinen „Stolz“ auf die eigene „Karriere“ – wie auch Frau Schröder und Frau Michels – und lädt wohl aus ähnlichen Gründen zum Interview in sein Werksleiterbüro. Herr Huber stellt nicht nur mit Blick auf den erreichten Lebensstandard und Familienstand ebenfalls bereits in der Eingangspassage konkludierend heraus, das sei alles „so richtig (…) wie’s sein soll“, und erlaubt im Anschluss an das Interview dem Interviewer einen Blick auf die verschiedenen Autos in seiner Garage. Auch Herr Steiger führt den Interviewer in einer Pause zum Rauchen in den Garten seines Hauses, dessen Größe er dabei mit sichtlichem Stolz hervorhebt. Derart offensiv hatte kein*e Vertreter*in der anderen beiden Lebensführungsmodi das eigene Vermögen und die erreichte Karrierestufe uns gegenüber ausgestellt.Footnote 40

Allerdings hatten wir in den Interviews mit Herrn Röseler und Herrn Nikolaidis durchaus etwas Vergleichbares beobachtet: Wir hatten rekonstruiert, dass deren Drang, sich den Interviewern gegenüber als ‚exzellente‘ Musiker beziehungsweise Wissenschaftler zu präsentieren, in engem Zusammenhang damit steht, dass sie biographisch als einschneidende Missachtung erlebt hatten, dass gerade dieses Element ihrer Identitätsbehauptung vom relevanten Publikum letzten Endes nicht bestätigt wurde.Footnote 41 Verweist also das Drängen auf die Anerkennung des eigenen Erfolgs durch den Interviewer darauf, dass die Vertreter*innen der investiven Statusarbeit im engeren Sinne mit einem ähnlichen Anerkennungskonflikt ringen?

In der Tat finden sich in den Interviews mit Vertreter*innen der investiven Statusarbeit zahlreiche Hinweise auf frühere Erfahrungen der Missachtung in Bezug auf ihren sozioökonomischen Status: Herr Huber ringt immer wieder damit, dass er als einziger in der Familie keinen Hochschulabschluss vorweisen kann und dass seine „Oberstudienrätinschwester“ (I37: 739), die sich in seinen Augen „doof studiert“ (I37: 360) hat, ihn trotz seines höheren Lebensstandards – wenn auch mit einem Augenzwinkern – als „scheiß Handwerker“ sehen würde (I37: 739), dem eigentlich dieser höhere Lebensstandard nicht zustehen würde. Er erzählt auch davon, wie er mit „schicken Autos“ und feinerer Kleidung die Nähe zu Menschen gesucht habe, die „ein bisschen mehr Geld“ und „noch ein bisschen was erreicht“ haben, deren Anerkennung er aber als so prekär erlebt, dass er es aufgegeben habe, zu diesen „Spacken“ im „Jackettchen“ weiter Kontakt zu pflegen (I37: 750–753).

Frau Schröder berichtet von ihrer ersten Ausbildung, in der sie als „Püps“ mit ihren „verkackten Abschlüssen“ (I21: 332) vor Augen geführt bekommen habe, dass sie den Anforderungen nicht genüge. Herr Steinhauer merkt zu seiner Schulzeit an, er habe sich wegen seines ärmeren Elternhauses vor seinen Mitschüler*innen geschämt, und führt sein Scheitern in der Abiturprüfung auch darauf zurück, dass er – wohl auch aufgrund dieser Scham – kaum in der Schule gewesen sei. Im Anschluss schildert er in einer besonders prägnanten Episode, wie ihn eine Lehrerin während seines Studiums, also nach seiner bereits abgeschlossenen Berufsausbildung, bei einem Ferienjob ‚ertappt‘:

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Der mitleidige Blick, den Herr Steinhauer seiner Lehrerin zuschreibt, bekommt seine einschneidende Bedeutung dadurch, dass er die erfahrene Missachtung der Schulzeit zusammenfasst. Die Schilderung der Episode stammt aus einer Passage, in der Herr Steinhauer seine Schulzeit schildert, ist also ein Vorgriff, durch den dieser Zusammenhang noch einmal unterstrichen wird. Herr Steinhauer macht hier explizit, was bei vielen der angeführten Missachtungsepisoden mitschwingt: Er würde der Lehrerin und ebenso seinen ehemaligen Mitschüler*innen auch heute noch gern zeigen, dass sie sich damals geirrt haben und er es entgegen der ihnen von ihm unterstellten Erwartung durchaus ‚zu etwas gebracht‘ hat. Dennoch schreckt er davor erkennbar zurück – der Kontakt bleibt abgebrochen und die Gesprächssituation virtuell. Die Menschen, von denen die Missachtung ausgegangen ist, stellen sich so in der Rekonstruktion oft nicht nur als wichtige metaphorische Verdichtungen von Gegenhorizonten heraus, in denen sich die eigene Statusorientierung dokumentiert; diese Menschen sind zudem zu zentralen Bestandteilen des virtuellen Publikums geworden, vor dem der eigene Erfolg innerlich gemessen wird und an dessen Stelle sich die Interviewer unversehens gerückt finden – wozu sie sicherlich auch deswegen prädestiniert sind, weil sie, dem Interviewtypus geschuldet, gewissermaßen selbst ein virtuelles Publikum bilden, indem sie keine eindeutigen wertenden Rückmeldungen geben, sondern lediglich immer weiter fragen. In der Gesamtschau der Fälle zeigt sich, dass zwar der beschriebene Statusschock nicht bei allen rekonstruierbar ist, wohl aber die zentrale Rolle der Anerkennungsbeziehung zu einem solchen virtuellen Publikum.

Es ist sehr plausibel, eine Verbindung zwischen diesem virtuellen Publikum des eigenen Erfolgs und zwei Auffälligkeiten der Interviews mit den Vertreter*innen der investiven Statusarbeit anzunehmen. Zum einen ist es die in der Interpretation der beiden Eingangspassagen bereits angedeutete Schablonenhaftigkeit, mit der das Erreichte unter unterstellte gesellschaftliche Stereotype subsumiert wird: „geheiratet (.) zwei Kinder, Haus, Hund //mhm// so richtig nach/ wie`s sein soll“ (I37: 45–46); „Ja, möchte ich schon auch mit einem gewissen Stolz behaupten, dass ich da eine Karriere gemacht habe, ((Auslassung)) bin jetzt seit dreizehn Jahren verheiratet, habe eine Tochter (4), Eigentumswohnung“ (I30: 62–68). Zum anderen ist auffällig, dass die Akkumulation ökonomischen Kapitals im Zentrum der berufsbiographischen Orientierung steht. Die Abwesenheit eines konkreten Publikums der Statusdemonstration, das die eigenen Identitätsdarstellungen bewerten und bestätigen kann, zwingt dazu, sich in Deutung und Handeln an abstrakteren Maßstäben auszurichten. Auf der Ebene der Deutung und Selbstpräsentation im Interview geschieht dies durch die Orientierung an stereotypen Bildern, die gewissermaßen einen als allgemeingültig vorausgesetzten Standard des Wünschenswerten abbilden: Man lebt eben, „wie’s sein soll“. Im erwerbsbiographischen Handeln zeigt sich eine analoge Strategie in der Orientierung am abstraktesten und allgemeinsten Anerkennungsmedium, das über die verschiedenen gesellschaftlichen Sphären hinweg zwar nicht gleichermaßen, aber eben durchgängig, verrechnet wird – Geld (Schimank 2009). Denn wie Herr Huber im virtuellen Dialog mit den Akademiker*innen seiner Familie erklären kann: „ein guter Handwerker verdient auf jeden Fall so viel wie ein Arzt im Krankenhaus“ (I37: 235/236).

