In diesem Kapitel stellen wir die zentralen Aspekte des Forschungsdesigns unserer empirischen Untersuchung vor und erläutern, wie wir methodisch vorgegangen sind. Um die individuelle Lebensführung in ihren Praktiken und biographischen Orientierungen zu untersuchen, haben wir uns für ein qualitatives, offenes Design entschieden. Zur Beantwortung der ersten Untersuchungsfrage, ob es investive Statusarbeit als Modus der Lebensführung gibt und welche konkreten Formen sie gegebenenfalls annimmt, haben wir biographisch-narrative Interviews, kombiniert mit leitfadengestützten Nachfrageteilen eingesetzt, wie wir in Abschn. 3.1 darlegen. Zur Beantwortung der zweiten Frage nach den Bedingungen der investiven Statusarbeit benötigen wir eine geschickte Form der Fallauswahl, die es uns ermöglicht, auch mit einer begrenzten Anzahl von Fällen möglichst unterschiedliche Fraktionen der Mittelschichten sowie angrenzender Schichten sondieren zu können. Hierzu haben wir verschiedene Strategien der Fallauswahl kombiniert. Auf diese Samplingstrategien gehen wir in Abschn. 3.2 ein. In Abschn. 3.3 erläutern wir die Durchführung der Interviews, in Abschn. 3.4 beschreiben wir unser Vorgehen bei der Auswertung und Analyse der Orientierungen und Praktiken.

3.1 Biographisch-narrative Interviews und dokumentarische Methode

Da es eine offene Frage ist, bei welchen Personen und in welchen Formen sich die im vorherigen Kapitel dargestellte Lebensführung der investiven Statusarbeit empirisch tatsächlich auffinden lässt, ist für die Datenerhebung eine Vorgehensweise erforderlich, die den Interviewten die möglichst ungehinderte Entfaltung ihrer Relevanzsetzungen, sinnhaften Bezüge und handlungsleitenden Orientierungen ermöglicht. In dieser Hinsicht bietet das von Fritz Schütze (1983) entwickelte narrative Interview den Interviewten den größtmöglichen Freiraum. Im Unterschied zu anderen Arten der Sachverhaltsdarstellung sind autobiographische Stegreiferzählungen weniger reflexiv überformt und erlauben Schlüsse auf vor-reflexives Wissen und habitualisiertes Handeln. Die „Erzählzwänge“ (Kallmeyer und Schütze 1977), die die Narrationen anleiten und strukturieren, können den Blick auf Erfahrungsaufschichtungen freigeben, die andernfalls vielleicht ausgespart blieben. All diese Eigenschaften narrativer Interviews sind für unsere Fragestellung relevant. Zum einen ist anzunehmen, dass nicht alle handlungsleitenden Orientierungen, Irritationen und Bewältigungspraktiken bewusst verfügbar und abrufbar sind. Zum anderen gehen wir davon aus, dass für die Orientierungen und Praktiken der Lebensführung nicht nur die aktuellen ökonomischen, kulturellen und sozialen Ressourcen der Person eine Rolle spielen, sondern die gesamte Dynamik und Erfahrungsaufschichtung des Lebenslaufs bedeutsam ist (Kohli 1985). Nicht zuletzt liefert das biographisch-narrative Interview auch Hinweise auf Veränderungen und Kontinuitäten von biographischen Orientierungen und Praktiken der Lebensführung (Wohlrab-Sahr 1999; Hollstein 2019).

Allerdings reicht das biographisch-narrative Interview zur Untersuchung unserer Forschungsfrage nicht aus. Wie im letzten Kapitel dargestellt, geht es uns – zum einen – darum, die Lebensführung und die Praktiken der investiven Statusarbeit in unterschiedlichen Lebensbereichen aufzuzeigen. Zum anderen wollen wir ein genaueres Verständnis des Ineinandergreifens und sinnlogischen Zusammenhangs zwischen verschiedenen Lebensbereichen bekommen. Dabei interessieren uns auch Lebensbereiche, die möglicherweise für die Akteure selbst nicht zentral sind oder ihnen nicht als zentral erscheinen und deshalb auf eine ganz offene Frage hin möglicherweise gar nicht thematisiert würden.

