In Kap. 1 wurde unsere zentrale Untersuchungsfrage formuliert. Wir wollen erstens herausfinden, ob es investive Statusarbeit als Modus der Lebensführung gibt – und zweitens, unter welchen Bedingungen sie stattfindet. Erstere Fragerichtung zielt auf eine gehaltvolle Beschreibung des Phänomens, letztere auf dessen Erklärung. Ein theoretischer Bezugsrahmen zur empirischen Untersuchung beider Fragerichtungen muss als Vorfrage zunächst klären, was Lebensführung beinhaltet – im Unterschied dazu, sein Leben einfach irgendwie „laufen zu lassen“ (Abschn. 2.1). Sodann ist im Hauptteil dieses Kapitels der hier interessierende Modus der Lebensführung zu explizieren: Was heißt investive Statusarbeit im Einzelnen? Welche Komponenten wirken zusammen, um diesen Modus hervorzubringen, unter welchen Voraussetzungen ist dies möglich, und in welchen Praktiken manifestiert er sich (Abschn. 2.2)?

Entlang dieser Fragen wird ein theoretisches Konstrukt investiver Statusarbeit konzipiert. Sein epistemologischer Status ist der einer komplexen Leithypothese. Wir erwarten, die dem Konstrukt zugeordneten Komponenten und daraus hervorgehenden Praktiken im Zusammenhang miteinander empirisch vorzufinden – und zwar vor allem, wie ebenfalls in Kap. 1 angedeutet, für Angehörige der Mittelschichten. Mittelschichtzugehörigkeit ist also die zentrale unabhängige Variable, investive Statusarbeit als gestalthaftes Zusammenwirken von Komponenten – nicht bloß als deren additive Liste – die abhängige Variable. Der hypothetische Charakter dieses theoretischen Konstrukts bedeutet, dass es sich in mehreren Hinsichten als mehr oder weniger unrichtig erweisen kann; dennoch ist es als Suchscheinwerfer äußerst hilfreich (Abschn. 2.3).

2.1 Lebensführung

Lebensführung war und ist ein Dauerthema der Soziologie gewesen, allerdings zumeist mit einem kaum elaborierten Verständnis dieses Begriffs. Seitdem die Klassiker des 19. Jahrhunderts sich mit den Auswirkungen der industriellen Revolution oder der Verstädterung auf die Lebensführung der Menschen beschäftigt haben, sind bis heute zahllose soziologische Untersuchungen und Zeitdiagnosen erschienen, die immer wieder dieser Fragerichtung nachgegangen sind: Wie wirken sich bestimmte Veränderungen gesellschaftlicher Makrostrukturen als unabhängige Variablen – der neueste Schrei: Digitalisierung und „neue Medien“ – auf die Mikrologik je individueller Lebensführung als abhängige Variable aus? Ein generelles soziologisches Konzept von Lebensführung sucht man allerdings vergeblich. Entweder wird ein offenbar als nicht explikationsbedürftig angesehenes vages Alltagsverständnis zugrunde gelegt, oder man spezifiziert auf die jeweilige Untersuchungsfrage maßgeschneiderte Lebensführungsaspekte wie zum Beispiel Work-Life Balance oder Digital Native.

Auf den ersten Blick etwas prominenter wird Lebensführung als soziologischer Begriff bei Max Weber (1905) ausgeflaggt. Er stellt eine Verbindung her zwischen einem bestimmten religiösen Glauben – der Prädestinationslehre einiger protestantischer Sekten – und einer bestimmten Art der Lebensführung, die dann wiederum als unabhängige Variable zur Mit-Erklärung einer gesellschaftlichen Makrodynamik, nämlich der Entstehung des modernen Kapitalismus, herangezogen wird. Weber zergliedert dabei Lebensführung nicht in isoliert betrachtete Einzelaktivitäten in den verschiedenen Lebensbereichen, sondern arbeitet das Gestalthafte der „protestantischen Ethik“ als in sich stimmiges Muster in allem, was die Person in den verschiedenen Lebensbereichen tut, heraus. Und dennoch findet man auch bei Weber kein expliziertes Konzept von Lebensführung. Er verlässt sich auf ein – in seinem Falle: bildungsbürgerlich geprägtes – Alltagsverständnis. Insbesondere von Hans-Peter Müller angestoßene aktuelle Bemühungen, in Anknüpfung an Weber Lebensführung als explizites Schlüsselkonzept soziologischer Gesellschaftsforschung zu etablieren (Müller 2014; Alleweldt et al. 2016; Röcke et al. 2019), können bei Weber zwar Argumente dafür finden, dass der Blick auf Lebensführung zentral für das Verständnis von gesellschaftlichem Geschehen ist – in der Frage hingegen, mit welchen analytischen Kategorien Lebensführung systematisch zu begreifen ist, lässt uns Weber mit leeren Händen stehen.

In der neueren soziologischen Forschung ist Lebensführung als Konzept stillschweigend durch drei andere – Lebenschancen, Lebensstil und Lebenslauf – verdrängt sowie viertens auf „alltägliche Lebensführung“ verengt worden:

  • Insbesondere ungleichheitstheoretisch angeleitete Forschungen haben den Begriff der Lebenschancen herangezogen, um soziostrukturelle und kulturelle Bedingungen von Lebensführung in ihrer Unterschiedlichkeit zu konturieren (z. B. Geißler 1994). Dabei wurde freilich Ralf Dahrendorfs (1979) Verständnis von Lebenschancen als Kombination von Optionen – Ressourcen und Anrechten – und Ligaturen, also sinnstiftenden Bindungen der Person an Werte und Gemeinschaften, zumeist auf die Optionsseite verkürzt (Schimank 2004, 44–49). Zudem interessieren sich die allermeisten Studien nicht für eine ganzheitliche Betrachtung der Lebenschancen einer Person, sondern greifen sich zum Beispiel Bildungschancen oder Lebenserwartung oder Risiken, kriminell zu werden, heraus; und selbst die wenigen übergreifenden Betrachtungen (etwa Mau 2012 für die Mittelschichten) sind bloße Auflistungen oder Korrelationen, die die zugrundeliegende Logik der Lebensführung nicht rekonstruieren (siehe dafür Groh-Samberg et al. 2014; Schimank et al. 2014).

  • Die von Pierre Bourdieus (1979) Analysen angeregten Untersuchungen zu „Lebensstilen“ (Rössel und Otte 2011) und den ihnen zugrundeliegenden „Milieus“ (Vester et al. 2001; Bennett et al. 2009) sind demgegenüber deutlich ganzheitlicher angelegt und zeichnen detaillierte und lebendige Porträts etwa des „konservativ-technokratischen Milieus“ oder des „traditionellen Arbeitermilieus“. Doch gerade der, wenn auch stark auf Konsum- und Freizeitaktivitäten fokussierte, deskriptive Reichtum der Studien – von kulinarischen Vorlieben bis zu präferierten Sportarten – versperrt die Sicht auf die zugrundeliegende Logik der Lebensführung. Zudem wird oft dem performativen Aspekt der Lebensführung zu viel Aufmerksamkeit gewidmet: Mit welchen Praktiken und unter Zuhilfenahme welcher Bühnen und Artefakte demonstriert jemand, dass er einen bestimmten Lebensstil pflegt? Das gehört natürlich zur Lebensführung, ist aber nicht ihr Movens.

  • Die Lebenslaufforschung ging u. a. aus der Ungleichheitsforschung hervor, begann aber schnell, weitere Determinanten des Lebensverlaufs in den Blick zu nehmen (Heinz et al. 2009a; Bernardi et al. 2019; Huinink und Hollstein 2021) – insbesondere institutionalisierte Standardisierungen und Pfadabhängigkeiten in Richtung einer „Normalbiographie“ (Kohli 1985) sowie gegenläufige Tendenzen einer Individualisierung. Auch wenn die „multi-dimensionality of the life course“ (Heinz et al. 2009b, 16; Bernardi et al. 2019) – nicht nur die Berufskarriere, auch das Familienleben, zivilgesellschaftliches Engagement oder Freizeitaktivitäten – Berücksichtigung findet, steht letztlich die diachrone Dimension des Lebensverlaufs im Vordergrund. Weiterhin gilt auch hier, dass in empirischen Studien zumeist ein Ausschnitt des Lebenslaufs – überwiegend die Bildungs- und Berufskarriere – fokussiert wird; und wenn der Lebenslauf insgesamt untersucht wird, läuft das, von wenigen Ausnahmen in jüngerer Zeit (wie etwa Aisenbrey und Fasang 2017) abgesehen, in vielen Fällen auf ein bloß additives Nebeneinander der verschiedenen Lebensbereiche hinaus. Der unterliegende Generalschlüssel zur Lebensführung gerät so nicht in den Blick (vgl. Settersten und Gannon 2005).

  • Dieselben Beschränkungen gelten auch für viele Studien der soziologischen Biographieforschung (Hörning 2000; Fuchs-Heinritz 2005). Sie interessieren sich oft für biographische Wendepunkte wie Arbeitslosigkeit oder Drogenabhängigkeit oder die „Wende“ in der ehemaligen DDR; und sie konzentrieren sich auf die subjektive Erfahrung des so geprägten Lebenslaufs (Weidenhaus 2015). Studien, die die sinnhafte Verknüpfung verschiedener Lebensbereiche in den Blick nehmen, bilden nach wie vor eher die Ausnahme (etwa Giegel et al. 1988; Brose et al. 1993; Hürtgen und Voswinkel 2014).

  • Das Forschungsprogramm der „alltäglichen Lebensführung“ schließlich (Projektgruppe Alltägliche Lebensführung 1995; Kudera und Voß 2000; Voß und Weihrich 2001; Jurczyk et al. 2016a, b) optiert dezidiert für „Synchronität statt Diachronität“ (Voß 1991, 201/202). Diese Perspektive beschäftigt sich also vorrangig damit, wie Akteure tagtäglich ihre verschiedenen Sphären der Lebensführung durch beständige Abstimmungsleistungen „unter einen Hut“ bekommen – etwa als Work-Life Balance. Das ist die komplementäre Engführung zur Bevorzugung der diachronen vor der synchronen Dimension in der Lebenslaufforschung. Eine vielversprechende, aber nicht weiter verfolgte Verbindung beider Dimensionen stellt die „Paneluntersuchung der alltäglichen Lebensführung im ostdeutschen Transformationsprozeß“ von Margit Weihrich (1998) dar.Footnote 1

Ein weiteres Forschungsfeld, in dem Lebensführung als Begriff kaum in den Mund genommen wird, wo aber de facto gesellschaftlich verbreitete Blaupausen der ‚richtigen‘ Lebensführung untersucht werden, sind jene Teile der Kultursoziologie, die „Subjektkulturen“ (Reckwitz 2006) – in einer älteren Terminologie: „Sozialcharaktere“ – betrachten. Von Siegfried Kracauers (1930) Beobachtungen der Angestellten in der Weimarer Republik über die von David Riesman et al. (1950) porträtierte „Lonely Crowd“ der 1950er US-amerikanischen Gesellschaft oder Christopher Laschs (1979) zwanzig Jahre späteren Diagnose der „Culture of Narcissism“ reihen sich zeitdiagnostisch angelegte Studien. Andreas Reckwitz (2006, 2008, 2012, 2017) rekonstruiert in deutlich systematischerer Absicht für die westliche Moderne drei nacheinander hegemoniale „Subjektkulturen“: das bürgerliche Subjekt des 19. Jahrhunderts, das „Angestelltensubjekt“ der „organisierten Moderne“ bis Mitte der 1970er Jahre sowie das seitdem den Ton angebende „ästhetisch-ökonomische Doppelsubjekt“, das ein spannungsreiches Gegeneinander von einerseits Ökonomisierungsdruck, andererseits ästhetisch-kreativen Anforderungen wie Selbstansprüchen darstellt. Dies sind anregende Hinweise auf mögliche Charakteristika bestimmter Modi der Lebensführung; und die bei den anderen angesprochenen Herangehensweisen vermisste gestalthafte Erfassung von Lebensführung ist hier zentrales Anliegen. Die fast durchgängige Beschränkung solcher kultursoziologischen Studien besteht freilich darin, dass sie sich mit der Rekonstruktion von Diskursen begnügen, ohne zu prüfen, inwieweit und in welcher Form diskursive Subjektivitätsappelle sich auch in spezifischen Praktiken der Lebensführung niederschlagen (Schimank 2005b). Hier ist von erheblichen Diskrepanzen und Brüchen auszugehen.

Eine weitere Schlagseite der geschilderten Herangehensweisen an Lebensführung – mit Ausnahme der Biographieforschung und der Betrachtung „alltäglicher Lebensführung“ – besteht darin, ein Bild von „Structure without Agency“ (Settersten und Gannon 2005) zu zeichnen. Wie gerade für die angeführten kultursoziologischen Studien angesprochen, wird schnell eine „Cultural Depth“ (Lizardo 2015, 112–115) unterstellt, also ein tief im Subjekt verankerter Kulturdeterminismus – oder verallgemeinert: eine einseitige Prägekraft der jeweils betrachteten gesellschaftlichen Makrostrukturen auf die Mikromodi der je individuellen Lebensführung. Demgegenüber hat die Lebenslaufforschung inzwischen eine Vorstellung von „Agency within Structure“ konzipiert, derzufolge „[…] individuals set goals, take action, and create meanings within – and often despite – the parameters of social settings, and […] may change those parameters through their own actions.“ (Settersten und Gannon 2005, 456/457)Footnote 2 Diese Balance zwischen vielfältigen strukturellen Prägungen der Lebenssituation und Lebenschancen auf der einen und personaler Autonomie – einschließlich, wenn auch meist begrenzter, Möglichkeiten der Mitgestaltung der Strukturen – auf der anderen Seite wird noch deutlicher artikuliert, wenn das eigene Leben als etwas bezeichnet wird, das von Einem „geführt“ wird, was ja „Führungs“-Aktivitäten erfordert, anstatt das man ihm einfach seinen ‚Lauf‘ lässt.

