Debatten über eine „Krise“ der Mittelschichten gibt es seit inzwischen mehr als dreißig Jahren in verschiedenen Ländern (siehe aus den letzten fünfzehn Jahren für Deutschland etwa: Herbert-Quandt-Stiftung 2007; Vogel 2009; Heinze 2011; Mau 2012; Koppetsch 2013; Schimank et al. 2014; Nachtwey 2016; Reckwitz 2017, 2019; für andere Länder: Chauvel 2006; Collado 2010; Hacker und Pierson 2011; Gornick und Jäntti 2013; Fourquet et al. 2013). Es wird immer wieder behauptet, dass die Mittelschichten schrumpfen und Abstiegsängste zunehmen; und diesbezüglich wird auf verschiedenste Irritationen der Mittelschichten infolge gesellschaftlicher Veränderungsdynamiken wie „Neoliberalismus“, Globalisierung und Digitalisierung hingewiesen. Wie alle sozialwissenschaftlichen Zeitdiagnosen sind solche Krisenszenarien mit Vorsicht zu genießen. Dem Genre wohnt ja als Aufmerksamkeit verschaffendes Stilmerkmal Dramatisierung bis hin zum Alarmismus inne. Dennoch gibt die Häufung entsprechender Diagnosen nicht nur für Deutschland, sondern für westliche Gesellschaften generell Anlass, etwas genauer hinzuschauen, wie es um die Mittelschichten bestellt ist – nicht zuletzt deshalb, weil sie für den Zusammenhalt dieser Gesellschaften so wichtig sind.

Die Mittelschichten spielen spätestens seit den 1950er Jahren als Großgruppe im Ungleichheitsgefüge moderner Gesellschaften die tragende Rolle. Wurde das 19. Jahrhundert vom Antagonismus zwischen Industriearbeiterschaft auf der einen, kapitalistischen Unternehmern auf der anderen Seite geprägt, vollzog sich in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts ein allmähliches Größenwachstum derjenigen gesellschaftlichen Gruppen, die zwischen diesen beiden Antipoden positioniert sind. Nicht nur verschwand die „alte“ Mittelschicht der kleinen Selbstständigen, freien Berufe und Staatsbeamten der unteren und mittleren Laufbahnen nicht; sie wurde ergänzt und zahlenmäßig bald weit übertroffen durch die „neue“ Mittelschicht, zu der vor allem die Angestellten in der Industrie und im Handel sowie beim Staat zählten. Als Helmut Schelsky (1953) dann wenige Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg die „nivellierte Mittelstandsgesellschaft“ ausrief, wurde zum öffentlichen Common Sense, dass die Ungleichheitspyramide des 19. Jahrhunderts durch die seitdem als „Bolte-Zwiebel“ bekannte graphische Darstellung der Schichtung der deutschen Bevölkerung ersetzt worden war:Footnote 1 Nicht mehr die Unterschichten, sondern die Mittelschichten machten das Gros der Bevölkerung aus – nämlich etwa zwei Drittel.

Dieses Größenwachstum der Mitte zur klaren zahlenmäßigen Dominanz war keineswegs nur auf Westdeutschland beschränkt, sondern vollzog sich in allen anderen entwickelten westlichen Gesellschaften mit nur geringen Variationen ebenso. Für den Rest der Welt, spätestens nach dem Abdanken des sowjetisch beherrschten Staatssozialismus in Osteuropa Ende der 1980er Jahre, wurde und wird bis heute vor allem von der soziologischen Modernisierungstheorie eine nachholende Entwicklung in der gleichen Richtung vorhergesagt, auch wenn derzeit die Mittelschichten etwa in China oder in Kenia noch lange nicht die Mehrheit der Bevölkerung ausmachen. Göran Therborn (2012, 15–17) bringt die Erwartung, dass es bald soweit sein wird, auf die Formel vom 21. Jahrhundert als dem globalen „Middle-Class Century“. Und wie schon bei Schelsky ist die Diagnose und Prognose unverhohlen normativ: Dass „die Mitte“ zur wichtigsten gesellschaftlichen Großgruppe geworden ist beziehungsweise werden wird, wird als positiv für die Gesellschaft wie für die je einzelne Person eingestuft. In der gesellschaftlichen Mitte, so heißt es, finden die „gute Gesellschaft“ und das „gute Leben“ zueinander. Und weil das so ist, sorgen die Mittelschichten auch dafür, dass diese Gesellschaft stabil bleibt und nicht, wie im 19. Jahrhundert, ständig von den Extremen her in Frage gestellt wird.

