Schlüsselwörter

1 Einleitung

Globaler Wandel manifestiert sich für Gemeinschaften wie für jeden Einzelnen am unmittelbarsten auf regionaler Ebene. Seine Auswirkungen auf die im Gebirgsraum lebenden Menschen verdienen besondere Aufmerksamkeit, da die sozialen und ökologischen Systeme dort als ausgesprochen vulnerabel gelten. Verschiedene Werke thematisieren die Zusammenhänge zwischen globalen Veränderungen und Bergregionen bzw. dem Alpenraum (z. B. Bätzing 2015; Borsdorf und Lange 2006; Huber et al. 2005). Trotz zahlreicher Arbeiten zu Globalisierung (Überblicke geben etwa Dürrschmidt 2004; Giese et al. 2011; Reinert 2017) und Urbanisierung (z. B. Herrle und Fokdal 2018, S. 2739 f.; Taubenböck et al. 2015) sowie zu den Alpen (Psenner 2006; Scaramellini und Dal Borgo 2013) steht eine zusammenfassende Übersicht darüber aus, welche soziokulturellen Implikationen von Urbanisierung und Globalisierung für die ländliche Regionalentwicklung speziell im Alpenraum ausgehen. Basierend auf einer Literaturzusammenschau gibt dieser Beitrag einen Überblick darüber, wie sich Urbanisierung und Globalisierung soziokulturell in alpinen Regionen niederschlagen und was dies für die dortige Entwicklung bedeutet.

2 Wesen, Voraussetzungen sowie Auslöser von Urbanisierung und Globalisierung

Urbanisierung und Globalisierung stellen zwei höchst facettenreiche und recht unterschiedlich interpretierte Begriffe dar, die primär Prozesse, fallweise aber auch Zustände bezeichnen (zur Breite des Deutungsspektrums siehe z. B. Dürrschmidt 2004, S. 12 ff.; McGranahan und Satterthwaite 2014, S. 4 ff.; Tab. 1 und 2). In einer ersten Annäherung lassen sich Urbanisierung als die „Ausbreitung spezifisch städtischer Lebensformen“ (Helbrecht 2013, S. 170) und Globalisierung als „die raum-zeitliche Ausdehnung ökonomischer, sozialer und kultureller Praktiken über staatliche Grenzen“ hinweg (Braun und Schulz 2012, S. 168) verstehen. Beide historischen, aber weiter andauernden, kaum bewusst gesteuerten Prozesse sind eng miteinander verbunden, weil sie auf gemeinsamen Voraussetzungen beruhen, auf ähnliche Ursachen zurückgehen und durch vergleichbare Begleiterscheinungen gekennzeichnet sind.

Sowohl Urbanisierung als auch Globalisierung laufen als Prozesse nach Ort, Raum und Zeit differenziert ab (Gebhardt 2001). Beider Voraussetzung war eine Steigerung der agrarischen Produktivität (Golub 2010, S. 2), sodass eine landwirtschaftliche Arbeitskraft nicht nur ihre eigene Subsistenz, sondern auch die Ernährung anderer Menschen sicherstellen konnte (Ferguson 2014, S. 140). Das ermöglichte zum einen die Bildung größerer Siedlungen, wofür Leute vom Land in Städte abwanderten, und zum anderen Arbeitsteilung, Spezialisierung und Rationalisierung im Handwerk sowie später auch in der Industrie (Teuteberg 1983, S. 12). Letzteres evozierte technische Innovationen und die Nutzung von Skalenerträgen (Economy of Scale), was seinerseits sowohl eine Bevölkerungsballung an bestimmten Standorten begünstigte, als auch die Entwicklung von jenen Handelsaktivitäten vorantrieb, welche sich über weitere Entfernungen erstreckten. Die „Zunahme ökonomischer Aktionsradien“ (Nuhn und Hesse 2006, S. 22) und die Verstädterung setzten wiederum voraus, dass entsprechend günstige Transportmöglichkeiten vorhanden und fossile Energieträger in größerem Umfang verfügbar waren (Merki 2008, S. 26 ff.). Der mit der Industrialisierung verknüpfte Ausbau der Energieversorgung und der Verkehrsnetze förderte Migration und Verstädterung sowie die Erschließung weiterer Rohstoff-, Arbeits- und Absatzmärkte.

Der Wunsch, Waren-, Leistungs- und Kapitalströme ungehindert fließen zu lassen, befeuerte das Streben nach weltumspannender Deregulierung, d. h., nach Abbau von Zöllen und nichttarifären Handelshemmnissen (Huwart und Verdier 2013, S. 20; Stiglitz 2002). In der Folge gewannen multinationale Unternehmen und transnationale Institutionen an Einfluss (Roost 2018, S. 852), was auch als Wirken der „vier mächtigen K-Kräfte, bestehend aus Kapital, Konzernen, Konsumenten und neuen Kommunikationstechniken“ (Giese et al. 2011, S. 17) beschrieben wurde.

Somit ergibt sich eine gewisse Unterwanderung der Souveränität des Nationalstaates durch transnationale Akteurinnen und Akteure sowie Netzwerke (Epple 2012; Osterhammel und Petersson 2003). Zugleich provoziert die Globalisierung – quasi als Gegenströmung – Regionalisierung und Lokalisierung, was der Neologismus „Glokalisierung“ zu erfassen versucht (Gebhardt 2001, S. 5; Weichhart 2001). Die Verwobenheit von Urbanisierung und Globalisierung miteinander sowie mit einer Vielzahl von Einflussfaktoren bedingt, dass verschiedene Disziplinen diesen beiden Begriffen unterschiedliche Definitionen und Konzepte zuschreiben (Tab. 1 und 2).