Vor dem Hintergrund des so umrissenen Forschungsstands lässt sich nun ein soziologisches Konzept von Lebensführung entwerfen, das die identifizierten Schwächen der angesprochenen Perspektiven vermeidet. An das gerade Gesagte anknüpfend ist der minimalanthropologische Ausgangspunkt die Feststellung, dass die eine Seite menschlicher „Weltoffenheit“ (Scheler 1928) darin besteht, selbstgesetzte Ziele verfolgen zu können.Footnote 3 Diese Ziele reichen von sehr kleinteiligen und kurzfristigen Vorhaben wie heute Abend nicht zu arbeiten, sondern ins Kino zu gehen, bis zu Lebenszielen wie dem, eine erfolgreiche Karriere als Handwerksmeister zu machen, der seiner Tochter den Betrieb dereinst mit doppelt so hohem Jahresumsatz übergibt, als er ihn von seinem Vater übernommen hat. Nicht alle Ziele des Handelns sind selbstgesetzt. Viele spiegeln etwa Rollenerwartungen oder Identitätszumutungen wider; und sie werden auch dadurch noch nicht zu selbstgesetzten Zielen, dass sie internalisiert werden, also keine bloße Konformität mit Außenerwartungen mehr darstellen. Umgekehrt bedeutet selbstgesetzt nicht, dass die Ziele nicht auf vielerlei soziale Einflüsse zurückgehen – von Sozialisation über das Meinungsklima in sozialen Milieus bis hin zu Werbung und ideologischer Indoktrination. Doch gerade die Einflussvielfalt, der Menschen in der Moderne ausgesetzt sind, sorgt für „Cross Pressures“,Footnote 4 woraus sich mehr oder weniger große Freiheitsgrade der Abweichung von Einflüssen ergeben. Selbstgesetzt heißt also, dass Ziele nicht einfach mit äußeren Einflüssen konform gehen.

In der Verfolgung solcher selbstgesetzten Ziele manifestiert sich menschliche Lebensführung im Unterschied zur Lebensweise von Tieren, die weit stärker insbesondere durch Instinkte und Reflexe vorprogrammiert abläuft und nur in diesem engen Rahmen vergleichsweise einfaches Erfahrungslernen vorsehen kann. Lebensführung bedeutet den sowohl an Einen herangetragenen als auch selbst gesetzten Anspruch, das eigene Leben nicht „laufen zu lassen“ und fatalistisch als Widerfahrnis zu erdulden, sondern – bei aller Hinnahme oftmals sehr wirkmächtiger äußerer Kräfte – zu navigieren, also Segel so oder anders zu setzen und das Ruder in diese oder jene Richtung zu drehen.Footnote 5

Solche Ziele der Lebensführung gehen, mit fließenden Übergängen, aus Interessen auf der einen, Identitätsansprüchen auf der anderen Seite hervor. Interessen werden situativ angestoßen und können damit auch häufiger wechseln, zumindest was die relative Priorität anbetrifft; sie können sehr vielfältig und dabei auch mehr oder weniger inkompatibel sein. Heute will ich vor allem mein Bachelorstudium bis zum Herbst mit einem möglichst guten Zeugnis abschließen, um mich für ein sehr selektives Master-Programm zu qualifizieren; parallel will ich die Beziehung zu meiner neuen Freundin vertiefen und in vier Wochen mit drei Freunden gemeinsam beim Stadtmarathon mitlaufen, wobei ich realisieren muss, dass diese drei Vorhaben mindestens zeitlich stark miteinander konkurrieren. Vor zwölf Monaten sah alles noch ganz anders aus: Da ging es mir darum, jede Nacht Party zu feiern, mich tagsüber bei der Betreuung von Flüchtlingen zu engagieren und für das Studium nur das Nötigste zu tun.

Hinter solchen Interessen können sich bereits mehr oder weniger deutlich Identitätsansprüche zeigen. Doch diese evaluativen und normativen Selbstansprüche dazu, wer man sein will, haben eine längere Haltbarkeitsdauer und sind, bei aller Pluralität, stärker untereinander „ausverhandelt“ als die je gegebenen Interessenbündel einer Person (Schimank 2000, 121–143). Identität besteht im Streben nach einem möglichst kohärenten und dauerhaften Selbst – auch in der Moderne, die mit ihrer funktionalen Differenzierung und kulturellen Pluralisierung den Individuen ein „Plural Self“ (Rowan und Cooper 1999) und ein „Mutable Self“ (Zurcher 1981) auferlegt. Kohärenz und Dauerhaftigkeit von Identität wird als Selbstsimplifikation erzielt (Luhmann und Schorr 1982), die vieles, was ich unleugbar auch „bin“, als quasi „irrelevant“ beiseiteschiebt und nur weniges zum Ausweis meines „wahren“ Ichs erhebt. Diese Auswahl ist natürlich kein völliges Wünsch-dir-was, sondern unterliegt durchaus prüfenden kognitiven Selbsteinschätzungen. Genau deshalb können bestimmte Widerfahrnisse oder eigene Taten als Identitätsbedrohungen erlebt werden, mit denen man sich auseinandersetzen muss: „Bin ich jetzt noch die, die ich sein will – und was muss ich tun, um es wieder zu werden?“ Als eine solche Selbstsimplifikation ist die Identität einer Person also das Steuerungszentrum von deren Lebensführung (Parsons 1968), das nicht zuletzt Interessen kommentiert und unterstreicht oder zurückweist.

Wenn damit die Zieldimension von Lebensführung als Zwei-Ebenen-Struktur von Identität und Interessen konzeptualisiert wird, kann man sich nun dem zuwenden, was bei der Verfolgung solcher Ziele geschieht. Hier sind zwei weitere Dimensionen anzusprechen:

  • Lebensführung hat zum einen eine synchrone, zum anderen eine diachrone Seite (Voß 1991, 99–113).

  • Lebensführung vollzieht sich zum einen im Modus der Routine, zum anderen in dem des Entscheidens (1991, 265–268).

In der ersten Dimension muss jemand das eigene Involviert-sein in verschiedene Lebensbereiche hinkriegen und zugleich anderen und sich selbst in einem das gesamte Leben übergreifenden, stimmigen Narrativ präsentieren können. Die synchrone Abstimmung wird im Forschungsprogramm der „alltäglichen Lebensführung“ betrachtet. Dabei geht es nur oberflächlich um konfligierende Zeitansprüche und manchmal schwierige Synchronisationserfordernisse. Beidem zugrunde liegen vielmehr einander widerstreitende sachliche und soziale Erwartungen. Obwohl die funktionale Differenzierung der modernen Gesellschaft eine „legitime Indifferenz“ (Tyrell 1978, 173/174, Hervorhebung weggelassen) der einen Rolle gegenüber den Erwartungen der anderen Rolle etabliert, sind die Rollenträger oft genug hin- und hergerissen. Sie befolgen schließlich in Personalunion mal die an die eine Rolle gerichteten, mal die an die andere Rolle gerichteten gegensätzlichen Erwartungen.

Parallel dazu muss jemand auch seine diachrone Lebensgeschichte als eine in sich „runde“, über die Zeit „gereifte“ Identität konstruieren, die auch durch die synchrone Abstimmung von Ansprüchen nicht dementiert wird. Im Gegenteil muss die Lebensgeschichte aus den tagtäglichen Identitätsdarstellungen der Person hervorgehen, so wie umgekehrt die Identitätsansprüche die alltägliche Lebensführung prägen. Die Identitätsdarstellung geschieht in beständiger Auseinandersetzung mit Bezugspersonen und -gruppen, die bestätigend oder nicht-bestätigend reagieren können (Laing 1961). Wenn Letzteres der Fall ist und auch durch weitere Anstrengungen der Identitätsdarstellung nicht repariert werden kann, resultiert entweder eine „Spoiled Identity“ (Goffman 1963) oder ein Identitätszerfall. In diachroner Hinsicht stellt sich Lebensführung also als kontinuierliche Identitätsarbeit dar – oft implizit, aber immer wieder auch als sehr explizites Pochen auf Identitätsansprüchen, um manifeste Identitätsbedrohungen zurückzuweisen. Als institutionalisierte Orientierungsmarken dieses Verfertigens einer Lebensgeschichte dienen vor allem solche Statuspassagen, die als Bestandteile einer „Normalbiographie“ (Kohli 1985) Lebensphasen ein- und ausleiten – also etwa Schullaufbahn, Ausbildung oder Studium, Berufseinmündung, Partner- und Elternschaft, Berufsweg und Rentenalter.

Oft meint man auf den ersten Blick, dass synchrone und diachrone Praktiken der Lebensführung dergestalt mit der zweiten Dimension verknüpft sind, dass Erstere routine- und Letztere entscheidungsförmig aussehen. Man stellt sich dann die Lebensführung als längere Phasen einer unspektakulären, gut organisierten Exekution eingespielter Routinen vor, die unregelmäßig von Ereignissen unterbrochen werden, die weitreichende Entscheidungen, vor allem in Gestalt von Umentscheidungen, erfordern. Eine solche Sicht der Dinge übersieht, dass auch die synchrone Abstimmung Entscheidungen abverlangt, wenn Routinen versagen oder nicht greifen, und dass die diachrone Verfertigung einer Lebensgeschichte auf vielerlei Routinen – insbesondere Standard-Skripts bestimmter Lebensereignisse – zurückgreifen kann, was aufwendiges Entscheiden erspart. Tatsächlich gibt es somit alle vier Arten von Praktiken der Lebensführung: alltägliche Routinen und alltägliches Entscheiden ebenso wie biographische Routinen und biographisches Entscheiden.

Dabei überwiegen bei weitem Routinen – also klare Wenn-dann-Regeln, was unter welchen Bedingungen zu geschehen hat (Luhmann 1964). Es gibt individuelle und kollektive Routinen; und Routinen unterscheiden sich im Grad ihrer Rigidität. Rituale, die minutiös vorschreiben, was wie zu geschehen hat, sind das eine Extrem; Routinen mit erheblichen Ermessensspielräumen stellen die andere Seite des Spektrums dar. Manche Alltagsroutinen kommen Ritualen nahe, während biographische Routinen eher Ermessensspielräume vorsehen. Aber die Lebenslaufforschung zeigt, dass viele Standardisierungen des Lebenslaufs vorstrukturierte Trajektorien darstellen, die kaum Spielräume lassen (Kohli 1985; Levy 1996; Krüger 2009). Der Standardisierungsgrad variiert allerdings nicht nur im Zeitverlauf, sondern auch zwischen verschiedenen sozialen Lagen, wie die Forschungen zur Individualisierung aufzeigen (Beck 1983, 1986; Beck und Beck-Gernsheim 1994; Berger und Hitzler 2010). Dennoch bleiben Routinen allein schon deshalb wichtig, weil ohne sie Personen durch Entscheidungszumutungen überfordert wären.

Entscheiden wägt Alternativen ab – im Unterschied zu Alternativen ausblendenden Routinen (Schimank 2005a, 41–52). Dabei bleibt die schließlich gewählte Alternative auch weiterhin im Horizont der nicht gewählten stehen und kann immer wieder daraufhin befragt werden, ob nicht doch etwas Anderes besser gewesen wäre. Entscheiden ist damit nicht nur aufwendiger, sondern auch quälender – insbesondere, wenn es diachron um weitreichende „Life Plans“ (Little 2018) und nicht nur um die synchrone Frage geht, ob ich heute mit den Kindern ins Freibad gehe, anstatt einen überfälligen Aufsatz weiter zu schreiben. Doch auch letztere Art von Frage kann, wenn sie sich wieder und wieder stellt, zu einem Kernthema der Lebensführung werden. Hinzu kommt Ulrich Becks (1986) und Peter Gross’ (1994) Hinweis darauf, dass wir heutzutage in einer individualisierten, also dem Einzelnen Entscheidungen abverlangenden „Multioptionsgesellschaft“ leben. Immer mehr Aspekte der Lebensführung sind entscheidbar geworden, und zugleich ist die Anzahl der zu bedenkenden Alternativen und Kriterien gestiegen.

Damit haben wir die folgenden drei analytischen Beschreibungsdimensionen von Lebensführung identifiziert: Interessen und Identitätsansprüche als ineinander verschachtelte Ziele der Lebensführung; Routinen und Entscheiden als komplementäre Modi der Lebensführung; und die Abstimmung von Lebensbereichen sowie das Verfertigen einer Lebensgeschichte als Konstruieren einer gestalthaften Einheit der Lebensführung. Im nächsten Schritt ist zu fragen: Was sind die Erklärungsfaktoren dafür, dass Lebensführungen in diesen Dimensionen variieren?

Hier kann man zur analytischen Bündelung das Konzept der Lebenschancen heranziehen, mit seinen beiden Dimensionen der Optionen und der Ligaturen. Sowohl die Optionen, die einer Person in Gestalt von Ressourcen – Geld, Bildungszertifikate u. ä. – und Anrechten wie etwa „Gender Mainstreaming“ oder Wahlrecht zur Verfügung stehen, als auch ihre Ligaturen, also sinnstiftende Bindungen an Werte, Gemeinschaften und andere Individuen, bilden die Chancen und Grenzen dessen, was an Lebensführung möglich ist. Dabei ist die von Dahrendorf (1979) betonte multiplikative Verknüpfung beider Komponenten wichtig: Bei null Optionen können die Ligaturen einer Person unendlich groß sein, die Lebenschancen bleiben null – und umgekehrt.

Optionen und Ligaturen dienen als unmittelbare unabhängige Variablen zur Erklärung von Lebensführung und bündeln dabei jeweils vielerlei weitere Determinanten. So kann man im nächsten Schritt etwa die je persönliche soziale Lage auf der einen Seite und den größeren gesellschaftlichen Kontext auf der anderen Seite, jeweils mit Blick auf Optionen und Ligaturen, unterscheiden. Zur persönlichen sozialen Lage zählen u. a. die soziale Herkunft, Geschlecht und Lebensalter, Kohorte und ethnische Zugehörigkeit als zugeschriebene Lagemerkmale, Bildungszertifikate, berufliche Stellung, Einkommen, Familienstand, soziale Netzwerke, Religion, Weltanschauung als erworbene Lagemerkmale. Die so näher charakterisierbare persönliche Lage ist eingebettet in einen größeren gesellschaftlichen Kontext, in dem im Einzelnen sehr vielfältige Strukturen und Geschehnisse für jemandes Lage und Lebensführung bedeutsam sein können. Von unmittelbarer Bedeutsamkeit für die Allermeisten sind vor allem drei in polit-ökonomischer Perspektive herausgestellte institutionelle Komplexe: die jeweilige „Variety of Capitalism“ (Hall und Soskice 2001), das Wohlfahrtsstaatsregime (Esping-Anderson 1990; Mayer 2004; Schröder 2013; Manow et al. 2018) sowie das Parteien- und Wahlsystem (Iversen 2006; Iversen und Soskice 2006). Aber auch die wirtschaftliche Lage oder die Größe eines Landes, dessen Bildungssystem oder religiöse Zusammensetzung spielen wichtige Rollen. Damit führt insgesamt folgende Wirkungskette zur Lebensführung als abhängiger Variable: Die persönliche soziale Lage und der gesellschaftliche Kontext, in den Erstere eingebettet ist, bestimmen zusammen die Lebenschancen einer Person hinsichtlich Optionen und Ligaturen; und die Lebenschancen prägen die Lebensführung.