Wir wissen freilich, dass dieses idyllische Porträt der Mitte als tragender Pfeiler gesellschaftlicher Ordnung nicht so ganz stimmt. Die von Theodor Geiger (1930) am Ende der Weimarer Republik erkannte „Panik im Mittelstand“ war zwar nicht der einzige, aber doch ein gewichtiger Beitrag zur Zerstörung der etablierten gesellschaftlichen Ordnung durch den Nationalsozialismus. Weil die Mittelschichten dann aber danach in der Bundesrepublik ein halbes Jahrhundert lang als mäßigende, befriedende gesellschaftliche Kraft auftraten, fingen nicht wenige Beobachter an, das zum nunmehr unveränderbaren „Wesen“ der „Mitte“ zu erklären, und sind seitdem sehr erstaunt darüber, dass Teile der Mittelschichten – und nicht etwa vorrangig die „abgehängten“ Unterschichten – wieder einmal überaus destruktive Neigungen bis hin zur „gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit“ (Heitmeyer 2002–2011) an den Tag legen. Inzwischen gibt es in vielen Ländern Europas – Deutschland eingeschlossen – sowie in anderen Teilen der Welt starke rechtspopulistische Kräfte, die in größeren Teilen eine Gefährdung der demokratischen politischen Ordnung darstellen. Dieser Rechtspopulismus – in Deutschland vor allem durch die „Alternative für Deutschland“ politisch repräsentiert – findet einen erheblichen Anteil seiner Anhänger in bestimmten Fraktionen der Mittelschichten.Footnote 2

Wenn somit das „staatstragende“ Bild der Mittelschichten nicht immer und überall zutrifft, muss man dennoch u. a. für die Gesellschaften Europas und Nordamerikas zweifelsfrei konstatieren: Wie sich die Mittelschichten in größeren Teilen oder insgesamt verhalten, ist ausschlaggebend dafür, ob gesellschaftliche Ordnung stabil ist und bleibt oder instabil wird. Es ist dabei nicht bloß die zahlenmäßige Größe der Mittelschichten in Gesellschaften wie unserer, die deren Bedeutung bestimmt. Die Größe muss vielmehr damit einhergehen, dass Mittelschichtenangehörige gemeinsame kulturelle Orientierungen und Interessen aufweisen, so dass auf bestimmte Erfahrungen und gesellschaftliche Geschehnisse massenhaft ähnlich reagiert wird – was sich dann als Aggregationsphänomen entweder gefährdend oder stabilisierend auf die gesellschaftliche Ordnung auswirken kann. Es trifft zwar zu, dass auch kleine gesellschaftliche Gruppen wie etwa das Bildungsbürgertum des 19. Jahrhunderts, das wenige Prozent der Gesamtbevölkerung des Deutschen Reichs ausmachte, mit dem eigenen Tun einen Vorbildcharakter für größere gesellschaftliche Gruppen haben kann. Andreas Reckwitz (2006) benennt daher ganz richtig das Bürgertum – Bildungs- und Wirtschaftsbürgertum – als hegemoniale Subjektkultur des 19. Jahrhunderts, auch wenn beide Milieus zusammengenommen eine sehr kleine Minderheit der Bevölkerung im niedrigen einstelligen Prozentbereich waren (Wehler 1995, 111–140). Doch viele andere Milieus schauten auf sie, sie gaben den Ton an. Schon das in der Weimarer Republik das Bürgertum aus der kulturellen Hegemonie verdrängende „Angestelltensubjekt“ (Reckwitz 2006) war zahlenmäßig weit bedeutsamer und wurde als Subjektkultur von einer, damals den Kern des „neuen Mittelstands“ ausmachenden, wichtigen Mittelschichtenfraktion getragen. Seit der „nivellierten Mittelstandsgesellschaft“ geht dann – historisch erstmalig – kulturelle Hegemonie mit klarem zahlenmäßigem Übergewicht einher. Zwei Drittel der Bevölkerung dienen nicht nur dem übrigen Drittel als erstrebenswerter Status, sondern halten vor allem auch sich selbst beständig den Spiegel vor.