Tab. 1 Definitionsspektrum Urbanisierung. Eigene Darstellung
Tab. 2 Definitionsspektrum Globalisierung. Eigene Darstellung

Die Übersichten der Haupttreiber sowie Definitionen von Urbanisierung und Globalisierung deuten einerseits deren Vielschichtigkeit an und bieten andererseits Orientierung, wenn nachfolgend jene markanten soziokulturellen Veränderungen im Alpenraum grob umrissen seien, die für die dortige Regionalentwicklung besonders relevant erscheinen.

3 Schlaglichter urbanisierungs- und globalisierungsbedingter soziokultureller Veränderungen im Alpenraum

3.1 Demografischer Wandel

Wie viele Menschen welcher Altersgruppen wo in den Alpen leben oder ihre Freizeit verbringen, von dort weg- oder dorthin zuziehen, bildet eine zentrale Determinante der zukünftigen sowie einen Spiegel bisheriger Regionalentwicklung. Seit Mitte des 19. Jahrhunderts hat sich die Einwohnerzahl im Alpenraum mehr als verdoppelt, von ca. 6 Mio. auf rund 14,2 Mio. Dabei traten großräumige Differenzen auf: Die südfranzösischen und italienischen Alpen hatten zunächst mit gravierenden Bevölkerungsrückgängen zu kämpfen (Warmuth et al. 2016, S. 92 f.). Erst seit den 1980er-/1990er-Jahren sind dort Zuwächse zu beobachten, während in Teilen des Zentral- und Nordalpenraumes die Bevölkerungszahl kontinuierlich anstieg. Zugleich ergaben sich kleinräumig auch divergente Veränderungsmuster: Knapp nebeneinander erzielten Tallagen und einige touristisch attraktive Hochlagen deutliche Bevölkerungszuwächse, während die Bevölkerungszahlen in anderen, hoch gelegenen, schlecht erreichbaren Siedlungen stagnierten oder sanken.

Räumliche Bevölkerungsverteilung und Urbanisierungstendenzen sind von der Topografie mitbestimmt: Agglomerationen befanden sich am Rande des Berggebietes während die inneralpinen Gebirgslagen meist ländlich geprägt waren (Chilla et al. 2019, S. 13). Erst seit Beginn des 20. Jahrhunderts setzte eine Bevölkerungs- und Siedlungskonzentration in den Talböden (Unterinn-, Drau-, Etsch-, Po-, Alpenrhein-, Isère-, Rhônetal) ein, die früher besonders hochwassergefährdet, aber nach Flussregulierungen leichter besiedelbar waren (Ständiges Sekretariat der Alpenkonvention 2015, S. 18). Nunmehr sind etwa 35 % des Alpenraumes als verstädtert zu qualifizieren, wo mehr als 50 % der alpinen Bevölkerung leben.Footnote 1 Fünf Gebietskategorien fassen die demografische Vielfalt (Tab. 3).

Tab. 3 Demografische Gebietskategorien im Alpenraum. Bausch (2014, S. 7)

Zwischen 2001 und 2015 wuchsen die Bevölkerungszahlen in den Alpen in den städtischen und in den suburbanen Zonen im Mittel um je rund 8 %, während die Anstiege in ländlichen Wachstumszonen mit durchschnittlich 6,8 % etwas schwächer ausfielen (Chilla et al. 2019, S. 22). D. h., in den Alpen finden Agglomerationsprozesse statt, wo sich die Bevölkerung zunehmend direkt in oder in der Nähe von städtischen Gebieten und entlang der wichtigsten Zufahrtstraßen zu diesen konzentriert (Ständiges Sekretariat der Alpenkonvention 2015, S. 37)Footnote 2. Dass die Bevölkerungszahlen im Alpenraum insgesamt gewachsen sind, geht also größtenteils auf Zuwanderung zurück, die erst in jüngerer Zeit einsetzte.

Die Alpen sind, was die Demografie und ihre Dynamik betrifft, von besonderer Heterogenität gekennzeichnet: Hier stoßen nicht nur verschiedene europäische (romanische, germanische, slawische u. a.) und außereuropäische Kulturen (z. B. aus Afrika, dem Nahen Osten, Pakistan, Afghanistan, China) (Marot et al. 2015, S. 88) auf engstem Raum aufeinander, sondern auch variierende Lebensstile und FamilienstrukturenFootnote 3. Hier liegen ländliche Regionen, die schrumpfen und wo Talentabwanderung (Brain-Drain) dynamische Potenziale ausdünnt, wo wegen fehlender Kinder Schulen schließen, wo wegen Mitgliederschwund Vereinsleben abstirbt, wo leerstehende Wohn- und Gewerbeimmobilien zum Problem werden, eng neben ländlichen Regionen, die wachsen und wo ein Brain-Gain neue Impulse bringt sowie das kulturelle Leben belebt, wo der Zuzug Gemeinschaftsinitiativen sprießen lässt, wo aber die Knappheit an Wohnraum und Gewerbestandorten für Spannungen sorgt.

3.2 Agrarstrukturwandel

Die Landwirtschaft in den Alpen veränderte sich tiefgreifend: Der gemessen an der Anzahl der Betriebe und der Beschäftigten sowie am Beitrag zur Wertschöpfung ehemals dominierende Sektor hat seit längerem seine Vorrangstellung eingebüßt. Rund 40 % der landwirtschaftlichen Betriebe (v. a. kleine und mittlere) haben allein zwischen 1980 und 2000 die Bewirtschaftung eingestellt, wobei die Reduktion in den deutschsprachigen Alpenregionen signifikant geringer ausfiel als in romanischen bzw. slowenischen (Streifeneder et al. 2007a, S. 6), was mit unterschiedlichen staatlichen Fördermaßnahmen und Einkommenskombinationen zu tun haben dürfte. Auch zwischen 2000 und 2010 gaben 22 % der Landwirtschaftsbetriebe im Alpenraum aufFootnote 4 (Streifeneder et al. 2018). Die Gründe für die Aufgabe sind u. a. fehlende Hofnachfolge (Larcher und Vogel 2019; Vogel et al. 2007), unbefriedigende Agrareinkommen oder attraktivere außerlandwirtschaftliche Erwerbsmöglichkeiten.