Auch die eingangs bemerkte ‚Uferlosigkeit‘ des Statusstrebens der investiven Statusarbeit im engeren Sinne lässt sich in diesem Licht betrachten: Die ‚Sättigungspunkte‘ des Statusstrebens der gemeinschaftszentrierten Lebensführung werden ja durch die kurze ‚Feedbackschlaufe‘ der anerkennenden Identitätsbestätigung in den Gemeinschaften, in die man eingebettet ist, ausgehandelt. Die ‚Uferlosigkeit‘ des Statusstrebens der Lebensführung des Berufsstolzes bildet demgegenüber in gewissem Sinne ein vermittelndes Bindeglied. Auch sie kennt keine klaren ‚Sättigungspunkte‘ des Statusstrebens, verweist darin aber auf die Qualität der ebenfalls über ‚kurze Feedbackschlaufen‘ gesuchten anerkennenden Identitätsbestätigung als ‚Meister*in‘, was eine ständige Verschiebung des relevanten Publikums ‚nach oben‘ zur Folge hat. Das uferlose Statusstreben der investiven Statusarbeiter*innen teilt allerdings mit den erstgenannten, dass es auf die Bestätigung ausgerichtet scheint, es ‚geschafft‘ zu haben, wobei diese Bestätigung aber durch das virtuelle Publikum nie erteilt werden kann.

4.3.4 Soziogenese investiver Statusarbeit: Statusschock, positive Rückkopplungsschlaufe und doppelte Freiheit

Der Typus der investiven Statusarbeit im engeren Sinne ist damit in seiner Binnenlogik für unsere Zwecke hinreichend nachvollzogen. Da dieser Typus im Zentrum der Studie steht, sollen nun abschließend noch einmal etwas ausführlicher unsere Überlegungen zur Soziogenese dieser Orientierung systematisiert werden. Gerade die Kontrastierung mit den beiden anderen Typen stellt ja heraus, dass der ‚Sachzwang‘ des „stahlharten Gehäuses“ keine hinreichende Bedingung dafür ist, dass seine Insassen sich den ‚Geist‘ der investiven Statusarbeit auch als biographisches Orientierungsmuster zu eigen machen. Es gibt auch andere an das „stahlharte Gehäuse“ angepasste Modi der Lebensführung. Damit steht die Frage im Raum, wie es zur investiven Statusarbeit als biographischem Orientierungsmuster kommt.

Eine rein kausalgenetische Erklärung (Bohnsack 2010) aus der Kapitalausstattung am Beginn der Bildungs- und Berufslaufbahn scheint als Erklärung dafür aus zwei Gründen unbefriedigend. Zum einen ist es ja gerade ein Merkmal des Typus, dass unter seinem habitualisierten Blick Ressourcen sich in Kapital verwandeln, also Bildungsabschlüsse und soziale Beziehungen in viel stärkerem Maße als bei den anderen Typen instrumentell und damit investiv als Mittel zur Erzielung von Profiten betrachtet werden. Pierre Bourdieus (1979) dialektische Unterscheidung von objektivistischer und subjektivistischer Perspektive aufgreifend könnte man formulieren: Auch wenn der objektivierende Blick der Sozialwissenschaftlerin zum Beispiel die Bildungsabschlüsse von Herrn Nikolaidis oder Frau Renner in dem Sinne als kulturelles Kapital erfassen kann, dass sie ja den beiden in der Tat den Zugang zu besser bezahlten Positionen und anderen gesellschaftlichen Kreisen ebnen können, bleibt dennoch festzuhalten, dass beide subjektiv ihre Bildungsabschlüsse gerade nicht in diesem Licht betrachten, sondern vielmehr sich nach ihrem Gebrauchswert, also der Frage nach den konkret dadurch möglich werdenden beruflichen Tätigkeiten und der damit verbundenen feldspezifischen Anerkennung, zu richten scheinen. Zum anderen lässt sich bei der Einordnung der jeweiligen Elternhäuser nach Kapitalausstattung kein klares Muster rekonstruieren, das den Zusammenhang zwischen spezifischen Kapitalausstattungen der Herkunftsfamilie und der Zugehörigkeit zu unseren drei Typen stützen würde: In allen dreien finden sich Eltern mit und ohne akademische Abschlüsse, Arbeiter*innen und Handwerker*innen, sowie Menschen mit höherem und niedrigerem Einkommen und Zugezogene wie Alteingesessene im Heimatort.

Dennoch lassen sich im Zusammenspiel von Bildung, Einkommen und sozialen Beziehungen im biographischen Verlauf Konstellationen identifizieren, von denen wir plausiblerweise annehmen können, dass sie die Entstehung der biographischen Orientierung der investiven Statusarbeit im engeren Sinne begünstigen und im Verlauf stützen. Obwohl sie sich nur heuristisch voneinander trennen lassen und einander gewissermaßen gegenseitig hervortreiben, lassen sich analytisch drei solche Konstellationen unterscheiden:

  • Die Erfahrung eines Statusschocks als spezifisches Merkmal der gelebten Erfahrung einiger Vertreter*innen der investiven Statusarbeit ist uns in der Auswertung bereits früh aufgefallen und klingt als Erfahrung des Missachtet-werdens bereits im vorangegangenen Abschnitt an. Herrn Steinhauers verfehlte Abiturprüfung zusammen mit dem erlebten Spott als Kind aus ärmerem Elternhaus, Frau Schröders Erfahrung, nach dem Realschulabschluss nicht für eine Berufslaufbahn qualifiziert zu sein, die der ihres Vaters vergleichbar gewesen wäre, aber auch Herrn Hubers doppelte Erfahrung, zum einen am Arbeitsplatz als angestellter Handwerker als austauschbar behandelt zu werden und sich zum anderen nach dem Scheitern seiner ersten Ehe verschuldet und ausgesperrt zu finden: In allen drei Fällen sind die Befragten damit konfrontiert, sich in einer schlechteren ökonomischen Statusposition wiederzufinden, als sie erwartet hätten, und in allen drei Fällen erleben sie diese Deklassierung vor allem als Zumutung. Darauf reagieren sie mit Anstrengungen, sich aus dieser Situation ‚herauszuarbeiten‘, indem sie sich auf die Verbesserung ihres ökonomischen Status konzentrieren – und anders als die Vertreter*innen der gemeinschaftszentrierten Lebensführung können sie sich dabei nicht auf soziale Netze verlassen, in denen sich die Gelegenheiten dazu ergeben, sondern müssen sich diese Gelegenheiten, meist gerade gegen das soziale Nahumfeld, aktiv planend schaffen. Obwohl eine solche Krisenerfahrung den Ausgangspunkt eines Statusstrebens bilden kann, dürfte sie kaum allein in der Lage sein, dieses auf Dauer zu tragen: Sollten solche Bemühungen über längere Zeit nicht von Erfolg gekrönt sein, würde sehr wahrscheinlich ein Orientierungswechsel hin zu einem fatalistischen Sich-einrichten vorgenommen.Footnote 42 Zudem zeigt die Rekonstruktion der Lebensgeschichten auch, dass ein solch eindeutiger Statusschock nicht bei allen investiven Statusarbeiter*innen vorgekommen ist.

  • Es tritt dann auch immer mindestens ein weiterer Faktor hinzu, der im theoretischen Modell (Abschn. 2.2) vermutet wurde und in den angesprochenen empirischen Fällen investiver Statusarbeit bereits mehrfach anklang: Die Bemühungen, sich aus der Situation herauszuarbeiten, münden in eine positive Rückkopplungsschlaufe. Frau Schröder steigt, nachdem sie eine andere Ausbildung absolviert und dann noch einmal den Arbeitgeber gewechselt hat, innerhalb ihres Betriebs recht schnell auf; Herr Huber kann seine Schulden abbezahlen, nachdem er den Arbeitgeber wechselt, mehr arbeitet und nebenbei noch selbstständig tätig ist, und nimmt diesen ‚Schwung‘ dann in der Folge auch weiter mit; und Frau Brilla gelingt es, durch einen, in einer bildlich beschriebenen Szene des Interviews auf einem „großen Blatt Papier“ (I29: 543) entwickelten ‚Zehnjahresplan‘, eine Karriere einzuleiten, in deren Verlauf sich ihre Zusatzqualifikationen, die sie neben der Arbeit gezielt zu diesem Zweck erwirbt, in besser bezahlte Stellen umsetzen lassen. Bei Frau Brilla scheint es überdies, als ob die Unzufriedenheit mit ihrer vorangegangenen Stelle durch den Eintritt in die positive Rückkopplungsschlaufe erst retrospektiv mitkonstituiert worden sei: Erst das erfolgreich an der Abendschule absolvierte Abitur vermittelt ihr das Gefühl, dass sie sich mehr erarbeiten könne, und animiert sie zu ihrem ‚Zehnjahresplan‘.

