„Business ethics is essential for business. Business ethics is vital not because it is fashionable – though business can ill afford to ignore anything […] that seriously influences the markets in which it operates. Rather, business ethics is necessary because ethical choices are unavoidable. The business ethics challenge is to make that inevitable ethical decision-making explicit so as to make it better.“ Footnote 1

Wie bereits im zweiten Kapitel dargelegt, befasst sich die Arbeit im Folgenden spezifisch mit dem Forschungsfeld der Unternehmensethik, sie fokussiert sich folglich auf Unternehmen als wertschöpfungsfokussierte Betriebe. Die Beschäftigung mit Unternehmen als originärem Erfahrungsobjekt der Unternehmensethik erscheint hierbei nicht nur einer konventionellen Bezeichnung des Forschungsfeldes nach, sondern auch inhaltlich gerechtfertigt. So sind zum einen Unternehmen für den Lebensstandard moderner Gesellschaften unverzichtbar. Sie sind nach Wieland „das Rückgrat moderner Gesellschaften.“Footnote 2 Ebenso stellt Pfriem fest: „In marktwirtschaftlich-kapitalistisch verfassten Gesellschaften sind Unternehmensorganisationen zu besonders wichtigen Akteuren der Daseinsbewältigung geworden.“Footnote 3 Zum anderen befinden sich gerade Unternehmen – und hier insbesondere die meist von Aktiengesellschaften betriebenen GroßunternehmenFootnote 4 – im kritischen Fokus der Öffentlichkeit, da diese häufig über umfassende Ressourcen verfügen und im Kontext der Globalisierung zunehmend Handlungsmöglichkeiten gewonnen haben. Sie sind damit besonders gefordert, die getroffenen Entscheidungen im Lichte der kritischen Öffentlichkeit reflektiert und überzeugend zu begründen.Footnote 5

Eine grundlegende Bedeutung nimmt in diesem Zusammenhang der Begriff der Verantwortung ein, welcher ein zentrales konzeptionelles Fundament der weiteren Überlegungen darstellt und zum Ausgangspunkt der Begründung einer neuen Unternehmensethikkonzeption genommen wird. Wie im Weiteren gezeigt wird, ist dabei die Übernahme von Verantwortung nicht als reiner Moralappell zu begreifen, sondern gerade im Sinne einer notwendigen Sicherung der dauerhaften Existenz des Unternehmens zu begründen. Folglich besitzt die begriffliche Auseinandersetzung nicht nur akademische Bedeutung, sondern weist ebenfalls für die unternehmerische Praxis zunehmende Relevanz auf. So betont auch Hebestreit, dass Verantwortung einen Begriff repräsentiere, „der in der Wirtschaft Bedeutung bekommen hat. […] Es sind auch die Unternehmen selbst, welche zunehmend […] darum bemüht sind, sich als verantwortungsvolle Wirtschaftsakteure zu präsentieren.“Footnote 6 Auch Ulrich und Kaiser stellen in diesem Sinne fest: „In einer sensitiveren Öffentlichkeit gewinnt der Umgang mit Fairness- und Verantwortungsfragen im Wirtschaftsleben an Bedeutung.“Footnote 7

In einem ersten Schritt ist hierbei der Begriff der Verantwortung selbst einer konzeptionell-historischen Rezeption zu unterziehen, bevor der Träger der Verantwortung – klassisch: das Subjekt der Verantwortung – einer detaillierteren kritischen Analyse unterzogen wird.Footnote 8 Hierauf aufbauend entwickelt die Arbeit die konzeptionellen Grundlagen einer systemtheoretisch fundierten Mesoethik, wobei auf die Erkenntnisse der neueren Systemtheorie zurückgegriffen wird. Darüber hinaus wird mit dem Analytischen Framework eine Möglichkeit der praktischen Umsetzung der unternehmensethischen Überlegungen erarbeitet. Abschließend werden auch die Konsequenzen zentraler Forschungsergebnisse für das Controlling als institutionalisierter Führungsunterstützung präsentiert und einige Überlegungen zur Relevanz einer kulturellen Verankerung ethischer Maßnahmen vorgestellt.

4.1 Verantwortung als Schlüsselbegriff einer angewandten Ethik und das Subjekt als relationaler Träger der Verantwortung

4.1.1 Zum Begriff der Verantwortung

Eine Betrachtung der gegenwärtigen Literatur zur angewandten Ethik und insbesondere auch der Wirtschaftsethik als Teildisziplin zeigt die intensive Auseinandersetzung hinsichtlich der Zuschreibung und Begründung von Verantwortung der im Wirtschaftskontext tätigen Akteure. Der Begriff der Verantwortung kann dabei als eines der zentralen Paradigmen einer modernen, durch die Aufklärung geprägten Ethik aufgefasst werdenFootnote 9 und repräsentiert gerade auch für die angewandte Ethik eine Basisbegrifflichkeit.Footnote 10 In diesem Sinne hebt auch Bohrmann hervor, dass Verantwortung einen „Schlüsselbegriff“Footnote 11 für die angewandte Ethik darstelle. Gleichsam unterstreicht auch Schweidler die Bedeutung dieses Konstrukts für die angewandte Ethik, welches er als „reflektierte praktische Rationalität in sozialen VerantwortungsstrukturenFootnote 12 auffasst. Der Begriff der Verantwortung kann dabei in verschiedenen Begriffsverständnissen gebraucht werden. So unterscheiden z. B. Lenk und MaringFootnote 13 neben einer Handlungsverantwortung auch eine Rollen- bzw. Aufgabenverantwortung und nehmen eine Differenzierung in eine moralische, rechtliche sowie reflexive VerantwortungFootnote 14 vor, während van de PoelFootnote 15 detailliert zwischen normativen wie deskriptiven Interpretationen des Begriffs unterscheidet. Andere Autoren wie Hebestreit oder WernerFootnote 16 diskutieren wiederum vor allem den zeitlichen Aspekt, welcher zum einen ex ante bzw. prospektiv als prinzipielle Verantwortlichkeitsbeziehung aufgefasst werden könne, während „retrospektive Verantwortung“ eine Ex-post-Zuschreibung von Verantwortung (i. d. R. nach einem Ereignis mit schwerwiegenden FolgenFootnote 17) darstelle.Footnote 18

Beginnt man mit einer Analyse der Bezeichnung der „Verantwortung“ selbst, so zeigt sich, dass diese bereits die Pflicht des „Antwortens“Footnote 19 bzw. des „Rede-und-Antwort-Stehens“Footnote 20 vor einer Instanz impliziert, wobei sich diese begrifflichen Überlegungen auch in anderen Sprachen wie dem Englischen („responsibility“) oder Französischen („responsabilité“) widerspiegeln.Footnote 21 Dabei verdeutlicht eine historische Analyse zur Begriffsentstehung, dass der Terminus der Verantwortung im deutschsprachigen Raum durchaus eine lange Begriffsgeschichte aufweist und sich bis in das 15. Jahrhundert zurückverfolgen lässt.Footnote 22 Hierbei handelt es sich jedoch noch vorherrschend um eine rechtliche Interpretation des Terminus. So entstammt die Bezeichnung dem mittelalterlichen Gerichtsvokabular, in welchem „Verantwortung“ relativ synonym zum Terminus der „Verteidigung“ bzw. Verteidigungsrede eines Beschuldigten gegenüber einer Rechtsinstanz (z. B. einem Gericht) verstanden wurde.Footnote 23 Im ethischen Kontext weist der Begriff dagegen noch eine relativ junge BegriffshistorieFootnote 24 auf – „zumindest als ethischer Schlüsselbegriff“Footnote 25 – und wurde folgerichtig selbst zur Zeit Nietzsches noch meist als rechtlicher Fachterminus aufgefasst, wobei Nietzsche selbst mit dem von ihm genutzten Begriff der „Verantwortlichkeit“Footnote 26 bereits einem modernen, moralisch interpretierten Begriffsverständnis folgte.Footnote 27

Analog zur Entwicklung des Terminus in der deutschsprachigen Literatur lässt sich auch für die französisch- und englischsprachigen Veröffentlichungen der Ethik erst relativ spät, gegen Mitte bis Ende des 19. Jahrhunderts, eine entsprechende Begriffsverwendung nachweisen, so z. B. bei Lucien Lévy-BruhlsL’idée de responsabilitéFootnote 28 aus dem Jahre 1884 oder Mills Essay „On LibertyFootnote 29 von 1859.Footnote 30 In diesem Sinne konstatiert Bayertz: „Erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts findet der Begriff größere Verbreitung, um im 20. Jahrhundert in den Rang einer ethischen Schlüsselkategorie aufzusteigen.“Footnote 31 Damit zeigt sich, obschon der Begriff bereits am Rande z. B. auch bei Hume verwendet wird, doch lange Zeit „eher die Marginalität des Begriffs; gebraucht wird überdies nicht das jeweilige Substantiv, sondern meist die Adjektive ‚responsible‘, ‚responsable‘ und ‚verantwortlich‘. Erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wächst die Häufigkeit der Verwendung und tritt der substantivische Gebrauch in den Vordergrund.“Footnote 32

Verantwortung als Leitgedanke einer Ethikkonzeption hat dabei spätestens im Laufe des 20. Jahrhunderts eine stark zunehmende Verbreitung im gesellschaftlichen wie auch spezifisch im wissenschaftlichen Diskurs gefunden.Footnote 33 In diesem Sinne betont auch Prechtl, dass dem Terminus der Verantwortung „zunehmend der Status eines ethischen Prinzips zugesprochen“Footnote 34 wird. Auch Spaemann betont, dass in der Gegenwart „[d]as Wort Verantwortung [.] Konjunktur“Footnote 35 habe. Aus wissenschaftlicher Perspektive führte Max Weber im politischen Kontext die bis heute häufig rezipierte Unterscheidung zwischen einer Gesinnungsethik – welche, wie aufgezeigt, teilweise kritisch (allerdings konzeptionell zu sehr verkürzt) auf die Deontologie Kants bezogen wird – und einer Verantwortungsethik ein, wobei Weber sich besonders kritisch mit religiös fundierten Gesinnungsethiken auseinandersetzte.Footnote 36 Als einer der bekanntesten zeitgenössischen Verantwortungsethiker kann dabei Hans Jonas erachtet werden, dessen Hauptwerk Das Prinzip Verantwortung“ nicht nur akademisch, sondern auch im politischen Diskurs eine intensive Rezeption erfahren hat.Footnote 37 In diesem befasst sich Jonas mit den durch die modernen Technologien induzierten gesellschaftlichen Risiken und hebt in diesem Kontext als ZentralnormFootnote 38 die Übernahme von Verantwortung – anstelle von alleinig gutem Willen oder dem Prinzip der Hoffnung – hervor.Footnote 39 Das „Prinzip Verantwortung“ wird jedoch nicht nur im klassischen philosophischen Diskurs intensiv rezipiert, sondern hat in jüngster Zeit auch zunehmend in betriebswirtschaftlichen Publikationen Anwendung gefundenFootnote 40, welches nochmals die Bedeutung dieses Begriffes unterstreicht.

4.1.2 Konzeptionen der Verantwortungsrelation

In der Ethikforschung, welche sich vertieft mit dem Terminus der Verantwortung befasst, weist insbesondere die konzeptionelle Durchdringung der Verantwortungsrelation eine zunehmende Bedeutung auf, wie das entstandene Schrifttum der vergangenen Jahre in diesem Forschungsfeld aufzeigt. Verantwortung kann in diesem Kontext nach Fetzer als das „Eintreten(-Müssen) eines Subjekts für ein Objekt“Footnote 41 aufgefasst werden. Wie bereits diese Definition hervorhebt, bedarf es, als Minimalanforderung einer Verantwortungsrelation, eines Subjekts, welches Verantwortung trägt, sowie eines Objekts, auf welches sich die Verantwortung bezieht. Die genaue Ausgestaltung dieser Beziehung ist in der Literatur jedoch nicht unumstritten. So wurden seit der erstmaligen konzeptionellen Durchdringung des Verantwortungszusammenhangs von SchützFootnote 42 vielfältige Ansätze erarbeitet, welche sowohl im Umfang als auch in der genauen Bezeichnung der Elemente differieren.

Einfache, zweiteilige Modelle reichen dabei von der Betrachtung des Verantwortungsträgers gegenüber einer spezifischen Instanz bis hin zur reinen Subjekt-Objekt-Relation der Verantwortung.Footnote 43 Verbindet man diese beiden Perspektiven, so erhält man eine klassische dreiteilige Konzeption der Verantwortungsrelation, in welcher ein Verantwortungssubjekt für ein Objekt (z. B. für ein Individuum) gegenüber einer Instanz Verantwortung trägt.Footnote 44 Diese Perspektive fokussiert folglich auf die Frage: „Wer ist wofür wem verantwortlich?“Footnote 45 Der aufgezeigte Ansatz kann nun wiederum um die Berücksichtigung der Normen, welche der Evaluation zugrunde liegen, erweitert werden, so dass man ein vierteiliges Relationalmodell der Verantwortung erhält, welches ein Subjekt, ein Objekt, die Instanz sowie die zugrunde gelegten Normen umfasst.Footnote 46 Darüber hinaus hat die Literatur auch einige umfangreichere Modelle erarbeitet, welche bis zu fünfFootnote 47, sechsFootnote 48 oder sogar siebenFootnote 49 konstituierende Elemente enthalten können.Footnote 50

Im Weiteren folgt die Arbeit dabei jedoch dem verbreiteten Ansatz, Verantwortung als vierstellige Relation aufzufassen, welche sich aus einem Verantwortungssubjekt als Träger der Verantwortung, einem Objekt, auf welches sich die Verantwortung bezieht, die zugrunde gelegten normativen Maßstäbe sowie einer Instanz (z. B. Gewissen oder religiöse, staatliche Autoritäten, Stakeholder etc.), gegenüber der die Antwortpflicht besteht, zusammensetzt. In diesem Sinne betont auch Loh, dass „vier Relata – nämlich Subjekt, Objekt, Instanz und normative Kriterien – als tradierter Kern des Diskurses gelten können.“Footnote 51 Diese Überlegungen fasst nochmals die nachfolgende Abbildung 4.1 zusammen.

Abbildung 4.1
figure 1

Das Relationalmodell der Verantwortung aus Verantwortungssubjekt, -objekt, Instanz und normativem MaßstabFootnote

In Anlehnung an Lingnau, V. / Fuchs, F. (2019), S. 234.