Nach dem zweiten Weltkrieg verschwand der Ackerbau, der zu Zeiten der Subsistenzwirtschaft noch üblich war, aus den Höhen- und Steillagen (Girtler 1996) und zog sich – wenn nicht gänzlich – auf Talböden und relative Gunstlagen zurück, zumal Handelsbeziehungen mit außeralpinen Räumen die Versorgung im Berggebiet mit Ackerfrüchten gewährleisteten. Getrieben durch den globalisierungsbedingten Wettbewerbsdruck kam es betrieblich und regional zu Spezialisierungen (Streifeneder et al. 2007b). Die Grünlandnutzung mit Wiederkäuerhaltung erweist sich in weiten, vor allem höheren und klimatisch ungünstigen Teilen als alternativlos. Je abschüssiger und höher die Betriebsfläche liegt, desto extensiver ist die Bewirtschaftung. Dort, wo eine Mechanisierung der Flächenbewirtschaftung wegen der Hangneigung nur schwierig oder unmöglich ist, und allgemein in Ungunstlagen, setzte eine Extensivierung bis hin zur völligen Nutzungsaufgabe ein. In Gunstlagen griff dagegen Intensivierung Platz (z. B. Obst- und Weinbau in Südtirol und im Trentino) (Egarter Vigl et al. 2017, S. 2238; Wagner und Niedemayr 2016, S. 234).

Infolge der Aufgabe der Tierhaltung oder als Konsequenz agrartechnischer, globalisierungsbefeuerter Fortschritte – etwa bei der Futterkonservierung (Heubelüftung, Ballensilage) – verschwanden nicht nur die seinerzeit das Landschaftsbild mitprägenden Heumandeln und Schwedenreuter, sondern auch die Bausubstanz (Ställe, Stadeln, manche Alm- und Heuhütten) verlor ihre klassischen Funktionen. Ähnliches gilt für alte Hofgebäude: Sie wirken bisweilen überdimensioniert angesichts der Abwanderung aus der Landwirtschaft sowie der generellen Tendenz zu kleineren Haushalten, die mit der Urbanisierung eingesetzt hat und auch die Bauernschaft erfasst hat. Nicht mehr für den ursprünglichen Zweck genutzte Gebäude(-teile) bieten jedoch Raum für einen Zuerwerb (z. B. Gästebeherbergung). Freilich verändert der Einstieg ins Dienstleistungsgeschäft das bäuerliche Berufsprofil und Selbstbild. Die Bauernschaft soll multifunktionalen Ansprüchen gerecht werden (Vogel et al. 2009; Wytrzens und Neuwirth 2004) und ein breites Spektrum an Ökosystemdienstleistungen sicherstellen (z. B. Pachoud et al. 2020; Ramel et al. 2020; Zoderer et al. 2016), wofür sie öffentliche Mittel erhältFootnote 5. Damit vollzog sich ein tiefgreifender kultureller Umbruch für den landwirtschaftlichen Berufsstand, was seinen Umgang mit der Natur betrifft: Galt es früher primär der Natur das Lebensnotwendige abzuringen und mit feindlichen Naturgewalten fertig zu werden (Carrer et al. 2020, S. 69 f.), so gewann nun der vor allem von Städtern eingeforderte Erhalt und Schutz der Natur an Priorität (Getzner 2020, S. 503).

Wo widrigen Bedingungen zu trotzen war, richteten die Kräfte Einzelner wenig aus. Dort war Kooperation angesagt, was schon historisch zur Bildung von Agrargemeinschaften (Allmenden) im Berggebiet geführt hatte (Siegl 2017, S. 103 ff.). Wo diese nicht im Laufe der Zeit aufgeteilt wurden, behielten viele, die mit der Landwirtschaft aufgehört hatten, ihre Anteilsrechte am gemeinschaftlichen Besitz. Die Folge war ein zum Teil konfliktträchtiges Mitmischen von Agrar-Externen im Landwirtschaftsgeschehen, das zu Kollisionen zwischen landwirtschaftlicher Produktion und touristischer Nutzung führte (Mayer et al. 2008; Wanner et al. 2021) sowie zu einer Durchdringung mit globalen ökonomischen Interessen (Dalla Torre et al. 2021, S. 3).