  • Diese positive Rückkopplungsschlaufe der investiven Statusarbeit setzt aber die Unterbrechung einer anderen Rückkopplungsschlaufe nicht außer Kraft: Obwohl der ökonomisch verstandene Status sich gegenüber der Ausgangssituation oft stark verbessert, bleibt das Resultat für die Befragten offenbar dauerhaft unbefriedigend, so dass keine*r vor Erreichen des Ruhestands es in seinem Statusstreben ‚gut sein‘ lassen kann. Das Zusammenwirken von Statusschock und positiver Rückkopplungsschlaufe wird so gewissermaßen auf Dauer gestellt und bildet eine Konstellation, die wir, in Anlehnung an Karl Marx’ (1867, 741) ironisierende Rede vom „doppelt freien Lohnarbeiter“, als doppelte Freiheit fassen: Einerseits sind die investiven Statusarbeiter*innen frei, ihre ökonomischen, kulturellen und sozialen Ressourcen vor allem im Hinblick auf ihre ökonomische Position instrumentell, also als Kapital, zu investieren, da kein in ihren Augen relevantes Gegenüber dieses Verhalten negativ sanktionieren würde. Andererseits läuft diese Freiheit gewissermaßen ‚ins Leere‘, weil sie auch frei von einem konkreten Publikum sind, das ihnen – wie die Fachkolleg*innen der am Berufsstolz orientierten Lebensführung oder das soziale Nahumfeld der gemeinschaftszentrierten Lebensführung – auf für die Betreffenden glaubhafte und vor allem dauerhafte Art und Weise ihren für die Identitätsbehauptung zentralen Erfolg bestätigen könnte.Footnote 43

Alle Befragten, die wir der investiven Statusarbeit zuordnen, sind in der Privatwirtschaft tätig. Anders als zum Beispiel in der Wissenschaft wird hier zum einen das eigene Erfolgsstreben nicht durch institutionalisierte Anerkennungsformen anders kanalisiert und das ökonomisch-instrumentelle Verhältnis zu den eigenen Ressourcen im Gegenzug weitgehend tabuisiert. Ein solches Berufsfeld passt – wie ja auch einer unserer Fälle zeigt – besser zur Lebensführung des Berufsstolzes. Zum anderen sind in der Privatwirtschaft, anders als in formalisierten Karrierelaufbahnen wie etwa im öffentlichen Dienst, einmal erreichte berufliche Positionen weniger gesichert, weshalb auch keine Entlastung von investiv-planendem Handeln stattfindet. Eine solche Entlastung macht das instrumentelle Verhältnis zu den eigenen Ressourcen ein Stück weit überflüssig, was eine gemeinschaftszentrierte Lebensführung ermöglicht. Allerdings reicht die Verortung in solchen Berufsfeldern als Erklärung des Lebensführungsmodus keinesfalls hin. Es finden sich ja etwa auch selbstständige Handwerksmeister unter den Vertreter*innen der gemeinschaftszentrierten Lebensführung. Erst im Zusammenspiel mit der Freiheit von einem konkreten Publikum der Identitätsbestätigung im sozialen Nahumfeld scheint die spezifische Dynamik der investiven Statusarbeit als einem dauerhaften Modus der Lebensführung zu entstehen.

4.4 Die Dämonologie der Mittelschichten

Bevor wir uns im nächsten Kapitel die von allen drei Lebensführungsmodi eingesetzten Praktiken investiver Statusarbeit genauer anschauen, wollen wir in einem Zwischenfazit die bisherigen Ergebnisse der empirischen Untersuchung resümieren. Dazu wird zunächst noch einmal die innere Logik der empirisch gewonnenen Typologie von Lebensführungsmodi rekapituliert, bevor das allen drei Typen gemeinsame Mittelschichtsspezifische durch eine – hier nur kursorisch mögliche – Abgrenzung von der Lebensführung der Ober- und Unterschichten herausgestellt und das Erklärungspotential, aber auch die Grenzen der Erkenntnisse dieses Kapitels für das Verständnis der Mittelschichtenlebensführung im umfassenderen Sinne skizziert werden.

4.4.1 Das Dreieck der Lebensführungsmodi

Die Darstellung der Typologie hatte bisher die Form eines Weges hin zur investiven Statusarbeit als dem Zentrum unseres Interesses, so dass der Eindruck entstehen könnte, die gemeinschaftszentrierte Lebensführung sei gewissermaßen am weitesten von investiver Statusarbeit entfernt und die Lebensführung des Berufsstolzes eine Art ‚Brückentypus‘ dazwischen. Allerdings ist dies allein der Form der Darstellung geschuldet und liegt nicht in der Logik der Typologie selbst begründet. Wie sich im systematischen Vergleich der inneren Logik der drei Typen von biographischen Orientierungsmustern der deutschen Mittelschichten zeigt, ergeben diese vielmehr ein Dreieck (siehe Abb. 4.2) – wobei immer je zwei Typen Merkmale teilen, die dem jeweils dritten Typus fehlen. Die entscheidende Vergleichsdimension hierbei ist die Art der Anerkennung, die jeder der Typen anstrebt.

Abb. 4.2
figure 2

(Quelle: Eigene Darstellung)

Typologie der biographischen Orientierungsmuster.

Dominantes Element des positiven Horizonts des biographischen Orientierungsrahmens der gemeinschaftszentrierten Lebensführung ist das Ziel, akzeptiertes Mitglied der erlebten Gemeinschaften des sozialen Nahumfelds zu werden. Der ökonomische Status, für dessen Erhalt oder Steigerung Praktiken investiver Statusarbeit erforderlich sind, ist dafür eine Ermöglichungsbedingung, aber kein eigenständiges Ziel. So muss Herr Wisch genug verdienen, um als Alleinverdiener für seine Familie sorgen und den Erhalt des elterlichen Hauses als Eigenheim finanzieren zu können; immer mehr verdienen zu wollen kommt ihm nicht in den Sinn.

Daraus ergibt sich, dass sich das Streben nach anerkennender Identitätsbestätigung über die verschiedenen Lebensbereiche hinweg entfaltet und die Berufsbiographie in diesem Sinne auch eine relativ randständige Rolle spielen kann – sofern nicht die Berufsrolle selbst an die Gemeinschaftsorientierung anzuschließen erlaubt, indem man etwa wie Herr Schulz als Lehrer ‚seinen‘ Schülern helfen kann und von ihnen im Umkehrschluss als Autorität bestätigt wird. Ebenso wichtig für die Identität oder sogar wichtiger dafür als der Beruf sind zum Beispiel die „schönen Truppen“, in denen man die Freizeit verbringt, oder die Sportvereine, denen man ‚die Treue hält‘. Fremd ist den Vertreter*innen dieser Orientierung uferloses Statusstreben zum einen, weil über den ‚Sättigungspunkt‘ des anerkannten Lebensstandards hinaus keine Anerkennungszugewinne zu erwarten wären, die eventuelle Mühen rechtfertigen würden – aber auch, wie im ‚Ikarus‘-Sinnbild angedeutet, weil dieses Streben von der Gemeinschaft als Loyalitätsverletzung wahrgenommen und sanktioniert werden könnte.