Das im vorigen aufgezeigte Subjektverständnis ist dabei allerdings zuerst einmal ausschließlich relational und benennt damit lediglich eine spezifische Position im Verantwortungszusammenhang. Damit ist jedoch über die Eigenschaften, also die Frage, weshalb ein solches Verantwortungssubjekt auch tatsächlich Verantwortung tragen kann und warum dieses Verantwortung tragen sollte, noch nicht beantwortet. So weist auch die wissenschaftliche Literatur vielfach darauf hin, dass ein rein relationales Begriffsverständnis, wie dieses als grammatikalisches Subjekt in Aussagezusammenhängen regelmäßig auftritt, noch nicht hinreichend zur Attribution einer Verantwortungsrelation erachtet wird. Dies zeigt sich besonders klar in Aussagen, welche Gegenständen eine aktive Rolle zuweisen. In diesem Sinne fungiert in der Aussage „Der Ball rollt in das Tor“ der Ball zwar klar als grammatikalisches Subjekt, ohne jedoch evidenterweise philosophisch dem Gegenstand Verantwortung für die potentiellen Konsequenzen dieser Bewegung zuzuschreiben. Damit ist ersichtlich, dass ein rein grammatikalisches Subjektverständnis nicht als ausreichend erachtet werden kann, um den Status einer verantwortungsfähigen Einheit zu konstituieren, so dass, wie im Weiteren noch dargelegt wird, in der Literatur häufig auf einen bestimmten aufklärerisch-philosophischen Subjektbegriff rekurriert wird, um Verantwortung zu begründen. Diesen Gedanken betont auch Fetzer wie folgt: „Der Windstoß ist für die zerbrochene Fensterscheibe nicht verantwortlich, selbst dann nicht, wenn er die einzige kausale Ursache war. In jeweils unterschiedlicher Bestimmung werden für Verantwortung auch Voraussetzungen auf Seiten des Subjekts postuliert. Dazu gehören z. B. die Intentionalität des Handelns, das Vorauswissen um die Folgen, die Kenntnis von Normen oder die Freiheit, auch anders entscheiden und handeln zu können.“Footnote 53 Ähnlich stellt auch Buddeberg fest: „[S]chlechte Witterungsbedingungen können zwar das Kentern des Schiffes kausal bewirkt haben, doch identifizieren wir sie deshalb in der Regel noch nicht als Subjekt einer Handlung.“Footnote 54 In diesem Sinne betont letztlich auch Lübbe, dass noch „nicht jedes grammatische Subjekt [.] als solches schon ein Handlungssubjekt“Footnote 55 darstelle. Es muss somit gelten: „Das Subjekt muß [.] Subjekt der Verantwortung sein können.“Footnote 56 Um dies zu ermöglichen, müssen dem Subjekt folglich bestimmte Eigenschaften zugeschrieben werden, die z. B. im Selbstbewusstsein, der Willensfreiheit bzw. Autonomie einer Entität, welche intentionales Tun, d. h. Handeln, ermöglicht, der hinreichenden Kontrolle der HandlungsfolgenFootnote 57 oder dem Wissen über die Folgen aufgefunden werden können,Footnote 58 welche das Subjekt zu einem moralfähigen Subjekt im philosophischen Sinne werden lassen.Footnote 59

Der Subjektbegriff selbst ist dabei überaus schillernd und unterlag im Laufe der Philosophiegeschichte nicht nur einem steten Wandel, sondern wurde gerade auch in den letzten Jahrzehnten inhaltlich zunehmend im philosophischen Kontext mittels verschiedener Argumentationslinien problematisiert. In diesem Zusammenhang wird sogar in Teilen des wissenschaftlichen Diskurses die Sinnhaftigkeit eines Subjektbegriffs ganz infrage gestellt oder gar ein „Verschwinden des Subjekts“Footnote 60 postuliert. Allerdings stellt sich die Frage, welches Subjektverständnis dabei genau kritisiert wird – insbesondere da selbst die Subjektkritiker sich stets auf eine bestimmte Interpretation des Terminus fokussieren, welcher dann aus diversen Gründen verworfen wird. Eine konzeptionell saubere Formulierung des Subjektbegriffes, welcher in dieser Arbeit kritisch rezipiert wird, ist folglich notwendig, denn andernfalls droht „das ‚Verschwinden des Subjekts‘ [.] zu einem Gemeinplatz der Diskussion zu werden, der lediglich die fehlende Begriffsbestimmung verdeckt, die uns befähigen würde zu beschreiben, was eigentlich verschwindet oder gar verschwunden ist“Footnote 61 und in welcher „die Rede vom Verschwinden der Subjektivität oder des Subjekts in ein Metapherngestöber ausartet.“Footnote 62 In diesem Sinne hebt Baumgartner kritisch hervor, dass „[d]ie Abstraktheit dieser Rede vom Subjekt [.] ein [.] kritischer Gesichtspunkt“Footnote 63 sei, denn „wenn man sich die publizierten Vorträge oder Texte, in denen über das Subjekt gehandelt wird, gründlich ansieht, so erkennt man, daß nur die wenigsten differenziert […] sind […].“Footnote 64 So sei, wie ähnlich auch Schott hervorhebt, häufig „weitgehend unterbestimmt, was übergreifend eigentlich unter Subjekt zu verstehen ist.“Footnote 65 Eine solche Bestimmung ist jedoch erforderlich, „da der Begriff des Subjekts zu oft als leere Hülse fungiert, der dann aufgrund seiner Unbestimmtheit alle möglichen Systemaufgaben übernehmen kann.“Footnote 66 Um folglich nicht einer inhaltlich vagen Begriffsbestimmung zu unterliegenFootnote 67, wird im Folgenden der Begriff des Subjekts begriffshistorisch in seiner Entwicklung in kompakten Zügen nachgezeichnet und einer detaillierten konzeptionellen Untersuchung unterzogen, um ein genaueres Verständnis des dieser Arbeit zugrunde liegenden philosophischen Subjektbegriffs zu erhalten, welcher in klassischen Ethikkonzeptionen zur Begründung von Verantwortungsfähigkeit herangezogen wird.Footnote 68

4.2 Zum philosophisch-aufklärerischen Subjektbegriff als Verantwortungsträger

4.2.1 Etymologie des Subjektbegriffs und Aufstieg zum philosophischen Zentralbegriff der Aufklärung

Wie die vorigen Ausführungen bereits andeuteten, ist der Begriff des Subjekts sowohl im wissenschaftlichen Diskurs als auch im alltäglichen Sprachgebrauch überaus schillernd und weist eine beachtliche konzeptionelle Breite auf.Footnote 69 Dabei wird auch deutlich, dass der Subjektbegriff in der Literatur recht heterogen verwendet wird. So herrscht zum einen bereits je nach zugrunde liegender Fachrichtung und Zeit der Veröffentlichung oft ein im Kern differierendes Begriffsverständnis vorFootnote 70 – sofern die Begriffsproblematik überhaupt thematisiert wird. In diesem Sinne kann festgestellt werden, dass der Subjektbegriff von verschiedensten Disziplinen gebraucht wird und sein begrifflicher Inhalt, insbesondere im Rahmen philosophischer Überlegungen, den Gegenstand überaus kontroverser Auseinandersetzungen konstituiert.Footnote 71 Folglich konstatiert auch Zima, dass dieser Begriff trotz aller Eingrenzungsversuche von einer „schillernde[n] Vagheit“Footnote 72 gekennzeichnet sei. Heidemann spricht in diesem Zusammenhang sogar von „Begriffsverwirrungen“Footnote 73 bzw. vom „philosophischen Problembegriff ‚Subjektivität‘.“Footnote 74 Ähnlich subsumieren auch Gelhard, Alkemeyer und Ricken: „Das Problem der Subjektivität ist für die Philosophie seit Descartes immer eine Provokation geblieben. Besonders deutlich zeigt sich das in der Philosophie des 20. Jahrhunderts, wo der Anspruch, dieses Problem erstmals angemessen zu beantworten, und der Versuch, den Begriff des Subjekts endgültig loszuwerden, auf höchst unübersichtliche Weise ineinander gehen.“Footnote 75 Ziel der folgenden Ausführungen ist dabei nicht, vollumfassend jede Variation des Subjektbegriffs der Wissenschaftsgeschichte der Philosophie nachzuzeichnen, denn dies wäre fraglos, wie auch Heidemann hervorhebt, „ein eigenes philosophisches Großprojekt“Footnote 76. Vielmehr seien im Folgenden die Kerneigenschaften des Subjektbegriffs identifiziert, welche, insbesondere in einer aufgeklärten Interpretation, zur inhaltlichen Begründung der oben aufgezeigten Verantwortungsrelation klassisch subjektphilosophisch herangezogen werden – aber auch zunehmend in die Kritik geraten sind.

Beginnt man sich dem Subjekt begriffsetymologisch zu nähern, so zeigt sich, dass trotz der teilweise stattgefundenen inhaltlichen Verschiebung im Laufe der Zeit dieser Begriff eine lange Verwendungsgeschichte aufweist.Footnote 77 Die deutschsprachige Bezeichnung „Subjekt“ geht dabei auf den lateinischen Terminus des subiectum zurück, welcher wiederum eine Übertragung aus dem griechischen ὑποκείμενον (hypokeímenon) darstellt.Footnote 78 Dabei wird in der Literatur vielfach die potentielle Doppeldeutigkeit des Begriffs Subjekt hervorgehoben, welcher sowohl auf etwas Zugrundeliegendes bzw. Grundlegendes wie auch etwas Unterworfenes rekurrieren kann. So definiert etwa Zima: „Subjekt ist, etymologisch betrachtet, ein zweideutiges Wort, das sowohl Zugrundeliegendes (hypokeímenon, subiectum) als auch Unterworfenes (subiectus = untergeben) bedeutet, so daß in der Philosophie beide Aspekte zum Tragen kommen, bisweilen sogar im selben Diskurs, etwa bei Hegel.“Footnote 79 Ähnlich subsumiert auch Reckwitz: „Subiectum, das Subjekt hat eine doppelte Bedeutung: es ist das in die Höhe Erhobene und das Unterworfene. Es ist Zentrum autonomen Handelns und Denkens […]. Und es ist das, was übergeordneten Strukturen unterliegt – bis hin zum Rechtssubjekt und zu jenem, für den im Englischen gilt: ‚he is subjected to something‘. In seiner Doppeldeutigkeit präsentiert sich das Subjekt als ein unterworfener Unterwerfer, ein unterwerfendes Unterworfenes.“Footnote 80 Auch einige klassische Autoren heben vielfach diese Zweideutigkeit hervor. So betont beispielsweise Foucault: „Das Wort ‚Subjekt‘ hat zwei Bedeutungen: Es bezeichnet das Subjekt, das der Herrschaft eines anderen unterworfen ist […] und es bezeichnet das Subjekt, das durch Bewusstsein und Selbsterkenntnis an seine eigene Identität gebunden ist.“Footnote 81 Die aufgezeigte Zweideutigkeit des Begriffs lässt sich wiederum mit dessen historischer Entwicklung in Verbindung bringen. Grundsätzlich kann dabei festgehalten werden, dass, obschon beide Aspekte eine gewisse Rolle spielen, bis in die Neuzeit lange Zeit die philosophische Begriffsauffassung als etwas Zugrundeliegendes existierte, wobei die Frage nach dem Bezug bzw. der genauen Interpretation des Zugrundeliegenden einen Wandel durchlaufen hatFootnote 82, wie die nachfolgenden Ausführungen zeigen.

Nach Kible lassen sich für die Antike sowie das Mittelalter insgesamt drei dominierende Begriffsverständnisse des Terminus „Subjekt“ feststellen. Neben dem heute noch (auch im Deutschen) üblichen logischen bzw. grammatikalisch-relationalen GebrauchFootnote 83 (z. B. auch ὑποκείμενον bei AristotelesFootnote 84) findet sich zweitens auch die Nutzung als Bezeichnung für ein Thema – wie dies z. B. auch heute noch im Englischen bzw. Französischen als „subject“ oder „sujet“ geläufig ist. Darüber hinaus kann, und dies erscheint gerade für den philosophisch-fachwissenschaftlichen Gebrauch von zentraler Relevanz, der Terminus als ontologische Eigenschaftszuschreibung aufgefasst werden.Footnote 85 Insgesamt zeigt sich damit in der Zusammenschau, wie in der Literatur vielfach betont wird, dass das damalige Begriffsverständnis der heutigen Auffassung als „Objekt“ recht nahekommt.Footnote 86 In diesem Sinne betont auch Körtner: „Ursprünglich entsprach der Subjektbegriff also eher unserem heutigen Begriff des Objekts.“Footnote 87 Ebenso heben auch Huchler, V und Weihrich hervor, dass mit dem antiken bis mittelalterlichen Subjektbegriff eher „eine Art abhängige oder zumindest passive Größe gesehen [wird], die formenden Bestimmungen unterliegt (und unterliegen muss), ontologisch wie epistemologisch.“Footnote 88

Mit dem Beginn der Neuzeit und insbesondere den Arbeiten René Descartes lässt sich jedoch eine deutliche Begriffsverschiebung des Terminus „Subjekt“ feststellen.Footnote 89 So legte, obschon dieser noch prinzipiell das ältere Begriffsverständnis gebrauchteFootnote 90, Descartes die Grundlagen für eine ontologische wie epistemologische Uminterpretation des Subjektbegriffs, welche auf die Begründung der autonomen Erkenntnisfähigkeit des Menschen fokussierte. Grundidee war hierbei, eine zugrunde liegende Substanz der Erkenntnis zu finden, welche in der Idee des cogito ergo sumFootnote 91 als Vergewisserungsmöglichkeit bzw. fundamentum inconcussum der eigenen ExistenzFootnote 92 gipfelte und wiederum als Grundlage zur Klärung verschiedener Stufen des menschlichen Erkenntnisvermögens bei Descartes diente. Mit diesen fundamentalen Überlegungen entstand auch die bis heute wissenschaftshistorisch wirkmächtige Trennung zwischen einer geistigen Welt (von Descartes als res cogitans bezeichnet) und einer äußeren Welt der Dinge (res extensa)Footnote 93, welches paradigmatischFootnote 94 zu einer vielfach bis heute kontrovers diskutierten „Subjekt-Objekt-Spaltung“Footnote 95 führte.Footnote 96 Die Überlegungen von Descartes dienten nun wiederum als Grundlage für einen bis heute andauernden philosophisch-aufklärerischen Subjektdiskurs. Im Kontext hervorzuheben sind dabei z. B. die Beiträge von Leibniz, bei welchem die modernen Subjekteigenschaften, z. B. im Rahmen seiner metaphysischen Schriften zur Monadologie, nun deutlich hervortreten.Footnote 97 Auch Kant gebraucht den Subjektbegriff, führte dabei aber den Terminus des transzendentalen Subjekts ein, welches er vom empirisch wahrnehmbaren Subjekt unterschied, wobei ersteres als Wesenseigenschaft des Menschen gedacht wird, welche als existenzielle Voraussetzung jeglicher (empirischer wie nicht-empirischerFootnote 98) Erkenntnis gedacht werden muss.Footnote 99 Der Subjektbegriff wird damit nach Neuser zum fundamentalen „Prinzip des Denkens schlechthin.“Footnote 100 Mit Hegel wurde dann, wie in der Literatur vielfach pointiert hervorgehoben wird, der „Höhepunkt europäischer Subjektphilosophie“Footnote 101 erreicht, die sich im Ausspruch „daß die Substanz wesentlich Subjekt ist“Footnote 102 äußerte, wobei wiederum eine begriffliche Nähe zu den klassischen Substanzüberlegungen von Descartes offenkundig wird.Footnote 103

4.2.2 Klassische subjektbasierte Begründungselemente der Verantwortungsfähigkeit

Wie die vorausgegangenen Ausführungen zeigen, lässt sich bereits mit der frühen Aufklärung eine Begriffsverschiebung feststellen, wodurch im ontologischen wie epistemologischen Sinne die Grundlage zur Bestimmung eines autonomen, selbstbewussten wie auch verantwortlichen Wesens entstand. Dieser neue Begriff des Subjekts wird schließlich zum „philosophische[n] Prinzip der Neuzeit.“Footnote 104 Betrachtet man nun den KernFootnote 105 der subjektphilosophischen Diskussion der Aufklärung, so wird deutlich, dass trotz aller Diskurse im Detail der Subjektbegriff in diesem Zusammenhang klar auf ein spezifisches humanistisches Menschenbild fokussiert, das den Menschen als autonomes, erkenntnisfähiges sowie reflexiv-vernünftiges Wesen auffasst. So betonen auch Beer und Grundmann: „Das Subjekt, so wie es heute in den Sozial- und Geisteswissenschaften verhandelt wird, ist als ein Kind der Aufklärung mit dem Erbe dieser Tradition behaftet. Das ‚Subjektive‘ ist allgemein durch die Fähigkeit zu einem rationalen Denken und einer Reflexion gesellschaftlicher und kultureller Umstände charakterisiert. Das Subjekt gilt als handlungsfähiges Individuum, das befähigt ist, seine eigenen und die gesellschaftlichen Verhältnisse nach Maßgabe der Vernunft zu gestalten.“Footnote 106 Dabei wird das Subjekt in diesem Begriff zu einer humanistisch geprägten Potentialzuschreibung des Menschen mit, wie Schnädelbach hervorhebt, seinen „kognitiven und praktischen Fähigkeiten“Footnote 107 und ist nach Veith Ausdruck des menschlichen „Selbst- und Daseinsverständnisses in der Moderne.“Footnote 108 Folglich wird auch, wie Frank betont, seit der „SattelzeitFootnote 109 (ca. 1750–1850) jedes menschliche Individuum als Subjekt angesehen.Footnote 110 Im Kern können hierbei drei zentrale, aufeinander aufbauende Elemente dieses aufklärerischen Subjektbegriffs identifiziert werden.