Im nächsten Schritt kann man dann die Wirkungsrichtung umkehren, also von Lebensführung als unabhängiger Variable ausgehen. Sie kann erstens auf den gesellschaftlichen Kontext zurückwirken, wobei freilich die Stärke dessen, was eine einzelne Person hier zu bewirken vermag, zumeist praktisch nicht ins Gewicht fällt. In zwei Fällen kann diese Rückwirkung dennoch bedeutsam oder sogar sehr stark sein:

  • Es können sich gleichartige Praktiken der Lebensführung zahlreicher Personen massenhaft aufaddieren, wenn ganz viele Leute aus einer gleichartigen Beschaffenheit ihrer Lebenschancen gleiche Schlüsse ziehen, was sogar ohne wechselseitige Beobachtung und Imitation geschehen kann, durch Letzteres aber noch verstärkt wird. Beispielsweise können in einer stabilen wirtschaftlichen Lage, die auf breiter Front zu steigenden Arbeitseinkommen führt, sehr viele auf die Idee kommen, sich Wohneigentum zuzulegen.Footnote 6 Neben vielen anderen Effekten kann das zur Folge haben, dass eine Suburbanisierung mit gleichzeitiger Entleerung der Kernstädte stattfindet, was den gesellschaftlichen Kontext der weiteren Lebensführung in verschiedenen Hinsichten erheblich verändert.

  • Es kann kollektives Handeln vieler Personen mit der geteilten Intention einer Veränderung des gesellschaftlichen Kontextes ihrer Lebensführung geben – sei es in organisierter Form durch das Engagement in allen Arten von politischen Organisationen, sei es in Gestalt kleinerer oder größerer sozialer Bewegungen. So hat zum Beispiel in den letzten Jahrzehnten die „neue“ Frauenbewegung erst als soziale Bewegung, dann organisationsförmig – was schließlich auch durch Einbringen der Agenda in bestehende Organisationen geschehen ist – die Lebensführung von Frauen und Männern gleichermaßen nachhaltig umgestaltet.

Naheliegender für den je Einzelnen sind zweitens Rückwirkungen der eigenen Lebensführung auf die eigene soziale Lage – teils als intentionales Gestaltungsbemühen, teils transintentional. Diese verschiedenen Arten von unmittelbaren Rückwirkungen der Lebensführung auf die eigene soziale Lage können hinsichtlich ihrer Wirkungsstärke zwischen schwach und stark variieren – auch abhängig davon, wie die Lebensführung durch zahlreiche Fremdeinwirkungen, vor allem den gesellschaftlichen Kontext, mit geprägt wird. In denjenigen Rückwirkungen eigenen Handelns auf das eigene Leben, die gezielt die persönliche Lage verbessern wollen und dabei auch erfolgreich sind, manifestiert sich die autonome „Agency“ der Person in besonderer Weise, etwa in einer geplanten und umgesetzten beruflichen Karriere. Aber es gibt weiterhin vielerlei transintentionale, unbeachtete oder manchmal lange Zeit nicht bemerkte Rückwirkungen, die „hinter dem Rücken“ stattfindende positive Entwicklungen der persönlichen Lage sein, aber auch mehr oder weniger unerwünschte Resultate zeitigen können. Ein Beispiel für den ersten Fall könnte das aktive Engagement in einem Kunstverein sein, wodurch man mit sehr verschiedenen anderen Mitgliedern nähere Bekanntschaft schließt, was einem dann unverhofft als „Strength of Weak Ties“ (Granovetter 1973) zugutekommt, wenn man eine neue Wohnung, einen Steuerberater oder eine Nachhilfelehrerin für das eigene Kind sucht (Small 2009). Die andere Möglichkeit von Transintentionalität hingegen liegt zum Beispiel vor, wenn jemand sich umgekehrt aus Nachbarschafts- und Verwandtschaftskontexten zurückzieht und auch den Kontakt zu Freund*innen abbricht, weil er sich ganz auf seine Arbeit und Partnerschaft konzentrieren möchte – um dann, als er aus Krankheitsgründen arbeitslos wird und an beidem auch die Partnerschaft zerbricht, festzustellen, dass es niemanden gibt, von dem er sich Unterstützung erhoffen kann.

Das Grundmodell für eine soziologische Betrachtung von Lebensführung, das die beiden gerade unterschiedenen Betrachtungsrichtungen zusammenführt (Abb. 2.1), dient im Weiteren dazu, den uns hier interessierenden spezifischen Modus der Lebensführung in seiner spezifischen Gesellschaftsform theoretisch genauer zu konzeptualisieren: investive Statusarbeit in der westlichen Moderne – also in funktional differenzierten kapitalistischen Gesellschaften, in denen arbeitsmarktvermittelte ökonomische Ungleichheiten die stärkste Determinante der individuellen Lebenschancen darstellen, was durch wohlfahrtsstaatliche Maßnahmen ein Stück weit kompensiert werden kann.

Abb. 2.1
figure 1

(Quelle: Eigene Darstellung)

Lebensführung.

2.2 Investive Statusarbeit

Wie in der Einleitung angesprochen, gehen wir an die von uns empirisch untersuchte Realität der Lebensführung von Mittelschichtenangehörigen mit einer klaren – also auch entsprechend falsifizierbaren – theoretischen Hypothese heran: Wir erwarten, auf investive Statusarbeit zu stoßen. Diesen Lebensführungsmodus konzeptualisieren wir als einen sozialen Mechanismus in dem Sinne, dass wir nicht einfach eine Reihe von Komponenten auflisten, aus denen er besteht, sondern das geordnete Zusammenspiel dieser Komponenten ausbuchstabieren.Footnote 7

Investive Statusarbeit wird hier als Idealtypus dargestellt. Es ist also ein Modell, das die empirische Wirklichkeit vereinfacht wiedergibt – und zwar mit Blick auf die theoretisch interessierenden Merkmale. Abweichungen der empirischen Fälle von diesem Modell sind erwartbar und keine Widerlegung. Es handelt sich zum einen um allgegenwärtige, theoretisch uninteressante Abweichungen, also vielerlei Idiosynkrasien, die auf alle möglichen Lebensumstände und -geschehnisse zurückgehen. Zum anderen gibt es aber auch theoretisch weiterführende Abweichungen, die nicht bloß idiosynkratische, sondern systematische Varianten des Modells darstellen. Wie sich zeigen wird, sind wir auf solche Varianten gestoßen, die im Wechselspiel von ursprünglichem theoretischen Modell und empirischen Befunden Weiterentwicklungen der theoretischen Erfassung gesellschaftlicher Gegebenheiten markieren.

Drei weitere Hinweise zum analytischen Status des theoretischen Idealtypus seien vorausgeschickt:

  • Dass investive Statusarbeit das kulturell hegemoniale Modell der Lebensführung geworden ist, heißt nicht, dass die Mehrheit der Bevölkerung diesen Lebensführungsmodus praktiziert. Im 19. Jahrhundert war das Bürgertum ein sehr kleiner Teil der Bevölkerung, dessen Lebensführung dennoch zum Modell für alle anderen wurde (Wehler 1987, 210–238, 1995, 125–130, 730–750, 2003, 294–299). Seitdem ist investive Statusarbeit zum evaluativen und normativen Standard geworden; doch ob ihm eine Mehrheit anhängt, ist eine offene Frage, die wir hier nicht klären können.Footnote 8 Solange freilich eine Mehrheit meint, dass es das Mehrheitsmodell ist, insbesondere in den Mittelschichten, ist die kulturelle Hegemonie unangefochten. Die Gegenkulturen der 1960er Jahre haben das Modell jedenfalls nicht dauerhaft erschüttert.

  • Das Modell spiegelt in seiner gleich anzusprechenden kulturellen Rahmung durch Leistungsethos und Planungsimperativ das normative und evaluative „Mission Statement“ der Moderne für ein „gutes Leben“ wider – doch ob dieses „Mission Statement“ tatsächlich den Weg zum Lebensglück weist, wird hier offen gelassen. Empirisch ist investive Statusarbeit spätestens seit dem Ende des 18. Jahrhunderts das hegemoniale kulturelle Leitbild der Lebensführung gewesen.Footnote 9 Aber ob investive Statusarbeit zu einer höheren subjektiven Lebenszufriedenheit geführt hat als andere Modi der Lebensführung, ist eine andere Frage.

  • Investive Statusarbeit ist nicht nur ein Lebensführungsmodus des Westens. Zum einen ist es Teil der westlichen „Weltkultur“ (Meyer 2005), die sich nach dem Zweiten Weltkrieg weltweit verbreitet hat. Zum anderen hat es auch in anderen Kulturen ähnliche Vorstellungen über ein „gutes Leben“ gegeben – etwa in Japan oder China.Footnote 10 Anstelle eines simplen Narratives der nur vom Westen ausgehenden globalen Diffusion investiver Statusarbeit verweist die Herausarbeitung von „Multiple Modernities“ (Eisenstadt 2000; Wittrock 2000) auf vielschichtigere Prozesse: Ideen wanderten in beide Richtungen, und die Ideen sind dabei in erheblichem Maße in den aufnehmenden kulturellen Kontext hinein übersetzt worden. Dennoch gilt, dass der westliche Einfluss auf die übrigen Weltregionen bis heute der dominante ist. Westeuropa und Nordamerika sind die Heimatregionen dieses Lebensführungsmodus geblieben, weshalb man ihn hier am ehesten antreffen dürfte; und ohne die wirtschaftliche und militärische Dominanz des Westens wäre die Vorstellung investiver Statusarbeit als erstrebenswerter Lebensführung in der heute vorliegenden Gestalt nicht so verbreitet worden.

Um nun näher zu erläutern, welche Aspekte von Lebenschancen und Lebensführung in welchen Ausprägungen investive Statusarbeit konstituieren, wird ein dreiteiliges analytisches Modell entworfen. Es besteht erstens aus der kulturellen Rahmung, zweitens den soziostrukturellen Bedingungen und drittens den Praktiken investiver Statusarbeit. Kulturelle Rahmung und soziostrukturelle Bedingungen sind die unabhängigen Variablen, aus denen die Praktiken als abhängige Variable erklärt werden. Das Modell sei hier zur besseren Übersicht über das Weitere vorangestellt (Abb. 2.2).

Abb. 2.2
figure 2

(Quelle: Eigene Darstellung)

Investive Statusarbeit.

In diesem Modell kehren alle Elemente des generellen Modells von Lebensführung (Abb. 2.1) wieder, spezifiziert für die Lebensführung von Mittelschichten in der westlichen Moderne. Die persönliche soziale Lage im gesellschaftlichen Kontext des generellen Modells wird im Variablenkomplex der kulturellen Rahmung und soziostrukturellen Bedingungen der Mittelschichten-Lebensführung eingefangen. Die sich daraus ergebenden Lebenschancen finden sich, auf Mittelschichten bezogen, in den zentrale Ligaturen bildenden biographischen Orientierungen des Leistungsethos und des Planungsimperativs sowie im ökonomischen, kulturellen und sozialen Kapital als verfügbaren Optionen wieder. Die hieraus resultierenden, insgesamt als Statusarbeit charakterisierbaren Praktiken der Lebensführung schließlich sind das Investieren in den Status, die Demonstration des eigenen Status sowie die Suspension von Statusarbeit.

Bevor wir dieses mittelschichtsspezifische Modell Schritt für Schritt explizieren, soll noch einem möglichen Missverständnis vorgebeugt werden. Das Modell soll erklären, unter welchen Bedingungen mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit investive Statusarbeit betrieben wird. Ob diese Anstrengungen dann erfolgreich im Sinne einer Erreichung der angestrebten Lebensziele – beginnend mit Etappenzielen – sind oder nicht, kann damit nicht annähernd erklärt werden. Zwar wird sich zeigen, dass u. a. bestimmte soziostrukturelle Bedingungen gegeben sein müssen, damit investive Statusarbeit überhaupt eine realistische Erfolgschance hat – vor allem ein Minimum an ökonomischem und kulturellem Kapital. Wer mit weniger ins Rennen geht, wird höchstwahrscheinlich scheitern. Umgekehrt lässt sich sagen, dass eine sehr gute Ausstattung mit beiden Kapitalsorten erfolgreicher investiver Statusarbeit förderlich ist. Doch vielleicht zieht die Person daraus den Schluss, einen ganz anderen Lebensführungsmodus – etwa Hedonismus – zu pflegen. Hinzu kommt, dass für Erfolg oder Misserfolg investiver Statusarbeit noch viele weitere, im Modell gar nicht erwähnte Faktoren mitentscheidend sein können. Allenfalls der folgende Zusammenhang lässt sich schon vorab vermuten: Wenn investive Statusarbeit Erfolge zeitigt, bestärkt das die Person bis zu einem bestimmten Punkt, diesen Modus der Lebensführung fortzusetzen; und umgekehrt entmutigen wiederholte Misserfolge immer mehr. Nur diese Rückkopplungsschlaufe geht in das Modell ein. Sie wird sich in den empirischen Fällen, soviel sei vorausgeschickt, immer wieder als ein sehr wichtiger Teilmechanismus erweisen.

2.2.1 Kulturelle Rahmung

Die kulturelle Rahmung investiver Statusarbeit vermittelt der Person eine biographische Orientierung: Was will und soll ich in meiner Lebensführung erreichen? Dabei ist einerseits klar, dass zwischen dem kulturellen Appell auf der einen und dessen je individueller lebenspraktischer Aneignung eine mehr oder weniger große Diskrepanz bestehen kann. Personen sind eben keine „Cultural Dopes“ (Garfinkel 1967, 68), keine marionettenhaften Vollzugsorgane kultureller Imperative, sondern verfügen über einen irreduziblen Eigensinn der individuellen Bedienung aus dem kulturellen „Toolkit“ (Swidler 1986). Andererseits weisen die biographischen Orientierungen verschiedener Personen doch hinreichende Ähnlichkeiten auf, um individuelle empirische Fälle im Alltagswissen typisieren zu können und, daran anschließend oder auch davon abweichend, soziologische Typenbildung zu betreiben. Niemand ist ein Typus in einer Person.