3.3 Tourismusentwicklung

Massive Änderungen sowie vielfältige Einflüsse von außerhalb brachte der Tourismus, der sich als Begleiterscheinung der industrialisierungsbedingten Urbanisierung begreifen lässt, in den Alpenraum. Schon Ende des 18. Jahrhunderts begaben sich jene, die es sich leisten konnten, wenigstens zeitweise aus den versmogten, grauen Stadtschluchten in das idyllische Grün alpiner Landschaften. In der Mitte des 19. Jahrhunderts setzte der Alpinismus breitflächig ein mit zahlreichen Erstbesteigungen, vor allem durch Briten. In Großbritannien – der Wiege der Industrialisierung – erfolgte in London die Gründung des ersten Alpenvereins der Welt (Meinherz 2008, S. 2). Die in die Berge strömenden Fremden brachten Neues mit, das die Kultur der Einheimischen veränderte (Lauterbach 2010, S. 2); und so stammt auch ein Großteil von dem, was mit den Alpen assoziiert wird, eigentlich von einer gebildeten städtischen Oberschicht, die außerhalb der Alpen lebte (Reichel 2020, S. 101). Allmählich setzte die touristische Erschließung ein: an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert durch Errichtung von Grandhotels und Berghütten; in der Zeit zwischen den Weltkriegen durch erste Seilbahnbauten; in den Wirtschaftswunderjahren als Folge des gestiegenen Wohlstands, der zunehmenden Motorisierung und vermehrter Freizeit durch Sommermassentourismus; ab Mitte der 1960er-Jahre durch Wintermassentourismus. Nur wenige – vor allem „Zwei-Saisonen“-Orte – konnten sich die kostspielige Infrastruktur leisten und an diesem Boom teilnehmen, der allerdings ab Mitte der 1980er-Jahre etwas zu erlahmen begann, weil der Alpentourismus durch Globalisierung, Liberalisierung, Vergünstigungen im Flugverkehr sowie Grenzöffnungen im internationalen Wettbewerb deutlich an Marktanteilen verlor (Baldes 2016, S. 16 f.).

Aktuell konzentrieren sich die Tourismusaktivitäten auf HotspotsFootnote 6, wo baulich Verstädterung und Zersiedelung Platz greifen und wo nicht selten artifizielle Attraktionen wie Freizeitparks, Golfplätze, Mountainbike-Trails oder spektakuläre Hängebrücken und Aussichtsplattformen bei Bergstationen von Seilbahnen noch mehr Gäste anlocken sollen. Investitionen von international agierenden Tourismusunternehmen erhöhen die Abhängigkeit alpiner Regionen von externem Kapital und drängen kleinere sowie mittlere Angebote in die Defensive. Gleichzeitig wird Anonymität gefördert und Tradition für Tourismuszwecke instrumentalisiert (Bätzing 2019), wie z. B. der alpine Hüttenbau, der zur „Ortsbezug suggerierenden Atmosphärenarchitektur“ (Tschofen 2018, S. 22) mutiert.

Der Tourismus macht Teile der Alpen zu einem „Global Entertainment District“ (Diamantini 2014, S. 40), zu einer „Drehscheibe für Begegnungen, für Erfahrung und Austausch aller Art“ (Lipp 1993, S. 49). Die Fremden führen ihren Lebensstil vor; sie praktizieren sowohl räumlich als auch sozial horizontale sowie vertikale Mobilität (zwischen Städten und Bergdörfern sowie zwischen sozialen Milieus); sie pflegen eine Ferienkultur (Lauterbach 2010, S. 21). Viele nutzen die „Alpen als Sportgerät, Eventraum und Freizeitpark“ (Bätzing 2017, S. 215). Andere – meist alpenfern lebende bourgeoise Bohemiens – kommen mit Konservierungswünschen und elitären Exklusionsansprüchen auf touristenfreien, unberührten Selbsterfahrungs- und Darstellungsraum, wo jegliche Infrastrukturbauten etc. vehement abgelehnt werden (Mayer und Job 2014, 46). Die Bereisten entwickeln demgegenüber eine Dienstleistungskultur, die mit starken Veränderungen im alltäglichen Lebensvollzug einhergeht; insbesondere mit der Auflösung sozialer Bindungen samt Schwund des lokalen Sozialgefüges, mit Mentalitätsveränderungen infolge von Überfremdung und Overtourism sowie u. U. mit gesundheitlichen Beeinträchtigungen (Bachleitner 2001, S. 23). Einheimische sehen sich in Tourismusgebieten einer gewissen Fremdbestimmung, einer Dominanz wirtschaftlicher Interessen und einer Übererschließung ausgesetzt (Lauterbach 2010, S. 21). Sie empfinden eine Benachteiligung ihrer Interessen gegenüber jenen der Gäste und eine Beeinträchtigung ihrer Lebensqualität (Heimerl et al. 2020, S. 11). Die Einheimischen erfahren aber auch eine soziale Bereicherung: Ihnen bietet sich die Chance, Fremdes, kulturell Andersartiges kennenzulernen. Sie können ihren Horizont erweitern, ihre Fremdsprachenkenntnisse verbessern und neue Formen der Freizeitgestaltung, Körperkultur und des Sports ausprobieren (Lauterbach 2010, S. 21). Zudem wandeln sich im Laufe der Zeit und in Übereinstimmung mit den touristischen Wünschen und Urlaubspräferenzen die regionalen Selbstdarstellungen und Diskurse, womit eine sukzessive Veränderung regionaler affektiver Bezüge, d. h., der regionalen Identifikationsmuster, einhergeht (Bachleitner 2001, S. 25).

3.4 Zweitwohnungswesen und Zuwanderung

Neben Schneekanonieren, Liftcapos und Hotelburgherren sorgen ambivalente Effekte der Freizeit- und Zweitwohnsitze für soziale wie ökologische Transformationen. Die Wiederentdeckung des entvölkerten ländlichen Berggebietes durch StadtflüchtlingeFootnote 7 – quasi eine „Kontraurbanisierung“ (Berry 1976) setzte als West-Ost-gerichteter Prozess (Löffler et al. 2014) ein: während der 1980er-Jahre zuerst in Frankreich, dann ab etwa 1990 in den italienischen Westalpen, um 2000 in den italienischen Ost- sowie den slowenischen Alpen, aber auch in der Schweiz und in Westösterreich, jedoch nicht in den östlichen österreichischen Alpen (Čede et al. 2014).