Zu Beginn steht ein ontologischer Begriffsbestandteil, der auf der Eigenschaft des (Selbst-)Bewusstseins des Subjekts als besonderem Seinszustand („Substanz“) rekurriert, welche dieses wiederum von Gegenständen differenziert. Diese grundlegende Perspektive auf das Subjekt wird vielfach in der Literatur hervorgehoben, welches in Begriffen wie der Faktizität eines Bewusstseins, Ich-Erleben bzw. Selbstbezüglichkeit oder Identitätsbewusstsein deutlich wird.Footnote 111 So beschreibt auch Wils das Selbstbewusstsein als „Zentrum der Subjektivität“Footnote 112. Hieran anschließend lässt sich mit Knoblauch hervorheben, dass „Wissen in Bewußtseinsprozessen gründet. Grund aller Wissensprozesse und Ausgangspunkt aller Handlungen ist das Subjekt.“Footnote 113 In diesem Sinne subsumiert Roth die aufklärerische Substanzauffassung vom Subjekt: „Das Ich ist der Mittelpunkt und Träger aller geistigen, emotionalen und willentlichen Akte […].“Footnote 114 Bereits der Bewusstseinszustand ist dabei aus ethischer Perspektive zentral für die Verantwortungsfähigkeit, wie auch Düsing herausstellt: „Jede ethische Übernahme von Verantwortung für eine geschehene Tat, jede ethische Überlegung und Entscheidung […] verlangt ein klares Bewußtsein der Person von sich und von ihrer Identität in verschiedenen Phasen der Erlebniszeit.“Footnote 115

Basierend auf den vorigen Überlegungen kann ein epistemologischer Bestandteil des Subjekts identifiziert werdenFootnote 116, welcher aufbauend auf einem Bewusstseinszustand als Erkenntnissubjekt diskutiert wird und z. B. die Verarbeitung und Reflexion von Sinnesdaten umfasst sowie formale oder moralische Reflexionsfähigkeiten einschließt. Im Kern des epistemologischen Subjektbegriffs steht folglich der Mensch als erkenntnisfähiges WesenFootnote 117, mit der Fähigkeit vernunftbasiertFootnote 118 zu denken und zu begreifen, d. h. (begründet) Begriffe über sich und die umgebende Welt zu entwickeln. In diesem Sinne konstatiert auch Poser: „Wird etwas erkannt, setzt dies nicht nur einen Erkenntnisgegenstand, das Objekt, voraus und eine Darstellung des Erkannten, etwa in einer Aussage, sondern auch ein erkennendes Subjekt.“Footnote 119 Neben der expliziten Bezeichnung als „Erkenntnissubjekt“Footnote 120 ist dabei auch die bereits aufgezeigte adjektivierte Bezeichnung als „erkennendes Subjekt“Footnote 121 geläufig, auf welches z. B. Knoblauch, ganz in der Tradition von Descartes und Hegel, auch als „erkennende Substanz“Footnote 122 rekurriert. Das Erkenntnissubjekt kann dabei Erkenntnisse aus einer Vielzahl von Domänen gewinnen und so auch, wie bereits im zweiten Kapitel dieser Arbeit ausgeführt, logische, empirische, metaphysische, aber auch normative Aussagen bilden und anhand der dort aufgezeigten Kriterien prüfen. Im Rahmen der Ethik ist, wie gezeigt wurde, insbesondere der Gebrauch normativer Aussagen (ethisch-normativ sowie deskriptiv begründet) von zentraler Bedeutung. Der souveräne Umgang mit diesen wird vielfach auch als die Fähigkeit des Einnehmens eines „moral point of viewFootnote 123 bezeichnet, also die Einsichtsfähigkeit in und die Begründungsfähigkeit von Normen, welche neben einer teilweise postulierten Moralintuition im Laufe der Sozialisation fraglos auch erlernt werden muss, und generell als weiteres zentrales Element der Verantwortungsfähigkeit eines Subjekts gilt.

Abschließend kann, aufbauend auf den zuvor dargestellten Ebenen, die Fähigkeit des Subjekts als Akteur hervorgehoben werden, also die potentielle Möglichkeit, nicht nur als bewusstes Wesen zu erkennen, sondern diese Erkenntnisse zu nutzen, um einen eigenen Willen zu entwickeln und diesen dann potentiell in konkreten Handlungen (d. h. intentionales Tun) umzusetzen, so dass in diesem Kontext die klassischen Begriffe der Willens- und HandlungsfreiheitFootnote 124 bedeutsam sind. Neben der expliziten Bezeichnung als „handelndes Subjekt“Footnote 125 oder „Handlungssubjekt“Footnote 126 findet sich auch dieser Begriffsbestandteil in der fachwissenschaftlichen Literatur in einer Vielzahl von Bezeichnungen. So beschäftigt sich z. B. Düsing mit der „reine[n] praktische[n] Subjektivität“Footnote 127, woraus sich wiederum das „tätige ethische Subjekt […] als Fundament der Ethik entwickeln“Footnote 128 ließe. Auch Veith diskutiert das Konzept des „handlungsfähigen Subjekts“Footnote 129, welches bei Pannenberg als „Selbständigkeit des Individuums als Subjekt“Footnote 130 untersucht wird, während sich bei Zima eine Vorstellung vom Subjekt als „handelnde und sprechende Instanz“Footnote 131 bzw. als „Aktanten“Footnote 132 wiederfindet. Schließlich stellt auch im sozialwissenschaftlichen Kontext Reichertz einen starken Fokus auf „das bewusst handelnde […] Subjekt“Footnote 133 fest.

Die bisherigen Ausführungen haben gezeigt, dass der philosophisch-aufklärerische Subjektbegriff, wie er bis heute wirkmächtig ist, im Kern in drei aufeinander aufbauende Stufen differenziert werden kann, welches ontologisch das (Selbst-)Bewusstsein, epistemologisch die Erkenntnisfähigkeit und schließlich im Akteurssinne auch die Möglichkeit zu Handeln umfasst.Footnote 134 Der Begriff fokussiert damit auf den Menschen mit seinen „kognitiven und praktischen Fähigkeiten.“Footnote 135 Diese Eigenschaftszuschreibungen ermöglichen in einem ersten Schritt jedoch lediglich ein Potential zur Verantwortungsübernahme. Wie die Literatur, z. B. im Rahmen der Betonung des Controllability-Prinzips, vielfach betont, müssen darüber hinaus auch die empirischen Restriktionen, welchen sich das Subjekt als ethisch befähigte Entität gegenübersieht, beachtet werden. So muss neben dem aktuellen Wissensstand über die Folgen auch die hinreichend konkrete Handlungskausalität in Bezug auf deren Folgen Berücksichtigung finden, welche sich z. B. in Begriffen wie der Akteurs- bzw. Agenskausalität niederschlägt.Footnote 136 Erst wenn diese Bedingung zusätzlich erfüllt ist, konstituiert sich im klassischen Sinne inhaltlich auch eine konkrete Verantwortungsrelation eines Verantwortungssubjekts, wie oben aufgezeigt.Footnote 137 Diese Überlegungen fasst nochmals die nachfolgende Abbildung 4.2 zusammen.

Abbildung 4.2
figure 2

Ebenen des aufklärerischen Subjektverständnisses und darauf aufbauende klassische Verantwortungsbegründung

4.2.3 Abgrenzung zum verwandten Begriff der moralischen Person

Neben dem, gerade im deutschsprachigen Raum, geläufigen Begriff des (moralischen) Subjekts existieren auch weitere, im Kontext der Aufklärung inhaltlich verwandte Begriffe wie Individuum oder Person.Footnote 138 Im Rahmen dieser Arbeit sei dabei noch kurz auf einen dem aufklärerischen Subjektbegriff in seiner normativen Interpretation sehr nahestehenden Begriff kurz eingegangen: der (moralischen) Person. Ähnlich wie im Zusammenhang der Ausführungen zum Subjektbegriff bereits aufgezeigt, existiert auch hinsichtlich eines philosophischen Begriffs der Person kein inhaltlicher Konsens. So stellt auch Spaemann fest: „Der Sinn des Wortes ‚Person‘ ist wie der kaum eines anderen Wortes vom Kontext abhängig.“Footnote 139 Ähnlich bemerkt auch Birnbacher: „Der Personenbegriff wird in der Philosophie in einer verwirrenden Vielfalt von Bedeutungen verwendet.“Footnote 140 Schließlich betont auch Merrill: „Personhood has been hotly debated throughout modern history […]. The term ‚person‘ is most often used in ways that introduce ambiguity rather than clarity into the practical concepts of contemporary debates about what being a person means.“Footnote 141 Neben der großen begrifflichen Heterogenität weisen auch viele Schriften darauf hin, dass sein etymologischer Ursprung bis heute nicht vollständig geklärt ist.Footnote 142 Arbeiten, welche sich mit dessen Begriffsgeschichte beschäftigen, heben dabei jedoch vielfach hervor, dass sich der Begriff grundsätzlich schon im etruskischen phersuFootnote 143 oder griechischen πρόσωπον (prósopon)Footnote 144 auffinden lasse. Hinsichtlich der deutschsprachigen Bezeichnung zeigt sich wiederum eine deutliche Nähe zum lateinischen Terminus personaFootnote 145, welches von personare („hindurchtönen“)Footnote 146 oder per se sonans („durch sich selbst tönend“) aber auch per se una („durch sich selbst eine Einheit“)Footnote 147 stammen könnte. Diese Herleitung, insbesondere der ersten etymologischen Wurzel, korrespondiert auch mit dem Ursprung der antiken Begriffsverwendung, welcher sich ursprünglich auf eine Theatermaske bezog, die wiederum eine eingenommene Rolle repräsentierteFootnote 148 – eine Verwendung, welche heute noch unter der Bezeichnung „handelnde Personen“ vielfach in Beschreibungen von Theaterstücken aufzufinden ist.Footnote 149 Neben dieser bis heute vorzufindenden terminologischen Verwendung nimmt der Personenbegriff eine zentrale Bedeutung in vielen weiteren Fachdisziplinen ein. So z. B. auch in der Rechtswissenschaft als Rechtssubjekt, der Soziologie im Kontext sozialer Rollen, der Psychologie in Bezug auf das Konstrukt „PersönlichkeitFootnote 150 sowie der Theologie im Zusammenhang zur TrinitätFootnote 151, aber auch im grammatikalischen Kontext (als 1., 2., 3. Person Singular/Plural).Footnote 152 Wie auch für das Subjekt bereits aufgezeigt, lässt sich im philosophischen Kontext analog zum Subjekt spätestens mit dem Einsetzen der Aufklärung ein zunehmender Gebrauch als Referenz für die besonderen Eigenschaften, aber auch einen besonderen Schutzstatus („Würde“) des Menschen auffinden.Footnote 153 Der Status als Person bzw. Personalität wird somit nach Pannenberg zum „Inbegriff der Würde“Footnote 154, woraus Quante schließt, dass „weitgehend unbestritten [sei], dass Personalität und Persönlichkeit mit einem ausgezeichneten ethischen Status verbunden sind.“Footnote 155

Betrachtet man den Personenbegriff im Vergleich zum aufklärerischen Subjektbegriff, so lässt sich feststellen, dass manche Autoren, gerade im deutschsprachigen Raum, die Relevanz einer genaueren Begriffssystematisierung betonenFootnote 156, wobei jedoch ersichtlicherweise kaum Konsens zur genauen Differenzierung besteht. Die vorigen Ausführungen, welche die Eigenschaften sowie den Schutzstatus des Menschen durch Würde hervorheben, mögen dabei den Eindruck erwecken, dass der Begriff der Person nun weiter aufzufassen seiFootnote 157 als der des Subjekts, welcher häufig auch eher „technisch“ auf die Fähigkeiten des Menschen rekurriert. Allerdings zeigt die Literatur, dass, insofern eine Systematisierung intendiert wird, eher ein gegenteiliges Verhältnis der Begriffe vorgeschlagen wird, welches folglich den Personenbegriff enger als den des Subjekts erachtet.Footnote 158 Ein klassisches Beispiel findet sich hierzu bei Kant, welcher den Personenbegriff als Teilmenge des Subjekts auffasst. In diesem Sinne wäre eine „Person [.] dasjenige Subjekt, dessen Handlungen einer Zurechnung fähig sind. Die moralische Persönlichkeit ist also nichts anders, als die Freiheit eines vernünftigen Wesens unter moralischen Gesetzen […].“Footnote 159 Auch Schnädelbach fokussiert auf Personen als spezifische Subjekte: „Das Subjekt in rechtlicher und moralischer Hinsicht ist [.] nichts anderes als die Person […], die sich handelnd auf die gegenständliche Welt [.] beziehen [kann] und dafür Verantwortung zu übernehmen fähig ist […].“Footnote 160