Es sind dabei nicht bloß einzelne Wertorientierungen, moralische Prinzipien oder Lebensstilelemente, aufgrund derer die Mittelschichten zum Vorbild aller gesellschaftlichen Gruppen geworden sind. Vielmehr ist der mittelschichtsspezifische Modus der Lebensführung als übergreifender Bezugsrahmen, der alle lebensbereichsspezifischen Orientierungen, Interessen und Praktiken einer Person ordnet und zusammenführt, das allgemeine Leitbild. Als evaluative und normative Orientierung, was ein „gutes Leben“ ausmacht, gilt also seit längerem schon die Lebensführung der Mittelschichten auch in den anderen gesellschaftlichen Milieus als das, was für erstrebenswert und geboten gehalten wird. Selbst wer die Lebensführung der Mittelschichten für sich persönlich ablehnen mag, muss in Rechnung stellen, dass sie kulturell hegemonial ist – und seine Abweichung davon dann zum Beispiel klammheimlich praktizieren oder auf expliziten Konfrontationskurs gehen. Das gilt im Übrigen nicht zuletzt für Mittelschichtenangehörige selbst, die sich womöglich auch nicht in allen Belangen tagein, tagaus anstrengenden Tugenden fügen wollen. Dass „Talk“ und „Action“ divergieren können (Brunsson 1989), auf der „Hinterbühne“ des Lebens anderes passiert als auf der „Vorderbühne“ (Goffman 1956) vorgeführt wird, ist hinlänglich bekannt. Doch wo man hinter den Selbstansprüchen zurückbleibt oder sich ihnen entziehen will, bedarf es eben der Camouflage durch eine Fassade, die den schönen Schein möglichst wahrt.

Weniger bekannt ist bei genauerem Hinsehen, worin der Lebensführungsmodus der Mittelschichten im Wechselspiel von Faktizität und Normativität eigentlich im Einzelnen besteht – was auf den ersten Blick erstaunlich sein mag, wenn er doch allgemeinen Vorbildcharakter haben soll. Wie kann etwas als Richtschnur des Verhaltens dienen, das weder im Alltagswissen klar und umfassend expliziert noch soziologisch systematisch rekonstruiert worden ist? Die soziologische Antwort lautet natürlich, dass Verhaltensregeln keiner Explikation bedürfen, um ihre Wirkung zu entfalten, sondern als präreflexive Praktiken sogar noch größere Prägekraft haben können, weil Reflexion ja immer auch die Möglichkeit der Distanzierung und Kontingentsetzung beinhaltet, und dass die meisten Verhaltensregeln der Lebensführung diesen impliziten Charakter haben.Footnote 3 Das Alltagswissen kann und sollte sich sogar damit begnügen; „soziologische Aufklärung“ (Luhmann 1967) könnte hier irritierend wirken. Die Soziologie hingegen hat die Explikation des Impliziten des Sozialen als eine ihrer zentralen Aufgaben.

Damit sind wir beim Thema des vorliegenden Buches. Wir wollen, vor dem dargestellten Hintergrund der kulturell hegemonialen Rolle der Mittelschichten in Gesellschaften wie der unseren sowie angesichts zeitdiagnostischer Behauptungen, dass „die Mitte wankt“,Footnote 4 also zunehmenden Verunsicherungen und Gefährdungen ausgesetzt ist, die Lebensführung der Mittelschichten sowohl in ihrer Normativität als auch in ihrer Faktizität – und das Wechselspiel beider – untersuchen. Was gilt Mittelschichtenangehörigen als eine erstrebenswerte Lebensführung? Welche Lebensführung praktizieren sie tatsächlich? Und wie hängen Erstrebenswertes und Praktiziertes zusammen – oder auch nicht?

Weiß man darüber soziologisch nicht schon ganz viel? Ja – aber genau das nicht, was Mittelschichtenangehörige und sie Beobachtende aus anderen Milieus völlig trittsicher tagtäglich praktizieren: wie sich dieser Modus der Lebensführung als ein ganzheitlich vollzogenes, eine konturierte Gestalt reproduzierendes oder entfaltendes soziales Geschehen darstellt. Soziologisch interessiert hier natürlich nicht die bunte Vielfalt der Erscheinungsformen, sondern der zugrunde liegende generative Mechanismus, der auf fast alle Eventualitäten – auch diejenigen, mit denen man zum ersten Mal konfrontiert ist – eine passende Antwort hat. In verschiedenen Hinsichten kennen wir Teile dieses Mechanismus, wissen aber nicht viel über deren Ineinandergreifen:Footnote 5

  • Die Ungleichheitsforschung hat viele Detailkenntnisse über Lebenschancen in verschiedenen sozialen Lagen zusammengetragen (Geißler 2014). Damit weiß man etwas über Gelegenheitsstrukturen der Lebensführung, aber noch nichts darüber, was daraus gemacht wird.