Im gesamten Alpenraum existieren rund 1,85 Mio. Zweitwohnungen, was im Durchschnitt einem Viertel des Gesamtwohnungsbestandes entspricht. Dieser Prozentsatz variiert stark von Region zu Region und reicht von jeweils rund 33 % Zweitwohnsitzen in den französischen und italienischen Alpen bis zu 13 % bzw. 10 % in den slowenischen und deutschen Alpen (Sonderegger und Bätzing 2013, S. 15). Am Zweitwohnungswesen beteiligen sich verschiedene, partiell überlappende Gruppen (Sonderegger und Bätzing 2013, S. 9): i) Wochenendhauskäuferinnen und -käufer, die selbst regelmäßig zu Kurzaufenthalten kommen; ii) Kapitalanlegerinnen und -anleger, die in Ferienhäuser oder -wohnungen investieren und diese meist (kurzfristig) vermieten; iii) Remigrantinnen und Remigranten, die ererbte Bausubstanz saisonal bis dauerhaft nutzen. Zweitwohnsitze korrespondieren mit Multilokalität und können zur „ländlichen Gentrifizierung“ (Barrioz 2020) und zu „urbanen Außenposten“ (Perlik 2011, S. 10) führen. Sie tragen zum Verwischen von Grenzen zwischen Einheimischen und Fremden, Gastgebenden und Gästen, Sesshaften und Mobilen bei; das Homeoffice im Zweitwohnsitz stellt dann eine geografische Entsprechung für das Verschwimmen der Grenzen zwischen Arbeit und Freizeit dar (Friedli 2020, S. 1).

Mehrere Umstände, die als Resultat von Globalisierungstendenzen interpretiert werden können, haben den Zuzug sowie die Expansion von Zweitwohnsitzen in den Alpen begünstigt: Niederlassungs- und Kapitalverkehrsfreiheit innerhalb der EU, niedrige Immobilienpreise als Folge von Leerstand und/oder von schlechtem Erhaltungszustand der Gebäude in peripheren Lagen, verbreiteter materieller Wohlstand sowie verbesserte Erreichbarkeitsverhältnisse (Membretti und Lucchini 2018, S. 203), die Digitalisierung sowie die Entdeckung alpiner Räume als „New Immigration Destinations“ (McAreavey 2017). In diesem Zusammenhang kann man von einer teilweise globalisierungsbedingten „Migrationswende“ sprechen (Dax und Machold 2015, S. 44), die darin zum Ausdruck kommt, dass der Anteil der ausländischen Bevölkerung gestiegen ist.Footnote 8 Multilokalität sowie Einflüsse global agierender Medienhäuser können zudem eine Vereinheitlichung der regionalen Kultur begünstigen und zusammen mit der Digitalisierung die Ortsbindung der Menschen und ihrer wirtschaftlichen Aktivitäten erodieren lassen (Barke 2007, S. 175).

Temporär oder permanent Zugezogene leisten – wenn sie neu bauen – der Zersiedlung Vorschub, verschärfen mancherorts die Wasserknappheit (z. B. in den Südalpen), tragen zu Verkehrsstaus bei, verknappen und erschweren für die lokale Bevölkerung den Zugang zu leistbarem Wohnraum, belasten die Kommunalfinanzen und induzieren bei den Einheimischen einen schleichenden Kontrollverlust (Sonderegger und Bätzing 2013, S. 1). Andererseits können sie den Gemeinschaftssinn stärken (im schlechtesten Fall durch ein Zusammenrücken der Einheimischen gegenüber den Eindringlingen, im besten Fall durch die Schaffung einer inklusiven Dorfgemeinschaft), die Bevölkerung verjüngen, das lokale kulturelle und soziale Leben bereichern, den lokalen Handel und das Handwerk beleben, zur Renovierung von Bausubstanz sowie zum Infrastrukturerhalt (Geschäfte, Gasthäuser etc.) beitragen (Löffler et al. 2016, S. 488).

3.5 Verkehr

Eine Voraussetzung für die meisten geschilderten Veränderungen, gleichzeitig eine Begleiterscheinung der Globalisierung und selbst ein den Alpenraum veränderndes Phänomen, bilden der Verkehr sowie die Verkehrsinfrastruktur. Die Alpen stellen im Austausch zwischen Nord- und Südeuropa eine natürliche Barriere dar, zu deren Überwindung ursprünglich Trampel- und dann Saumpfade dienten. Schon in der Antike errichteten die Römer Straßen für Pferdefuhrwerke. Mitte des 19. Jahrhunderts folgten EisenbahnenFootnote 9. Hierauf setze die Erschließung der Bergwelt durch Zahnrad- sowie Seilbahnen für den Fremdenverkehr ein. Nach dem Zweiten Weltkrieg begann der Neu- und Ausbau alpenquerender Straßen (Brenner-, Gotthard-, Tauern-, Phyrnautobahn). Inneralpin erfolgte die – auch dem Tourismus dienliche – Flächenerschließung von Höfen und Almen mit Güterwegen und Materialseilbahnen. Das Verkehrsaufkommen in den Alpen nimmt stetig zuFootnote 10.