Investive Statusarbeit besteht aus zwei kulturellen Appellen: dem Leistungsethos und dem Planungsimperativ. Ersteres spezifiziert die generelle Richtung, in die jemand mit seiner Lebensführung strebt, während letzteres den Modus dieses Strebens benennt.

Das Leistungsethos leitet sich aus dem Leitwert der modernen Kultur, der Idee des Fortschritts, ab (Schimank 2017, 2018; Aulenbacher et al. 2017; Reh und Ricken 2018). Diese Idee formuliert eine optimistische lineare Zeitvorstellung anstelle des vormodernen zyklischen Zeitverständnisses: Die Zukunft kann und wird besser werden als die Vergangenheit, sofern wir uns bei der Zukunftsgestaltung Mühe geben (Nisbet 1980; Schimank 2013, 119–131). Für Personen heißt Fortschritt Bildung – eine Erziehung und Selbsterziehung hin zu einem einzigartigen und selbstbestimmten Individuum. Das ist natürlich ein Ideal des Bildungsbürgers geblieben: gut bezahlte, akademisch gebildete, unkündbare Staatsdiener so wie Gymnasiallehrer oder Professoren. Für alle anderen übersetzt sich Bildung in einer kapitalistischen Gesellschaft als Ausbildung zum Zwecke der – wie es heute heißt – Employability. Beruflicher Erfolg bestimmt den Status in der „Achieving Society“ (McClelland 1964) – für Unternehmer oder Selbstständige ablesbar am Gewinn und Wachstum des eigenen Unternehmens, für abhängig Beschäftigte an Einkommen und Karrierestufen, für beide zudem noch am Berufsprestige.

Das Grundverständnis des Leistungsethos besteht darin, dass beruflicher Erfolg nicht einfach Glückssache ist, sondern Resultat persönlicher Anstrengungen – und zwar unter Bedingungen arbeitsmarktvermittelter Ungleichheiten (Schimank 2013, 84–88). Ungleichheiten der Ausstattung mit ökonomischem und kulturellem Kapital sind auf der einen Seite Ausgangspunkte investiver Statusarbeit. Man konkurriert vor allem mit anderen Mittelschichtenangehörigen, aber auch einem Teil der Oberschichtenangehörigen und manchen Unterschichtenangehörigen um knappe Einkommens- und Karrierechancen und sieht sich dabei als relativ besser oder schlechter gestellt. Aus Ersterem lässt sich etwas machen, Letzteres darf nicht entmutigen. Auf der anderen Seite ist das Resultat solcher Konkurrenzdynamiken eine Erhaltung, Verfestigung oder auch Lockerung der Ungleichheitsstrukturen, und die je eigene Besser- oder Schlechterstellung kann sich mit jeder neuen Runde investiver Statusarbeit in die eine oder andere Richtung verändern. Diese Vorstellung einer prinzipiellen Offenheit von Ungleichheitsdynamiken und deren Effekten auf die je eigene relative soziale Lage trägt auch die meritokratische Legitimation von Einkommensungleichheiten aufgrund besserer – und nachgefragterer – Leistungen: Jeder bekommt seine Chance und, je nachdem, wie sehr er sich im Vergleich zu anderen anstrengt, den ihm gebührenden Status.Footnote 11

Das Leistungsethos verlangt der Person erfolgreiche Aufwärtsmobilität ab. Im Vergleich zu den eigenen Eltern muss man die Leiter sozialer Schichtung hinaufklettern. Es gibt zwei Ausnahmen. Die eine liegt dann vor, wenn die eigenen Eltern schon zur oberen Mittelschicht gehören. Dann muss man diesen Status wahren, aber mehr wird nicht erwartet, weil es wenig realistisch ist. Die andere Ausnahme stellen ungünstige Umstände dar, unter denen bereits das Halten des Herkunftsstatus oder sogar nur die Minimierung von Statusverlusten als Leistung zählt – wenn es etwa langfristig ungünstige Arbeitsmarktchancen gibt oder wenn das eigene Geschäft als selbstständige*r Bäcker*in oder als Bauunternehmer*in unter zunehmenden Konkurrenzdruck gerät.

Investive Statusarbeit beruht als Lebensführungsmodus unter kapitalistischen Bedingungen auf beruflichem Erfolg. Status wird hier also als beruflicher Status betrachtet, der sich aus dem Einkommen, der beruflichen Position und dem Berufsprestige ergibt. Andere Leistungen – zum Beispiel als Amateursportler*in, als kulturelle*r Connaisseur*in oder als zivilgesellschaftlich Engagierte*r – sind zweitrangig und können fehlenden beruflichen Erfolg nicht ausgleichen. Selbst wenn der Betreffende sich damit vertrösten mag oder diese anderen Leistungen ihm persönlich wichtiger sind als beruflicher Erfolg, zählt es bei seinen Bezugsgruppen nicht.Footnote 12 Beruflicher Erfolg kann in einer funktional differenzierten Gesellschaft natürlich nicht nur in den Leistungsrollen der Wirtschaft gesucht werden, also zum Beispiel als Großunternehmer*in, Imbissbudenbesitzer*in, Bankier, in einem Unternehmen angestellte*r IT-Spezialist*in, Betriebsschlosser*in, kaufmännische*r Angestellte*r oder Leiharbeiter*in. Auch die allermeisten Leistungsrollen der anderen gesellschaftlichen Sphären sind verberuflicht und ermöglichen investive Statusarbeit – etwa als Richter*in im Rechtssystem, als Verwaltungsbeamte*r im politischen System, als Lehrer*in im Bildungs- oder als Krankenpfleger*in im Gesundheitssystem.

Trotz der kulturell hegemonialen Stellung des Leistungsethos leben nicht alle Gesellschaftsmitglieder auf dieser Linie. Es gibt verschiedene Arten von Ausnahmen, die teils als legitim, teils als mehr oder weniger illegitim gelten:

  • Kinder und Heranwachsende können noch keine unmittelbar auf beruflichen Erfolg abzielende investive Statusarbeit praktizieren. Stattdessen wird allerdings von ihnen erwartet, dass sie sich in der Schule und weiteren Ausbildung gemäß dem Leistungsethos auf den „Ernst des Lebens“ in der beruflichen Karriere vorbereiten. Legitim ist für diese Personengruppe also, investive Statusarbeit möglichst zielgerichtet – siehe den noch zur Sprache kommenden Planungsimperativ – anzustreben. Personen im Ruhestand sind für den Rest ihres Lebens dauerhaft von beruflicher investiver Statusarbeit suspendiert –Footnote 13 was nicht heißt, dass sie sich nicht weiter zum Beispiel um die Mehrung ihres Vermögens kümmern, um es dereinst den Kindern zu vererben. Doch als Mittelschichtenangehörige haben sie sich durch jahrzehntelanges Leistungsstreben verdient, dass die Anrufung durch das Leistungsethos aufhört. Es gibt also ein legitimes Ende investiver Statusarbeit. Die Triebkraft des Leistungsethos schwächt sich oft schon einige Jahre vor dem Ruhestand ab, wenn jemand erkennt, dass er oder sie nichts mehr „werden kann“; und das wird auch, bei entsprechender Anstrengung in den Jahrzehnten davor, sozial akzeptiert.

  • Hausfrauen oder -männer, die nicht selbst nach beruflichem Erfolg streben, sondern den beruflichen Erfolg ihrer Lebenspartner*innen unterstützen, sind ebenfalls legitimerweise vom berufsbezogenen Leistungsethos ausgenommen.Footnote 14 Solange das männliche Ernährermodell unangefochten galt, hatte die „Nur-Hausfrau“, die sich um Haushalt und Kinder kümmerte, keinerlei Legitimitätsprobleme.Footnote 15 Inzwischen wird, gerade in den Mittelschichten, von Frauen mehr und mehr erwartet, neben Haushalt und Kindern auch mindestens teilzeit-berufstätig zu sein, obwohl ihre Partner nicht so viel mehr als zuvor an häuslichen und elterlichen Aufgaben übernehmen (Burkart und Koppetsch 1999). Die Nur-Hausfrau gerät heute schnell in den Verdacht, auf Kosten ihres Partners Müßiggang zu betreiben und sorglos hinsichtlich eines möglichen Scheiterns der Partnerschaft zu agieren.

  • Diejenigen, die in ihrer beruflichen Beschäftigung nicht in der Lage sind, dem Leistungsethos nachzustreben, was vor allem für viele Angehörige der Unterschichten gilt, können für ihre Lebensführung eines auferlegten Aushaltens (Bourdieu 1979, 585–619) dann Legitimität beanspruchen, wenn sie – wie bereits angesprochen – „ihre Pflicht tun“. Dies ist ein kulturell sub-hegemonialer Modus der Lebensführung.Footnote 16 Allerdings werden auch diesen Gruppen heute Aufstiegsambitionen für ihre Kinder abverlangt – wie realistisch auch immer das korrespondierende Versprechen eines Aufstiegs durch Bildung sein mag. Wenn man sich schon selbst ins eigene Schicksal ergibt, soll man zumindest den Kindern ein Leistungsethos vermitteln, auf dass es ihnen dereinst „besser geht“. Wenn Unterschichtenangehörige hingegen disziplinlos hedonistisch, episodisch oder apathisch agieren (Weidenhaus 2015, 91–94) und ihre Kinder nicht zum Leistungsethos anhalten, gilt dies als illegitimes Aufgeben des eigenen Lebens und desjenigen der Kinder.

  • Weiterhin finden sich Personen, die sich dem Leistungsethos auf eine in der mittelschichtsgeprägten Leistungsgesellschaft als illegitim angesehene Weise verweigern, indem sie eine hedonistische Lebensführung pflegen. Dies ist zum einen die schon von Thorstein Veblen (1899) porträtierte „Leisure Class“ der Reichen; zum anderen sind es aber auch Mittelschichtenangehörige – freilich ohne „sorgenfreien Reichtum“ (Groh-Samberg 2009) auf bescheidenerem Niveau. Im „linksalternativen Milieu“ (Reichardt 2014) beispielsweise haben solche „Späthippies“, am komfortabelsten auf der Grundlage eines unkündbaren Beamtenstatus, überlebt. Je nachdem, wie konfrontativ eine solche Lebensführung der investiven Statusarbeit gegenübergestellt wird, handelt es sich um einen nicht-hegemonialen, als schillernd angesehenen, oder um einen anti-hegemonialen Modus, der entsprechend als mehr oder weniger illegitim gilt. Ferner gibt es Personen, die sich dem Leistungsethos durchaus fügen, es aber so verstehen, dass es um die immer weitere Steigerung beruflichen Könnens geht – selbst wenn damit keinerlei Einkommenssteigerungen oder Karrieresprünge verbunden sind. Man denkt hier zunächst an passionierte Künstler oder auch an sich ganz der „curiositas“ hingebende Wissenschaftler. Doch auch zum Beispiel ein Tischler, der zuallererst ‚gute Arbeit‘ abliefern will und sich dafür schämt, ‚gutes Geld‘ für ‚schlechte Arbeit‘ zu bekommen, interpretiert das Leistungsethos – um die bekannten Kategorien von Karl Marx (1867, 49–170) heranzuziehen – „Gebrauchswert“- und nicht „Tauschwert“-bezogen.

  • Wieder andere schließlich verlagern das Leistungsethos ganz aus der beruflichen Sphäre in andere Lebenssphären. Sie ziehen ihre Identitätsbestätigung etwa daraus, dass sie sich politisch oder zivilgesellschaftlich engagieren oder einem faszinierenden Hobby wie dem Bergsteigen oder der Sammlung seltener Comics nachgehen. In diese Aktivitäten fließt der ganze persönliche Ehrgeiz – was auch als Legitimation dafür dient, sich beruflich nicht besonders anzustrengen, bis hin zum „Dienst nach Vorschrift“. Trotz sozialer Anerkennung für die nicht-beruflichen Verdienste hat eine solche Lebensführung einen kulturell sub-hegemonialen und damit weniger legitimen, obwohl nicht völlig illegitimen Status. Sie trägt auf untergeordnete Weise zum gesellschaftlichen Zusammenleben bei.

Diejenigen, die das Leistungsethos als kulturelle Triebkraft ihrer beruflichen Statusarbeit verinnerlicht haben, artikulieren dies manchmal explizit. So äußern zum Beispiel erfolgreiche Geschäftsleute, dass ihre Hauptmotivation dafür, Tag für Tag hart zu arbeiten, darin besteht, in ihrem Job immer besser zu werden, und zwar immer besser als die anderen. Häufiger wirkt das Leistungsethos allerdings als ein unausgesprochenes Hintergrundmovens. Diese Artikulation oder Nicht-Artikulation des Leistungsethos sollte nicht damit verwechselt werden, dass man es mehr oder weniger verinnerlicht hat. Das Spektrum reicht von völliger Identifikation bis hin zu einer opportunistischen oder sogar zynischen Fassade.Footnote 17 Im sichtbaren Handeln mag es keinen Unterschied zwischen einem verinnerlichten und einem bloß vorgetäuschten Leistungsethos geben. Dazwischen gibt es eine instrumentelle Identifikation mit den sozial geltenden Indikatoren für beruflichen Erfolg, wenn jemand erkennt, dass solcher Erfolg die Möglichkeiten erweitert, die eigentlichen eigenen Interessen zu realisieren – wobei dann Letzteres durchaus vom Leistungsethos getrieben sein kann, das aber eben nicht den anerkannten Leistungsstandards folgt. So können beispielsweise Wissenschaftler*innen, die sich den etablierten Leistungsbewertungen in Gestalt von internationalen Zeitschriftenpublikationen mit hohem Impact-Faktor fügen, dies nicht aus Überzeugung tun, sondern nur deshalb, weil sie sich auf diese Weise bessere Forschungsbedingungen verschaffen können, um das zu tun, was ihnen eigentlich wichtig ist – beispielsweise an Monographien arbeiten. Leistungsopportunismus dient ihnen also dazu, den eigenen Leistungsstandards treu bleiben zu können.

Diejenigen, die dem Leistungsethos folgen, können dabei mehr oder weniger erfolgreich sein – gemessen an den geltenden Standards entsprechender beruflicher Ziele. Diejenigen, die eher erfolglos sind, können auf der einen Seite Fatalisten, Hedonisten oder Verlagerer des Leistungsethos in andere Sphären der Lebensführung werden. Auf der anderen Seite können erfolglose Achiever am beruflichen Leistungsethos festhalten. Dann können sie ihre Erfolglosigkeit entweder ungünstigen Umständen oder eigenen fehlenden Anstrengungen und Talenten zuschreiben. Ersteres läuft auf Fatalismus, letzteres auf Hedonismus oder eine Verlagerung auf nicht-beruflichen Ehrgeiz hinaus.