  • Auch über unterschiedliche Lebensstile in unserer Gesellschaft haben andere Teile der Ungleichheitsforschung sowie die Kultursoziologie Vieles ermittelt (Rössel und Otte 2011). Das prozesshaft ausbuchstabierte „Doing Life“ findet sich in diesen Forschungen aber nicht; es bleibt zumeist bei einer additiven Auflistung von Praktiken.

  • Die meisten Studien der Ungleichheits- und Kultursoziologie beschränken sich auf einen Lebensbereich oder auf eine Auswahl von Lebensbereichen, zeichnen aber kein ganzheitliches Bild der Lebensführung von Personen. Wo „Inklusionsprofile“ (Burzan et al. 2008) in allen gesellschaftlichen Sphären ermittelt werden, fehlt wiederum die Nachzeichnung des korrespondierenden „Doing Life“; und wie die Lebensführung zum Beispiel in den Intimbeziehungen mit der im Konsum oder im politischen Engagement zusammenhängt, bleibt ebenfalls offen.

Insgesamt ist zu konstatieren, dass keine Rede davon sein kann, dass wir das Ineinandergreifen der sphären- und lagespezifischen Komponenten von Lebensführung verstehen. Damit ist der Mechanismus nach wie vor soziologisch eine Black Box. Wie funktioniert die Lebensführung der Mittelschichten, was sind die Voraussetzungen dieses Funktionierens, und was kann das Funktionieren stören? Das sind die Leitfragen, um die es im Folgenden geht.

Soziostrukturell werden die Mittelschichten, von gängigen Definitionen ausgehend, von uns wie folgt bestimmt: Sie verfügen in ökonomischer Hinsicht über 70 bis zu 200 % des durchschnittlichen Haushalts-Nettoäquivalenzeinkommens und hinsichtlich ihres Bildungsgrads mindestens über einen Realschulabschluss – bei jüngeren Kohorten ist schon das Abitur anzusetzen (Burkhardt et al. 2012).Footnote 6 Diese in beiden Hinsichten mittlere Ressourcenausstattung legt – das ist die unsere Untersuchung leitende Annahme – eine bestimmte Art der Lebensführung nahe, die wir „investive Statusarbeit“ nennen und die sich so weder bei den Unter- noch bei den Oberschichten findet. Erstere können sich investive Statusarbeit aufgrund zu geringer Ressourcenausstattung nicht leisten; die im „sorgenfreien Reichtum“ (Groh-Samberg 2009) lebenden Oberschichten hingegen brauchten sich eigentlich keiner investiven Statusarbeit befleißigen, wenngleich sie es oft genug tun, weil es sich eben um den kulturell hegemonialen Lebensführungsmodus handelt. Investive Statusarbeit läuft damit – so viel kann im Vorgriff auf spätere Ausführungen schon hier gesagt werden – auf eine doppelte Unterscheidung hinaus: Anders als die Oberschichten haben die Mittelschichten etwas zu verlieren; und zugleich haben sie, anders als die Unterschichten, auch etwas zu gewinnen. Dieses Zugleich von Verlust- und Gewinnmöglichkeiten stellt sich zu unterschiedlichen Zeiten und für verschiedene Fraktionen der Mittelschichten deutlich anders dar. Das „Golden Age“ (Hobsbawm 1994, 324–431) von Anfang der 1950er bis Mitte der 1970er Jahre verschaffte, was historisch die Ausnahme ist, tendenziell allen Mittelschichtenangehörigen über den „Fahrstuhl-Effekt“ (Beck 1986, 122) eine deutliche Verbesserung von Gewinnmöglichkeiten. Seitdem sind für viele, wenn auch nicht alle Mittelschichtenangehörige wieder Verlustrisiken in den Vordergrund getreten; zumindest muss man sich, will man auf der Gewinnerseite sein, sehr viel mehr anstrengen als im Golden Age.