Wir haben fünf Lebensbereiche in die Untersuchung mit einbezogen und nicht nur je einzeln, sondern auch in ihrem Zusammenwirken betrachtet, die aus unserer Sicht für investive Statusarbeit zentral sind und in den letzten Jahrzehnten deutlichem Wandel unterliegen:

  • Arbeitsmarkt und Beruf, einschließlich Weiterbildung, als zentrale Arenen der Investition ökonomischen und kulturellen Kapitals;

  • Partnerschaft als wichtiger Ort der temporären Suspension von Statusarbeit sowie als höherstufiger Akteur gemeinsamer Statusarbeit;

  • Elternschaft als Beziehungsmuster intergenerationaler Statusarbeit;

  • Vermögensbildung als zunehmend wichtig gewordenes Aktivitätsfeld der Investition ökonomischen Kapitals zur Alterssicherung sowie für eine spätere Vererbung als weitere Praktik intergenerationaler Statusarbeit;

  • gesellschaftliche Partizipation als Statusdarstellung und Pflege von Sozialkapital in kulturellen Praktiken und Freizeitaktivitäten sowie als „reflexive“, die Bedingungen je individueller Statusarbeit durch politisches und zivilgesellschaftliches Engagement mitgestaltende kollektive Statusarbeit.

Um sicherzustellen, dass diese Lebensbereiche als Elemente unseres theoretischen Modells, das hier als „sensibilisierendes Konzept“ im Sinne von Glaser und Strauss (1967) fungiert, in jedem Fall angesprochen werden, haben wir das biographisch-narrative Interview mit einem ausführlichen leitfadengestützten Nachfrageteil kombiniert (Hollstein 2002; Helfferich 2004). In diesem Nachfrageteil wird explizit – soweit nicht bereits in der Ersterzählung oder in den immanenten Nachfragen angesprochen – auf den Beruf, auf Partnerschaft, Elternschaft, Freizeitverhalten, Vermögensbildung und gesellschaftliche Partizipation eingegangen und nach Praktiken der Lebensführung in diesen Bereichen gefragt. Ergänzende Informationen für die Beschreibung der Praktiken liefern detaillierte Beobachtungsprotokolle zum Kontext des Interviews, zur Interviewsituation, Wohnsituation, -ausstattung und sozialräumlichen Umgebung.Footnote 1

Für die Auswertung der Interviews haben wir uns für ein sequenzanalytisches, fall-rekonstruktives Vorgehen entschieden. Da im Zentrum des Forschungsinteresses nicht nur subjektiv verfügbare, reflexive Wissensinhalte stehen, sondern auch implizite Wissensbestände und handlungsleitende Orientierungen,Footnote 2 reicht ein eher deskriptives Auswertungsverfahren wie etwa die qualitative Inhaltsanalyse nicht aus. Stattdessen haben wir die dokumentarische Methode eingesetzt, wie sie im Anschluss an Ralf Bohnsack von Arnd-Michael Nohl (2006) für die Auswertung von Interviews weiterentwickelt wurde. Dieses Verfahren ist in besonderer Weise dafür geeignet, handlungsleitende biographische Orientierungen nachzuzeichnen und den modus operandi der Bearbeitung und des Umgangs mit der sozialen und dinglichen Umwelt zu rekonstruieren.

3.2 Fallauswahl

Die biographisch-narrativen Interviews sollen uns bei der Beantwortung der ersten, eher deskriptiven Untersuchungsfrage helfen, ob es investive Statusarbeit als Modus der Lebensführung gibt und welche konkreten Formen sie gegebenenfalls annimmt. Für die Beantwortung der zweiten Frage nach den Bedingungen der investiven Statusarbeit benötigen wir eine Form der Fallauswahl, mit der wir auch bei einer vergleichsweise geringen Anzahl von Fällen möglichst unterschiedliche Fraktionen der Mittelschichten sowie angrenzender Schichten sondieren können.