Die zweite kulturelle Komponente von Statusarbeit ist der Planungsimperativ (Schimank 2015). Auch er leitet sich vom Fortschrittsverständnis der Moderne ab. Dem Planungsimperativ zufolge soll persönliches berufliches Vorwärtskommen nicht bloß glücklichen Umständen, günstigen Kontextbedingungen – wie zum Beispiel einer demographisch bedingten Knappheit an qualifizierten Arbeitskräften – oder Protektion durch andere geschuldet sein. Durch einen Lottogewinn oder eine Erbschaft reich zu werden zählt genauso wenig. Um die eigenen Erfolge bei der Statusarbeit sich selbst zuschreiben zu können, müssen sie Resultat eines gezielten und beharrlichen Strebens nach ihnen sein – in Webers (1905, 165) bekannter Formulierung: einer am Leistungsethos ausgerichteten „Rationalisierung der Lebensführung“.

Sowohl das, was als Statuserfolg zählt, als auch das, was man unter Planung versteht, kann erheblich divergieren. Man braucht sich dazu nur Sighard Neckels (2008) Studien zur gegenwärtigen „Erfolgsgesellschaft“ anzuschauen. Trader auf dem Finanzmarkt machen immer wieder mit Transaktionen auf einen Schlag unglaubliche Gewinne; und ganz wenige Profisportler*innen etwa im Fußball oder Popstars verdienen ebenso unglaubliche Gehälter und Ablösesummen beziehungsweise Gagen. Sind diese finanziellen Zugewinne, mit denen entsprechende berufliche Statusgewinne einhergehen, tatsächlich vor allem das Ergebnis harter Arbeit – mehr noch, einer langfristigen Karriereplanung und stetigen Einsatzes? Auch wenn zumeist durchaus Planung und Planverfolgung im Spiel sind: Sind nicht dennoch glückliche Umstände ausschlaggebender dafür gewesen, dass man derart viel Geld verdient? Zwar attribuieren die betreffenden Personen ihre Erfolge zumeist eher sich selbst als den äußeren Umständen. Aber das ist psychologisch als weitverbreiteter „Self-Serving Attributional Bias“ zu verbuchen (Fiske und Taylor 1991, 78–82).

Der Planungsimperativ bezieht sich nicht nur auf die diachrone, sondern auch auf die synchrone Dimension von investiver Statusarbeit, also die tagtägliche Abstimmung dessen, was jemand in den verschiedenen Lebensbereichen zu tun hat. Damit investive Statusarbeit planvoll betrieben werden kann, bedarf es zunächst einer Abstimmung mit sich selbst, die dann, sofern jemand nicht als Single lebt, zu einer – wie schon angesprochen – Abstimmung der „Linked Lives“ der Lebenspartner*innen untereinander übergeht. Beispielsweise mögen Lebenspartner*innen miteinander verhandeln, wie sie die Hausarbeit und die elterlichen Aufgaben untereinander verteilen sowie mit den beruflichen Pflichten und Aspirationen in Einklang bringen – und dies vor dem Hintergrund weiterer Aktivitäten wie Sporttreiben, Hobbies oder politischem Engagement.

Was gebietet der Planungsimperativ im Einzelnen in diachroner und synchroner Hinsicht? Forschungen zum Entscheidungshandeln begreifen Planung als besonders anspruchsvollen Modus des Entscheidens, der sich durch folgende Charakteristika auszeichnet (Schimank 2005a, 307–370):

  • einen möglichst umfassenden Überblick über die eigene Lebenssituation: aktueller Stand, Zielkatalog und Randbedingungen, Wirkungszusammenhänge und verfügbare Alternativen der weiteren Gestaltung des eigenen Lebens;

  • einen langfristigen Zukunftshorizont anstelle eines unbekümmerten In-den-Tag-hinein-lebens;

  • einen systematischen Vergleich aller verfügbaren Alternativen anhand aller relevanten Ziele und Randbedingungen, woraus dann die klar beste Alternative hervorgeht;

  • und eine unverzügliche Umsetzung der gewählten Alternative, wobei ständig mitbeobachtet wird, ob die erwarteten Resultate eintreten und ob unerwünschte Nebenwirkungen auftreten, um gegebenenfalls sogleich Korrektivschritte einzuleiten, bis hin zu einer Folgeentscheidung.

Zusätzlich zu diesen Charakteristika, die zusammengenommen anzeigen, in wie starkem Maße planvoll agiert wird, ist zu betrachten, wie extensiv die Lebensführung dem Planungsimperativ unterworfen wird. Wird nur das, was unmittelbar mit der beruflichen Karriere zusammenhängt, zu planen versucht? Oder erstreckt sich der Imperativ – als anderes Extrem – auf sämtliche Lebensbereiche, so dass nichts dem Zufall und der Spontanität des Augenblicks überlassen wird? In den meisten Fällen von investiver Statusarbeit dürfte eine mittlere Extensität der Planung vorliegen, so dass zusätzlich zur beruflichen Karriere noch einige Angelegenheiten in anderen Lebensbereichen, aber eben längst nicht in allen, mit Blick darauf, die Karriere möglichst nicht zu beeinträchtigen und wenn möglich zu fördern, in die Planung einbezogen werden. Nicht selten werden in Partnerschaften, in denen beide investive Statusarbeit betreiben, dafür relevante Fragen des Zusammenlebens wie häusliche Arbeitsteilung und elterliche Pflichten, aber auch etwa die Wahl des Wohnorts oder der Ausbau von Bekanntschafts- und Freundschaftsnetzwerken, Teile der gemeinsamen Planungsagenda. Immer wieder kommt es in solchen Konstellationen interdependenter investiver Statusarbeit auch dazu, dass die gemeinsame Planung darauf hinausläuft, dass eine der beiden Seiten die eigene Statusarbeit temporär oder sogar dauerhaft zurückschraubt oder ganz aufgibt, damit der Partner – hier stimmt der männliche Genus empirisch noch immer weitgehend – bessere Voraussetzungen und Freiräume für seine Statusarbeit bekommt.

Wie die hier angedeuteten Ansprüche an planvolles Entscheiden und an dessen Reichweite bereits andeuten, ist es kaum jemandem möglich, dem Planungsimperativ auch nur annähernd gerecht zu werden – schon gar nicht über längere Zeiträume. Dafür ist nicht nur die Komplexität der sachlichen und sozialen Wirkungszusammenhänge, denen die Lebensführung einer Person unterliegt, viel zu groß, woraus sich auch immer wieder völlig unberechenbare „Cournot-Effekte“ (Boudon 1984, 173–179) ergeben. Der Zeitdruck, unter dem zahlreiche der zu treffenden Entscheidungen stehen, tut ein Übriges dazu, dass diese Komplexität kaum einmal auch nur ansatzweise systematisch verarbeitet werden kann. Im Ergebnis ist den allermeisten Personen anstelle von großangelegten und über Jahre oder Jahrzehnte abgearbeiteten großen Plänen nur ein „Bounded Life Planning“ (Little 2018) möglich, das schnell den Namen „Plan“ nicht wirklich verdient, weil es dafür viel zu opportunistisch, inkrementalistisch und improvisiert daherkommt.Footnote 18 Das Problem, das die Person damit hat, ist allerdings, dass der Planungsimperativ investiver Statusarbeit viel höhere Fremd- und Selbstansprüche stellt, die beständig enttäuscht werden. Der von Bezugspersonen wie Eltern, Lehrer*innen, Freund*innen, Lebenspartner*innen, Vorgesetzten und allen Arten von Lebensberater*innen oft zu hörende Vorwurf, der schnell zum Selbstvorwurf wird, lautet, man solle sich gefälligst mehr Mühe geben, damit die Pläne, die man vorzuweisen hatte und die sich nicht realisieren ließen, doch noch umgesetzt werden können oder es wenigstens beim nächsten Mal besser läuft.

In diesem Spannungsverhältnis zwischen Sollen und Können gibt es für die Person drei prinzipielle Richtungen des Handelns. Sie kann erstens uneingeschränkt am Planungsimperativ festhalten und versuchen, ihm mit noch mehr Anstrengung doch noch etwas mehr gerecht zu werden – mit der hoch wahrscheinlichen Folge weiterer Misserfolge, die dann in der Summe bald als eigene Unfähigkeit attribuiert werden. Zweitens kann die Person die Planungsambitionen rigoros herunterschrauben und sich weniger anspruchsvoller, freilich damit auch weniger legitimer Praktiken des Entscheidens wie Inkrementalismus als „Science of Muddling Through“ (Lindblom 1959) oder Coping (Schimank 2019) bedienen, oft verbunden mit Planungsfassaden. Drittens schließlich kann der Planungsimperativ völlig fallengelassen werden, und die Person legt sich eine fatalistische Lebensführung zu.

Betrachtet man nun beide Komponenten der kulturellen Rahmung investiver Statusarbeit im Zusammenhang miteinander, kann man ein Koordinatensystem konzipieren, in dem es vier theoretisch denkmögliche Ausprägungen des bei einer bestimmten Person vorliegenden Orientierungsrahmens gibt (Abb. 2.3).

Abb. 2.3
figure 3

(Quelle: Eigene Darstellung)

Ausprägungen des kulturellen Orientierungsrahmens.

Die erste Variante kombiniert ein starkes Leistungsethos mit einem starken Planungsimperativ. Dies ist eine kulturell konsistent gerahmte investive Statusarbeit. Richtung und Modus des biographischen Strebens passen zueinander, ganz im Sinne eines gestalteten Fortschritts, der zentralen Leitidee der Moderne. Dass sowohl das Leistungsethos als auch, und insbesondere, der Planungsimperativ wie angesprochen Überforderungen darstellen, steht auf einem anderen Blatt.

Daneben gibt es zwei Varianten einer kulturell inkonsistenten investiven Statusarbeit:

  • Bei der einen verbindet sich ein starkes Leistungsethos mit einem schwach ausgeprägten Planungsimperativ. Hier werden beruflichem Vorwärtskommen glückliche Umstände zugrunde gelegt, weil man entweder angesichts der Komplexität der Entscheidungssituationen kapituliert oder „planungsfaul“ ist.

  • Die andere Variante kombiniert einen ausgeprägten Planungsimperativ mit schwachem Leistungsethos. Das läuft auf ziellose, bloß ritualistische Statusarbeit hinaus, die nicht weiß, was sie will. Oder die Statusarbeit ist auf Lebensbereiche jenseits des beruflichen Vorwärtskommens ausgerichtet. Beide Arten inkonsistenter investiver Statusarbeit sind als abweichende Varianten besonders legitimationsbedürftig.

Schließlich findet sich noch die Ablehnung investiver Statusarbeit. Sowohl das Leistungsethos als auch der Planungsimperativ sind schwach ausgeprägt. Die Ablehnung kann lautstark artikuliert werden, oder sie kann klammheimlich erfolgen; und beides kann auf einem alternativen Verständnis des „guten Lebens“ – etwa einer hedonistischen Lebensauffassung – beruhen oder als beklagenswerter, aber unabänderlicher Tatbestand eingestuft werden.

Damit ist die kulturelle Rahmung investiver Statusarbeit dargelegt: Sowohl das Leistungsethos als auch der Planungsimperativ müssen ausgeprägt sein. Doch die gerade genannten anderen drei Möglichkeiten stellen interessante Vergleichsfolien dar.

Auf das Variablenmodell der Lebensführung mit Blick auf Lebenschancen zurückblickend, stellt die kulturelle Rahmung diejenigen Ligaturen bereit, die eine Person in ihrer Lebensführung ausrichten, ihr in Gestalt biographischer Orientierungen ein Modell sinnerfüllten Lebens an die Hand geben. Wie bereits vermerkt, bedeutet das nicht, dass die Person gleichsam zur Marionette der kulturellen Rahmung wird. Sie kann sich diese mehr oder weniger zu eigen machen und auch mehr oder weniger umgestalten. Das hängt – legt man das generelle Modell von Lebensführung zugrunde – zum einen von ihrer je individuellen persönlichen Lage ab, woraus sich ihre Bereitschaft und ihre Fähigkeit ergibt, die eigenen Identitätsansprüche auf Leistungsethos und Planungsimperativ auszurichten. Diese kulturellen Anrufungen sind ja keineswegs die einzigen oder auch nur die unter allen Umständen wirkmächtigsten Prägekräfte einer individuellen Biographie, sondern Teil eines komplexen Wirkgeflechts; und in diesem können Leistungsethos und Planungsimperativ auf vielfältigen Widerhall stoßen, also bestärkt werden, aber in anderen Fällen auch abgeschwächt oder gänzlich neutralisiert werden. Zum anderen können die soziostrukturellen Bedingungen für das Ausleben eines Planungsimperativs und Leistungsethos mehr oder weniger günstig sein. Diese Bedingungen bilden insgesamt die Optionen ab, also die zweite Komponente von Lebenschancen, der wir uns nun zuwenden.

2.2.2 Soziostrukturelle Bedingungen

Wenn man sich an Bourdieu (1983) orientiert, lässt sich die soziostrukturelle Position einer Person in Gestalt von drei Arten von Ressourcen abbilden: ökonomische, kulturelle und soziale Ressourcen. Der Einsatz ökonomischer und kultureller Ressourcen als Kapital ist für investive Statusarbeit essentiell, was für soziale Ressourcen nicht gilt. Sie können allerdings oft eine unterstützende Wirkung haben, wobei sie insbesondere so eingesetzt werden, dass man sie in ökonomisches oder kulturelles Kapital konvertiert.

Wir wenden uns daher zunächst den ökonomischen und kulturellen Ressourcen als Kapitalsorten sowie deren Zusammenwirken zu. Das ökonomische Kapital einer Person setzt sich aus deren Arbeitseinkommen und allen Arten von Vermögen – wie etwa Aktien, Immobilien, Kunstwerken – zusammen, das kulturelle Kapital aus Bildungszertifikaten von Schulen, Berufsausbildung, Studium und Weiterbildung, worin sich geprüfte Qualifikationen dokumentieren.Footnote 19 Um zu verstehen, warum investive Statusarbeit beide Arten von Ressourcen als Kapital einsetzen muss, ist wiederum Marx’ Unterscheidung von „Gebrauchs-“ und „Tauschwert“ hilfreich.