Generell zeigt die Literaturdurchsicht, dass im Kontext des philosophischen Personenbegriffs besonders häufig die Fähigkeit zum reflexiv-intentionalen Handeln betont wird. So ist auch nach Franken eine „Person ein handelndes Subjekt“Footnote 161. In einem erweiterten Sinne stellt aber auch analog Korsgaard fest: „Eine Person ist sowohl ein Handlungssubjekt wie auch ein Subjekt der Erfahrung […].“Footnote 162 Schließlich betont Spaemann: „Personen sind Subjekte des Könnens“Footnote 163. Allerdings finden sich auch Autoren, welche neben der epistemologischen bzw. Handlungsperspektive auch die ontologischen Substanzüberlegungen des Subjektbegriffs hervorheben. In diesem Sinne subsumieren z. B. Ikäheimo und Laitinen wie folgt: „In philosophy, persons are typically thought of as being self-conscious, as having self-concern, second-order desiresFootnote 164, moral conscience, first-person perspective or other epistemic and practical, conscious or unconscious way of relating to their attitudes, emotions and actions, and to themselves as their subjects.“Footnote 165

Diese Übersicht verdeutlicht nun in der Zusammenfassung der Perspektiven, dass viele Beiträge zum philosophischen Begriff der Person doch die aufgezeigten Kerneigenschaften des aufgeklärten Subjektbegriffs widerspiegeln.Footnote 166 Eine Analyse des angelsächsischen Sprachraums zeigt außerdem, dass dort grundsätzlich die Bezeichnung als „moral person“ dominiert, während der Terminus des „moral subjects“ eher selten gebraucht wird. Darüber hinaus ist ersichtlich, dass gerade die aufgezeigten Subjekteigenschaften nicht nur eine klassische Argumentationskette zur Begründung von Verantwortung konstituieren, sondern ferner, aufgrund des besonderen Status einer solch potentiell frei reflexions- und handlungsfähigen Einheit, auch ein besonderer Schutz begründet werden kann, womit auch die zweite Perspektive des Personenbegriffs wiederum abgedeckt erscheint. In diesem Sinne hebt auch Neuser den vielfach synonymen Begriffsgebrauch sowie die ethischen Implikationen des Subjektstatus pointiert hervor: „An dem Subjekt […] hängen die Freiheit des Einzelnen und die Würde des Menschen. In einer logischen Kontraktion werden in der Folge häufig Subjekt, Mensch, Individuum, Person und Einzelner äquivok gedacht.“Footnote 167 Da die Literatur zudem, wie aufgezeigt, auch im Zusammenhang zum Begriff der Person eine große Heterogenität aufweist sowie im Rahmen dieser Arbeit eine weitere begriffliche Systematisierung zwischen moralischer Person und moralischem Subjekt keinen weiteren Erkenntnisgewinn verspricht, sei auf eine detailliertere Systematisierung verzichtet und der Auffassung gefolgt, Subjekt und Person im ethischen Sinne synonymFootnote 168 als Referenz für diejenigen Entitäten zu gebrauchen, welche verantwortungsfähig sind, aber andererseits regelmäßig durch diese Eigenschaften als moralisches Subjekt auch ein besonderer Schutzstatus zukommt.

Die aufgezeigten, in der Aufklärung begründeten Subjekteigenschaften sind jedoch seit dem 19. Jahrhundert zunehmend kritisch evaluiert worden, so dass sich die Frage stellt, inwiefern die zugrunde liegenden Annahmen noch tragfähig zur inhaltlichen Begründung der individualsubjektiven Verantwortungsrelation sein können. Dies ist Gegenstand des nachfolgenden Abschnitts.

4.2.4 Der aufklärerische Subjektbegriff in der Kritik

Die in den vorigen Ausführungen aufgezeigten Annahmen hinsichtlich des ontologischen, epistemologischen sowie Akteursstatus des Subjekts stellten dabei im 19. und 20. Jahrhundert noch vielfach den „Common Sense bezüglich dessen, was es heißt, ein ‚Individuum‘ oder ‚Selbst‘ zu sein […]“Footnote 169 dar. Mit dem aufkommenden 19. Jahrhundert lässt sich jedoch eine diametrale Umdeutung des Subjektbegriffs konstatieren, welcher mit einer zunehmend kritischen Rezeption des aufklärerischen Subjektbegriffs korrespondiert sowie in Teilen gar zu einer vollständigen Infragestellung der Begriffsverwendung an sich führte. In diesem Zusammenhang seien nun zuerst kompakt einige philosophische Überlegungen der Nachmoderne ausgeführt, welche mit neueren Überlegungen zur Willensfreiheit aus neurobiologischer Perspektive abgerundet werden, bevor die Implikationen der Digitalisierung und Globalisierung auf die individuelle Verantwortungsträgerschaft in den Fokus gerückt werden.

4.2.4.1 Klassische Kontroversen im subjektphilosophischen Diskurs

Befasst man sich mit dem subjektphilosophischen Diskurs, welcher sich an die klassischen Überlegungen der Aufklärung anschließt, so lässt sich feststellen, dass im Laufe der Zeit eine zunehmende Begriffsverschiebung stattgefunden hat, welche das Subjekt nicht mehr zur Beschreibung des Menschen als autonomes Wesen gebraucht, sondern wieder stärker die zweite Begriffsinterpretation des Subjekts als „Unterworfenes“ aufgreift. Dabei finden sich bereits bei Hegel Überlegungen, in welchen sich das Subjekt der Staatsgewalt – allerdings durchaus noch durch Einsicht in diese Notwendigkeit begründet – unterwirft.Footnote 170 Diese (partielle) Freiwilligkeit wird jedoch seit dem 19. Jahrhundert, so z. B. von Marx, Freud, Nietzsche, Heidegger, Wittgenstein, Dewey, Foucault, Rorty, Lyotard sowie Derrida hinter überaus verschiedenen konzeptionellen Annahmen zunehmend infrage gestellt.Footnote 171 Übergreifend gilt dabei, dass diese „den handelnden Subjekten nur noch geringe Autonomie zu[billigen], [sie] sahen sie als Resultat bzw. Exekutoren von extern (sozial) vorgegebenen Mustern: Der Mensch ist das Ensemble seiner gesellschaftlichen Verhältnisse (so Marx).“Footnote 172 Aus dem philosophischen Diskurs haben sich, neben Überlegungen zu staatlichen Machtstrukturen, welchen sich Menschen zu unterwerfen hätten, auch weitere Kritikpunkte am aufklärerischen Subjektbegriff entwickelt. Ein intensiv diskutierter Aspekt fokussiert hierbei auf die der Aufklärung vorgeworfene Vernachlässigung der Sozialisation als Voraussetzung der Nutzung des Freiheitspotentials. In diesem Zusammenhang wird vielfach der Begriff der Subjektivierung gebraucht, welcher darauf abzielt, dass ein „Subjekt“ nicht von Beginn an bestehe, sondern durch BildungsprozesseFootnote 173 erst geschaffen werde,Footnote 174 welches bei Althusser nach Saar gar zur „Subjektproduktion“Footnote 175 werde. In diesem Sinne stellen auch Beer und Grundmann heraus: „Das Subjekt ist Subjekt, weil es in intersubjektiven Zusammenhängen via Sozialisation und Lernprozessen zu einem Subjekt wird.“Footnote 176 Prägnant fasst auch Bürger in diesem Kontext die Überlegungen Foucaults zusammen „daß wir nicht als Subjekte geboren, sondern zu Subjekten gemacht werden.“Footnote 177 Schließlich stellt auch Ricken fest: „Dass Menschen nicht einfach Subjekte sind […] ist eine – zumindest (sozial-)wissenschaftlich – weithin geteilte Überzeugung; die Frage jedoch, wie denn Menschen zu Subjekten werden […] ist längst noch nicht beantwortet […].“Footnote 178 In diesem Zusammenhang wird auch vielfach darauf hingewiesen, dass selbst das grundlegendste „Werkzeug“ der Philosophie, die natürliche Sprache, nicht von Subjekten selbstkonstituiert, sondern schon immer bereits vorgefunden und daher geistig präformierend erlernt bzw. schlicht übernommen werde. In diesem Sinne finde „der Mensch [.] die Sprache immer schon vor und könne sie nicht durch Eingriffe verändern.“Footnote 179 Damit ist nach Veith auch „[d]as Subjekt der Sozialisationstheorie [..] nicht selbstgenügsam, sondern polyreferentiell – und genau dadurch unterscheidet sich der sozialisationstheoretische vom cartesianischen Subjektbegriff.“Footnote 180 Knoblauch wiederum verschiebt im Kontext der poststrukturalistischen Philosophie schließlich den Fokus auf die reine gesellschaftliche Konstruktion des Subjekts. So werde das Subjekt nun nicht mehr „als feste, erkennende Substanz, sondern als Ergebnis diskursiver Konstruktionen angesehen [.].“Footnote 181

Die Perspektive des Subjekts als Unterworfenes fasst schließlich van Reijen in einem pessimistischen Resümee zusammen: „Die Subjekte sind tot, sie können nichts mehr produzieren, im Gegenteil, sie werden produziert. Wir sprechen nicht die Sprache – die Sprache spricht … uns. Wir machen nicht die Tradition, die Tradition macht uns.“Footnote 182 Van Reijen greift hier hinsichtlich der Formulierung erkennbar auf den vielfach postulierten „Tod des Subjekts“Footnote 183, wie er als Begriff FoucaultFootnote 184 zugeschrieben wird, zurück und skizziert damit ein diametral zur Aufklärung verschiedenes Menschenbild, bei welchem die zentralen, vorherig unterstellten Eigenschaften, welche in der Autonomie und Verantwortlichkeit des Menschen gipfelten, zunehmend hinterfragt werden. So stellt Hagenbüchle fest: „Im Gegensatz zur traditionellen Begriffsauffassung hat heute das Subjekt seine Bedeutung als ‚fundamentum inconcussum‘ weitgehend verloren. Es ist jetzt [..] das ‚Unterworfene‘, wie es schon von Althusser und neuerdings auch von Lévinas uminterpretiert worden ist.“Footnote 185

Diese aufgezeigte, eher pessimistische Perspektive auf den Subjektbegriff ist dabei typisch für subjektphilosophische Werke der PostmoderneFootnote 186, welche vielfach darauf rekurrieren, dass das Subjekt nicht mehr autonomer „Unterwerfer“, sondern selbst unterworfen oder gar am Zerfallen sei.Footnote 187 So subsumiert auch Zima: „Die als postmodern bezeichneten Autoren […] sprechen offen aus, was im literarischen Modernismus […] nur anklingt: daß das individuelle Subjekt zerfallen oder verschwunden ist.“Footnote 188 Dies führt schließlich bei Renn zur pointierten Feststellung, dass „[d]as individuelle Bewusstsein [.] nicht [mehr] Herr im eigenen Hause“Footnote 189 sei.

Verschärft wird diese Auffassung noch durch jüngere neurowissenschaftliche Erkenntnisse, welche bis heute kontrovers diskutiert werden.Footnote 190 So subsumiert Reichertz: „Eine Vielzahl von Neurowissenschaftlern/innen geht seit gut einem Jahrzehnt noch weiter: Sie verkünden in und mit den Medien lautstark das endgültige Ende des Subjekts […]. Sie stellen dabei das Gehirn bzw. die Gehirnschaltungen als Urgrund und Ursprung menschlichen Tuns vor.“Footnote 191 Diese Überlegungen beruhen vielfach auf neurowissenschaftlichen Untersuchungen zur Entscheidungsfindung. Eines der bekanntesten Experimente stammt in diesem Zusammenhang von Benjamin Libet, welcher feststellte, dass das Aktivierungspotential zur Handlung dessen bewusster Repräsentation im Gehirn vorausgeheFootnote 192, woraus zum Teil geschlussfolgert wurde, dass das Bewusstsein automatische Prozesse nur ex post „rationalisiere“ und folglich der freie Wille zu Handeln nur eine Illusion sei.Footnote 193 Hierauf aufbauend wurde auch die bereits in der Philosophie über Jahrhunderte diskutierte Möglichkeit der menschlichen Willensfreiheit wieder aufgegriffen und im Sinne der Bestätigung eines biologischen Determinismus, so z. B. bei Roth, Singer oder Prinz, interpretiertFootnote 194, welcher folglich keinen Raum mehr für echte Willensfreiheit lässt. Nollmann fasst diese Überlegungen wie folgt zusammen: „Viele halten angesichts der messbaren neuronalen Regelmäßigkeiten gar die Freiheit des menschlichen Willens insgesamt für eine widerlegte Illusion.“Footnote 195 Er stellt in diesem Kontext die Frage, inwiefern dann „auch das sinnhaft kommunizierende Subjekt, das seinen Handlungen Bedeutungen beimisst, am Ende“Footnote 196 sei. Ähnlich interpretiert auch Roth diese neurowissenschaftlichen Befunde: „Die Wirklichkeit ist nicht ein Konstrukt meines Ich, denn ich bin selbst ein Konstrukt. Vielmehr geht ihre Konstruktion durch das Gehirn nach Prinzipien vor sich, die teils phylogenetisch, teils frühontogenetisch entstanden sind und ansonsten den Erfahrungen des Gehirns mit seiner Umwelt entstammen. Diese Prinzipien sind meinem Willen nicht unterworfen. Vielmehr bin ich ihnen unterworfen.“Footnote 197 Hieraus schlussfolgert schließlich Wils: „Gerhard Roth plädiert für eine Abschaffung des alteuropäischen Subjekts von Verantwortung.“Footnote 198 Insgesamt muss jedoch festgestellt werden, dass die Interpretationen der empirischen, neurowissenschaftlichen Ergebnisse hinsichtlich der Frage einer möglichen Willensfreiheit nach wie vor stark umstritten sind.Footnote 199 Dennoch zeigt auch die neurowissenschaftliche Forschung mögliche Grenzen einer unkritischen, individuellen Verantwortungszuschreibung über den aufklärerischen Subjektbegriff auf.