Um zum einen unsere Leithypothese zu überprüfen, dass investive Statusarbeit als Lebensführungsmodus in den Mittelschichten verbreitet anzutreffen ist, und um zum anderen die Bedingungen genauer zu untersuchen, unter denen investive Statusarbeit möglich ist, haben wir verschiedene Samplingstrategien kombiniert. Zunächst sollen solche empirischen Untersuchungsfälle ausgewählt werden, bei denen ein hoher Anfangsverdacht dafür besteht, dass dieser Modus der Lebensführung vorliegt. Auch wenn wir den vielbeschworenen Nexus dieses Lebensführungsmodus zur Mittelschichtenzugehörigkeit bewusst offen halten wollen, hat es sich angeboten, die theoretisch vermutete mittlere Kapitalausstattung als Könnens- und Wollens-Grundlage investiver Statusarbeit über gängige Definitionen der Mittelschichten zu operationalisieren – gemäß der Überlegung: Niemand entspricht diesem Kriterium mehr als Personen, die eindeutig den Mittelschichten zugehören (mit „1.“ markierte Zelle in Abb. 3.1). An dieser Stelle geht es also darum, ein möglichst gesättigtes Bild des empirisch vorfindlichen Lebensführungsmusters investiver Statusarbeit in Gestalt eines umschreibbaren Arsenals von Handlungspraktiken und möglichen Bedingungen zu erhalten.

Abb. 3.1
figure 1

(Quelle: Eigene Darstellung)

Samplingstrategien.

Hinsichtlich des ökonomischen Kapitals haben wir uns dabei zunächst an der meist verwendeten Spanne orientiert: zwischen 70 und 150 % des Haushalts-Nettoäquivalenzeinkommens, das heißt zwischen 900 und 2000 EUR.Footnote 3 Beim kulturellen Kapital wird üblicherweise der Realschulabschluss als Untergrenze gesetzt. Da aber für jüngere Kohorten vielleicht schon das Abitur anzusetzen wäre, haben wir uns als Abgrenzungskriterium für letzteres entschieden. Daneben haben wir auch die berufliche Bildung in Rechnung gestellt und neben dem Abitur einen Meistertitel bzw. vergleichbare Abschlüsse als Abgrenzungskriterium verwendet.

Auf dieser Basis sollen dann weitere Sondierungen der Bedingungen investiver Statusarbeit erfolgen. Auf einer ersten Stufe der Sondierung soll soziostrukturell die Mittelschicht in ihrer ganzen Breite und bis an die Ränder ausgeleuchtet werden, um zu klären, welchen Unterschied verschiedene Kapitalausstattungen im Rahmen des Mittelschichten-Spektrums für die Bereitschaft und die Möglichkeit zur investiven Statusarbeit machen; die zweite Sondierungsstufe wendet sich den Unterschichten zu und prüft, unter welchen Bedingungen man dort investive Statusarbeit vorfindet und welche Erfolgschancen sie hat.

Bei den Sondierungen innerhalb der Mittelschichten (mit „2.“ markierte Zellen in Abb. 3.1) hat sich die im vorherigen Kapitel dargestellte, an Pierre Bourdieus (1979) Konzeptualisierungen orientierte Typenbildung angeboten, die ökonomisches Kapital und erworbenes kulturelles Kapital jeweils dichotom als groß oder gering einstuft (Weischer 2011, 275–286). Bei Personen mit geringem ökonomischem Kapital soll zusätzlich differenziert werden, wie sicher oder unsicher die Einkommensquelle ist. Die vergleichende Betrachtung von Fällen aus den verschiedenen Teilgruppen – als Extreme zum Beispiel eine Ärztin mit einer größeren Praxis (großes ökonomisches und kulturelles Kapital) im Vergleich zu einem Büroangestellten in einer prekären Wirtschaftsbranche (geringes ökonomisches und kulturelles Kapital sowie unsichere Einkommensquelle) – kann zum einen Varianzen investiver Statusarbeit sowohl hinsichtlich des Könnens als auch hinsichtlich des Wollens aufzeigen. Das betrifft insbesondere auch die Frage, ob es Kapitalzusammensetzungen innerhalb der Mittelschichten gibt, die für erfolgversprechende investive Statusarbeit eben nicht mehr ausreichen. Zum anderen kann man der Frage nachgehen, ob es Mittelschichtenangehörige gibt, die keine investive Statusarbeit betreiben, beispielsweise postmaterialistisch aufgewachsene Personen, deren beruflicher Ehrgeiz nur soweit reicht, hinreichend Geld für einen eher hedonistischen Lebensstil des Sich-Auslebens oder ein moralisch angetriebenes politisches oder weltanschauliches Engagement zu verdienen.