Beide Ressourcen haben einen gewissen „Gebrauchswert“ für ihre Besitzer.*innen Mit Geld kann jemand Güter und Dienstleistungen kaufen, die er begehrt oder benötigt; und Qualifikationen wie Statistikkenntnisse oder die handwerklichen Fähigkeiten zur Restaurierung alter Möbel befähigen jemanden dazu, solche Aufgaben zu erledigen, die diese Kenntnisse erfordern. Über den instrumentellen Nutzen hinaus kann jemand aus dem Einsatz der gekauften Güter und Dienstleistungen – zum Beispiel einem Staubsauger oder einem Restaurantbesuch – persönliche Befriedigung ziehen; ganz analog kann er oder sie In-Process-Benefits daraus ziehen, mit Hilfe der eigenen Qualifikationen einen „guten Job“ zu machen. Solche Erfahrungen können schließlich auch mit einer sozialen Bestätigung der eigenen Identität einhergehen, wenn sie sich in den entsprechenden Aktivitäten widerspiegelt. Man mag beispielsweise als Weinkenner*in, als Expert*in für „Schnäppchen“ auf dem Gebrauchtwagenmarkt oder als engagierte*r Förderer*in nicht-weißer Studierender bekannt und anerkannt sein.

Solange solche unmittelbaren utilitaristischen, konsumatorischen oder identitätsbezogenen „Gebrauchswerte“ im Vordergrund stehen, setzt die Person ihre finanziellen und kulturellen Ressourcen nicht als Kapitalien ein. Beide Ressourcen besitzen aber auch einen „Tauschwert“, der dann bedeutsam wird, wenn sie als Kapitalien genutzt werden. Genau wie ein nach Profit strebender Kapitalist – Marx zufolge – Geld investiert, um daraus mehr Geld zu machen, kann jemand ökonomische oder kulturelle Ressourcen investieren, um beide zu mehren. In diesem Fall sind die „Gebrauchswerte“ beider Ressourcen hinsichtlich der Bedarfe und Wünsche der Person nicht länger das, was diese vorrangig interessiert. Ihr geht es dann vielmehr um die „Tauschwerte“ von ökonomischem und kulturellem Kapital, also um die Möglichkeit der Mehrung des eigenen Kapitalstocks. Investive Statusarbeit besteht diesbezüglich aus vier Arten von aufeinander aufbauenden Schritten, die von der Person wieder und wieder vollzogen werden:

  • Einsatz ökonomischen Kapitals, um dieses zu mehren: Disponible, nicht für die unmittelbare Lebensführung benötigte finanzielle Mittel, als Arbeitseinkommen verdient oder zum Beispiel geerbt, werden investiert, um im eigenen Unternehmen, auf dem Finanz-, dem Immobilien- oder etwa dem Kunstmarkt im Zeitverlauf mehr daraus zu machen.

  • Einsatz kulturellen Kapitals, um ökonomisches Kapital zu mehren: Durch Bildungszertifikate beglaubigte Qualifikationen werden investiert, um damit das eigene Arbeitseinkommen zu steigern – indem man ein Unternehmen gründet oder sein Geschäft erweitert oder indem man beruflich Karriere mit Gehaltssteigerungen macht.

  • Einsatz kulturellen Kapitals, um dieses zu mehren: Auf der Grundlage erworbener Bildungszertifikate kann man weitere erwerben – also sich etwa mit dem Abitur oder einer anderen Hochschulberechtigung in ein Studium einschreiben, das zu einem BA-Abschluss führt, und auf dieser Grundlage dann später zum Beispiel einen Weiterbildungs-Master absolvieren.

  • Einsatz ökonomischen Kapitals, um kulturelles Kapital zu mehren: Man bezahlt dafür, Bildungszertifikate zu erwerben – etwa Privatschulen. Später absolviert man beispielsweise ein teures MBA-Studium, um sich für den weiteren Berufsweg mit dem erworbenen Abschluss schmücken zu können; vielleicht bezahlt man auch eine Haushaltshilfe, um neben dem Beruf eine Dissertation schreiben zu können.

Diese vier Arten von Schritten (Abb. 2.4) bilden keine lineare Sequenz. Personen können vielmehr, je nach anfänglicher, stark durch die soziale Herkunft bestimmter Kapitalausstattung, mit jedem der Schritte beginnen; auch die weitere Schrittfolge ist nicht festgelegt, sondern ergibt sich aus den Umständen. Man kann allerdings vermuten, dass eine längerfristig erfolgversprechende investive Statusarbeit zumeist darauf beruht, dass beide Kapitalsorten vermehrt und auch immer wieder ineinander konvertiert werden, so dass alle vier Arten von Schritten ineinandergreifen.

Abb. 2.4
figure 4

(Quelle: Eigene Darstellung)

Schritte investiver Statusarbeit.

Die Kapitalausstattung einer Person kann zu einem gegebenen Zeitpunkt durch Menge und Zusammensetzung charakterisiert werden: Wie viel ökonomisches und kulturelles Kapital besitzt jemand, und welche der beiden Kapitalsorten überwiegt (Bourdieu 1979)? Um erfolgreiche investive Statusarbeit betreiben zu können, erscheint ein mittleres Niveau beider Kapitalsorten, wie es in größeren Teilen der Mittelschichten vorherrscht, als gute Ausgangsbasis. Bezüglich des ökonomischen Kapitals gibt eine Standarddefinition der Mittelschichten eine Spanne zwischen 70 und 150 % des Haushalts-Nettoäquivalenzeinkommens an; wie schon in Kap. 1 erwähnt, erweitern wir dies bis zu 200 % des Haushalts-Nettoäquivalenzeinkommens. Beim kulturellen Kapital ist für ältere Kohorten ein Realschulabschluss, für jüngere das Abitur Voraussetzung dafür, zu den Mittelschichten zu gehören. In gewissem Maße kann ein höheres ökonomisches Kapital fehlendes kulturelles Kapital kompensieren, und umgekehrt. So können in Deutschland etwa auch gutverdienende Facharbeiter*innen mit einem Hauptschulabschluss zu den Mittelschichten gehören, oder prekär beschäftigte und nicht besonders viel verdienende wissenschaftliche Mitarbeiter*innen an Universitäten auf Teilzeitstellen.

In diesem mengenmäßigen Rahmen der Kapitalausstattung lassen sich vier Fraktionen unterscheiden, deren Bedingungen und Praktiken der investiven Statusarbeit sich – wie viele Studien nahelegen – deutlich unterscheiden:

  • Fraktion I – Dominanz ökonomischen Kapitals, größeres Volumen: Diese Fraktion bildete im 19. Jahrhundert dasjenige Segment des Wirtschaftsbürgertums, das nicht zur Oberschicht der Reichen gehörte. Heute besteht es u. a. aus kleineren Unternehmer*innen oder dem mittleren Management größerer Unternehmen – als Teil der oberen Mittelschicht mit fließendem Übergang zu den Oberschichten.

  • Fraktion II – Dominanz ökonomischen Kapitals, geringeres Volumen: Hierzu zählen das Kleinbürgertum oder der „alte Mittelstand“ – Inhaber*innen von kleinen Handwerksbetrieben oder Geschäften – einschließlich der mittleren Beamt*innen. Seit dem Ende des 19. Jahrhunderts sind kaufmännische, technische und administrative mittlere Angestellte beziehungsweise Beamte als mittlerweile stärkste Teilgruppe hinzugekommen. Diese Fraktion findet sich in der mittleren und unteren Mittelschicht.

Das berufliche Ethos beider auf das ökonomische Kapital fixierter Fraktionen ist das „Schaffen“ – sei es unternehmerisch als Einfallsreichtum des „schöpferischen Zerstörers“ (Schumpeter 1942), sei es als fleißige und beflissene Organisationskarriere. Die inhärent angelegten devianten Subgruppen beider Fraktionen sind die „Hasardeure“ der heutigen „Erfolgsgesellschaft“ (Neckel 2008), die „Alles oder Nichts“ riskieren, sowie diejenigen, in deren Lebensführung sich der „demonstrative Konsum“, den Veblen (1899) an der US-amerikanischen „Leisure Class“ Ende des 19. Jahrhunderts aufgezeigt hat, im Protzen verselbständigt.

Für beide Fraktionen war kulturelles Kapital in Gestalt gehobener Bildungszertifikate lange Zeit entbehrlich; ihre Angehörigen konnten sich im Extremfall sogar als Self-made Men oder Ungelernte hocharbeiten. Im Laufe der Zeit sind dann Bildungszertifikate als Berufszugänge – und soziale Schließungen – zunehmend in Richtung eines utilitaristischen Bildungsverständnisses instrumentalisiert worden. Es geht also nicht um „Bildung“ im humanistischen Sinne, sondern um beruflich verwertbare Ausbildung.

  • Fraktion III – Dominanz kulturellen Kapitals, größeres Volumen: Dies sind das Bildungsbürgertum und dessen heutige Nachfahren wie Professor*innen oder Gymnasiallehrer*innen sowie – sofern nicht in Fraktion I abgewandert – die traditionellen akademischen freien Berufe wie Rechtsanwält*innen oder Ärzt*innen. Fraktion III gehört zur mittleren Mittelschicht. Wenn die Dominanz kulturellen Kapitals – zumindest in der Karriere-Endstufe – mit gehobenem ökonomischem Kapital einhergeht, ragt diese Fraktion in die obere Mittelschicht hinein.

  • Fraktion IV – Dominanz kulturellen Kapitals, geringeres Volumen: Hier ist das Gros der Lehr- und Sozial- sowie Medienberufe einzuordnen – etwa Lehrer*innen, Journalist*innen, Angehörige der „Kreativbranche“ (Koppetsch 2006) und der Sozialberufe. Die jüngeren Kohorten besitzen fast durchgängig akademische Bildungsabschlüsse; diese sind jedoch niedriger oder weniger prestigeträchtig als in der Fraktion III, werden beruflich weniger gut verwertet und nicht so kontinuierlich erneuert und erweitert wie in Fraktion III. Geringerem kulturellen korrespondiert oft geringeres ökonomisches Kapital, was teilweise bis in eine prekäre Freiberuflichkeit oder befristete Arbeitsverhältnisse reicht. Damit gehört Fraktion IV, wie Fraktion II, der mittleren oder unteren Mittelschicht an.

Das berufliche Ethos der Fraktionen III und IV ist stärker ‚Selbstentfaltung‘ durch Bildung, was dann oft auch in Lehre, Beratung, Journalismus oder Kreativität an andere weitergegeben wird. Kulturelle Ressourcen werden mehr als „Gebrauchswert“ denn als „Tauschwert“ für Karrierezwecke verstanden, auch wenn dabei ein gehöriges Maß an Selbsttäuschung vorliegen kann; und ökonomische Ressourcen werden als Sicherheitsgrundlage der Lebensführung und nicht als Kapital im Sinne selbstzweckhafter Steigerung betrachtet. Die inhärent angelegten devianten Subgruppen beider Fraktionen sind zum einen eine hedonistische Boheme, etwa die Hippies Ende der 1960er Jahre, zum anderen Gegenkulturen mit einem politisch-moralischen Sendungsbewusstsein, wie das in den 1970er Jahren aufkommende „linksalternative“ Milieu (Reichardt 2014).

Keine dieser vier Fraktionen muss als jeweilige Gesamtheit und allzeit – mit Marx’ (1847, 180–181) Unterscheidung formuliert – eine „Klasse für sich“ bilden, also ein kollektives Bewusstsein geteilter Interessen und gemeinsamer Identität haben; auch als „Klasse an sich“ kann eine Fraktion durch massenhaftes gleichartiges Handeln – etwa an der Wahlurne oder bei Entscheidungen über die Wohngegend – in der Summe weitreichende gesellschaftliche Wirkungen hervorbringen.

Neben der bis hierher unterstellten, für investive Statusarbeit ausreichenden Ausstattung mit beiden Kapitalsorten kann es zwei andere Fälle geben: eine Unter- und eine Überausstattung. Eine Unterausstattung liegt dann vor, wenn mindestens eine der beiden Kapitalsorten in so geringem Maße vorhanden ist, dass dies auch durch sehr viel Kapital der anderen Sorte nicht ausgeglichen werden kann. Für die meisten Angehörigen der Unterschichten gilt, dass beide Kapitalsorten für investive Statusarbeit nicht ausreichen. Wie schon in Kap. 1 gesagt: Unterschichtenangehörige können, außer unter glücklichen Umständen, mit Statusarbeit nichts gewinnen und entwickeln ganz „realistisch“ zumeist auch gar nicht erst solche Ambitionen. Die entgegengesetzte Situation ist die einer Überausstattung mit ökonomischem Kapital, in Verbindung mit ausreichendem kulturellem Kapital,Footnote 20 wie sie sich bei Teilen der Oberschicht findet. Dann ist investive Statusarbeit unnötig, wird jedoch offenbar dennoch oftmals praktiziert, was ein Hinweis auf die heutige kulturelle Hegemonie dieses Lebensführungsmodus ist – im Unterschied zum 18. und 19. Jahrhundert, als die reiche Aristokratie ihren Lebensstil als Leisure Class noch gegen das Erwerbsstreben der aufstrebenden Bourgeoisie verteidigen konnte. Je mehr ökonomisch überausgestattete Personen dennoch investive Statusarbeit betreiben, umso schärfer wird die Konkurrenz um berufliche Spitzenpositionen für Mittelschichtenangehörige, und umso mehr von ihnen werden in ihren Ambitionen frustriert.

Neben einer Über- oder Unterausstattung mit ökonomischem und kulturellem Kapital kann der Kapitalstock konsistent oder inkonsistent zusammengesetzt sein.Footnote 21 Ein einfacher Test besteht darin, ob man jemandes ökonomisches Kapital aus dem Wissen über dessen kulturelles Kapital erschließen kann, und umgekehrt – oder nicht. Letzteres ist beispielsweise – um zwei extreme Fälle von Inkonsistenz zu nennen – bei einem Taxifahrer mit Doktortitel oder einer neureichen Geschäftsfrau ohne Schulabschluss so. Mit Blick auf investive Statusarbeit wäre Ersterer als gescheitert, Letztere als erfolgreich, wenngleich mit einem gewissen Stigma behaftet, einzustufen. Andere Fälle, wie etwa eine als freie Journalistin arbeitende promovierte Literaturwissenschaftlerin, die mit ihren Beiträgen gutes Geld verdient, aber mit einer unsicheren Nachfrage und entsprechend prekärem Einkommen fertig werden muss, sind weniger extrem; doch die Inkonsistenz wird auch hier als ein Handicap erfahren, das „Statusakrobatik“ (Grimm 2016) abverlangt.