Die enge Bindung an das soziale Nahumfeld und die Zentrierung auf die anerkennende Identitätsbestätigung der Gemeinschaften begrenzt das berufsbiographische Statusstreben aber nicht nur dergestalt, dass es in seiner relativen Bedeutung eingeschränkt und nach oben gewissermaßen ‚gedeckelt‘ wird, sondern prägt auch den modus operandi dieses Strebens selbst: Statt als geplante oder als geplant präsentierte Karrieren stellt sich die Erwerbsbiographie eher als ein Tasten und Umorientieren dar, dessen Ziele jenseits der Garantie eines ‚angemessenen‘Footnote 44 Lebensstandards vage bleiben oder auch wiederholt revidiert werden. Auch diese Besonderheit gegenüber den anderen beiden Modi der Lebensführung steht in Beziehung zur Gemeinschaftszentrierung. Zum einen reduziert die enge Bindung an das soziale Nahumfeld die Freiheitsgrade der Planung, indem zahlreiche Möglichkeiten, die höhere räumliche und soziale Mobilität voraussetzen würden, unattraktiver oder nicht ‚machbar‘ erscheinen. Zum anderen erlaubt aber das im Vergleich zu den anderen beiden Typen dichte Netzwerk der Beziehungen, in denen man sich bewegt, dass man sich in relativ starkem Maße darauf verlassen kann, dass sich Möglichkeiten auch ungeplant ergeben. Und zuletzt bildet in diesen Fällen die enge Ausrichtung an der Anerkennung durch die Gemeinschaft eine ‚kurze Rückkopplungsschlaufe‘, in der immer wieder evaluiert wird, ob die eigenen Handlungen und die damit verbundene Identitätsbehauptung revidiert werden müssen – wobei dafür im Gegenzug auch schnell und sicher zurückgemeldet wird, ob man es ‚geschafft‘ hat.

Die gemeinschaftszentrierte Lebensführung teilt also mit der Lebensführung des Berufsstolzes, dass sich ihr spezifisches Streben nach einer anerkennenden Identitätsbestätigung an ein konkretes Publikum richtet – eben an die jeweils relevanten Gemeinschaften. Anders als bei der Lebensführung des Berufsstolzes ist aber der inhaltliche Gehalt der entsprechenden Identitätsbehauptung funktional diffus und umfasst potentiell die gesamte Person. Es geht nicht nur darum, in einer klaren Rollenbeziehung – etwa als Lehrerin – bestätigt zu werden, sondern es geht darum, dass man in Gänze als besonderes Mitglied der Gemeinschaft akzeptiert wird, also wie Frau Reuter mit Pastor und Bürgermeister am Stammtisch sitzt, wobei das Lehrer-Sein die Eintrittskarte in diese ‚gute Gesellschaft‘ ist, an der man dann aber als ‚ganzer Mensch‘ teilhat.

Das zentrale Element des positiven Orientierungsrahmens der Lebensführung des Berufsstolzes ist demgegenüber das Streben nach der anerkennenden Identitätsbestätigung als ‚exzellente*r‘ Praktiker*in der bestimmenden Praxis eines spezialisierten Berufsfelds – in unseren Fällen als sehr gute Kunsthandwerkerin, als hervorragender Wissenschaftler oder Musiker. Damit geht eine im Vergleich zur gemeinschaftszentrierten Lebensführung starke Fokussierung auf die Berufsbiographie einher, die zudem die Gestalt einer möglichst gradlinigen und aus der Eigenlogik der Orientierung heraus prinzipiell unbegrenzten Karriere annimmt – die sich natürlich faktisch trotzdem an den vorgefundenen Chancen brechen kann und das in mindestens zwei unserer drei Fälle ja auch tut. Mit der investiven Statusarbeit teilt diese biographische Orientierung die gegenüber der gemeinschaftszentrierten Lebensführung auffällige ‚soziale Entbettung‘ im Sinne einer Herauslösung aus dem unmittelbaren Nahumfeld des Herkunftsmilieus, worauf auch keine ‚Rückbettung‘ in eine ähnliche Gemeinschaft folgt. Das Publikum der auf anerkennende Identitätsbestätigung zielenden Identitätsbehauptung sind eben die anderen Praktiker*innen im beruflichen Feld und nicht etwa die Nachbar*innen in der neuen Heimatstadt. Dabei kann diese Entbettung sowohl mit Push-Faktoren – Erfahrungen der Missachtung im sozialen Nahumfeld, die dazu führen, Anerkennung an anderer Stelle zu suchen – als auch mit Pull-Faktoren verbunden sein: Wer Karriere machen will, verlässt dazu nolens volens die Herkunftsgemeinschaft.

Das potentiell grenzenlose Statusstreben der Berufsstolzen lässt sich aus dieser Art der Publikumsbeziehung plausibilisieren. Zunächst bedeutet das Herauslösen aus dem unmittelbaren Nahumfeld des Herkunftsmilieus die Abwesenheit einer Gemeinschaft, die, wie im ‚Ikarus‘-Sinnbild der gemeinschaftszentrierten Lebensführung, übermäßigen Ehrgeiz negativ sanktionieren würde. Des Weiteren treibt die Dynamik der gesuchten Anerkennung den Ehrgeiz geradezu hervor, da das Herausragen immer über das Erreichte hinausweist: Exzellenzstreben sucht die Anerkennung der Statushöheren; hat man diese jedoch erreicht, wird das nächsthöhere Ziel anvisiert.

Wie bei der gemeinschaftszentrierten Lebensführung und anders als bei der investiven Statusarbeit wird aber der ökonomische Status, so er nicht hinter das zurückfällt, was für einen ‚angemessenen‘ Lebensstandard ausreicht, nicht um seiner selbst willen angestrebt, was im Feld auch negativ sanktioniert werden würde. Ein einträgliches oder sogar hohes Einkommen gilt vielmehr als Medium der Anerkennung im Feld: Der gut bezahlte Musiker fühlt sich wie ein „Rockstar“ (siehe Abschn. 4.2.2) – aber eben, weil ihm dies als Anerkennung echter musikalischer Leistung zukommt und gerade nicht, weil er dem ‚Kommerz‘ erlegen ist.

Die investive Statusarbeit ist die einzige biographische Orientierung in unserer Typologie, bei der die ökonomische Statusverbesserung das dominierende Element des positiven Horizonts des Orientierungsrahmens darstellt: Es geht darum, langfristige Aufstiegspläne zu verfolgen und dabei zugleich ständig seine „Fühler“ auszustrecken, um darüber hinausgehende Verbesserungsmöglichkeiten des eigenen ökonomischen Status zu sondieren. Damit einher geht, wie bei der Lebensführung des Berufsstolzes, eine starke Fokussierung auf die Berufsbiographie gegenüber anderen Lebensbereichen, ein prinzipiell uferloses Statusstreben und die Herauslösung aus dem unmittelbaren sozialen Nahumfeld. Diese Herauslösung ist auf mehrfache Weise mit dem Aufstiegsstreben verknüpft. In einigen Fällen war es so, dass Erfahrungen der Missachtung oder Statusdegradierung im sozialen Nahumfeld das eigene Statusstreben auch soziogenetisch ausgelöst hatten. Doch auch, wo solche Erfahrungen nicht vorkamen, erforderte es spätestens die sich entfaltende Lebensführung, räumliche und soziale Mobilität in Kauf zu nehmen, die das soziale Nahumfeld ‚auf Distanz‘ bringt.