Die zweite Sondierungsstufe (in Abb. 3.1 mit „3.“ markierte Zellen) fragt, ob es in den Unterschichten Personen gibt, die investive Statusarbeit versuchen. Zu denken wäre etwa an Wirtschaftsmigrant*innen mit schlechter oder nicht anerkannter Qualifikation und wenig ökonomischem Kapital, aber dem Willen, es „zu schaffen“ – entweder selbst oder in der nächsten Generation: Bleibt für solche Fälle sozialer Aufstieg eine Illusion, oder unter welchen Bedingungen kann investive Statusarbeit erfolgreich sein (Hürtgen und Voswinkel 2014)? Welche weiteren Gruppen könnte es geben, die zumindest in Richtung investiver Statusarbeit streben? Darüber hinaus sollten auch solche Unterschichtenangehörige untersucht werden, die diesen Lebensführungsmodus vermutlich nicht aufweisen (zum Beispiel gering qualifizierte Personen in ökonomisch prekären Dienstleistungsberufen – siehe Staab 2014; Bahl 2014), um ihn gegen andere Modi weiter zu konturieren und so auch dem gelegentlich zu hörenden Einwand zu begegnen, dass doch heutzutage „jeder“ investive Statusarbeit betreibe.

Insgesamt zielt die Fallauswahl damit auf fünf Teilgruppen:

  1. 1.

    Personen, die nach einem sehr streng ausgelegten ökonomischen Kriterium (100–120 % des Haushalts-Nettoäquivalenzeinkommens) sowie hinsichtlich ihres Bildungsabschlusses eindeutig zum Kern der Mittelschichten gehören und bei denen wir vermuten, dass sie in ihrer Lebensführung dem Modell der investiven Statusarbeit folgen;

  2. 2.

    Personen, die nach einem weiteren ökonomischen Kriterium (70–150 % des mittleren Haushalts-Nettoäquivalenzeinkommens) zu den Mittelschichten gehören und vermutlich investive Statusarbeit betreiben;

  3. 3.

    Personen, die nach dem weiteren ökonomischen Kriterium zu den Mittelschichten gehören, vermutlich aber keine investive Statusarbeit betreiben;

  4. 4.

    Personen, die aufgrund ihres Einkommens (unter 70 % des mittleren Haushalts-Nettoäquivalenzeinkommens) und Bildungsabschlusses den Unterschichten angehören, aber möglicherweise investive Statusarbeit betreiben;

  5. 5.

    Personen aus den Unterschichten, von denen anzunehmen ist, dass sie keine investive Statusarbeit betreiben.

Um mögliche Unterschiede nach Geschlecht, Lebensform und Generation beziehungsweise Lebensalter zu berücksichtigen, sollen in allen fünf Gruppen jeweils Männer und Frauen, kinderlose Personen und solche mit Kindern (in unterschiedlichen Arten von Partnerschaft oder als Singles), Personen aus verschiedenen Generationen beziehungsweise in unterschiedlichen Phasen des Lebenslaufs (zwei Altersgruppen: 30 bis unter 45 Jahre und 45 bis 60 Jahre alt) sowie auch Personen mit Migrationshintergrund vertreten sein. Dabei geht es nicht darum, alle logischen Kombinationen dieser Merkmale für die fünf Teilgruppen abzubilden. Realisiert werden soll jedoch eine möglichst große Heterogenität hinsichtlich der möglichen Kombinationen.

Eine effiziente Auswahl von Untersuchungsfällen wird durch eine Kooperation mit dem GESIS – Leibniz Institut für Sozialwissenschaften ermöglicht. Aufgrund von im Allbus 2016 ermittelten Befragtenmerkmalen haben wir recht zielgenau Interviewpartner kontaktieren können, die unseren Auswahlkriterien hinsichtlich Einkommen (unter 70 %, zwischen 70 und 100 % sowie zwischen 100 und 150 % des mittleren Haushalts-Nettoäquivalenzeinkommens), Bildungsabschluss (ohne Abitur/mit Abitur), Geschlecht, Alter (25–44 Jahre, 45–65 Jahre) und Familienstand entsprechen. Nicht systematisch in den Samplingprozess einbezogen, aber dennoch berücksichtigt ist die Variabilität hinsichtlich des Kriteriums MigrationshintergrundFootnote 4,Footnote 5. Es handelt sich bei fast allen Fällen um berufstätige Personen – Ausnahmen sind drei pensionierte beziehungsweise verrentete Personen und eine Studierende.