Fasst man den heutigen Diskursstand zusammen, so lässt sich insgesamt ein intensiver Widerstreit hinsichtlich der Relevanz des aufklärerischen Subjektbegriffs feststellenFootnote 200, wobei Formulierungen wie der „Tod“ oder das „Verschwinden“ des Subjekts nahelegen mögen, dass einige Autoren die Position vertreten, diesen schillernden Begriff gar vollständig aufzugebenFootnote 201, woraus sich wiederum eine teils überaus scharf geführte Kontroverse entwickelt hat. In diesem Sinne stellt auch Sturma fest, dass „Vorbehalte gegenüber dem Subjektgedanken [.] mittlerweile überaus polemisch zum Ausdruck gebracht [werden].“Footnote 202 Bürger formuliert dagegen nachdenklich: „Es ist noch nicht allzu lange her, da schien die Rede vom Tod des Subjekts den Schlüssel zum Verständnis unserer Gegenwart zu enthalten. Doch bevor man sich noch ernsthaft daran gemacht hatte, den Bedeutungsgehalt der befremdenden Formel zu ergründen, verlor man das Interesse an ihr […]. Das ist bedauerlich, denn das Subjekt ist nun einmal die zentrale Kategorie der Moderne, die Rede von seinem Tode könnte also sehr wohl Ausdruck des Bewußtseins sein, daß wir an einer Epochenschwelle stehen.“Footnote 203 Neben der teils scharfen Subjektkritik haben sich in der jüngeren Zeit aber auch zunehmend Autoren hinsichtlich des aufklärerischen Subjektbegriffs verteidigend positioniert.Footnote 204 So habe nach Heidemann die kritische Auseinandersetzung gerade zur „Revitalisierung […] des Subjekts“Footnote 205 und nicht zu dessen Ende beigetragen. Auch Baumgartner äußert sich ähnlich: „Die Rede vom Verschwinden des Subjekts in dieser allgemeinen Phrase ist ihrerseits totalisierend und als totalisierende Zeitdiagnose verfehlt. Es gibt in der Tat Begriffe von Subjektivität bzw. Aspekte des Subjektbegriffs, die verschwinden und verschwunden sind; darum dürfen aber nicht sogleich auch alle anderen Aspekte des Subjektbegriffs gleichermaßen für verschwunden erklärt werden.“Footnote 206 Hieran anschließend subsumiert auch Düsing: „Die geschilderten Phänomene des Selbstbewußtseins und der Selbstbeziehung von Personen dürften entgegen den Einwänden moderner Subjektkritiker schwerlich zu leugnen sein. Wache Menschen, denen solche Subjektivitätsphänomene intermittierend oder dauerhaft fehlen, befinden sich in der Regel, aus medizinisch-psychologischer Perspektive, psychisch-geistig in einem defizitären oder kranken Zustand.“Footnote 207 Dies erscheint in der Tat einsichtig, betrachtet man wiederum das zuvor vorgestellte 3-Ebenen-Modell der Subjektivität, so dass in Anschluss an die vorigen Autoren in der Tat eine genauere Darlegung des spezifischen Begriffsverständnisses, welches in der neueren philosophischen Subjektkritik teils relativ unklar bleibt, anzumahnen wäre.Footnote 208 Auch Mutschler bezweifelt ein Verschwinden des Subjekts: „Mir hingegen scheint das Verschwinden des Subjekts kein kontingentes Faktum, jedenfalls dann nicht, wenn man an den Leistungen der Moderne wie Industrie, Technik oder Naturwissenschaft festhält. […] Sobald man [.] die Leistungen der Moderne in Anspruch nimmt, steht man unaufhebbar unter dem Anspruch von Subjektivität, deren Verschwinden meines Erachtens bloßer Schein ist […].“Footnote 209 Fraglich bleibt bei einer Aufgabe des aufklärerischen Subjektgedankens zudem, wie dann noch individuelle Verantwortung zu begründen wäre und ob hier nicht folglich der (Individual-)Ethik das zentrale argumentative Fundament entzogen würde. Denn, wie auch Bayertz feststellt, „sind neben [.] empirischen Bedingungen auch bestimmte philosophische Annahmen, darunter vor allem die Idee der menschlichen Freiheit und Autonomie [relevant]. Mit dem Verzicht auf diese Annahmen wird die Idee der Verantwortung nicht weiterentwickelt, sondern verabschiedet.“Footnote 210 Diese letztlich subjektphilosophische, individualethische Frage soll im Rahmen dieser Arbeit allerdings nicht geklärt werden, insbesondere auch, da diese auf die Mesoebene der Wirtschaftsethik fokussiert. Die vorausgegangenen Ausführungen mögen jedoch verdeutlichen, dass bereits im philosophischen Diskurs eine langanhaltende, starke Kontroverse um die Begriffsdeutung des Subjekts sowie dessen Relevanz an sich besteht. Neben diesen grundlegenden Überlegungen zeigen sich gerade auch für den wirtschaftsethischen Kontext vor dem Hintergrund der Globalisierung und Digitalisierung einige Implikationen hinsichtlich der Verwendung des aufklärerischen Subjektbegriffs zur Zuschreibung individueller Verantwortung. Dies ist Gegenstand der nachfolgenden Ausführungen.Footnote 211

4.2.4.2 Ethische Implikationen der globalisierten Wissensgesellschaft

Hinsichtlich der Verantwortungszuschreibung lassen sich nun auch im wirtschaftsethischen Diskurs einige weitere Argumente auffinden, welche gerade auch für diesen fachspezifischen Kontext eine subjektbasierte, individuelle Verantwortungszuschreibung, besonders im Kontext der heutigen globalisierten Wissensgesellschaft, zunehmend problematisch erscheinen lassen. Die Beachtung der hiermit einhergehenden Transformationsprozesse ist neben den aufgezeigten grundlegenden philosophischen Überlegungen bedeutsam, bedenkt man die immer stärkere Einflussnahme globalisierter Wertschöpfungsketten auf individuelle wie kollektive Entscheidungen sowie die tiefgreifenden Veränderungen, welche die Digitale Transformation im Rahmen der heutigen Wissensgesellschaft hervorruft.

Ein erstes Argument, welches insbesondere durch die Globalisierung zunehmendes Gewicht erhält und zur Problematisierung einer rein individualsubjektiven Verantwortungszuschreibung herangezogen werden kann, stammt aus der makroethischen Schule der Wirtschaftsethik um Homann. Wie zuvor bereits diskutiert, ist diese Theorietradition durch eine Analyse moralischer Dilemmasituationen des Wirtschaftskontextes unter Anwendung des spieltheoretischen Instrumentariums geprägtFootnote 212, wobei Homann zum Schluss kommt, dass ein reiner Gebrauch von Moralappellen unter den Bedingungen der modernen Wirtschaft kritisch zu hinterfragen sei. So seien Individuen unter den Marktbedingungen einer globalisierten Weltwirtschaft vielfach überfordert, alleine den an sie gestellten Moralappellen zu folgen, welche diese dauerhaft (möglicherweise gar: existenziell) schlechterstellen würden.Footnote 213 In diesem Sinne wäre, wie aufgezeigt wurde, ein reiner Moralappell nicht nur empirisch vielfach unbrauchbar bzw. faktisch unwirksam, um eigentlich wohlbegründete Ziele zu erreichen, sondern der reine Moralappell ohne Abwägung der individuell induzierten, korrespondierenden Konsequenzen sei auch ethisch kaum zu begründen und impliziere letztlich sogar die Gefahr einer Delegitimation ethischer Überlegungen selbst.Footnote 214 Auf diesen Erkenntnissen aufbauend plädieren Homann und seine Schüler für eine institutionelle Entlastung der Individuen, vor allem auf der Makroebene der Wirtschaftsordnung, indem für alle Akteure gleiche, bindende Regeln geschaffen werden, so dass sich das normativ begründete Handeln zumindest nicht mehr dauerhaft nachteilig auswirke.Footnote 215 Betrachtet man das Argument Homanns damit aus subjektphilosophischer Perspektive, so befasst sich dieses mit der Realisierungsmöglichkeit des individualsubjektiven Handlungspotentials, welches im Rahmen einer globalisierten Wirtschaftsordnung kritisch zu hinterfragen wäre.

Ein weiteres Argument, welches im Rahmen klassischer Subjekteigenschaften hinsichtlich einer individuellen Verantwortungszuschreibung kritisch zu betrachten wäre, stammt aus dem Bereich der Technikethik, welche die arbeitsteiligen Verhältnisse der heutigen Wertschöpfungstätigkeiten in Wertschöpfungsketten bzw. -netzwerkenFootnote 216 in den Fokus rückt. So wird unter den Bedingungen der modernen Produktionsweise deutlich, dass eine relativ genaue, monokausale Verantwortungszuschreibung für das Endprodukt, welche in Manufakturbetrieben noch vielfach unproblematisch erschien, im Rahmen arbeitsteiliger Wertschöpfungsprozesse nahezu unmöglich ist; und dies gilt dann auch für eine individualethische Verantwortungszuschreibung. Wer letztlich für ein Ergebnis der Wertschöpfungstätigkeit innerhalb eines Unternehmens oder gar eines Wertschöpfungsnetzwerkes verantwortlich ist, lässt sich durch die vielfach interdependenten Entscheidungen kaum noch ermitteln. In diesem Sinne gilt mit Dybel und Sandkühler: „Individuen sehen sich unkontrollierbaren anonymen Prozessen ausgeliefert und als Subjekte entmachtet.“Footnote 217 Auch Lenk hebt hervor: „Im Zeitalter der Großprojekte, der kollektiven Maßnahmen und Handlungen kann gegebenenfalls nicht der einzelne allein die Gesamtverantwortung für ein Gesamtunternehmen tragen, weil sein aktiver Beitrag bzw. seine Entscheidungsmacht äußerst begrenzt sind.“Footnote 218 Ebenso konstatiert Bauer: „Durch das Auslösen von Signalketten bewirkt ein Mensch Kaskaden von Effekten, für die er keine Verantwortung im eminenten Sinne übernehmen kann.“Footnote 219 Dadurch werde schließlich auch „die prinzipielle Unmöglichkeit von individueller Verantwortbarkeit sichtbar.“Footnote 220 In diesem Zusammenhang droht, wie auch Hubig feststellte, letztlich der Verlust des klassischen Handlungssubjekts.Footnote 221 Insbesondere im Rahmen der Digitalen Transformation („Industrie 4.0“)Footnote 222 stellt sich die Frage nach der Verantwortungsübernahme für die Arbeitsergebnisse bzw. Tätigkeitskonsequenzen von Maschinen mit zunehmender Dringlichkeit. So ist bis heute umstritten, wer überhaupt und in welchem Umfang Verantwortung für Maschinentätigkeiten trägt: Konstrukteure, Softwareentwickler, das Aufsichtspersonal? Diese Problematik potenziert sich nochmals durch das Faktum, dass heute Entscheidungen in zunehmendem Maße nicht mehr individuell-autonom, sondern meist in Kollektiven (und zudem mit maschineller Unterstützung durchgeführt) getroffen werden.Footnote 223

Neben diesen grundlegenden wirtschafts- und technikethischen Überlegungen existieren auch hinsichtlich der gesellschaftlichen Transformation zur Wissensgesellschaft Argumente, welche eine rein individualsubjektive Verantwortungszuschreibung zunehmend problematisch erscheinen lassen. So werden neuerdings auch verstärkt die Konsequenzen der Digitalisierung sowie die gesellschaftlichen Veränderungen durch die Wissensgesellschaft intensiv diskutiert. Der Begriff der Digitalisierung wird dabei in der Literatur in einer Vielzahl an Kontexten und inhaltlichen Deutungen gebraucht.Footnote 224 Nimmt man allerdings eine Metaperspektive ein, so lassen sich im Kern zwei zentrale Begriffsverständnisse subsumieren. Im engeren Sinne referiert der Begriff lediglich auf eine Transformation analoger Objekte in binäre, d. h. digitalisierte Informationseinheiten.Footnote 225 Dagegen bezeichnet der Begriff in einem weiteren Sinne die umfassende Durchdringung der gesamten menschlichen Lebenswelt mittels informatorischer Technologien, welche wiederum mit weitreichenden gesellschaftlichen Veränderungsprozessen korrespondieren.Footnote 226 Gerade letzteres Verständnis schließt wiederum an die konzeptionellen Überlegungen zur aufkommenden Wissensgesellschaft an, in welcher die Verfügbarkeit von Wissen selbst zum zentralen Produktions- wie Erfolgsfaktor für Unternehmen wie auch Individuen wird.Footnote 227 Dieser enge begriffliche Zusammenhang wird auch von Gutounig hervorgehoben: „Die vorherrschende Digitalisierung und Vernetzung aller Lebensbereiche bildet so etwas wie den Kern der Wissensgesellschaft […].“Footnote 228

Vor dem Hintergrund der im Rahmen der Wissensgesellschaft stattfindenden technologischen sowie gesellschaftlichen Veränderungen kommt dabei Neuser zum Schluss, dass das moderne Individuum (zumindest hinsichtlich der freien Erkenntnisfähigkeit) nicht mehr als Subjekt im aufklärerischen Sinne aufgefasst werden kann: „Seine zentrale Stellung, die das Subjekt in den subjekttheoretischen Konzepten als Erzeuger von Wissen hatte, ist verloren.“Footnote 229 Damit wird insbesondere der seit Descartes eingeführte epistemologische Aspekt des Subjektbegriffs als zentrale Grundlage der Sicherheit für die Erkenntnis eines Individuums in Zweifel gezogen, welches folglich Konsequenzen für die darauf aufbauenden Handlungen impliziert. In der Tat scheint im Rahmen der Digitalisierung dieses aufklärerisch geprägte Fundament zu erodieren, da in zunehmendem Maße informationstechnische Systeme bei der Generierung von Wissen maßgeblich und relativ autonom involviert sind. So sind beispielsweise die Erzeugung komplexer Wissensbestände wie auch anspruchsvolle Konstruktionen ohne technische Unterstützung kaum mehr möglich. In diesem Sinne betont auch Neugebauer: „Ein Prozessor mit Transistoren in Milliardenzahl etwa ist nur mit weitgehend automatisierten, digitalisierten Verfahren zu konstruieren und herzustellen. Komplexe Programme wiederum werden ganz oder teilweise von Rechnern selbst entworfen, umgesetzt und geprüft. […] Künstliche Systeme sammeln Erfahrungen und können diese anschließend verallgemeinern. Sie erzeugen Wissen.“Footnote 230 Dadurch wiederum, wie Neuser feststellt, „bilden sich Wissenssysteme aus, die nicht mehr subjektgesteuert sind. Dies gilt auch, wenn sie durch Individuen, durch Ingenieure angetriggert werden.“Footnote 231 Diese technologische Transformation wirft nun wiederum eine Reihe von ethischen Fragen auf, so z. B. „über neue Formen von Deutung von Welt nachzudenken, die nicht mehr von einem Subjekt verantwortet sind […].“Footnote 232 In jedem Fall zeigt damit auch die Diskussion im Kontext der Digitalisierung, dass der Status als individuelles, freies Subjekt mit dem Primat der Letztverantwortung zumindest überaus kritisch rezipiert wird.