Aktuell prägen Verkehrsbauten (Viadukte, Brücken, Lärmschutzwände etc.) das Landschaftsbild ganzer Talschaften. Im Berggebiet sind diese Bauten bei der Errichtung (wegen des schwierigen Geländes), im Erhalt (wegen extremer Witterungsbedingungen, vor allem im Winter) und wegen der hohen Verkehrsbelastung wesentlich teurer als im Flachland, weshalb die Gebirgsbevölkerung auf außeralpine Unterstützung angewiesen ist, was zu Abhängigkeiten führt. Da sich der Schall in den engen Gebirgstälern mehrfach bricht und sich verschmutzte Luft eher hält, sind die Lärm- sowie Umweltbelastung viel stärker spürbar. Mit anderen Worten: Der Nord-Süd-Transit-, Tourismus- und Pendelverkehr führen im ökologisch sensiblen Gebirgsraum zu Belastungen für Menschen und Umwelt. Zugleich ergibt sich das Paradoxon, dass das Überleben des Alpenraumes mit seiner Bevölkerung und Wirtschaft gerade von der Mobilität von Gütern und Personen und damit vom Verkehr abhängt (Messerli und Egli 2015, S. 50). Die Situation stellt sich zudem verzwickt dar, weil die politischen Interessen auf EU- bzw. nationaler und auf regionaler Ebene divergieren: Während in den Transitregionen selbst die Verringerung der verkehrsinduzierten Umweltbelastungen Priorität genießt, beabsichtigen übergeordnete Ebenen vor allem die effizientere Bewältigung der Verkehrsströme (Kanitscheider und Borsdorf 2011). Vor allem die Schaffung des Europäischen Binnenmarktes führte zu einer weiteren Verlagerung der verkehrspolitischen Entscheidungen weg von den Alpen (Messerli und Egli 2015, S. 56).

Als weiteres Spezifikum ist anzusehen, dass in den Alpen lineare Erschließungen entlang der Talachsen dominieren, da sich wegen des beengten Raumes keine Transportnetze entfalten können, was hier die Entstehung von Großstadträumen prinzipiell begrenzt (Messerli und Egli 2015, S. 51). „Innerhalb des Alpenraumes hat die Bündelung des Verkehrs zur Folge, dass die Unterschiede zwischen gut erreichbaren Regionen und zentralen Orten einerseits und den abgelegenen, peripheren Regionen andererseits immer größer werden“ (Messerli und Egli 2015, S. 55).

4 Implikationen soziokultureller Veränderungen für die alpine ländliche Regionalentwicklung

Nun sei der Blick gerichtet auf die Implikationen des soziokulturellen Wandels für die Regionalentwicklung, worunter eine zielgerichtete, bewusst herbeigeführte – die systemare Eigendynamik inkludierende – Veränderung der lokalen Lebensbedingungen von Menschen eines (Teil-)Raumes im Zeitablauf verstanden sei (Wytrzens 2021, S. 5). Die Ausführungen beschränken sich auf ländliche Regionen, weil dort manche Strukturschwächen einen besonderen Entwicklungsbedarf evozieren und weil eine pauschale Betrachtung des gesamten Alpenraumes angesichts seiner Heterogenität sachinadäquat wäre.

4.1 Demografiebedingte Implikationen

Je nach Gebietskategorie haben demografische Veränderungen unterschiedliche Auswirkungen: In schrumpfenden Regionen sinkt die Infrastrukturauslastung, weswegen die Verbleibenden höhere Kosten zu tragen haben oder/und eine schwindende Versorgungsqualität hinnehmen müssen (Schließungen von Kindergärten, Schulen, Arztpraxen oder Geschäften). Als Anpassungsstrategie drängt dies darauf, ein Mindestangebot an Versorgung bzw. Infrastruktur aufrecht zu erhalten und koordinierte Redimensionierungspfade zu beschreiten (Dax und Fischer 2018, S. 306). Allenfalls bietet hier noch die Ansiedlung von Flüchtlingen eine Option (Del Biaggio et al. 2020, S. 5 f.). In stabilen, wachsenden ländlichen Regionen bringen Zuwandernde neue Lebensstile, eine Steigerung der kulturellen Vielfalt und eine Pluralisierung des Wertegefüges mit sich (Bender und Kanitscheider 2012), was der Regionalentwicklung eine einheitliche, konsensuelle Orientierung erschwert und Spannungspotenziale beschert. Im besten Fall können sie eine Bereicherung darstellen und zu innovativen Konzepten und Maßnahmen führen, im schlechtesten Fall lösen sie Blockaden, Identitätskrisen und sogar die Paralyse des regionalen Gemeinschaftsbewusstseins aus (Membretti und Viazzo 2017, S. 105), zumal Zuwandernde womöglich traditionelle lokale Hierarchien in Frage stellen (Perlik und Membretti 2018, S. 252). Das Spannungsfeld zwischen Tradition und Transformation (Boesch 2006, S. 70) verschiebt die Gewichtungen zwischen ökologischen, ökonomischen und sozialen Zielen, denen sich die Regionalentwicklung verschreibt, und macht bewusste Ausgleichs- und Integrationsstrategien sowie – je nach Ausmaß des Bevölkerungswachstums – einen Infrastrukturausbau notwendig.

4.2 Zweitwohnsitzbedingte Implikationen

Dort, wo Zweitwohnsitze boomen, wird Wohnraumsicherung für permanent Bleibewillige in der Regionalentwicklungsagenda vorrangig. Newcomer sorgen dafür, dass statt informeller sozialer Mechanismen vermehrt systematisch erstellte Entwicklungsstrategien, rationale Entscheidungsfindung und formelle Regulative die Regionalentwicklung steuern. EU-weite Spielregeln für Regionalförderung halten zudem zu Nachvollziehbarkeit und Transparenz an. Von Zweitwohnenden ist auch nur partielles Commitment für ihre zweite Heimat zu erwarten (Greinke et al. 2021, S. 27), was partizipatorische Regionalentwicklungsansätze erschwert. Andererseits erleichtern jene, die in mehreren Gebieten verankert sind, den Aufbau von überregionalen Netzwerken. Da manche Wochenendhausbesitzerinnen und -besitzer vermögenderen, einflussreichen Schichten angehören, können sie ihre Macht und ihr ökonomisches Gewicht möglicherweise unverhältnismäßig stark in die Gestaltung der Regionalentwicklung einbringen, was bei Einheimischen das Gefühl wecken mag, die Entwicklung ihrer Heimat läge zusehends in externen Händen.