Die Rekrutierung findet in zwei Wellen statt. In der ersten Welle werden 18 Personen interviewt. In dieser Welle konzentriert sich die Fallauswahl auf Personen, die theoretisch geleitet als ‚Kerngruppe‘ investiver Statusarbeit konzipiert werden: ältere Männer mit einem höheren Einkommen, sowohl mit als auch ohne Abitur. Als Kontrast werden außerdem Personen einbezogen, die – unabhängig von Alter und Geschlecht – trotz eines Abiturs nur über ein niedriges Einkommen verfügen. Anhand der im Interview erhobenen soziodemographischen Daten wird deutlich, dass die Interviewbereitschaft in den oberen Einkommensbereichen etwas höher ist als in den unteren: elf der Interviewten haben ein Einkommen über 100 % des mittleren Haushalts-Nettoäquivalenzeinkommens, sechs liegen unter 70 %, wobei etwa gleich viele Personen angefragt wurdenFootnote 6.

In der zweiten Welle werden 21 Interviews geführt. Auf Basis erster Ergebnisse werden die Auswahlkriterien in verschiedenen Hinsichten verändert: Die Altersuntergrenze wird von 25 auf 35 Jahre heraufgesetzt, um die Wahrscheinlichkeit zu erhöhen, dass die Interviewpartner*innen bereits über Erwerbserfahrungen verfügen und nicht etwa noch studieren. Außerdem werden höhere Einkommensgruppen einbezogen. Es werden nun auch Männer und Frauen in den Einkommensgruppen 150–200 und 200–250 % des mittleren Haushalts-Nettoäquivalenzeinkommens angefragt (in Abb. 3.1 mit „4.“ markierte Zellen). Dies entspricht nicht den zumeist verwendeten Definitionen der mittleren Mittelschicht, ist aber bereits ein erstes Ergebnis unserer Untersuchung. Investive Statusarbeit tritt heutzutage offenbar erst ab einem höheren Einkommensniveau häufiger und ausgeprägter auf. Aus Kontrastierungszwecken werden außerdem, wiederum zu gleichen Teilen, Jüngere und Ältere sowie Männer und Frauen kontaktiert, die nur über ein niedriges Einkommen verfügen und die Schule maximal mit einem Realschulabschluss beendet haben.

Insgesamt werden 40 Interviews mit 21 Männern und 19 Frauen geführt. Zwölf Interviewpartner*innen haben ein Studium abgeschlossen, eine Frau studiert noch. Vierzehn Interviewpartner*innen haben das Abitur oder einen Meistertitel erworben, zehn weitere Personen verfügen über eine abgeschlossene Berufsausbildung. Abb. 3.2 gibt einen Überblick über die Verteilung der Interviewpartner*innen auf die Einkommens- und Bildungsgruppen sowie nach Alter und Geschlecht. Bezüglich der Einkommensgruppierung muss allerdings betont werden, dass diese nur einen ungefähren Anhaltspunkt bieten kann, da über das Haushalts-Nettoäquivalenzeinkommen hinaus keine Vermögensverhältnisse abgefragt wurden.

Abb. 3.2
figure 2

(Quelle: Eigene Darstellung)

Soziostrukturelle Lagerung der Fälle.

3.3 Interviewdurchführung und Datenaufbereitung

Die meisten Interviews finden bei den Befragten zuhause statt, nur in Ausnahmefällen an anderen Orten (Arbeitsplatz, Café). Nach einer erzählgenerierenden Einstiegsfrage wird der erste Teil des Interviews durch immanente Nachfragen strukturiert. Der immanente Nachfrageteil verfolgt zwei Ziele: erstens den Ordnungsstrukturen und Relevanzen der Interviewten nachzugehen und zweitens detaillierte Informationen zu einzelnen Handlungssequenzen zu erhalten (Entscheidungssituationen, Konfliktsituationen etc.), die bezogen auf den Modus und die Praktiken der Lebensführung besonders aufschlussreich sein könnten. Leitend waren die Themenabfolge und -ordnung, die die Person selbst vorgibt. Im immanenten Teil ist es bezüglich der Fragetechnik das Wichtigste, der Themen-Relevanzen-Struktur zu folgen, wie sie die Interviewte in ihren Erzählungen wählt und wie sie durch Stichworte von dem oder der Interviewenden notiert wird. Dessen Notizen, die durchaus in der Sprache des oder der Interviewten gehalten sein können und bei denen es weniger um die Vollständigkeit der Themen als vielmehr um die richtige Reihenfolge geht, dienen als Gedächtnisstütze für den späteren immanenten Nachfrageteil.