Das zugrundeliegende Streben nach anerkennender Identitätsbestätigung ist anders als bei der Orientierung auf Berufsstolz und wie im Falle der gemeinschaftszentrierten Lebensführung dem Gehalt nach diffus im Sinne einer Identitätsbehauptung der gesamten Person – nicht nur in der Berufsrolle, deren konkreter Gehalt eher gleichgültig zu sein scheint – als ‚erfolgreich‘. Anders als bei der gemeinschaftszentrierten und der am Berufsstolz orientierten Lebensführung ist diese Identitätsbehauptung allerdings nicht an eine konkret bestimmbare und vor allem ‚anwesende‘ Bezugsgruppe, sondern an ein ‚virtuelles‘ Publikum gerichtet. Der sozialen ‚Entbettung‘ entspricht also nicht, wie bei der Lebensführung des Berufsstolzes, der Eintritt in eine neue Anerkennungskonstellation. Die ‚Uferlosigkeit‘ des Statusstrebens, die investive Statusarbeiter*innen mit der Lebensführung des Berufsstolzes teilen, entspringt hier nicht aus der Dynamik einer konkreten Anerkennungsbeziehung, sondern der nicht beseitigbaren Unsicherheit darüber, ob das Erreichte wirklich bedeutet, es ‚geschafft‘ zu haben, ob wirklich alles ist, „wie’s sein soll“ (siehe Abschn. 4.3.3), und richtet sich wohl auch deshalb auf ökonomisches Kapital als gesellschaftlich allgemeinstes Anerkennungsmedium Geld, von dem man bekanntlich ‚nie genug haben‘ kann (Tab. 4.4).

Tab. 4.4 Die Typen der Mittelschichtenlebensführung. (Quelle: Eigene Darstellung)

4.4.2 Unter- und Oberschichtenlebensführung im Kontrast

Alle drei Typen der Mittelschichtenlebensführung haben gemeinsam, dass sie nach sozialem Status im Sinne der fortlaufenden Bestätigung einer als ‚besonders‘ präsentierten Identität streben. Der investive Statusarbeiter, bzw. die investive Statusarbeiterin will besonders erfolgreich in Sachen Berufskarriere und Einkommen sein und dafür Anerkennung finden. Der Berufsstolze will als jemand gewürdigt werden, der es in seinem Beruf zu einer besonderen fachlichen Meisterschaft gebracht hat. Und auch der Gemeinschaftszentrierte will nicht einfach ‚irgendein‘ Mitglied seiner Gemeinschaft sein, sondern von den anderen Mitgliedern als besondere Persönlichkeit geachtet werden.

Unter unseren Interviewpartner*innen, die weniger als 100 % des Medians des Nettoäquivalenzeinkommens zur Verfügung hatten, also ökonomisch in der unteren Mittelschicht zu lokalisieren sind, finden sich einige, deren Lebensführung keines dieser drei in sich konsistenten Orientierungsmuster aufweist. Zugleich fällt uns in der Gesamtschau der Fälle auf, dass die drei Typen sich als biographische Orientierung innerhalb der Mittelschichten auszuschließen scheinen. Unter unseren Interviewpartner*innen, deren Nettoäquivalenzeinkommen oberhalb von 100 % des Medians liegt, gibt es zwei ‚Mischfälle‘ in dem Sinne, dass die Lebensführung sich an zwei der drei Orientierungen ausrichtet, ohne dass eine davon dominant und die andere untergeordnet ist. Diese beiden Fälle stammen aus sehr wohlhabenden, vermutlich den Oberschichten zuzuordnenden Elternhäusern.

Der Kern der Mittelschichten, dessen Angehörige sich einem der drei Lebensführungstypen zuordnen lassen, könnte sich also – so ein tentativer Schluss von beiden Arten abweichender Fälle – von den Rändern nach ‚unten‘ und nach ‚oben‘ abgrenzen:

  • nach ‚unten‘ dadurch, dass alle drei Lebensführungstypen ein dauerhaftes Streben nach sozialem Status im Sinne der jeweiligen ‚Besonderheit‘ darstellen;

  • und nach ‚oben‘ dadurch, dass die Lebensführungstypen einander als Richtungen des Anerkennungsstrebens gegenseitig ausschließen.

Wenn man die an beiden Rändern angesiedelten erwähnten Fälle gewissermaßen als Näherungen der Unter- und Oberschichtenlebensführung nimmt, lässt sich, kurz gesagt, vermuten: Im Unterschied zu Mittelschichtenangehörigen können oder wollen Unterschichtenangehörige nicht nach ‚Besonderheit‘ streben, und Oberschichtenangehörige können sich auch in mehr als einer der drei Richtungen ‚besondern‘. Diese zugegebenermaßen noch sehr abstrakte Vermutung wird etwas greifbarer, wenn wir nun einen kurzen Blick auf die gerade erwähnten einschlägigen Fälle werfen – wobei wir hier nicht daran interessiert sind, die Lebensführungen der Unter- und Oberschichten aus ‚eigenem Recht‘ zu thematisieren, sondern sie lediglich als Kontrastfolien benutzen, um die Spezifik der Mittelschichtenlebensführung noch genauer herauszuarbeiten.Footnote 45

Kampf um Konsolidierung

Die Vertreter*innen des Typus, den wir als Kampf um Konsolidierung bezeichnen und tentativ den Unterschichten zuordnen, zeichnen sich in ihrer biographischen Darstellung im Vergleich zur Lebensführung der Mittelschichten schon auf den ersten Blick durch eine Besonderheit aus: Es steht zwar die Ausbildungs- und Erwerbsbiographie im Mittelpunkt der Darstellung; doch diese dokumentiert weder – wie bei der Lebensführung des Berufsstolzes – die Orientierung an einem bestimmten Gehalt der Tätigkeit, noch wird eine Aufstiegserzählung verfertigt, wie es investive Statusarbeiter*innen tun. Und auch ein klarer Gemeinschaftsbezug, wie in der gemeinschaftszentrierten Lebensführung, lässt sich über die Biographie hinweg nicht ausmachen.

Damit ist zunächst einmal festgehalten, dass sich keines der bestimmenden Merkmale der drei Mittelschichtstypen vorfindet. Worum es stattdessen in der Lebensführung dieser Fälle geht, lässt sich durch die Betrachtung zweier davon genauer darlegen. Der erste Fall, Frau Uhlig, ist Mitte fünfzig, arbeitet als Servicekraft in einem größeren Unterhaltungsbetrieb und lebt mit ihrem Partner zusammen in einem Bungalow in einem Dorf im Einzugsgebiet einer mittleren westdeutschen Großstadt. Ursprünglich ist sie in der Verwaltung eines größeren Betriebs in der damaligen DDR angestellt, gibt diesen Posten nach der Grenzöffnung jedoch auf, um mit ihrem damaligen Mann und ihren drei Kindern in Westdeutschland ein neues Leben anzufangen. In dem gemeinsam gekauften Haus bleibt sie zunächst mit den Kindern zu Hause, während ihr Mann als Handwerker arbeitet. Dieser verlässt sie jedoch nach kurzer Zeit und siedelt mit seiner neuen Partnerin in die Schweiz um, von wo er sich weigert, Unterhalt zu zahlen, so dass Frau Uhlig als alleinerziehende Mutter dreier Kinder in einem hypothekenbelasteten Haus und ohne feste Berufsanstellung zurückbleibt. Frau Uhlig nimmt in der Folge verschiedene Jobs an, die sich mit der Kinderbetreuung und der verkehrsungünstigen Lage ihres Wohnorts vereinbaren lassen: sie trägt Zeitungen aus, arbeitet als Tagesmutter und schließlich eben an der Kasse eines Unterhaltungsbetriebes.

Herr Park – der zweite Fall – ist Anfang 40, arbeitet als Hilfskraft in der Gastronomie und lebt gemeinsam mit seiner Partnerin und ihrem gemeinsamen Kleinkind als informeller Untermieter in einer Wohnung in der Innenstadt einer großen Großstadt. Er ist in dieser Großstadt aufgewachsen, hat dort sein Abitur gemacht und ein sozialwissenschaftliches Studium begonnen, muss dieses aber abbrechen, als der Vater sich mit einem kleinen Geschäft, das Herr Park wegen der mangelnden Deutschkenntnisse des Vaters formal angemeldet hat, hoch verschuldet. Im Anschluss arbeitet Herr Park mit seinem Vater gemeinsam die Schulden des Geschäfts ab und hält sich seitdem mit verschiedenen Jobs, vor allem in der Gastronomie, ‚über Wasser‘.