4.3 Tourismusbedingte Implikationen

Der Fremdenverkehr in den Alpen beschränkt sich nicht nur auf ausgesprochene Tourismusgebiete, sondern lässt auch stabile, wachsende und sogar schrumpfende ländliche Regionen selten gänzlich völlig unberührt: Sogar Schutzgebiete werden als Grundlage für naturbasierten Tourismus gesehen (Hammer und Siegrist 2008). Die Tourismusbranche versteht sich als wirtschaftlicher Motor der Regionalentwicklung, der Investitionen und Einkommen selbst in entlegene, strukturschwache Gegenden bringt, woraus sie ableitet, dass ihre Ansprüche zu priorisieren seien. Dementsprechend bekommt die Tourismuswirtschaft in vielen lokalen Entwicklungsstrategien als Basissektor einen prominenten Platz eingeräumt, u. a., weil sie Alleinstellungsmerkmale des Alpenraumes (landschaftliche Schönheiten, bergbäuerliches kulturelles Erbe) in Wert zu setzen vermag.Footnote 11 Tourismus bringt außerdem „Veralltäglichung von Fremdheit“ (Siebel 2018, S. 2760) im Sinne einer „Freisetzung aus traditionellen Bindungen“, einer Individualisierung mit Selbstbezogenheit und die Auflösung von Gemeinschaftswerten mit sich (Dirksmeier 2006, S. 223), was gemeinschaftliche Entwicklungsansätze erschwert. Andererseits entfaltet er unter Umständen Impulse für eine intraregionale, branchenübergreifende Zusammenarbeit (Müller 1997, S. 27)Footnote 12.

Forcierte touristische Erschließungen sowie Kraftwerksbauten gaben zu Beginn der 1950er-Jahre Anlass zur Gründung der Internationalen Alpenschutzkommission (CIPRA, Commission Internationale pour la Protection des Alpes) (Balsiger 2008, S. 10), was in Folge zur Verabschiedung der Alpenkonvention als völkerrechtlichen Vertrag sowie zur Lancierung eines eigenen EU-Programmes (Interreg Alpine Space) führte. Diese internationalen Initiativen beförderten institutionell wie materiell die Entwicklung einer länder- und kulturübergreifenden Alpenidentität, was ein strategisch akkordiertes Vorgehen erleichtern kann.

4.4 Agrarbezogene Implikationen

Deagrarisierung schmälert auch im ländlichen Raum den Einfluss der Bauernschaft; sie gerät in die Minderheitenposition, wiewohl sie für den weitaus größten Teil der Fläche die Verantwortung trägt. Nichtagrarische Kreise besitzen wenig Sachkenntnis über sowie Verständnis für die Landwirtschaft, sie stellen aber eigene Ansprüche an den Agrarraum, was zu einer Transformation von reinen Urproduktionsflächen zu Freizeitgelände führt: Almen, Wiesen und Weiden als „Touristenauslauf“ im Sommer und als Skipisten oder Langlaufloipentrassen winters, als Start- und Landeplätze für Paragleiter, zugehörige Feld- und Forstwege als Mountainbike-Trails etc. Die Regionalentwicklung ist gefordert, i) diverse Flächenansprüche auszubalancieren, ii) wirtschaftliche Belastungen (etwa durch Flurschäden oder Haftungsprobleme) und Optionen (z. B. Zusatzeinkommen durch Pistenpacht) auszutarieren, iii) der Verflechtung der Wirtschaftszweige Augenmerk zu schenken, sowie iv) volksbildnerisch zu wirken, damit breitere, zusehends urban orientierte Kreise ein Einsehen in Erfordernisse der Landwirtschaft gewinnen.Footnote 13 Gefragt ist also ein integraler, sektor- und raumübergreifender Regionalentwicklungsansatz. Dieser könnte i) auf sozialer Ebene ein Abdrängen von Landwirtinnen und Landwirten in eine Randgruppenexistenz verhindern helfen und ii) in ökologischer Hinsicht vor allem in Ungunstlagen – mit einer global nicht wettbewerbsfähigen Agrarproduktion – die Extensivierung bremsen und auf eine adäquate Mindestbewirtschaftung achten, damit die einzigartigen, auf regelmäßige anthropogene Eingriffe angewiesenen Ökosysteme erhalten bleiben und damit Naturgefahren (wie Lawinen- und Murenabgängen) vorgebeugt wird. Andererseits muss die Regionalentwicklung – besonders in Gunstlagen, wo etwa Wein und Obst gedeihen – der Intensivierung Grenzen setzen, damit die Umwelt nicht übermäßig belastet wird. Generell geht es um die Sicherung von Schutz- und Ruhezonen sowie alpiner Freiräume (Job et al. 2017).