Die erste autonom gestaltete Haupterzählung alleine bringt das Relevanzsystem der Befragten nicht immer deutlich zu Tage (Hollstein 2019). Manchmal sind diese ersten Erzählungen noch stärker an der sozialen Erwünschtheit und den sozialen Deutungsmustern und Normen orientiert – an einer konsistenten Geschichte mit möglicherweise Entwicklungs- und Erfolgscharakter oder daran, zu dokumentieren, dass man das eigene Leben ‚im Griff hat‘. Dies muss nicht der Fall sein, kann aber in Situationen häufiger auftreten, in welchen die Interviewten davon ausgehen, dass eine Erfolgsgeschichte erwartet wird. Aus diesem Grund ist der immanente Nachfrageteil, in dem eine eventuelle Orientierung an sozialer Erwünschtheit überwunden werden kann, für unser Forschungsinteresse besonders wichtig.

Im immanenten Nachfrageteil werden, der Reihenfolge der Ersterzählung folgend, Themen angesprochen, die von den Interviewten im Hauptteil bereits erwähnt wurden. Das neuerliche erzählgenerierende Auffächern dieser Themen fördert dann sehr oft noch weitere, bisher nicht oder nur oberflächlich erwähnte Themen zu Tage, die im Idealfall zentrale Forschungsthemen behandeln, sich aber zugleich in das thematische Feld (Relevanzsystem) des oder der Interviewten einfügen. Damit wird deutlich, welche Lebensbereiche wie sinnhaft miteinander verknüpft werden – etwa der Verzicht auf einen beruflichen Aufstieg zugunsten der Pflege eines Elternteils.

Im Anschluss werden im exmanenten Frageteil Themen aufgegriffen, die bis dahin ausgespart wurden. Hier fragen wir insbesondere nach den Lebensbereichen, die für unsere Forschungsfrage wichtig sind, aber unter Umständen nicht angeschnitten worden waren (Beruf, Partnerschaft, Elternschaft, Freizeitverhalten, Vermögensbildung, gesellschaftliche Partizipation). Auch hier werden zu den einzelnen Themenbereichen zunächst erzählgenerierende Fragen gestellt, sodass die Befragten Gelegenheit haben, sie in die anderen Bereiche ‚rückzubetten‘. Im Normalfall müssen diese Fragen nur zu einem kleinen Teil gefragt werden, da die meisten Themen schon im immanenten Teil abgedeckt worden waren.Footnote 8 Die vorformulierten Fragen im Leitfaden sind also optional und stellen gewissermaßen eine Rückfalloption dar. Sie werden erst dann zu denjenigen Bereichen gestellt, die zwar angeschnitten, aber nicht in unserem Sinne erschöpfend behandelt wurden. Abschließend werden die Interviewpartner gebeten, ein Datenblatt mit soziodemographischen Eckdaten auszufüllen.

Nach der Durchführung der Interviews werden von den Interviewern detaillierte Beobachtungsprotokolle zur Interviewsituation und ihrer räumlichen und zeitlichen Umgebung angefertigt. Die Interviews werden als Audiodateien aufgezeichnet und vollständig transkribiert. Im Anschluss an die Transkriptionen werden kurze Fall- und Interviewzusammenfassungen und chronologische Lebensläufe sowie thematische Gliederungen der Interviews („formulierende Interpretation“: Bohnsack 1989; Nohl 2006) verfasst.

3.4 Auswertung und Typenbildung

Die von Bohnsack (1989) im Anschluss an Karl Mannheim entwickelte dokumentarische Methode zielt auf die Rekonstruktion von handlungsleitenden Orientierungen und impliziten, latenten Wissensbeständen.Footnote 9 Ähnlich wie andere rekonstruktive Verfahren impliziert das Verfahren der dokumentarischen Methode einen Wechsel der analytischen Haltung weg von der Frage, ‚was‘ ein Akteur genau getan hat hin zu der Frage, ‚wie‘ er oder sie etwas getan hat, das heißt weg von der immanenten oder wörtlichen Bedeutung hin zur sogenannten dokumentarischen Bedeutung: „It is the change from the question what social reality is in the perspective of actors, to the question how this reality is produced or accomplished in these actors’ everyday practice.“ (Bohnsack 2010, 102) Mit Praktiken sind hierbei Handlungen und Äußerungen jeglicher Art gemeint, also insbesondere auch Sprechhandlungen.