Beide teilen also das Erleben eines starken biographischen Einschnitts, der eine vorherige Statusorientierung durchkreuzt. Im Fall von Frau Uhlig gibt es zu Zeiten der DDR eine Gemeinschaftsorientierung, die sie dann hinter der Orientierung an investiver Statusarbeit, die ihr Mann nach der Wende an den Tag legt, zurücktreten lässt. Im Falle von Herrn Park, den der Einschnitt gegen Ende des Jugendmoratoriums trifft, durchkreuzt der Einschnitt ein noch unbestimmtes Changieren zwischen einer am Berufsstolz orientierten und einer gemeinschaftszentrierten Lebensführung. Nach den Einschnitten der Trennung bzw. der Verschuldung, die beide durchaus Parallelen zu den ‚Statusschocks‘ der investiven Statusarbeit aufweisen, fehlen sowohl Frau Uhlig als auch Herrn Park die Ressourcen, um sich aus der Situation planvoll ‚herauszuarbeiten‘, so dass eine ‚positive Rückkopplungsschlaufe‘ aus Investitionspraxis und Aufstieg nicht zustande kommt. Vielmehr beginnen beide, unter ständigem Druck zu improvisieren.

Als Zielhorizont ist dabei nur rekonstruierbar, „irgendwo auf d(ie) sichere Seite“ (I35: 77) – so die Worte von Frau Uhlig – zu kommen und damit überhaupt erst wieder Spielraum für längerfristige Perspektiven zu gewinnen. Bei Frau Uhlig gelingt dies schließlich in Ansätzen durch eine Form der proletarischen kollektiven Statusarbeit: Sie beteiligt sich an der Gründung eines Betriebsrats, der feste Verträge in dem Unterhaltungsbetrieb durchsetzt, so dass ihr immer noch knappes Einkommen zumindest mittelfristig sicher ist – auch wenn selbst für verhältnismäßig geringe ungeplante Ausgaben weiterhin die Mittel zu fehlen scheinen. Dem Interviewer bietet sie etwa Instant-Kaffee an und merkt entschuldigend an, ihre Kaffeemaschine sei seit zwei Monaten kaputt. Herr Park erklärt, dass er plane, sich als Angestellter in einer Justizvollzugsanstalt zu bewerben, um so ein sichereres Einkommen zu erlangen, das es ihm ermöglichen soll, seinem Kind ein finanziell stabileres Elternhaus zu bieten. Er hat allerdings die dafür nötige Einbürgerung noch nicht beantragt. Ein über die Sicherung des Gegebenen hinausreichendes Ziel im Sinne eines eigenen Statusprojekts verfolgen beide nicht.

In beiden Fällen ist offensichtlich, dass die hervorgehobene Rolle der Erwerbstätigkeit sich vor allem daraus erklären lässt, dass diese in der Tat ihr zentrales biographisches Problem betrifft: nämlich den Kampf um Konsolidierung der eigenen Statusposition, deren weitere Erosion ständig droht. Insofern kann die zugrundeliegende biographische Orientierung durchaus analog zu Bourdieus „Geschmack für das Notwendige“ verstanden werden, den er der Arbeiter*innenklasse zuordnet (Bourdieu 1979, 585–601). Ökonomische Überlegungen sind dabei ständiger Begleiter, werden aber nicht wie bei der investiven Statusarbeit als Sinnbild der geglückten Lebensführung ethisch aufgeladen. Das soziale Nahumfeld als materielles und psychisches Unterstützungsnetzwerk ist ebenfalls kaum zu unterschätzen, auch wenn seine dauerhafte Pflege nicht immer gelingt. Beide Fälle berichten von verschiedenen Enttäuschungen und Distanzierungen, von Menschen, die sie ‚im Stich gelassen‘ hätten oder mit denen sie keine Interessen mehr teilen konnten. Eine dauerhafte Gemeinschaftszentrierung kommt so ebenfalls nicht zustande.

Zusammengefasst lässt sich festhalten, dass unterhalb einer bestimmten Ressourcenausstattung offenbar ein Statusstreben im Sinne eines dauerhaften, habitualisierten Zielens auf anerkennende Identitätsbestätigung als ‚besonders‘ nicht möglich ist. Damit sind die drei mittelschichtsspezifischen biographischen Orientierungen nach ‚unten‘ abgrenzt. Dabei sollte allerdings festgehalten werden, dass beide vorgestellten Fälle mit einem Nettoäquivalenzeinkommen von 1000–1500 € und ihren Bildungsabschlüssen – Berufsausbildung im Fall von Frau Uhlig, Abitur im Fall von Herrn Park – durchaus noch zur unteren Mittelschicht gehören. Eine mittlere Kapitalausstattung im Sinne unseres theoretischen Modells, die zu investiver Statusarbeit wie auch zur gemeinschaftszentrierten und berufsstolzorientierten Lebensführung befähigt, ist also heutzutage wohl höher anzusetzen, als gängige Definitionen der Mittelschichten nahelegen.

Statusarbeit unter gesicherten Bedingungen

Die zwei Fälle, die wir als Statusarbeit unter gesicherten Bedingungen einordnen und tentativ in die Nähe der Oberschichtenlebensführung rücken, stellen sich uns zunächst als irritierende Ausnahmen dar. Ihre Lebensgeschichten sind auf der einen Seite von klaren beruflichen Aufstiegskarrieren gekennzeichnet, denen auch eine biographische Orientierung an einer kontinuierlichen und uferlosen ökonomischen Statusverbesserung unterliegt, womit sie als investive Statusarbeiter*innen gelten könnten. Auf der anderen Seite dokumentierten sich in ihren Lebensgeschichten aber auch Orientierungen an Berufsstolz und Gemeinschaftszugehörigkeit, die allerdings weder im Konflikt mit der Orientierung an investiver Statusarbeit stehen, noch dieser dauerhaft über- oder untergeordnet werden. Insofern sperren diese beiden Fälle sich gegen eine klare Einordnung in der Typologie der biographischen Orientierungen der Mittelschichten – anders als bei denjenigen, deren Lebensführung sich als Kampf um Konsolidierung charakterisieren lässt, jedoch nicht deshalb, weil sich kein dauerhaftes konsistentes Statusstreben vorfindet, sondern weil das sehr wohl vorhandene Statusstreben die klare Trennung der Typen transzendiert. Beide Fälle umfassen im Rahmen durchaus konsistenter Statusorientierungen mehr als einen Typ.

Dies lässt sich anhand einer kurzen Skizze der beiden Fälle verdeutlichen. Herr Martin – der erste Fall – ist Ende dreißig und wohnt mit seiner Partnerin und einem kleinen Kind in einer westdeutschen Großstadt. Er wächst als Kind im europäischen Ausland auf, wohin seine Eltern berufsbedingt gezogen sind, absolviert sein Abitur aber schließlich in Deutschland. In dieser Zeit fällt er die Entscheidung, in der Filmindustrie arbeiten zu wollen, da dieser Beruf ihm aufregend und an seine allgemeinen Interessen anschlussfähig erscheint. Nach dem Zivildienst, den er strategisch so wählt, dass er ihn geographisch in die Nähe eines Zentrums der deutschen Filmbranche führt, beginnt er, über Praktika und Fortbildungen Kontakte zu knüpfen, und gründet, zunächst gemeinsam mit einem Partner, eine Firma für Filmtechnik und später, als „zweites Standbein“ (I38: 1441), noch eine Firma für filmische Spezialeffekte. Ökonomische ‚Durststrecken‘ überbrückt er mit kleineren Jobs in Messebau und Werbung oder indem er sich Geld von seiner schon früher gutverdienenden Partnerin leiht, vor allem aber in dem auch dem Interviewer gegenüber bekundeten Wissen, sich stets von seinen wohlhabenden Eltern auffangen lassen zu können. Inzwischen ist er mit seiner ökonomischen Situation nach eigenem Bekunden einigermaßen zufrieden, auch wenn er beim Ausfüllen unseres Fragebogens lange überlegt, was er eigentlich verdient; er wünscht sich aber einen weiteren Aufstieg, durch den er, wie er sagt, erst beurteilen könne, ob er sich bisher genug angestrengt habe. Außer an ökonomischen Zahlen bewertet er seine Tätigkeit aber immer auch unter Gesichtspunkten einer Orientierung am Berufsstolz. Seine ursprüngliche Entscheidung, nicht zu studieren, sondern den ‚ausgefallenen‘ Weg der Karriere beim Film zu wählen, ist dabei aber der einzige Punkt, an dem sich argumentieren ließe, dass die Orientierung am ökonomischen Erfolg der am Berufsstolz untergeordnet worden wäre. Im weiteren Verlauf sind beide Orientierungen gleichberechtigt und gleichgerichtet handlungsleitend.