Das, was eine Person als Kapitalausstattung hat, muss sodann mit den für sie verfügbaren Investitionsmöglichkeiten abgeglichen werden. Welche Zukunftsaussichten bietet das Investieren des eigenen kulturellen und ökonomischen Kapitals? Gemessen am jeweiligen Status quo der Person können die Zukunftsaussichten eher gut sein, also Verbesserungen des Istzustands oder zumindest die verlässliche Fortschreibung eines zufriedenstellenden Istzustands versprechen; oder die Aussichten stellen sich eher schlecht dar, wenn ein nicht zufriedenstellender Istzustand keine Verbesserungsmöglichkeiten erkennen lässt oder gar Verschlechterungen drohen.

Unterscheidet man die faktisch gegebenen und die subjektiv wahrgenommenen Investitionsmöglichkeiten, sind insbesondere jene Fälle interessant, bei denen Faktizität und Wahrnehmung auseinandergehen. Das kann in zwei Richtungen gehen: eine Unterschätzung von guten Investitionsmöglichkeiten oder eine Überschätzung schlechter Investitionsmöglichkeiten durch die Person. Ersteres läuft auf Übervorsichtigkeit hinaus, Letzteres auf falsche Hoffnungen. Solche Diskrepanzen in der einen oder anderen Richtung können u. a. dadurch zustande kommen, dass faktisch gegebene Investitionsmöglichkeiten und deren Wahrnehmung teilweise durch unterschiedliche Hintergrundvariablen geprägt werden. Die tatsächlichen Möglichkeiten erfolgreicher investiver Statusarbeit hängen etwa an der allgemeinen, regionalen oder auch branchenspezifischen wirtschaftlichen Lage und der damit verbundenen berufsspezifischen Arbeitsmarktsituation, an organisationalen Karrierechancen und mit Blick auf Geldanlagen an der Lage auf den Finanzmärkten. Die wahrgenommenen Investitionsmöglichkeiten werden demgegenüber – außer durch Persönlichkeitsfaktoren wie etwa Risikobereitschaft oder einen allgemeinen Zukunftspessimismus oder -optimismus – durch die bisherigen persönlichen und kohortenspezifischen Erfahrungen von wirtschaftlicher Entwicklung, Arbeitsmarkt- und Finanzmarktchancen sowie durch Lebensalter, soziale Herkunft, Bildungskarriere, Einkommen und Vermögen mitgeprägt. Insbesondere Erfahrungen von Aufwärts- oder Abwärtsmobilität, sowohl eigene als auch durch Beobachtung vergleichbarer Anderer – Freunde, Nachbarn, Kollegen, Geschwister oder Eltern – gewonnene, bestimmen, was man sich an Investitionen zutraut.

Wir kommen nun zu sozialem Kapital als dritter Kapitalsorte, über die eine Person verfügen kann. Wie schon gesagt, stufen wir sie nicht als essentiell für investive Statusarbeit ein. Doch es gibt immer wieder Konstellationen, in denen auch das soziale Kapital – oder sein Fehlen – bedeutsam für den Möglichkeitsspielraum investiver Statusarbeit ist. Auch hier gilt: Die sozialen Beziehungen, die eine Person unterhält, sind zunächst eine Ressource mit einem bestimmten utilitaristischen, konsumatorischen oder identitätsbezogenen „Gebrauchswert“; sie werden erst dann, wenn die Person sie investiert, zum Kapital. Die Investition kann geschehen, um zunächst weiteres soziales Kapital zu erlangen, wenn man zum Beispiel Freunde nutzt, um Kontakt zu bestimmten Personen herzustellen. Wenn diese einem dann den Weg zu einem begehrten Studienplatz bahnen und man so einen Studienabschluss erwirbt, der eine steile berufliche Karriere eröffnet, wurde das soziale erst in kulturelles und dann auch noch in ökonomisches Kapital konvertiert.Footnote 22

Mark Granovetters (1973) Unterscheidung von „Strong“ und „Weak Ties“, als Pole eines Spektrums verstanden, lenkt den Blick auf weitere Aspekte sozialen Kapitals. Granovetter zeigt, dass Weak Ties – beispielsweise mit anderen Mitgliedern desselben Sportvereins oder den Eltern von Mitschülern der eigenen Kinder – dafür wichtig sind, dass man Dinge erfährt, die jenseits des Horizonts der eigenen Strong Ties liegen. Das kann so Verschiedenes wie Hinweise auf interessante Jobs in Organisationen, die man vielleicht bis dahin gar nicht kannte, Empfehlungen von verlässlichen Haushaltshilfen oder neue Perspektiven auf politische Ereignisse sein. Die Strong Ties zu Angehörigen der eigenen Familie, engen Freund*innen oder guten Kolleg*innen sind demgegenüber als Unterstützungspotentiale wichtig. Zwei Arten von Strong Ties sind mit Blick auf investive Statusarbeit besonders wichtig. Das eine sind „Seilschaften“ (Paris 1991), in denen erst B und C als Unterstützer der Berufskarriere von A wirken, um dann als Gegenleistung von A, wenn er eine entsprechende Position erreicht hat, protegiert zu werden. Das andere Strong Tie, das oft übersehen wird, obwohl es zumeist stärker verbindet als alle anderen Strong Ties, sind Lebenspartnerschaften. Ein Paar bildet eine Dyade von „Linked Lives“ und agiert dann als ein „Composite Actor“ (Scharpf 1997, 52–60) – und zwar nicht nur, wenn einer der beiden die eigene investive Statusarbeit zugunsten der Unterstützung der Statusarbeit des anderen zurückstellt,Footnote 23 sondern auch, wenn beide ihre Statusarbeiten aufeinander abstimmen, so dass sie zumindest kompatibel miteinander sind, aber einander manchmal auch gut ergänzen können. Nicht ganz selten findet man etwa die Konstellation, dass die Frau den weniger gut bezahlten, aber sicheren Lehrerberuf ergreift und der Mann sich, mit dieser stabilen ökonomischen Basis im Rücken, auf eine unsichere Karriere im Wissenschaftssystem einlassen kann.

Zusammengefasst drehen sich die präsentierten Überlegungen zu den soziostrukturellen Bedingungen investiver Statusarbeit um zwei Variablen: die Kapitalausstattung einer Person und ihre Investitionsmöglichkeiten. Wenn aus den erwähnten Gründen zur Vereinfachung nur ökonomisches und kulturelles Kapital betrachtet werden, lässt sich eine Typologie von acht analytisch unterscheidbaren Kapitalausstattungen in Gestalt einer groben Rangordnung skizzieren. Die beiden Pole bilden eine für investive Statusarbeit sehr gute auf der einen und eine sehr schlechte Kapitalausstattung auf der anderen Seite:

  • Sehr gut ist eine Überausstattung mit ökonomischem Kapital, gepaart mit einer guten Ausstattung mit kulturellem Kapital.

  • Gut sind die Kapitalausstattungen der Fraktion I mit Dominanz des ökonomischen und der Fraktion III mit Dominanz des kulturellen Kapitals.

  • Noch halbwegs gut für investive Statusarbeit, wenn auch etwas unbehaglich, ist eine inkonsistente Kapitalausstattung mit ausreichendem ökonomischem und zu geringem kulturellem Kapital.

  • Etwas weniger gut ist die umgekehrt inkonsistente Kapitalausstattung mit ausreichendem kulturellem und zu geringem ökonomischem Kapital.

  • Schwankend sind die geringeren Kapitalausstattungen der anderen beiden Fraktionen: der Fraktion II mit dominantem ökonomischen und der Fraktion IV mit dominantem kulturellen Kapital: Wenn faktisch gute Investitionsmöglichkeiten bestehen, können die Kapitalausstattungen noch ausreichen; in schlechteren Zeiten hingegen wird investive Statusarbeit schwierig oder sogar unmöglich.

  • Schlechte Chancen für investive Statusarbeit bestehen, wenn sowohl beim ökonomischen als auch beim kulturellen Kapital eine Unterausstattung vorliegt. Selbst bei guten faktischen Investitionschancen sind die Erfolgschancen gering; in nicht so guten Zeiten sind sie gleich Null.

Bei den Investitionsmöglichkeiten lassen sich, wie dargestellt, vier Ausprägungen unterscheiden, die man ebenfalls in eine Rangordnung bringen kann: faktisch gegebene und als solche erkannte gute Chancen – unterschätzte gute Chancen – nicht als solche bewusste schlechte Chancen – faktisch gegebene und als solche bewusste schlechte Chancen.

2.2.3 Praktiken der Lebensführung

Damit haben wir die beiden unabhängigen Variablen des Modells investiver Statusarbeit – die kulturelle Rahmung und die soziostrukturellen Bedingungen – behandelt. Bevor nun auf die abhängige Variable in Gestalt der durch diese Lebenschancen hervorgebrachten Praktiken der Lebensführung eingegangen wird, sei noch darauf hingewiesen, dass bereits die wenigen betrachteten Variablen und die wenigen Ausprägungen, die bei jeder von ihnen unterschieden worden sind, sich zu nicht weniger als 104 Varianten von Lebenschancen einer Person kombinieren.Footnote 24 Keine dieser 104 Varianten kann per se aus rein theoretischen Überlegungen heraus als in sich unlogisch und daher empirisch nicht vorkommend eingestuft werden. Es gibt in sich stimmigere – in denen mit Blick auf investive Statusarbeit die einzelnen Komponenten erfolgversprechender zusammenwirken – und weniger stimmige Varianten, und das mag mit darüber bestimmen, wie häufig oder selten eine Variante empirisch vorzufinden ist. Doch es könnte auch gesellschaftliche Kontexte geben, die unstimmige Kombinationen von Lebenschancen wahrscheinlich und stimmige unwahrscheinlich machen. Es ist also insgesamt schwer abschätzbar, welche dieser über hundert Varianten von Lebenschancen wie oft in der gesellschaftlichen Wirklichkeit vorkommt.

Im allgemeinen „Modell der soziologischen Erklärung“ (Esser 1993, 1–140) stellt das hier konzipierte theoretische Modell investiver Statusarbeit eine Verbindung von „Logik der Situation“ und „Logik der Selektion“ dar. Die bislang angesprochenen unabhängigen Variablen charakterisieren die „Logik der Situation“ von Personen in der modernen Gesellschaft hinsichtlich deren Lebensführung: Welche kulturellen und soziostrukturellen Determinanten investiver Statusarbeit sind zu berücksichtigen? Wenn wir uns nun der „Logik der Selektion“ als abhängiger Variable zuwenden, geht es um die Praktiken, die diesen Lebensführungsmodus ausmachen. Hier lassen sich drei Arten von Praktiken unterscheiden. Als erstes geht es, wenig überraschend, um Praktiken des Investierens von ökonomischem und kulturellem Kapital. Dies ist der Kern investiver Statusarbeit. Ihm zugeordnet sind zwei Arten von flankierenden Praktiken, ohne die investive Statusarbeit nicht funktionieren würde: zum einen Praktiken der Statusdarstellung, zum anderen Praktiken der Statussuspension.

Vor dem Hintergrund der kulturellen Leitidee des gestalteten Fortschritts sind Individuen in der Moderne gehalten, „etwas aus sich zu machen“, wie es umgangssprachlich heißt. Dieser „Instrumental Activism“ (Parsons und White 1961), versehen mit einer mittleren Kapitalausstattung, weist in die Richtung eines umsichtigen Immer-wieder-Investierens des eigenen kulturellen und ökonomischen Kapitals. Denn die Kapitalausstattung reicht unter nicht zu ungünstigen Rahmenbedingungen aus, um mit vorsichtigen Investitionen Gewinne realisieren zu können; waghalsige Investitionen können allerdings zu schweren Verlusten führen. Damit sind drei Arten des Umgangs mit dem eigenen Kapital zu vermeiden:

  • Erstens ein sorgloses Nicht-Investieren: Das ökonomische Kapital darf nicht einfach liegen gelassen oder gar für alle möglichen Bedürfnisse eines „schönen Lebens“ verausgabt werden; und vom kulturellen Kapital darf man nicht einfach nur zehren, sondern muss es zumindest auf dem neuesten Stand halten. So wie liegengelassenes ökonomisches Kapital durch Inflation immer mehr entwertet wird, unterliegt kulturelles Kapital einer Entwertung durch sich wandelnde berufliche Qualifikationsanforderungen. Wer zum Beispiel nicht mit der voranschreitenden Digitalisierung von immer mehr Berufsfeldern Schritt gehalten hat, ist früher oder später beruflich in einer Sackgasse.

  • Zweitens eine übervorsichtige Risikoscheu: Wer nur in sehr seltene „todsichere“ Gelegenheiten investiert, weil er sich bereits vor kleinen Risiken des Kapitalverlusts fürchtet, wird nicht nur kaum ökonomisches und kulturelles Kapital hinzugewinnen, sondern nimmt damit auch die voranschreitende Entwertung beider Kapitalsorten in Kauf. Risikoscheu läuft damit auf dasselbe hinaus wie Nicht-Investieren.

  • Drittens ein zu riskantes Investieren: Dies ist das Gegenteil von Risikoscheu. Wer große Geldsummen oder gar sein gesamtes ökonomisches Kapital gleichsam wie im Roulette einsetzt oder all sein kulturelles Kapital auf die eine Karte einer wissenschaftlichen, künstlerischen oder politischen Karriere setzt, geht das große Risiko ein, alles zu verlieren. Auch dieses Hasardspiel endet also mit großer Wahrscheinlichkeit, wie Risikoscheu und Nicht-Investieren, in einer mehr oder weniger großen Kapitalvernichtung.

Weber (1919, 4) spricht dem modernen kapitalistischen Profitstreben den beherrschenden Charakterzug einer „rationalen Temperierung“ zu. Dies lässt sich für investive Statusarbeit generell, nicht nur in der Unternehmerrolle, sagen und drückt sich etwa im „Deferred Gratification Pattern“ (Schneider und Lysgaard 1953) aus, das ein diszipliniertes Bildungsstreben schon im Kinder- und Jugendalter prägt, was dann in karrierebewusste Berufswahlen mündet, und den eigenen Kindern weitergegeben wird. Die „Rationalisierung der Lebensführung“ (Weber 1905, 165) manifestiert sich in Mentalitäten, Deutungsmustern, Einstellungen und Maximen, die die „alltägliche Lebensführung“ ebenso wie die längerfristige Verfolgung von Lebensplänen bestimmen.