Die vorausgegangenen Überlegungen haben im Kontext der Digitalen Transformation aber auch Implikationen auf den zentralen Begriff des Wissens selbst, weshalb auf diesen abschließend kurz eingegangen sei. Grundsätzlich ist Wissen nach Becker ein „traditionsreicher und schillernder Begriff“Footnote 233 und, wie auch Weinreich hervorhebt, „in der Geschichte der Menschheit schon immer von Bedeutung gewesen.“Footnote 234 Neben der alltagssprachlichen Bedeutung wird der Begriff aber auch in diversen Fachdisziplinen gebraucht. Dabei lassen sich im Kern zwei verbreitete Konzeptionen differenzieren, welche zum besseren Verständnis kurz dargestellt und voneinander abgegrenzt werden. In einem ersten Schritt wird dabei aus philosophischer Perspektive häufig mit Referenz auf Platon Wissen als wahre, gerechtfertigte Meinung definiert.Footnote 235 Wissen weist in diesem Sinne folglich drei konstitutive Merkmale auf: So muss erstens eine Meinung vorliegen, d. h. ein Individuum (bzw. ein Subjekt!) muss von einem Sachverhalt selbst überzeugt sein. Darüber hinaus müssen jedoch auch gute GründeFootnote 236 für die existierende Meinung vorliegen, d. h., diese darf nicht willkürlich oder zufällig zustande gekommen sein. Schließlich ist drittens zu fordern, dass die Meinung nicht nur gerechtfertigt, sondern auch wahr ist, welches bspw. im korrespondenztheoretischen SinneFootnote 237 die Übereinstimmung mit der Realität bzw. WirklichkeitFootnote 238 impliziert.Footnote 239

Obschon diese Auffassung, gerade im philosophischen Kontext, durchaus noch immer recht verbreitet ist, hat die Literatur im Laufe der Zeit auch einige Kritik an dieser Wissenskonzeption hervorgebracht, so z. B. im Rahmen des kontrovers diskutierten Gettier-Problems.Footnote 240 Für die vorliegende Arbeit sei jedoch vor allem herausgestellt, dass bereits die erste Voraussetzung, d. h. die Existenz einer Meinung, ein denkendes, reflexions- und begründungsfähiges WesenFootnote 241 – mithin ein SubjektFootnote 242 – voraussetzt, welches damit eine maschinelle Generierung von Wissen prinzipiell ausschlösse. Geht man jedoch gerade vor dem skizzierten Hintergrund der Wissensgesellschaft davon aus, dass in zunehmendem Maße auch technische Systeme relativ autonom Wissen erzeugen und austauschen können, so erscheint der platonische Wissensbegriff zu eng und ein anderer konzeptioneller Zugang notwendig. So stellt auch Gloy paradigmatisch fest: „Daß der neue Träger des Wissens, der Computer, und die ihm eigentümliche Sprache, nämlich die moderne Algebra und Information, zusammen mit der immensen Speicherkapazität des Wissens, ja die gesamte semiologische Wende einen ganz neuen Wissensbegriff generiert, ist nicht zu übersehen.“Footnote 243 Ein solcher Begriff kann dabei in einem informationswissenschaftlichen Kontext aufgefunden werden, welcher gerade in jüngerer Zeit und insbesondere auch im betriebswirtschaftlichen Schrifttum steigende Verbreitung erfahren hat.Footnote 244 Wissen kann dabei in einem begriffshierarchischen Sinne aufgefasst werden, wobei der Zusammenhang häufig anhand der s. g. Wissenspyramide visualisiert wird. So stehen auf der untersten Ebene die einzelnen Zeichen, welche mittels syntaktischer Regeln zu Daten aggregiert werden können. Hierauf aufbauend kann im Rahmen einer Semantik, d. h. durch Hinzufügen von Bedeutung, die reine Datenstruktur zur Ebene der Information überführt werden. Werden nun diese Informationen wiederum miteinander verknüpft bzw. in Verbindung zueinander gesetzt, so entsteht auf der letzten Stufe schließlich Wissen.Footnote 245 Diese konzeptionellen Überlegungen verdeutlicht auch nochmals die nachfolgende Abbildung 4.3.

Abbildung 4.3
figure 3

Der informationswissenschaftliche Wissensbegriff in hierarchischer Darstellung

Dabei wird ersichtlich, dass im Rahmen einer solchen Konzeption der Besitz von Wissen nicht die Existenz eines Subjektes voraussetzt, sondern prinzipiell auf technische Einheiten Anwendung finden kann, welche z. B. mittels Big Data-Analysen Zusammenhänge zwischen Informationen herausarbeiten und dem NutzerFootnote 246, aber auch anderen technischen Systemen, zur Verfügung stellen können. Damit erscheint dieser Begriff für die technologischen Veränderungen im Rahmen der Wissensgesellschaft fruchtbar und wird daher auch den weiteren Ausführungen dieser Arbeit zugrunde gelegt.

Fasst man die bisherigen Ausführungen zusammen, so wird deutlich, dass die Zuschreibung von individueller Verantwortung vor dem Hintergrund klassischer subjekttheoretischer Vorstellungen aus verschiedenen Argumentationslinien zunehmend problematisch erscheint. Während im philosophischen Diskurs teilweise eine vollständige Umdeutung des Subjektbegriffs oder gar die Elimination des aufklärerischen Subjektbegriffs intensiv diskutiert wurde, stellt sich insbesondere auch vor dem Hintergrund der Globalisierung und Digitalisierung zunehmend die Frage, inwiefern eine traditionelle, subjektbasierte, individuelle Verantwortungszuschreibung unter diesen Rahmenbedingungen noch zu überzeugen vermag. Dabei zeigten die vorigen Ausführungen, dass die traditionell unterstellte autonome Erkenntnisfähigkeit bzw. Wissensgenerierung durch die Digitale Transformation bedroht scheint, während sich durch komplexere, global-interdependente Wertschöpfungstätigkeiten eine Begrenzung individueller Handlungsmöglichkeiten sowie eine Diffusion der Handlungskausalität ergibt. Als Zwischenfazit erscheint damit die Referenz auf das Individuum zumindest als primärer oder gar alleiniger Verantwortungsträger zunehmend fraglich. Eine solche „Leerstelle“ wäre auf den ersten Blick hochproblematisch, ist doch die abendländische Ethik durch einen klaren Fokus auf das Individuum als frei erkennende, handelnde und damit verantwortliche Entität gekennzeichnet.Footnote 247 Inwiefern jedoch Individuen tatsächlich in der Lebenswirklichkeit moderner, komplexer Gesellschaften noch als primäre Adressaten der Verantwortungsübernahme aufzufassen sind, scheint vor dem aufgezeigten Hintergrund allerdings mehr als kritisch zu sehen. So wird auch die individuelle Verantwortung im öffentlichen Diskurs zwar „zunehmend gefordert, aber auch zunehmend als Überforderung abgewehrt.“Footnote 248 Im Transfer auf die Mesoebene kann mit Ropohl folglich konstatiert werden: „Dem Risiko im Prinzip Verantwortung ist die individualethische Moralphilosophie nicht gewachsen. […] Gleichwohl muß das Prinzip Verantwortung, wenn es sich nicht in praxisfremden Appellen erschöpfen soll, die individualethische Begrenzung überwinden […].“Footnote 249 Ebenso stellt auch Wieland fest: „Ethik und Moral der modernen Wirtschaft des 21. Jahrhunderts aber wenden sich nicht mehr alleine an das Wirtschaftsindividuum, sondern direkt und immer häufiger in erster Linie [..] an kollektive Akteure.“Footnote 250 In diesem Sinne wäre folglich zu prüfen, inwiefern die entstandene „Verantwortungslücke“ nun mehr durch kollektive bzw. korporative AkteureFootnote 251 zu schließen wäre, und inwiefern der aufklärerische Subjektbegriff in diesem Kontext dann wieder zur Begründung von organisationaler Verantwortung herangezogen werden könnte. Dies ist Gegenstand der nachfolgenden Ausführungen.Footnote 252

4.2.5 Kollektive Akteure als alternative Verantwortungsträger?

Folgt man den vorigen Überlegungen, so stellt sich die Frage, inwiefern möglicherweise gerade kollektive Einheiten die aufgezeigten Schwächen der Verantwortungsübernahme zumindest teilweise kompensieren könnten, indem sie die Komplexität moderner Gesellschaften wieder handhabbarer werden lassen und ggf. anstelle oder zumindest zusätzlich zu den Individuen als (kollektives) moralisches Verantwortungssubjekt aufgefasst werden könnten. So hebt auch Stahl hervor: „Das Individuum hat weder das nötige Wissen bezüglich der Resultate seiner Handlungen noch die Macht, diese zu beeinflussen. Gleichzeitig, und vielleicht auch deswegen, werden Institutionen, Organisationen, Korporationen etc. zu den relevanten Akteure [sic!] der Gesellschaft“Footnote 253, denn es gilt, dass „Kollektive mehr Macht haben als Individuen, dass sie die nötigen Ressourcen haben, um mit Komplexität umzugehen und dass sie eher in der Lage sind, Erkenntnisse in die Zukunft zu projizieren.“Footnote 254

Auch Fetzer betont die zunehmende Bedeutung „gesellschaftlicher Kausalitätszentren, die sehr wohl etwas ‚tun‘, deren Taten jedoch Individuen nicht zugerechnet werden können – und zwar nicht nur im Einzelfall nicht, sondern systematisch […].“Footnote 255 Dabei kann jedoch nicht nur eine ledigliche Verantwortungsdelegation auf die Makroebene, d. h. zum Staat, stattfinden, denn gerade durch die Globalisierung haben die Einzelstaaten deutlich an Handlungsmacht eingebüßt, während große Konzerne deutlich an Gestaltungsmöglichkeiten hinzugewonnen haben.Footnote 256 Folglich reicht ein Fokus auf die Gestaltung von Rahmenordnungen im Sinne klassischer Ordoethiken, wie im Rahmen der Konzeption Homanns diskutiert, nicht aus, womit zunehmend Verantwortung an Unternehmen zurückfällt, ihre Handlungen überzeugend zu begründen. Die Frage ist jedoch, wie diese Verantwortungspflicht selbst zu begründen wäre. Eine Überlegung könnte dabei sein, auf das traditionelle Begründungsmuster des moralfähigen Subjektes (z. B. im Sinne eines ehrbaren Kaufmanns auf der Mesoebene) zu rekurrieren, wodurch eine Zuschreibung von Verantwortung auch auf der kollektiven Ebene möglich wäre. In diesem Sinne betont auch Bohrmann: „Als Subjekt gilt die freie Person, die sich ihrer Handlungen bewusst ist; in der ethischen Tradition wird sie als vernunftbegabt, moral- und zurechnungsfähig verstanden. Allerdings sind nicht nur Individuen damit gemeint, sondern Träger von Verantwortung können ebenso eine Organisation, eine Gruppe, ein Staat, ein Unternehmen, eine Religionsgemeinschaft sein […].“Footnote 257 Aus dieser Perspektive wäre es demnach bedeutsam, folgende Frage zu klären: „Können Unternehmen innerhalb der moralischen Kommunikation als Subjekte wahrgenommen und angesprochen werden?“Footnote 258

Inwiefern der Begriff des moralfähigen Subjektes bzw. der moralfähigen Person auch auf kollektiv handelnde Entitäten übertragen werden kann, wird in der Literatur überaus kontrovers diskutiert. Der bekannteste Vertreter der Auffassung, dass Korporationen als moralische Personen und damit als verantwortlich handelnde Einheiten aufgefasst werden können, ist Peter French. Das zentrale Argument Frenchs lautet hierbei, dass durch die gegebene interne Entscheidungsstruktur (Corporate Internal Decision [CID] Structure) Entscheidungen immer durch Weisungs- und Zuständigkeitsbefugnisse vorgefiltert und dann durch die legitimierten Organe für den kollektiven Akteur getroffen werden, so dass diese der Korporation direkt intentional zugerechnet werden können: „A functioning CID Structure incorporates acts of biological persons.“Footnote 259 Durch die zugeschriebene Fähigkeit, korporative Intentionen durch gemeinsame Entscheidungsprozeduren zu bilden, kommt French schließlich zu dem Schluss, dass Unternehmen als moralische Personen aufgefasst werden können, welche dadurch wiederum Handlungsverantwortung (aber auch bestimmte fundamentale Rechte!) besitzen: „In short, corporations can be full-fledged moral persons and have what-ever privileges, rights and duties are, in the normal course of affairs, accorded to moral persons.“Footnote 260 Obwohl diese Überlegungen durchaus in der wirtschaftsethischen Literatur verbreitet sind und umfassend rezipiert wurdenFootnote 261, hat sich doch bereits einige Jahre nach erstmaliger Veröffentlichung der Überlegungen Frenchs auch deutlicher Widerstand gegen eine Auffassung von Unternehmen als moralfähigen Subjekten entwickelt. Die bekannteste Gegenposition stammt hierbei von Velasquez, welcher sich explizit gegen Frenchs Ausführungen positioniert.Footnote 262 Er betont konträr zu dessen Konzeption, dass letztlich nur (oder zumindest primär) Individuen Verantwortungsträger repräsentierten und die Auffassung, dass ein Unternehmen „handele“ nur in einem elliptischen, d. h. verkürzenden, Sinne aufgefasst werden könne und für nicht bekannte, eigentlich handelnde Individuen stehe.Footnote 263

Betrachtet man diese beiden Extrempositionen, so ist bis heute nicht geklärt, welcher dieser beiden Auffassungen nun der Vorzug gegeben werden könnte, wenngleich selbst Velasquez darauf hinweist, dass im Laufe der Zeit tendenziell eher der Position Frenchs gefolgt wurde.Footnote 264 Das zentrale Problem hierbei erscheint der letztlich metaphysische Gehalt des aufklärerischen Subjektbegriffs zu seinFootnote 265, welcher letztlich weder formal noch empirisch geprüft werden kann. Folglich existieren grundsätzlich auch weiterhin Fachvertreter, die einen moralischen Personen- bzw. Subjektstatus auf Unternehmensebene verteidigenFootnote 266, aber auch kritische Stimmen, welche korporative Subjektzuschreibungen als „schlechte[] Metaphysik“Footnote 267 kritisieren und „darauf aufmerksam machen, dass soziale Institutionen und Organisationen letztlich aus einzelnen Individuen bestehen, die alle für ihre jeweiligen Aufgabenbereiche verantwortlich sind […].“Footnote 268 Auch Härle betont, dass „ethische Subjekte [.] immer nur einzelne Menschen mit ihren Intentionen und ihrer ethischen Verantwortung [sind].“Footnote 269 Genau dieser Standpunkt erscheint jedoch aus den im vorigen Kapitel aufgezeigten Gründen in der heutigen Zeit zunehmend problematisch. Darüber hinaus könnte an der Auffassung von Velasquez kritisiert werden, dass dieser Korporationen nur als Summe von Individuen betrachtetFootnote 270, wodurch erstens technische Elemente vernachlässigt werden und zweitens unbeachtet bleibt, dass ein System durch die existierenden Beziehungen (bei French: die CID) stets mehr ist, als die Summe seiner Teile.Footnote 271 In diesem Sinne betont auch Maring: „Handlungssysteme ab der Mesoebene sind eben nicht eine bloße Menge von Individuen, sondern sozial verbundene, strukturierte Mengen. Diese Struktur wirkt auf die Individuen ein, ebenso wie diese die Struktur mitprägen.“Footnote 272 Ähnlich hebt auch Soares hervor „[t]hat the notion of a corporation cannot be reduced to the mere behaviour of individuals […].“Footnote 273