Der zweite Fall, Herr Mey, ist Anfang dreißig und lebt mit seiner Partnerin in einer Großstadt in Süddeutschland.Footnote 46 In seiner Kindheit und Jugend zieht die Familie wegen der Tätigkeit des Vaters als Unternehmensberater mehrfach um, wobei Herr Mey in der Rückwendung konstatiert, dass er mit seiner „gutbürgerlichen“ (I41: 414) Familie meist zu den Wohlhabendsten in seinem Lebensumfeld gehört. Er besucht schließlich ein angesehenes Gymnasium in einer Kleinstadt im ‚Speckgürtel‘ einer westdeutschen Großstadt, ist Schülersprecher und Mitglied der Jugendorganisation einer bürgerlichen Partei und absolviert nach dem Wehrdienst ein von den Eltern finanziertes Studium der Wirtschaftswissenschaften an einer exklusiven, kostenpflichtigen Privatuniversität. In der Folge arbeitet er als Unternehmensberater, wobei ihm Kontakte aus dem Studium und berufliche Kontakte den Weg zu besser bezahlten Stellen bahnen. Er ist zum Zeitpunkt des Interviews Beschäftigter bei einer der größten Wirtschaftsprüfungsgesellschaften der Welt und skizziert für die Zukunft den Plan eines weiteren Aufstiegs im selben Feld, wobei er als Ziel formuliert, Partner in einer Beratungsfirma zu werden oder in die Führungsetage eines großen Unternehmens aufzurücken.

Auffällig ist die Selbstverständlichkeit dieses stetigen und klaren ökonomischen Aufstiegs im doppelten Sinne: Auch wenn Herr Mey durchaus Leistung als Legitimation von Erfolg anführt, dokumentieren seine Ausführungen zur beruflichen Laufbahn doch fast schon eine erlebte Selbstläufigkeit, die im Kontrast zu den bekundeten Mühen der investiven Statusarbeiter*innen steht. Außerdem wirkt der beschrittene Weg weniger selbst aktiv geplant als vielmehr auf einem teilweise impliziten Rezeptwissen beruhend, das sich nicht zuletzt aus den beruflichen Erfahrungen des Vaters speisen dürfte. Auch löst die Karriere Herrn Mey nicht aus seinem sozialen Nahumfeld, sondern scheint mitunter, im Gegenteil, gerade durch die Orientierung an Teilhabe an dieser erlebten Gemeinschaft motiviert: So verknüpft er seine Karriereambitionen auch mit den von ihm positiv konnotierten Erwartungen des Elternhauses und begründet sein Streben nach Wohlstand mit dem Wunsch nach einem Lebensstandard, der ihm unter anderem die Teilhabe an den gemeinsamen Aktivitäten des Freundeskreises ermöglicht. All diese letztgenannten Aspekte hatten wir in den übrigen Fällen als wesentlich mit der biographischen Orientierung der gemeinschaftszentrierten Lebensführung verbunden vorgefunden.

In beiden Fällen dokumentiert sich in der Lebensgeschichte also eine dauerhafte nicht-konflikthafte Synthese aus mindestens zwei der biographischen Orientierungsmuster, die ansonsten nur getrennt oder konfligierend aufgetreten waren – im Fall von Herrn Martin die Synthese von Berufsstolz und investiver Statusarbeit, im Fall von Herrn Mey die Synthese von gemeinschaftszentrierter Lebensführung und investiver Statusarbeit. Dass beide Befragte aus Elternhäusern stammen, die sehr viel wohlhabender sind als die unserer anderen Befragten, und sie sich auch selbst in ‚betuchteren‘ Kreisen bewegen,Footnote 47 könnte diese Besonderheit auf verschiedenen, vermutlich zusammenlaufenden Wegen begünstigt haben: Der im Umfeld als normal – oder wie Herr Mey es immer wieder formuliert: „klassisch“ (I41: 352, 416, 419) – erlebte ökonomische Erfolg dürfte zum Beispiel dazu beitragen, dass das Streben nach ökonomischem Erfolg weniger schnell als illegitim sanktioniert wird. Der „gewisse Standard“, nach dem auch alle Vertreter*innen der drei Lebensführungstypen der Mittelschichten streben, liegt einfach sehr viel höher. Riskantere Entscheidungen, wie das Streben nach einer Karriere im Film, die Berufsstolz und ökonomischen Erfolg gleichermaßen möglich machen, aber eben keine große Sicherheit verbürgen können, sind vor dem Hintergrund einer über die Herkunftsfamilie garantierten ökonomischen Sicherheit und eines höheren Startkapitals weniger ‚waghalsig‘. Auch mag die größere ökonomische Sicherheit dazu beitragen, dass Fragen des ökonomischen Erfolgs weniger existentiell erlebt und deshalb ‚sportlich‘ genommen werden. Bei Vertreter*innen der Lebensführung des Berufsstolzes hatten wir ja gesehen, dass ökonomischer Erfolg durchaus auch als Anerkennung beruflicher Meisterschaft erlebt werden kann; und auch Vertreter*innen der gemeinschaftszentrierten Lebensführung hatten ihn ja stellenweise als positives Attribut einer besonderen Rolle in der Gemeinschaft präsentiert. Allerdings war diese Gleichausrichtung von ökonomischer Statusorientierung mit anderen biographischen Orientierungen von kurzer Dauer, weil zum Beispiel die Sorge um den eigenen ökonomischen Status oder darum, ob das Streben nach ökonomischem Status die Legitimität der Identitätsbehauptung unterminieren könnte, dazu zwang, eine der beiden Orientierungen als vorrangige zu behandeln.

Dass also gerade die beiden Fälle, in denen die Statusarbeit unter – im Vergleich zu allen anderen Fällen unseres Samples – komfortablen Bedingungen stattfindet, das Entweder/Oder der drei Typen transzendieren, legt den vorsichtigen Schluss nahe, dass die vorfindliche Differenzierung der Lebensführungsmodi der Mittelschichten auch dem vor allem ökonomischen Druck geschuldet ist, sich ‚zu entscheiden‘. Die mittelschichtsspezifische Situation, dass man etwas verlieren, aber auch etwas gewinnen kann, spitzt sich also dergestalt zu: Man kann nur gewinnen, wenn man alles auf eine der drei Karten – investive Statusarbeit, Berufsstolz, Gemeinschaft – setzt. Hier zu lange oder gar auf Dauer unentschieden zu bleiben, setzt ökonomische Ressourcen voraus, die Einkommen und Vermögen der Mittelschichten übersteigen.