Lebensführung generell wie auch der Modus investiver Statusarbeit im Speziellen sind, wie schon gesagt, seit längerem kein systematisch bearbeitetes soziologisches Thema gewesen. Das spricht beim empirischen Vorgehen für ein qualitatives Untersuchungsdesign, das zwar theoriegeleitet, aber auch für empirische Überraschungen offen ist – die es dann in der Tat gegeben hat. Doch selbst wenn mehr soziologisches Wissen zu verschiedenen Aspekten der Lebensführung der Mittelschichten vorläge, wäre unsere Wahl auf qualitative, biographisch-narrative Interviews gefallen. Denn wir wollen ja investive Statusarbeit als einen Mechanismus der Lebensführung verstehen, in dem ein Rad ins andere greift, und dieses Ineinandergreifen möglichst lückenlos rekonstruieren. Weder standardisierte Befragungen noch die meisten anderen qualitativen Methoden kommen dafür in Frage. Also haben wir eine größere Anzahl von Mittelschichtenangehörigen zu ihrer Lebensgeschichte befragt. Dabei haben wir neben Geschlecht und Alter noch die Ausstattung mit ökonomischen Ressourcen sowie den Bildungsgrad im Rahmen des für die Mittelschichten kennzeichnenden Spektrums variiert, um systematisch verschiedene Fraktionen und Teilgruppen der Mittelschicht in den Blick zu nehmen.

Dieser Untersuchungsanlage entsprechend gliedert sich das Buch im Weiteren wie folgt:

  • Kap. 2 (Autor: Uwe Schimank) stellt ein generelles soziologisches Modell von Lebensführung und daran anschließend ein Modell investiver Statusarbeit im Speziellen vor. Damit wird ein Idealtypus als theoretischer Suchscheinwerfer ausgerichtet, der das empirische Vorgehen anleitet.

  • In Kap. 3 (Autor*innen: Betina Hollstein, Stefan Holubek-Schaum, Nils Kumkar) wird das empirische Vorgehen eingehender erläutert: die Auswahl der untersuchten Fälle, der Einsatz biographisch-narrativer Interviews mit leitfadengestützten Nachfrageteilen und die Auswertung der Interviews mit Hilfe der dokumentarischen Methode.

  • Kap. 4 (Autor: Nils Kumkar) präsentiert die empirischen Ergebnisse hinsichtlich der vorgefundenen biographischen Orientierungen. Neben der investiven Statusarbeit, wie wir sie theoretisch konzipiert haben, zeigen sich in unseren Fällen noch zwei weitere Modi der Lebensführung, in denen Praktiken der investiven Statusarbeit zwar enthalten sind, aber anders biographisch ausgerichtet werden: eine gemeinschaftsorientierte Lebensführung und eine Lebensführung des Berufsstolzes. Ausgehend davon, dass allen Mittelschichtenangehörigen investive Statusarbeit als kulturell hegemoniale Vorstellung vom „guten Leben“ nahegelegt wird, ist ein Hauptergebnis unserer Untersuchung also, dass nicht alle dieser Anrufung nachkommen können oder wollen.

  • Doch auch diejenigen, die diesen beiden anderen biographischen Ausrichtungen folgen, müssen – so unser zweites Hauptergebnis – in erheblichem Maße investive Statusarbeit leisten. Die empirischen Ergebnisse zu den investiven Praktiken, mit denen die drei Modi der Mittelschichten-Lebensführung vollzogen werden, schildert Kap. 5 (Autor: Stefan Holubek-Schaum). Berufliche Arbeit, Bildungsanstrengungen, die Pflege sozialer Beziehungen, Geldanlagen auf dem Finanzmarkt und elterliches Entscheiden über den Bildungsweg der eigenen Kinder sind dabei die Hauptbetätigungsfelder. Auch bestimmte Begrenzungen investiver Statusarbeit werden aufgezeigt.

  • Kap. 6 (AutorInnen: Karin Gottschall, Betina Hollstein, Stefan Holubek-Schaum, Nils Kumkar, Uwe Schimank) zieht ein systematisches Fazit zu Erscheinungsformen und Bedingungen investiver Statusarbeit in den drei vorgefundenen Varianten und verortet unsere empirischen Befunde sodann im Verhältnis zu zentralen Einschätzungen zeitdiagnostischer Mittelschichtstudien – insbesondere den beiden vieldiskutierten Sichtweisen von Oliver Nachtwey (2016) und Andreas Reckwitz (2017, 2019). Dabei sehen wir, und dies ist unser drittes Hauptergebnis, unsere Befunde komplementär zu dem, was diese beiden und weitere Beobachter in den Blick rücken. Sie stellen die teils verunsicherte, teils als Gewinner auftrumpfende Mitte heraus: also jene Gruppen, deren Trajektorien entweder nach unten oder nach oben weisen. Wir machen demgegenüber auf die beharrliche Mitte aufmerksam – also auf jene, die unaufgeregt in Stimmungslage und Auftreten ein Leben führen, das durch die großen gesellschaftlichen Dynamiken wie Globalisierung, Ökonomisierung und Digitalisierung weder in exorbitante Höhen noch in ebensolche Tiefen getrieben wird. Will man Szenarien entwickeln, was weiter mit den Mittelschichten hierzulande geschehen könnte und wie sie sich gesellschaftspolitisch positionieren könnten, ist ein vollständiges Bild nötig, das beide Seiten der Medaille berücksichtigt: diejenigen, die in der einen oder anderen Richtung Getriebene und vielleicht auch Treiber der gesellschaftlichen Dynamiken werden, und diejenigen, deren Beharrungskräfte diesen Dynamiken mehr oder weniger widerstehen.Footnote 7