Ein fruchtbarer Ansatz, welcher die beiden konfligierenden Positionen teilweise verbindet, könnte dabei in der Position Neuhäusers gefunden werden, welcher argumentiert, dass Unternehmen nicht als moralische Personen aufgefasst werden sollten, da diesen bestimmte traditionell mit Personen assoziierte Rechte, wie z. B. die zentralen Menschenrechte, nicht zuerkannt werden können: „Personen haben eine Würde, Unternehmen hingegen nicht. Daher sind Unternehmen keine Personen.“Footnote 274 Ähnlich stellt auch Maring heraus, dass Unternehmen „nicht den Selbstzweckcharakter wie natürliche Personen [haben]. Man hat trotzdem Parallelen zum moralischen Handeln von Personen, aber eine Korporation ist keine Person im moralischen Sinne.“Footnote 275 Dennoch können nach Neuhäuser Unternehmen als Verantwortungsträger aufgefasst werden, da diese mehr Handlungsmöglichkeiten und Ressourcen als Individuen alleine besäßen und auch als Einheiten wahrgenommen würden, welche gemeinsam Beschlüsse fassen, auf die sich auch die Stakeholder (z. B. gerade die Mitarbeiter) in ihrem Handeln ausrichtetenFootnote 276: „Insofern wäre es vielleicht möglich, die Diskussion zum Begriff der Personalität über Bord zu werfen und stattdessen nur davon zu sprechen, dass Unternehmen Akteure sind, weil sie Intentionen haben.“Footnote 277 Neuhäuser verschiebt damit evidenterweise die Begründung der Verantwortung von der metaphysischen Subjektbegründung hin zur faktischen gesellschaftlichen Wahrnehmung von Unternehmen als intentional handlungsfähigen Einheiten. Dieser Auffassung soll im Weiteren gefolgt werden. Jedoch ist noch zu klären, weshalb Unternehmen dann auch motiviert sein sollten, dem Anspruch, Verantwortung zu tragen, nachzukommen. In diesem Sinne stellt auch Neuhäuser in Bezug auf Unternehmen berechtigt fest: „Sie mögen dazu zwar grundsätzlich fähig sein, sind aber offensichtlich kaum motiviert, ethisch zu handeln. Woher aber soll diese Motivation praktisch kommen?“Footnote 278 Dieser Frage wird sich die Arbeit im Folgenden widmen. Dabei wird, beruhend auf einer systemtheoretischen Konzeption des Unternehmens gezeigt, dass sehr wohl gute, für die Existenzsicherung des Unternehmens intrinsisch bedeutsame, Gründe existieren, Verantwortung im Sinne des „Rede- und Antwortstehens“ zu übernehmen, ohne wie bei Suchanek oder Wieland auf traditionelle ökonomische Kategorien zurückzufallen.Footnote 279 Des Weiteren wird allerdings auch nicht nur auf die reine Wirksamkeit von Moralappellen vertraut. Darüber hinaus kann ein solcher Ansatz aber auch als erkenntnisstiftend für die Implikationen im Rahmen der Digitalen Transformation erachtet werden, in welcher technische, computerisierte Entscheidungsunterstützungssysteme als cyber-physische Systeme zunehmende Bedeutung erfahren.Footnote 280

4.3 Unternehmen als sozio-technische Systeme – Forschungsgegenstand einer systemtheoretisch fundierten Unternehmensethik

Wie die vorigen Ausführungen darlegten, scheint es für die wirtschaftsethische Forschung sinnvoll, sich intensiviert mit der Verantwortung von Unternehmen zu beschäftigen, wobei der Weg über eine metaphysische Subjektzuschreibung eine Reihe von (weitgehend ungeklärten) Problemen impliziert. Diese Fragen sollen hier nicht entschieden, sondern vielmehr zum Anlass genommen werden, die Möglichkeit einer subjektunabhängigen UnternehmensethikFootnote 281 zu untersuchen. Hieran anknüpfend soll im Weiteren Unternehmensethik im Sinne einer doppelten Subjektunabhängigkeit konzeptualisiert werden. Eine originäre Mesoethik muss dabei erstens in ihrem Betrachtungsgegenstand die Summe der Individuen übersteigen, d. h. es darf sich nicht um eine verdeckt-aggregierte Individualethik handeln, welche zweitens auch ohne metaphysischen Subjektstatus die Notwendigkeit von Ethik ohne Rückfall auf rein ökonomische Begründungsstrukturen oder reine Moralappelle darzulegen vermag. Dies gelingt mittels einer systemtheoretischen Konzeption, welche das Unternehmen als sozio-technisches SystemFootnote 282 rekonstruiert, wie die nachfolgenden Ausführungen zeigen.Footnote 283

4.3.1 Systemtheoretische Grundlagen

Beschäftigt man sich näher mit dem Begriff der Systemtheorie, so zeigt sich recht schnell, dass bis heute nicht eine einzige Systemtheorie existiert. Vielmehr repräsentiert diese einen interdisziplinären Sammelbegriff, welcher als fruchtbares Analyseinstrument in diversen Disziplinen und Anwendungsebenen aus konzeptioneller Sicht Erkenntnisgewinne ermöglicht.Footnote 284 So lassen sich folgerichtig je nach betrachteter wissenschaftlicher Disziplin auch verschiedene Systemdefinitionen auffinden, die jedoch inhaltlich im Detail stark differieren können. Allen Ansätzen ist jedoch der Grundgedanke gemein, einerseits holistisch sowohl die Eigenschaften des Ganzen, wie auch andererseits analytisch dessen Interaktionen zu betrachtenFootnote 285, wobei zu beachten ist, dass die Beziehungen zwischen den Elementen neue Eigenschaften der Gesamtheit hervorbringen, welche die Eigenschaften der konstituierenden Elemente übersteigt.Footnote 286 Diese Erkenntnis findet sich bereits klassisch bei Aristoteles, welcher in diesem Sinne als Urvater systemtheoretischer Betrachtungen gelten kann. Auf Aristoteles geht daher auch der vielfach in der Literatur rezipierte Ausspruch zurück, dass das Ganze stets mehr ist als die Summe seiner Bestandteile.Footnote 287 Dieser Zusammenhang lässt sich wiederum durch die Etymologie der deutschen Bezeichnung „System“ vergegenwärtigen, die auf dem griechischen σύστημα (sýstema) beruht, welches „das aus mehreren Teilen zusammengesetzte und geordnete Ganze“Footnote 288 bezeichnet.

Systemisches Denken an sich stellt dabei keine genuin neuere Entwicklung dar und ist prinzipiell, wie aufgezeigt wurde, ein ideengeschichtliches Grundkonzept der großen philosophischen Systeme von Aristoteles, Kant oder Hegel.Footnote 289 So stellt auch der Begründer der allgemeinen Systemtheorie Ludwig von Bertalanffy fest: „In a certain sense it can be said that the notion of system is as old as European philosophy.“Footnote 290 Ebenso betont auch Wolf: „Die für sie charakteristische Sichtweise ist mindestens genauso alt wie die Philosophie des Abendlandes.“Footnote 291 Auch im Ingenieurwesen ist seit jeher systemisches Denken fundamental zum Entwurf von Maschinen gewesen,Footnote 292 auch wenn diese Bezeichnung noch nicht immer geläufig gewesen sein mag. Der Anspruch fachübergreifende, d. h. Metaerkenntnisse, über Systeme per se zu entwickeln, stellt jedoch noch eine relativ junge Entwicklung dar, welche ihren Ausgangspunkt in den Arbeiten von Ludwig von Bertalanffy findet.Footnote 293 Von Bertalanffy erkannte, dass das Konzept des systemischen Denkens nicht nur in einzelnen Fachdisziplinen wie der BiologieFootnote 294 erkenntnisförderlich ist, sondern fruchtbare Erkenntnisse hinsichtlich einer Vielzahl von Phänomenen aus diversen konzeptionellen Perspektiven zu liefern vermag, welches wiederum zur Forderung der Entwicklung einer „allgemeinen“, d. h. fachübergreifendenFootnote 295, Systemtheorie als Metakonzept führte.Footnote 296 In diesem Sinne formulierte von Bertalanffy pointiert: „Es gibt Modelle, Prinzipien und Gesetze, die für allgemeine Systeme oder Unterklassen von solchen gelten, unabhängig von der besonderen Art der Systeme, der Natur ihrer Komponenten und der Beziehungen oder Kräfte zwischen diesen. Wir fordern daher einen neuen Wissenschaftszweig, genannt Allgemeine Systemtheorie.“Footnote 297 Demnach ist es aus einer solchen verallgemeinernden Metaperspektive auch „gleichgültig, welcher Art die sie zusammensetzenden Elemente und die zwischen diesen bestehenden Beziehungen oder ‚Kräfte‘ sind.“Footnote 298 Relevant ist vielmehr, wie auch die weiteren Ausführungen darlegen, dass Systeme grundsätzlich aus einer Menge geordneter Elemente bestehen, zwischen denen stärkere Wechselbeziehungen bestehen als zu anderen Elementen, wodurch gegenüber der Umwelt eine Systemgrenze entsteht.Footnote 299 Durch diese Verallgemeinerung des Systemgedankens wurde es nun möglich, eine Vielzahl von Systemen, sowohl natürlichen als auch künstlichen Ursprungs, zu beschreiben. Folglich wurde im Laufe der Zeit nicht nur die allgemeine Systemtheorie selbst kontinuierlich verbessert, sondern diese Weiterentwicklung förderte auch die allgemeine Verbreitung systemischen Denkens an sich und übte bedeutenden Einfluss auf zahlreiche Fachdisziplinen aus, nun ebenfalls verstärkt systemische Paradigmen in ihr Forschungsprogramm zu integrieren. So finden sich heute neben einigen Beiträgen der Biologie zur Auffassung von Leben als systemisch modellierbarem Phänomen auch umfangreiche systemtheoretische Beiträge in der Physik oder dem Ingenieurwesen, welches beispielsweise Systeme vielfach im Kontext der Signal- oder Regeltechnik aufgreift.Footnote 300 Auch im sozialwissenschaftlichen Bereich hat der systemtheoretische Ansatz eine intensive, aber auch kontroverse Rezeption gefunden. So konzipierten z. B. die bekannten Soziologen ParetoFootnote 301, ParsonsFootnote 302 sowie insbesondere auch LuhmannFootnote 303 – trotz überaus unterschiedlicher konzeptioneller Zugänge – ihre Gesellschaftstheorien auf einem systemtheoretischen Fundament. Aber auch in der Betriebswirtschaftslehre findet der Systemansatz seit einigen Jahrzehnten zunehmende Beachtung. Hier gilt Hans Ulrich als einer der zentralen Wegbereiter bzw. Begründer der betriebswirtschaftlichen Systemtheorie im deutschsprachigen Raum.Footnote 304 Obwohl seine späteren Ausführungen sich auf den betrieblichen Kontext fokussieren, können seine grundlegenden Überlegungen auch auf Systeme im Allgemeinen übertragen werden. Ulrich bezeichnet dabei ein System als „eine geordnete Gesamtheit von Elementen, zwischen denen irgendwelche Beziehungen bestehen oder hergestellt werden können.“Footnote 305 Konstitutiv für das Systemkonzept nach Ulrich sind somit die vier Merkmale: Element, Beziehung, Ganzheit und Ordnung (Struktur)Footnote 306, welches die folgende Abbildung 4.4 im Überblick aufzeigt.

Abbildung 4.4
figure 4

Konzeptioneller Überblick zum SystembegriffFootnote

In Anlehnung an Ulrich, H. (1984), S. 51 und S. 69.

Unter einem Element wird dabei derjenige Bestandteil eines Systems verstanden, der nicht weiter zerlegt werden sollFootnote 308 oder prinzipiell nicht weiter sinnvoll unterteilt werden kann. Demnach bildet das Element die kleinste zu betrachtende oder betrachtbare Einheit eines Systems. „Elemente sind somit die Komponenten eines Systems, also all das, was im wechselseitigen Zusammenwirken ein System konstituiert.“Footnote 309 Beziehungen werden dagegen verstanden als „irgendwelche Verbindungen zwischen Elementen, welche das Verhalten der Elemente und das ganze System charakterisieren. Durch Beziehungsaufnahme oder Interaktion werden diese Beziehungen gewissermaßen aktiviert“Footnote 310, wodurch sich auch die Möglichkeit einer Gestaltung von Systemen ergibt. Unterhält das System direkte BeziehungenFootnote 311 zum Umfeld, spricht man von einem offenen System. Gibt es diese Beziehungen nicht, spricht man dagegen von einem geschlossenen System.Footnote 312 Während geschlossene Systeme auf der Grundprämisse basieren, dass lediglich eine intra-unit-Betrachtung vorliegt, bei der Veränderungen der Umwelt keinen direkten Einfluss auf systeminterne Spezifika haben könnenFootnote 313, gehen offene Systeme von der gegensätzlichen Annahme aus, dass primär externe Umwelteinflüsse und -beziehungen (extra-unit-Betrachtung) als Erklärungsgrund für systeminterne Veränderungen anzusehen sind. Nach diesem Verständnis werden systemexterne Einflüsse als Input aufgenommen, gemäß gewisser Transformationsregeln verarbeitet und als Output wieder an die Umwelt abgegeben. Als Zwischenstufe zwischen offenen und geschlossenen Systemen findet sich in der Literatur das Konzept der autopoietischen bzw. selbstreferentiellen Systeme. Diese können, wie auch die nachfolgenden Ausführungen zeigen, sowohl als offene als auch als geschlossene Systeme aufgefasst werden.Footnote 314 Offen einerseits, da sie auf Austauschbeziehungen zur Umwelt angewiesen sind und auf diese auch adaptiv reagieren müssen. Geschlossen andererseits, da diese bei der Erhaltung des Systems auf sich selbst Bezug nehmen, ihre Struktur relativ autonom intern konstituieren und dabei eine eigene Identität entwickeln. Hieraus „ergibt sich [.], daß selbstreferentielle Systeme auf dieser Ebene von ihrer Umwelt unabhängig und dementsprechend auch nicht für ihre innersystemischen Prozesse auf einen initiierenden ‚Anstoß‘ durch äußere Einflüsse angewiesen sind.“Footnote 315 In diesem Sinne wird also „[d]er Fokus der Betrachtung [..] auf die internen Differenzen gerichtet, die nun zum Referenzpunkt werden“Footnote 316 (intra-unit-difference-Betrachtung).Footnote 317

Systeme lassen sich grundsätzlich durch die Art sowie Intensität der Beziehungen zwischen den einzelnen Elementen konstituieren und als Ganzheiten betrachten. So liegt ein System vor, „wenn innerhalb dieser Gesamtheit ein größeres Maß von Interaktionen oder Beziehungen besteht als von der Gesamtheit nach außen.“Footnote 318 Die von dieser Definition ausgeschlossenen Bestandteile bilden demnach die Umwelt des Systems, können jedoch potentiell wiederum Teile eines übergeordneten Supersystems repräsentieren. Konstitutiv für den Systembegriff ist in jedem Fall also die Vorstellung einer „Systemgrenze“, die eine Differenzierung von Innen (System) und Außen (Umwelt) ermöglicht. Insgesamt ergibt sich hieraus für das System und seine Umwelt eine absteigende hierarchische Gliederung in ein Supersystem, Systeme, Subsysteme und (als kleinste Einheiten) Systemelemente. Als Subsysteme werden dabei grundsätzlich Systeme niederer Ordnung bezeichnet, die als Systemelemente weiter aufgespalten werden können. Analog wird gegenläufig hierzu durch Beziehungen zwischen mehreren Systemen ein Supersystem gebildet.