Die Betrachtung des Kampfes um Konsolidierung untermauert die Annahme des theoretischen Modells, dass eine gewisse ökonomische Ressourcenausstattung im Sinne einer „Schwelle der Berechenbarkeit“ (Bourdieu 2000, 92) nötig ist, um die Zukunft als Möglichkeitsraum der Verbesserung des eigenen Status zu entwerfen, und legt die Vermutung nahe, dass diese Schwelle etwa bei 100 % des Nettoäquivalenzeinkommens verläuft, also am Übergang von unterer Mittelschicht und mittlerer Mittelschicht. Der Blick auf Statusarbeit unter gesicherten Bedingungen nuanciert eine im theoretischen Idealtypus angedachte Variante investiver Statusarbeit noch etwas weiter. Es scheint, als ob in der oberen Mittelschicht und in den Oberschichten unter Bedingungen ökonomischer Sicherheit zwar auch investive Statusarbeit als Modus der Lebensführung gelebt wird – aber eben anders als ansonsten in den Mittelschichten. Das Statusstreben vollzieht sich vor dem Hintergrund größerer Statussicherheit; und das ermöglicht, mehr zu wagen.

4.4.3 Dämonen, die des Lebens Fäden halten

Webers Überlegungen zur Lebensführung im okzidentalen Kapitalismus münden bekanntlich in einer Krisendiagnose: Die protestantische Ethik, die in der heroischen Phase der Etablierung des Geistes des Kapitalismus ihren Gläubigen die Kraft gegeben habe, sich in einer feindlichen Umwelt zu behaupten, sei im Moment ihrer hegemonialen Durchsetzung als sittlich-sinnhafte Orientierung abgestorben. Die methodisch kontrollierte Lebensführung lebe als „stahlhartes Gehäuse“ (Weber 1905, 201) fort, zwinge sich den Subjekten also auf, ohne dass diese sie sich noch sinnhaft zu eigen machen könnten. In dieser unangenehmen Situation gelte es nun für jeden einzelnen, so seine blumig-pathetische Formulierung, den „Dämon“ zu finden, der „seines Lebens Fäden hält“ und ihm in der „Forderung des Tages“ zu gehorchen (Weber 1919, 511).

Die biographischen Orientierungen, die in diesem Kapitel rekonstruiert wurden, sind Formen des Umgangs mit genau diesem Problem. Die Befragten finden sich nicht orientierungslos in der sinnlosen „Nacht“ (Weber 1919, 511), sondern entwickeln, im Durchleben vielfältiger sozialer Anerkennungs- und Missachtungskonstellationen, ein implizites Wissen davon, was es heißt, ein ethisch gehaltvolles, erfolgreiches Leben zu führen. Insofern könnte man unsere Typologie auch als ‚Dämonologie der Mittelschichten‘ fassen: als Systematisierung der verschiedenen Weisen, in denen Mittelschichtenangehörige die „Forderungen des Tages“ als ethische Herausforderungen begreifen und bearbeiten. Dass es diese unterschiedlichen Dämonen gibt, ist keine Frage eines letzten Endes für die Praktiken der Statusarbeit konsequenzenlosen, luftigen kulturellen ‚Überbaus‘ – sondern prägt, wie das Kapitel gezeigt hat, ganz manifest unterschiedliche biographische Gestalten. Für die Beobachterin ganz ähnliche Irritationen werden von den Vertreter*innen unterschiedlicher Modi der Lebensführung völlig anders wahrgenommen und verarbeitet. Für Modi der Lebensführung gilt damit, was Rahel Jaeggi (2014, 243–247) für den eng verwandten Begriff der Lebensformen konstatiert: Objektiv widerfahren mag Menschen alles Mögliche – von Meteoriteneinschlägen über Arbeitslosigkeit bis zu Beziehungskrisen: Zum Problem und damit zum Gegenstand der Bearbeitung für Lebensführungsmodi werden diese Widerfährnisse aber dennoch so, wie sie sinnhaft an Lebensführungsmodi anschließbar sind.

Es ist instruktiv, sich dies am Beispiel der Covid-19-Pandemie gedankenexperimentell vor Augen zu führen: Wie erleben und verarbeiten Gemeinschaftszentrierte, Berufsstolze und investive Statusarbeiter*innen wohl den gesellschaftlichen Ausnahmezustand?Footnote 48 Wer seine Biographie zentral am Berufsstolz ausrichtet, der mag Trost und vor allem Ansporn in der Tatsache finden, dass Isaac Newton seine wichtigsten wissenschaftlichen Durchbrüche in einer Pestquarantäne erzielt (Stillich 2020) – oder aber, sofern er etwa Künstler ist, ein Virus verfluchen, das ihm das Ausleben seiner beruflichen Meisterschaft verunmöglicht. Gemeinschaftszentrierte werden dem Lockdown und dem Imperativ zur sozialen Isolation vermutlich wenig Positives abgewinnen können – und, abhängig von den normativen Erwartungen ihres sozialen Nahumfelds, entweder versuchen, ‚verantwortungsvolle‘ alternative Wege zu finden, ihre sozialen Beziehungen zu pflegen, oder die Maßnahmen zu umgehen. Wo investive Statusarbeit den normativen Kern der Lebensführung ausmacht, da ist entsprechend die drohende Entwertung von Ressourcen die größte Herausforderung – und der bei diesem Modus der Lebensführung besonders ausgeprägte Einzelkämpfer*innenethos mag überdies zu entsprechend großem Unmut über die kollektiv verbindlichen Regelungen der Infektionsvermeidung führen oder diese Regelungen auch als ‚sportliche Herausforderungen‘ nehmen.Footnote 49

Allerdings deutet dieses Beispiel auch auf eine in den Darlegungen dieses Kapitels von uns noch nicht systematisch betrachtete Seite von Lebensführung hin: Die sozialen und materiellen Bedingungen des biographischen Handelns stecken diesem – das illustrieren die Rekonstruktionen unserer Fälle bereits jetzt – mitunter sehr enge Grenzen. Berufsstolze, deren Kinder wegen des Lockdowns zu Hause betreut werden müssen oder deren Erwerbstätigkeit in Gefahr ist, werden zum Beispiel nicht die Wissenschaft oder Kunst revolutionieren, sondern zunächst versuchen, den Spagat zwischen Care- und Statusarbeit zu bewältigen. Und investive Statusarbeiter*innen, deren ökonomische Spielräume durch Unsicherheit und Rezession zumindest vorübergehend fast verschwinden, mögen sich auf eine Art und Weise auf ihre Mitmenschen zurückgeworfen finden, die ihnen sonst fern läge: Sei es, indem sie in Partnerschaft und Familie enger eingebunden werden, indem sie – vielleicht aus Angst vor Ansteckung, Sorge um Angehörige oder weil sie auf Hilfe angewiesen sind – doch kollektive Formen der Problembearbeitung für sich entdecken, oder, andersherum, weil ihr Unmut über die kollektive Krisenbearbeitung sie unversehens selbst in die Arme eines Kollektivs führt, das diesen Unmut als Protest aufgreift und artikuliert.

Doch auch im ganz alltäglichen Leben prägt die subjektive Orientierung zwar das Erleben und die Bearbeitung von Irritationen – es wäre aber fatal, zu ignorieren, dass sie sich eben auch an ihnen bricht und transformiert. Es ist ein zweites wichtiges Ergebnis der Untersuchung, dass Praktiken der investiven Statusarbeit, also die Sorge um die Mehrung oder zumindest Sicherung der eigenen Ressourcen, sich bei allen Befragten ausmachen lassen, da eine bestimmte Ressourcenausstattung auch für diejenigen Mittelschichtenangehörigen, bei denen sie nicht eigenständige Zielgröße des biographischen Handelns ist, eine Ermöglichungsbedingung für die Umsetzung anderer biographischer Projekte darstellt. Das folgende Kapitel fokussiert genau dieses Problemfeld: Es systematisiert verschiedene Arenen und Praktiken der Statusarbeit und fragt anschließend, wie die in diesem Kapitel rekonstruierten Typen biographischer Orientierung den Grad und die Art prägen, in der sich ihre Vertreter*innen diese Praktiken in den verschiedenen Arenen zu eigen machen.