5 Perspektiven alpiner ländlicher Regionalentwicklung im Lichte von Urbanisierung und Globalisierung

Angesichts der fortschreitenden Globalisierung dürfte die Gestaltung der ländlichen Regionalentwicklung im Alpenraum noch mehr als in anderen Teilen Europas gefordert sein, Autonomie und externe Einflüsse auszubalancieren. Morphologie und Topografie, die territorial aufgesplitterte Zugehörigkeit zu verschiedenen Staaten sowie die soziale, sprachliche und kulturelle Vielfalt erschweren einerseits die Zusammenarbeit zwischen Talschaften und Regionen. Andererseits mögen gerade strukturschwachen ländlichen Gebieten (mit dem höchstem Bedarf an eigenständiger Entwicklung) Initiative, Kraft und Partizipationswillen fehlen, um sich selbst zu organisieren und die eigene Entwicklung in die Hand zu nehmen. Solchen strukturellen Schwächen stehen besonders viele, heterogene, teilweise sehr vehement vertretene Ansprüche von außerhalb des Alpenraumes gegenüber. Infolge dieser etwas verzwickten Konstellation wird sich die ländliche Regionalentwicklung im Alpenraum in ein komplexes Mehrebenen-Governance-System einfügen müssen. Das gilt einmal in sachlicher Hinsicht: Da sind örtliche, regionale und (supra-)nationale Vorgaben der allgemeinen Raumplanung aufeinander abzustimmen und mit diversen sektoralen Entwicklungsansätzen und diese wiederum untereinander in Einklang zu bringen. Genauso gilt das auf organisatorischer Ebene: Hier müssen Aktivitäten verschiedener Institutionen (wie der Alpenkonvention, der ARGE Alp, von Interreg Alpine Space, Nationalstaaten, Bundesländern, Kantonen, Provinzen, Départements, lokalen Aktionsgruppen etc.) akkordiert und koordiniert werden (Balsiger 2008, S. 9 f.). Zudem stehen ländliche alpine Regionen vor der Herausforderung, sich mehrfach zu beteiligen und sich parallel zu engagieren.

Neben Kooperationen dürfte auch die Konkurrenz zwischen den einzelnen alpinen Teilräumen die zukünftige Regionalentwicklung prägen. Die kleinräumige soziokulturelle Variabilität (z. B. die Vielfalt an Sprachen und Dialekten, an historischen Hof- und Siedlungsformen oder an lokaltypischen Bräuchen und Speisen) bietet dabei Distinktionsmerkmale, die es einzelnen Talschaften erlauben, sich z. B. im touristischen Wettbewerb voneinander abzuheben. Jede ländliche Alpenregion wird sich zudem zwischen Authentizität und Artifizialität zu entwickeln haben: Die Bewahrung der Urtümlichkeit, des Natur- und Kulturerbes sowie die Pflege von Traditionen und Brauchtum können die soziale Verwurzelung fördern, die Identität und Attraktivität stärken, aber auch zum Verharren im Überkommenen und zum Zurückbleiben beitragen. Dagegen mag das Etablieren neuer Kulturelemente und Gepflogenheiten sowie die Öffnung für innovative Kreationen Modernisierungsimpulse bringen, aber auch Zerstörungen von Bestehendem, von Natur und Landschaft auslösen (etwa durch „Verskischaukelung der Bergwelt“). Generell ist und bleibt die Bereitstellung einer zeitgemäßen Infrastruktur eine zentrale Herausforderung für die Regionalentwicklung. In einer globalisierten Welt gelten entsprechende Erschließungen als Voraussetzung für die Stabilisierung von Bevölkerung und Wirtschaft sowie für die Sicherung der Lebensqualität. Sie sind jedoch im Alpenraum aufgrund der Topografie und der Siedlungsstrukturen technisch schwieriger und kostspieliger zu realisieren. Hinzu kommen Konflikte zwischen Ausbaumaßnahmen sowie dem Schutz von Umwelt, Natur und Landschaft: Solche Spannungen treten etwa bei der Nutzung von Wasserkraft zur Energieerzeugung und beim Bau von Hochspannungsleitungen regelmäßig auf. In diesem Zusammenhang wird sich die ländliche Regionalentwicklung im Alpenraum gleichzeitig mit der dezentralen, lokalen Erzeugung erneuerbarer Energie und der Integration in ein globales europäisches Energieversorgungsnetz auseinandersetzten müssen. Ähnlich spannungsgeladen dürfte sich die Weiterentwicklung der Verkehrsinfrastruktur gestalten, wobei eine bessere Anbindung peripherer Lagen (Nebentäler) ebenso ansteht wie Verkehrsvermeidungsstrategien (Bender 2006, S. 101) und das Bewältigen der von transeuropäischen Transportnetzen induzierten Verkehrsflut.

Was den demografischen Wandel betrifft, sieht sich die Regionalentwicklung in den Alpen weiterhin sowohl mit Emigration als auch mit Immigration konfrontiert, was in beiden Fällen Zersiedelung und Bodenversiegelung auch in ländlichen Gebieten vorantreiben dürfte. Zudem steigt der Anteil an Singlehaushalten, und es etablieren sich aufgrund von Urbanisierungsphänomenen auch am Land Lebensstile, die mit vermehrter Raumbeanspruchung einhergehen. Die Versingelung lässt vor allem ältere, in Streusiedlungsgebieten lebende, immobile Menschen vereinsamen. Die Regionalentwicklung ist daher gefordert, ihnen eine Teilhabe am Gemeinschaftsleben zu ermöglichen. Außerdem mehren sich vor allem in ländlichen Gebieten, wo Menschen zuziehen, Spannungen zwischen autochthonen Kreisen und den Allochthonen. Damit Integration gelingen kann, muss die ländliche Regionalentwicklung auf gegenseitiges Verständnis und eine gewisse Offenheit hinarbeiten. Sie wird weiters allfällige Verschiebungen im Verhältnis zwischen permanent und temporär Anwesenden Rechnung tragen müssen; denn vermehrtes Pendlertum und sich verbreitende Multilokalität der Lebensführung können die Identifikation mit der Region ebenso wie die Partizipation an lokalen Aktionen schmälern (Othengrafen et al. 2021, S. 8). Summa summarum dürften die andauernden Urbanisierungs- und Globalisierungsprozesse die alpine ländliche Regionalentwicklung weiterhin vor spannungsreiche und spannende Herausforderungen stellen.