Etwas gewinnen, aber auch etwas verlieren zu können: In dieser ambivalenten Situation befinden sich diejenigen, die investive Statusarbeit betreiben, beständig. Man hat auf der einen Seite genug, um mehr daraus machen zu können – und auf der anderen Seite hat man zu wenig, um nichts daraus machen zu brauchen. Anders gesagt: Es muss investiert werden – und man darf Hoffnungen auf einen gewissen Erfolg hegen. Diese durch die Kapitalausstattung hervorgebrachte Ambivalenz passt zur kulturellen Rahmung investiver Statusarbeit. Das beständige Investieren setzt das Leistungsethos um, und die Langfristigkeit und Umsicht des Investierens folgt dem Planungsimperativ.

Dabei sind zwei Ebenen von Investitionspraktiken zu unterscheiden. Auf der basalen Ebene finden sich solche Praktiken, die unmittelbar im Rahmen der vorliegenden Gegebenheiten der Lebenssituation nach Statusverbesserung streben – also etwa das Bemühen, beruflich einen „guten Job“ zu machen, um sich bei Vorgesetzten für „Höheres“ zu empfehlen, oder der Besuch eines Weiterbildungsprogramms, um die Zugangsvoraussetzungen zum Beispiel für den höheren Verwaltungsdienst zu erwerben. Neben den basalen Praktiken investiver Statusarbeit kann sich die Person aber auch noch reflexiver Praktiken bedienen, in denen es darum geht, die Rahmenbedingungen für künftige basale Praktiken zu verbessern – wobei der Übergang zwischen beiden fließend ist. Man kann etwa aus Ostdeutschland weg in eine westdeutsche Großstadt ziehen, wo der Arbeitsmarkt günstiger aussieht. Dies wäre eine individuelle reflexive Investition. Oder man kann sich einer kollektiven reflexiven Investition, beispielsweise einer Gewerkschaft anschließen, weil man hofft, dass diese mit jedem zusätzlichen Mitglied machtvoller für gute Arbeitsbedingungen und -löhne kämpfen kann oder weil sie einen rechtlich unterstützt, wenn man in einem Stellenbesetzungsverfahren nicht zum Zuge gekommen ist. Gemeinsam haben die reflexiven Praktiken, dass sie zumeist erst längerfristiger als basale Praktiken Früchte tragen.

Wenn wir uns nun den Praktiken der Statusdarstellung zuwenden, muss betont werden, dass sie weit mehr als den schon angesprochenen „demonstrativen Konsum“ umfassen. Im Rahmen investiver Statusarbeit geht es eher weniger um das angeberische Vorzeigen des eigenen Reichtums und der eigenen „höheren Lebensart“. Wie man sich kleidet, welches Auto man fährt und in welchen Kunstausstellungen man sich sehen lässt, soll zwar durchaus zeigen, über wie viel ökonomisches und kulturelles Kapital man verfügt. Doch neben diesen konsumbasierten „feinen Unterschieden“ (Bourdieu 1979) werden viele andere performative Aspekte der eigenen Lebensführung dazu benutzt, um das „Presentation of Self in Everyday Life“ (Goffman 1956) für „Boundary Work“ (Lamont 1992) einzusetzen – also zur symbolischen Abgrenzung der eigenen „richtigen“ Lebensführung von demgegenüber weniger respektierten Lebensführungen. Explizit oder implizit artikulierte ästhetische, moralische oder politische Präferenzen signalisieren sowohl, dass man investive Statusarbeit betreibt, als auch, in welchem gesellschaftlichen Milieu man das tut – beispielsweise als biedere Facharbeiterin oder als „hipper“ freiberuflicher Eventmanager.

Was passiert, wenn jemand seine Statusdarstellung vernachlässigt, also sich zum Beispiel nicht einmal in der Woche mit seinen Freund*innen in einer Cocktailbar trifft, die gerade „in“ ist, nicht zu den Elternabenden der Schulklassen der eigenen Kinder geht oder sich unpassend gekleidet in der Oper blicken lässt? Zunächst einmal kann diese Person keine soziale Bestätigung ihrer Identität – insbesondere erfolgreicher investiver Statusarbeit – erhalten, weil diese Identität nicht oder unangebracht präsentiert wird. Immer wieder erlangte Identitätsbestätigungen sind aber erforderlich, um die eigene Identität dauerhaft behaupten zu können; nur die Anderen können das je eigene Selbstbild spiegeln (Schimank 2000, 121–143). Neben diesem für die persönliche Identitätsbehauptung und damit auch die investive Statusarbeit funktional erforderlichen In-Process Benefit der Statusdarstellung kann auch noch als instrumenteller Nutzen das Investieren des eigenen sozialen Kapitals hinzukommen. So mancher geht auf die Festsitzung seines Karnevalsvereins, auch wenn er das, was da passiert, ganz schrecklich findet, weil er vielleicht als Bauunternehmer Geschäftsbeziehungen anbahnt oder festigt.

In der Summe und auf Dauer können Praktiken des Investierens in den Status und der Statusdarstellung ziemlich anstrengend für die Person sein. Engagiert betrieben – und das gehört zumeist dazu, um erfolgreich damit zu sein – wird investive Statusarbeit schnell von einem Lebensgefühl „permanenter Anstrengung und Anspannung“ (Vogel 2011, 507) begleitet. Es bedarf daher eines Grenzen ziehenden und ausgleichenden Gegenprinzips in Gestalt von Praktiken der temporären Suspension von Statusarbeit. Fehlt dies, endet investive Statusarbeit – auch erfolgreiche – früher oder später im Burn-Out mit seinen verschiedenen Ausprägungen (Neckel und Wagner 2013) bis hin zum Selbstmord, wie er beispielsweise vor einigen Jahren offenbar gehäuft unter japanischen Arbeitnehmern vorkam.

Eine gesellschaftliche Sphäre, die in der Moderne besonders für die Suspension von Statusarbeit in Anspruch genommen wird, sind die Intimbeziehungen – Partnerschaften, Familien, enge Freundschaften. Dort kann jemand erwarten, sich „authentisch“ so geben zu dürfen, wie er oder sie „wirklich“ ist, und alle strategischen Maskeraden hinter sich lassen zu können – entsprechend dem bekannten Motto: „Hier bin ich Mensch, hier darf ich’s sein.“Footnote 25 Paare sind damit nicht nur, wie schon angesprochen, als strategische Partnerschaften investiver Statusarbeit „Linked Lives“, sondern auch und viel wichtiger als wechselseitig gewährtes Innehalten bei der Statusarbeit (Luhmann 1975, 873). Viele Freizeitaktivitäten, vom Sporttreiben und Romanlesen bis zum Kartenspiel oder Kochen, stellen in ihrer Ungezwungenheit ebenfalls Ausgleichsmechanismen zur Anstrengung der Statusarbeit dar – soweit sie nicht zur Statusdarstellung genutzt werden. Intimität und Freizeit können somit zeitweilige Gegenwelten zur Statusarbeit, „Auszeiten“ (Lyman und Scott 1970) von ihr sein. Der wachsende Bedarf danach drückt sich heutzutage in Formeln wie Work-Life-Balance aus (Drobnič und Guillén 2011).

„Arbeit“ und „Leben“: Gerade die unlogische Konstruktion dieses Gegensatzpaars – als wäre Arbeit kein Leben – spricht beredt davon, dass investive Statusarbeit, um eine bekannte Wendung von Jürgen Habermas abzuwandeln, eine „Kolonialisierung“ des Lebens durch die Arbeit zu werden droht und dem Einhalt geboten werden muss. Es geht bei der Suspension von Statusarbeit freilich nicht um einen dauerhaften Ausstieg aus diesem Modus der Lebensführung, wie ihn „Gegenkulturen“ wie etwa die Hippies Ende der 1960er Jahre propagierten, sondern lediglich um ein immer wieder nötiges zeitweiliges Atemholen, um neue Kraft für die nächste Runde investiver Statusarbeit zu schöpfen.

Unsere generelle Hypothese zum Wechselspiel von Investieren, Statusdarstellung und Suspension von Statusarbeit lautet, dass eine voll entfaltete investive Statusarbeit aus einer Verbindung aller drei Praktiken besteht. Keine darf unter ein Minimalniveau absinken, weil darunter investive Statusarbeit als ganzheitlicher Modus der Lebensführung leiden würde. Anders gesagt: Zu wenig von einer der drei Arten von Praktiken lässt sich nicht durch ein entsprechendes Mehr von einer der beiden anderen Arten von Praktiken kompensieren. Da das Investieren im Zentrum steht und die beiden anderen Arten von Praktiken flankierend dazukommen müssen, heißt dies letztlich: Vernachlässigte Statusdarstellung und vernachlässigte Suspension von Statusarbeit können durch noch so viel Investieren nicht wettgemacht werden, sondern lassen dieses scheitern.

Damit können zwei Arten von defizitärer investiver Statusarbeit unterschieden werden:

  • Die eine besteht aus übereifrigem Investieren und ebenso übereifriger Statusdarstellung zu Lasten einer temporären Suspension von Statusarbeit. Die Person agiert die ganze Zeit unter Hochdruck und gönnt sich keine Ruhe – was mit hoher Wahrscheinlichkeit früher oder später im Zusammenbruch investiver Statusarbeit endet.

  • Die andere Art von defizitärer investiver Statusarbeit besteht in einer Vernachlässigung von Statusdarstellung. Die Erfolge investiver Statusarbeit bleiben dann gleichsam sozial unsichtbar, die Person erhält keine Identitätsbestätigungen dafür. Sie kann allenfalls ritualistisch an diesem Modus der Lebensführung festhalten, jede innere Überzeugung fehlt.

Schaut man sich die Praktiken investiver Statusarbeit als abhängige Variable an, lassen sich 12 Varianten unterscheiden. Vier Arten des Umgangs mit dem ökonomischen und kulturellen Kapital – umsichtig investieren, übervorsichtig investieren, hochriskant investieren und nicht investieren – kombinieren sich mit den gerade angesprochenen drei Arten der Verknüpfung von Investieren, Statusdarstellung und Suspension von Statusarbeit.

Das hier entworfene theoretische Modell stellt damit 104 Ausprägungen der unabhängigen Variablen – kulturelle Rahmung und soziostrukturelle Bedingungen – 12 Ausprägungen der Lebensführung als abhängiger Variable gegenüber. Das Zahlenverhältnis zeigt bereits: Jede der Varianten mehr oder weniger entfalteter investiver Statusarbeit kann auf durchschnittlich knapp neun Varianten von kultureller Rahmung und soziostrukturellen Bedingungen zurückgeführt werden. Dabei ist es nicht auszuschließen, sondern durchaus möglich, dass eine bestimmte Kombination von Ausprägungen der unabhängigen Variablen nicht bloß eine einzige Ausprägung von Lebensführung hervorbringt, sondern mehrere – u. a. deshalb, weil Lebensführung als abhängige Variable hier noch sehr grobschlächtig gefasst wird. Um das theoretische Modell in sich eindeutig fassen zu können, müssten alle 104 × 12 = 1248 logischen Möglichkeiten durchdacht werden, was erkennbar unmöglich ist.

An diesem Punkt kommt alles darauf an, wie geschickt man die empirischen Fälle auswählt und wie geschickt man die ausgewählten Fälle miteinander vergleicht. In beiden Hinsichten haben wir uns darum bemüht, aus unserer sehr begrenzten Zahl von 41 ausgewerteten Fällen das Möglichste herauszuholen.

2.3 Theoretisches Modell und empirische Wirklichkeit

Eine Hypothese kann sich in der empirischen Prüfung als mehr oder weniger wahr oder falsch erweisen. Insbesondere mit folgenden Möglichkeiten, dass die hier als theoretisches Modell ausgearbeitete komplexe Leithypothese nicht glatt bestätigt wird, ist zu rechnen:

  • Im Extremfall findet man unter den untersuchten Fällen aus den Mittelschichten empirisch nichts vor, was investiver Statusarbeit ähnelt. Dann ist die Leithypothese widerlegt.

  • Das theoretische Modell könnte sich mit Blick auf die unabhängigen Variablen als unvollständig oder mehr oder weniger unzutreffend erweisen: Die postulierten Orientierungen und Praktiken investiver Statusarbeit hätten dann noch weitere oder ganz andere kulturelle oder soziostrukturelle Bedingungen.

  • Investive Statusarbeit – wie immer modifiziert – wird womöglich auch jenseits der Mittelschichten, also unter anderen soziostrukturellen Bedingungen, nicht nur praktiziert, sondern dies geschieht auch mit einem gewissen Erfolg. Das liefe auf eine Erweiterung der Leithypothese hinaus.Footnote 26

  • Es könnten sich – bei Vorliegen der postulierten unabhängigen Variablen – Modi der Lebensführung zeigen, die mit Blick auf die vorfindlichen Praktiken nur eingeschränkt als investive Statusarbeit einzustufen sind. Dann muss die Leithypothese hinsichtlich der Charakterisierung der abhängigen Variablen modifiziert werden.

  • Teile der Mittelschichten könnten sich als keine investiven Statusarbeiter*innen entpuppen. Bei ihnen sind zwar die soziostrukturellen Bedingungen gegeben, aber die kulturelle Rahmung ist eine andere – eine weitere Erweiterung der Leithypothese.

Soviel vorab: Die Empirie erweist sich in der Tat als vielschichtiger als die theoretischen Vorüberlegungen. Die Leithypothese wird zwar nicht in Bausch und Bogen widerlegt. Wir finden investive Statusarbeit – aber wir finden sie in ihren Komponenten und Praktiken teilweise anders ausgestaltet und akzentuiert als theoretisch postuliert; wir finden in den Mittelschichten Lebensführungsmodi, die investive Statusarbeit praktizieren, ohne sie zur dominierenden sinnstiftenden kulturellen Rahmung der Lebensführung zu machen; und wir finden investive Statusarbeit in unteren und oberen sozialen Schichten, wo sie sich allerdings anders artikuliert als in den Mittelschichten.

Wir wären aber auf all dies nicht ohne das in diesem Kapitel entfaltete theoretische Konstrukt als Suchscheinwerfer gestoßen. Anders gesagt: Unsere empirischen Befunde hängen – als Wiedererkennung wie als Widerlegung – davon ab, dass sie dem Dunkel entrissen und wie sie ausgeleuchtet werden.