Bei den Fallanalysen folgen wir in weiten Teilen der von Nohl (2006) für die Auswertung von narrativen Interviews entwickelten Variante der dokumentarischen Methode, bei der – ähnlich der Schütze’schen Narrationsanalyse – zwischen verschiedenen kommunikativen Schemata und Textarten unterschieden wird. Die „formulierenden Interpretationen“, bei denen zunächst die Inhalte des Interviews zusammengefasst und wichtige Themen identifiziert werden, werden von einem, höchstens zwei Mitarbeiter*innen angefertigt und im Anschluss zur Diskussion gestellt. Diese Diskussion und die Rekonstruktion der Orientierungsrahmen („reflektierende Interpretationen“), bei denen es darum geht, Kontinuitäten und homologe Strukturiertheit über verschiedene Handlungsketten oder narrative Sequenzen entsprechender Handlungen hinweg zu identifizieren, finden in der Regel in Teams statt.

Im Zentrum der gemeinsamen Auswertungssitzungen stehen zumeist der Beginn des lebensgeschichtlichen Teils sowie die Passagen, die den Berufseinstieg der Personen umfassen, da sich diese als besonders fruchtbar erwiesen haben, außerdem besonders detaillierte und engagierte Passagen („Fokussierungsmetaphern“), da diese die Zentren des Erlebens der Befragten dokumentieren und damit gegebenenfalls auch Kontrapunkte zu der auf die Berufsbiographie fokussierten Auswertung setzen helfen.

Der Fokus auf der Rekonstruktion berufsbiographischer OrientierungenFootnote 10 ergibt sich aus unserem theoretischen Modell der investiven Statusarbeit. Da für diese Lebensführung der Beruf die zentrale Arena der Investition ökonomischen und kulturellen Kapitals ist, würde in der Orientierung auf den Beruf, so unsere Vermutung, die investive Statusarbeit als Modus der Lebensführung am ehesten und deutlichsten zum Ausdruck kommen. Dabei geht es explizit um die Bedeutung der beruflichen Tätigkeit, die Bedeutung der Erwerbstätigkeit im Sinne des bloßen Geldverdienens wäre nicht spezifisch genug.

Abschließend noch eine Klarstellung zum Status unseres theoretischen Modells bei der Typenbildung: Der Idealtypus der investiven Statusarbeit dient nicht dazu, die Fälle daraufhin zu überprüfen, ob sie ‚in diese Schublade passen‘. Das theoretische Modell kann man sich eher als zugespitzten Extremfall (das heißt einen Idealtypus im Sinne Max Webers) vorstellen, dessen einzelne Elemente als Vergleichsfolie für die Analyse der Einzelfälle dienen.Footnote 11 Ob und wie sich die Einzelfälle zu diesem Idealtypus verhalten, ist eine offene Frage. Und wie sich zeigt, gibt es in den Mittelschichten offenbar noch ganz andere Orientierungen und Modi der Lebensführung. Eine weitere offene Frage ist neben der Art der berufsbiographischen Orientierung auch die Frage nach der Vermittlung und sinnhaften Verknüpfung der verschiedenen Lebensbereiche. Gerade inwieweit sich die Berufsbiographie von anderen Lebensbereichen überhaupt abgrenzen lässt und welchen Stellenwert sie im gesamten Lebenszusammenhang hat, stellt sich am Ende als eine wichtige Dimension der Typenbildung heraus.

Dabei zielt unsere Auswertungsstrategie im Unterschied zur dokumentarischen Methode nicht auf „Typiken“, die ‚quer‘ zu den Fällen liegen (wie Geschlechts-, Generations- oder Milieutypiken; Bohnsack 1989), sondern auf solche Typen, die Abstraktionen der Sinnbezüge von Einzelfällen repräsentieren (Giegel et al. 1988). Die sich in der Entfaltung der Lebensführung dokumentierende Orientierung als der modus operandi der Lebensbewältigung wird damit nicht nur über verschiedene Praktiken innerhalb einer Biographie, sondern auch über verschiedene Biographien hinweg als Strukturhomologie des Erlebens und damit als überindividueller Typ rekonstruiert.