Eilige Leser*innen könnten nun in Versuchung geraten, gleich zum Kap. 6 vorzublättern, um zu prüfen, wie plausibel unser Hinweis auf die ‚andere‘ Seite der Mittelschichten ist. Das wäre allerdings voreilig. Um beurteilen zu können, wie triftig unsere Argumente dafür sind, dass nach wie vor erhebliche Teile der Mittelschichten ein relativ beharrliches Leben führen, bedarf es des Durchgangs durch das theoretische Modell ebenso wie durch die Empirie. Anders als manche Zeitdiagnosen verfügen wir ja über Letztere, die zwar manchmal sperrig, aber nicht zuletzt darin instruktiv ist.

Seit inzwischen fast zehn Jahren beschäftigt sich die Bremer Soziologie verstärkt mit den Mittelschichten und ist dabei schnell auf Lebensführung als Schlüssel zum Verständnis von deren vielfältigen Aktivitäten in den verschiedenen gesellschaftlichen Sphären gestoßen. Den Diskussionen mit Sonja Drobnič, Olaf Groh-Samberg, Johannes Huinink, Steffen Mau (inzwischen an der Humboldt-Universität) und Michael Windzio verdanken wir viele Einsichten und Anregungen, die in die vorliegende Untersuchung eingegangen sind.

Die hier präsentierten Erkenntnisse stammen aus einem von der Deutschen Forschungsgemeinschaft über drei Jahre geförderten Projekt, das unter dem Titel „Lebensführung als investive Statusarbeit – Praktiken, Bedingungen, Störungen“ von Karin Gottschall, Betina Hollstein und Uwe Schimank beantragt und geleitet wurde, mit Stefan Holubek-Schaum und Nils C. Kumkar als Projektmitarbeitern. Unser aller Dank gebührt Rixta Wundrak für zahlreiche Anregungen zum empirischen Material sowie mehreren studentischen Hilfskräften (Thore Bergen, Angela Großkopf, Viola Logemann, Gabriele Lumpp, Naemi Manunzio und Torben Woelfert), die im Projekt mitgewirkt und nicht zuletzt auch einen erheblichen Anteil der Interviewtranskriptionen erstellt haben. Weiterhin bedanken wir uns bei all denen, die uns als Interviewpartner*innen bereitwillig bisweilen tiefe Einblicke in ihre Lebensführung gewährt haben.

Zu einer ersten Fassung des Buch-Manuskripts haben wir von einigen Kolleginnen und Kollegen zahlreiche wichtige Hinweise erhalten. Wir bedanken uns namentlich bei Daniela Grunow und Stephan Voswinkel sowie – in Bremen – bei Simone Scherger und Patrick Sachweh. Auch dort, wo wir den Hinweisen nicht gefolgt sind, haben sie uns zu nochmaligem Nachdenken und – hoffentlich – besseren Begründungen des von uns Vertretenen gebracht.

Im Rahmen des vor wenigen Jahren an der Universität Bremen etablierten sozialwissenschaftlichen Forschungszentrums zu Ungleichheit und Sozialpolitik – SOCIUM – werden Soziologinnen und Soziologen auch weiterhin den Blick auf die Lebensführung der Mittelschichten einbringen. Am SOCIUM ist ferner seit dem 01.06.2020 auch das Bremer Teilinstitut des vom Bundesministerium für Bildung und Forschung neugegründeten ortsverteilten Forschungsinstituts Gesellschaftlicher Zusammenhalt angesiedelt, zu dessen Forschungsprogramm der Bremer Standort in den kommenden vier Jahren insbesondere Studien zur Rolle der Mittelschichten als Träger wie als Gefährder gesellschaftlicher Sozialintegration beiträgt, mit aktuellem Blick auf Rechtspopulismus und den Umgang damit.Footnote 8 Dabei wird das hier entwickelte Verständnis investiver Statusarbeit und der beiden anderen Lebensführungsmodi zugrunde gelegt und weiter ausgearbeitet werden.