Als letztes Merkmal ist schließlich die Ordnung (Struktur) eines Systems zu nennen, da die Ganzheit regelmäßig eine geordnete Struktur aufweist.Footnote 319 So weisen die Bestandteile eines Systems ein Anordnungsmuster aufFootnote 320, welches z. B. die räumliche oder hierarchische Anordnung der Elemente bzw. Subsysteme im System bestimmt oder auch die zeitliche Anordnung der Aktivitäten der einzelnen Systemelemente.Footnote 321 Der Begriff der Ordnung wird in der Literatur wiederum recht intensiv diskutiert und mit unterschiedlichen Begriffskonnotationen versehen. Als klassischer Ansatz soll hierbei wiederum kurz auf die Überlegungen von Aristoteles zurückgegriffen werden, nach welchem sich eine Einheit bzw. ein System vom Chaos des reinen Gemenges dadurch unterscheidet, dass die Konfiguration der Beziehungen zwischen den Elementen nicht beliebig, sondern von Relevanz ist bzw. „einen Unterschied macht“Footnote 322. Als weitere Systematisierung können hierauf aufbauend mindestens zwei Stufen der Ordnung gefunden werden, welche wiederum mit den aristotelischen Begriffen der φύσις (phýsis) und τέχνη (téchne)Footnote 323 in Verbindung gesetzt werden können. So kann in einem ersten Schritt auch eine natürlich-spontan entstandene Ordnung durch faktisch bestehende, dauerhafte Beziehungen zwischen Elementen (gerade im empirischen Kontext) als Ordnung gelten. Darüber hinaus ist es jedoch auch möglich, eine Ordnung der Elemente mittels Einsicht und Disposition, z. B. durch den Menschen, anhand bestimmter Kriterien (z. B. geometrische oder lexikografische Ordnung) herbeizuführen, welche ebenfalls durch die Bedeutsamkeit der Beziehungen zwischen den Elementen geprägt ist (z. B. im Rahmen einer bibliografischen Indizierung). Für alle Systemstrukturen gilt jedoch, dass diese einerseits von den Eigenschaften der Bestandteile (Elemente) sowie andererseits deren Beziehungen zueinander geprägt werdenFootnote 324 und sich im Zeitverlauf in gewissem Maße durchaus verändern können, solange die charakteristische Grundstruktur des Systems weiterhin bestehen bleibt.Footnote 325 Unter der Grundstruktur eines Systems wird dabei allgemein die Menge notwendiger und charakteristischer Beziehungen zwischen den einzelnen Systemelementen verstanden, die das System als Ganzheit definieren.Footnote 326 Dies bedeutet wiederum, dass eine Änderung der notwendigen Beziehungen (Grundstruktur) eines Systems notwendigerweise zu einem anderen System(typ) führt.Footnote 327 Die aufgezeigten Überlegungen sind auch für die weiteren Ausführungen bedeutsam, da z. B. alle Unternehmen durch ihre spezifische Zwecksetzung der Wertschöpfung eine typische Grundstruktur aufweisen müssen, welche damit zeitlich invariant ist. Hierauf aufbauend können (und müssen zum Systemerhalt) außerhalb dieser grundlegenden Struktur auch organisationale Anpassungen an die Umwelt erfolgen (s. g. Aufbau- bzw. Adaptionsstruktur).

Nachdem nun die terminologischen Grundlagen des Systembegriffs dargelegt wurden, stellt sich die Frage nach einer Klassifikation möglicher Systemtypen. Eine solche, für die weiteren Ausführungen der Arbeit fruchtbare Taxonomie, wird im Nachfolgenden erörtert.

4.3.2 Abgrenzung verschiedener Systemtypen

Um die Vielfalt der möglichen Systeme handhabbarer zu machen, empfiehlt es sich, zuerst eine grundlegende Klassifikation der Systemtypen vorzunehmen.Footnote 328 Zur Abgrenzung verschiedener Systemtypen hat die Literatur eine Fülle an differenzierten Ansätzen hervorgebracht.Footnote 329 So resümiert auch Schenk, dass zur Klassifikation von Systemen „zahlreiche Systemeigenschaften als Unterscheidungskriterien zur Verfügung [stehen].“Footnote 330 Ebenso konstatiert auch Fuchs: „Der Begriff ‚System‘ wird in verschiedenen Wissensbereichen zur Beschreibung und Kennzeichnung unterschiedlicher Sachverhalte benutzt.“Footnote 331 Betrachtet man die vielfältigen in der Literatur vorgeschlagenen Systematisierungsansätze, so wird deutlich, dass vielfach eine Unterscheidung zwischen künstlichen und natürlichen Systemen vorgenommen wird.Footnote 332 Allerdings zeigt sich ebenso, dass eine solche Differenzierung meist nur eingeführt, allerdings selten konzeptionell fundiert begründet wird. So fehlt allgemein bei vielen Abgrenzungsversuchen bzw. Systematiken eine dezidierte konzeptionelle Grundlegung der genutzten Hierarchien. Aus diesem Grunde wird der wissenschaftstheoretisch fundierten Begründung einer solchen Klassifikation ein besonderes Augenmerk geschenkt.

Wissenschaftstheoretisch folgt diese Arbeit dabei, wie im zweiten Kapitel dargelegt, grundsätzlich einer realwissenschaftlichen PerspektiveFootnote 333, welche das im Weiteren konzeptionell mittels des Systemparadigmas konzipierte Unternehmen als zentralen Forschungsgegenstand der Unternehmensethik erachtet und dieses folglich als realweltliche Entität hinsichtlich seiner Wirkungen in der Realität untersucht. Diese Überlegungen können dabei prinzipiell mit der Klassifikation Poppers in Verbindung gebracht werden, welcher zwischen drei Sub-UniversenFootnote 334 bzw. drei Welten unterscheidet. Im Rahmen dieser Überlegungen differenziert Popper zwischen einer physikalischen Welt der materiellen Dinge und Prozesse, einer Welt des Bewusstseins und einer Welt objektivierter Gedankeninhalte.Footnote 335 Hieran werden nun die weiteren Ausführungen anknüpfen, wobei allerdings der erste Begriff im betriebswirtschaftlichen Kontext adaptiert und konkretisiert werden muss, da das ursprüngliche Modell aus dem natur- und nicht dem wirtschafts- bzw. sozialwissenschaftlichen Kontext stammt. So nehmen für die weiteren Ausführungen soziale, aber auch technische Systeme eine bedeutsame Rolle ein, welche aus realwissenschaftlicher PerspektiveFootnote 336 ebenfalls eine reale Existenz beanspruchen können, d. h., eben nicht nur individuelle Bewusstseinskonstruktionen darstellen. Analog zur Einordnung von Materie und Energie in die erste Welt der Klassifikation Poppers erscheint es ersichtlich, dass neben einer materiellen Grundlage technischer, aber auch sozialer Systeme (Individuen als physische Einheiten), die Beziehungen – ähnlich zur Energie als Potential im physikalischen Kontext – in ihrer realweltlichen Wirkung einer Untersuchung zugänglich sind. Dies gilt dann wiederum auch für sozio-technische Systeme, d. h. Einheiten, welche diese beiden Systemtypen kombinieren. Diese sind folglich der realen Sphäre zuzuordnen, insofern die Phänomene dieser Systeme prinzipiell realwissenschaftlich analysierbar sind.

Akzeptiert man einmal einen solchen ontologischen Standpunkt, so ist dennoch klar, dass diese Systeme von Individuen nur gefiltert bzw. rekonstruiert wahrgenommen werden können. Im Gegensatz zu radikalen Konstruktivisten (wie Maturana und VarelaFootnote 337) sei jedoch in einem gemäßigten Sinne davon ausgegangen, dass eine vom individuellen Bewusstsein unabhängige Außenwelt existiert, deren Eigenschaften und Wirkungen ein Beobachter (zumindest in Teilen) begreifen kann. Dabei ist es fraglos plausibel, wie Konstruktivisten vielfach betonen – und dies würden viele Realisten auch kaum bestreiten, dass unser Geist als autopoietisches SystemFootnote 338 stets und ausschließlich eine Rekonstruktion der realen Außenwelt zu bilden vermag, wodurch wir ersichtlicherweise keinen direkten Zugang zum „Ding an sich“Footnote 339 besitzen, sondern nur rekonstruierte AbbilderFootnote 340 hiervon bewusst wahrnehmen und begreifen können. Dennoch sei hier davon ausgegangen, dass diese Außenwelt als unabhängig vom Beobachter existent angenommen werden kann.Footnote 341 Diejenigen Individuen wiederum, welche mittels ihrer psychischen SystemeFootnote 342 diese Rekonstruktion durchführen, können auch gemäß der Klassifikation Poppers als eigener Systemtyp aufgefasst werden.Footnote 343 Schließlich können drittens objektivierte Geistesinhalte als eigener Systemtypus unterschieden werden. Hierzu gehören beispielsweise sämtliche wissenschaftliche Systeme (so auch diese Ausführungen), welche durch ihr wissenschaftliches GenerierungsprinzipFootnote 344 gekennzeichnet sind und auch wiederum zur Gestaltung realweltlicher Systeme genutzt werden können. Wichtig ist hierbei, dass diese „Welten“ nicht isoliert voneinander bestehen, sondern sich gegenseitig beeinflussen können.Footnote 345 Ein Beispiel im Kontext empirischer AussagenFootnote 346 möge dies verdeutlichen: So bilden bspw. Individuen mit ihrem psychischen System (Bewusstsein) Hypothesen über die Realität und testen ihre Hypothesen an der Erfahrung. Führt man dieses Prinzip nach wissenschaftlichen Standards durchFootnote 347, erhält man ein Set an bestätigten (und ggf. falsifizierten) Hypothesen, welche zu einem wissenschaftlichen Aussagensystem zusammengefasst die dritte Welt der objektivierten Gedankeninhalte ergeben.Footnote 348 Diese Überlegungen fasst nochmals die nachfolgende Abbildung 4.5 zusammen.

Abbildung 4.5
figure 5

Grundlegende Systemklassifikation in Anlehnung an Poppers Drei-Welten-Konzept

Wie die vorigen Ausführungen verdeutlichten, basieren die weiteren Überlegungen auf einem realwissenschaftlichen Fundament, so dass die im Weiteren zu untersuchenden sozialen und technischen Systeme der ersten Welt der realweltlichen Phänomene zuzuordnen sind. Zur weiteren Klassifikation seien nun in Anlehnung an AristotelesFootnote 349 die realweltlichen Entitäten in natürliche und künstliche Systeme differenziert. Während erstere spontan entstehen, sind künstliche Systeme von Individuen geschaffen und gestaltet. Unter natürlichen Systemen werden dabei in der Natur auftretende lebende (biotische), leblose (abiotische) Systeme sowie mögliche graduelle Mischformen zwischen lebenden und leblosen Systemen betrachtet. Künstliche Systeme werden dagegen von kunstfertigen IndividuenFootnote 350 geschaffen und treten in dieser Form nicht in der freien Natur auf. Realexistierende Systeme sind dabei in der Regel in einem Kontinuum zwischen den beiden Extrempolen zu verorten. Sie weisen folglich teilweise spontan-emergente wie auch auf disponierende, gestalterisch tätige Lebewesen zurückzuführende Eigenschaften auf.

Soziale Systeme können dabei im graduellen Sinne sowohl mehr oder minder emergent-natürlich entstanden, als auch bewusst und intentional geschaffen worden sein. Wie bereits ausgeführt wurde, weisen reale Systeme meist eine Mischung beider Eigenschaften auf, weshalb die graduelle Ausprägung in diesem Kontext besonders betont sei. So sind die meisten von Tieren gegründeten Staaten zwar eher den natürlichen Systemen zuzuordnen, weisen aber möglicherweise auch gewisse auf Dispositionen zurückzuführende Eigenschaften auf. Dagegen sind viele menschliche Sozialsysteme zwar aktiv vom Menschen gestaltet, die zugrunde liegende Sozialität ist aber auch der Natur des Menschen zugehörig. Aus diesem Grund können soziale Systeme sowohl Eigenschaften natürlicher als auch künstlicher Systeme aufweisen.

Technische Systeme sind dagegen stets durch die Kunstfertigkeit von Individuen (wie Menschen) mit Intention entstanden und damit den künstlichen Systemen zuzuordnen. Zu diesem gehören im Unternehmenskontext beispielsweise die Betriebsmittel wie Fertigungsanlagen oder auch betriebliche Informationsspeicher. Zur Gestaltung von technischen Systemen ist dabei vielfach Wissen zentral, wie dieses im Rahmen der wissenschaftlichen Forschung strukturiert generiert wird. Ein sozio-technisches System integriert schließlich sowohl Komponenten sozialer als auch technischer Systeme. Folgerichtig sind Systeme, in denen soziale Systeme unter Zuhilfenahme technischer Mittel tätig sind, als sozio-technische Systeme zu bezeichnen. Diese können, wie im Weiteren dargelegt wird, als theoretisches Fundament zur Beschreibung von Unternehmen als zentralem Forschungsgegenstand der Unternehmensethik herangezogen werden.Footnote 351 Die nachfolgende Abbildung 4.6 fasst nochmals die vorigen klassifikatorischen Überlegungen in kompakter Form zusammen.

Abbildung 4.6
figure 6

Einordnung der sozio-technischen Systeme zwischen natürlichen und künstlichen SystemenFootnote

In Anlehnung an Lingnau, V. / Beham, F. / Fuchs, F. (2020), S. 20.

Dabei wird im Folgenden zuerst auf das soziale Teilsystem des Unternehmens eingegangen, welches sich, wie die weiteren Ausführungen zeigen werden, in der Regel als Organisation im institutionellen Sinne bzw. als hinreichend autopoietisches, d. h. selbsterhaltungsfähiges und zeitstabiles soziales System mit genuin eigenem Systemzweck und kollektivem Zielsystem manifestiert. Aufgrund der großen Bedeutung für das Unternehmen durch dessen dispositives, gestalterisches Potential sowie der inhaltlich kontrovers geführten Diskussion um dessen genaue Konzeption seien diese Systeme im Weiteren genauer untersucht.

4.3.3 Autopoiesis sozialer Systeme

4.3.3.1 Grundzüge der sozialwissenschaftlichen Autopoiesisdiskussion

Beschäftigt man sich näher mit den Eigenschaften sozialer Systeme, so zeigt gerade die neuere sozialwissenschaftliche Forschung eine intensive Auseinandersetzung hinsichtlich der Frage auf, inwiefern diesen Systemen Eigenschaften der Lebendigkeit zugeschrieben werden können, ob dies für alle sozialen Systeme gelte und im Speziellen auch, wie diese systemische Eigenschaft konzeptionell zu begründen wäre. In diesem Zusammenhang erscheint folglich eine kurze Diskussion des Lebensbegriffs relevant, insbesondere, da dieser sowohl in der PhilosophieFootnote 353 als auch in der Biologie recht umfassend rezipiert und bis heute kontrovers diskutiert wird. So zeigt sich auch recht schnell, dass bis dato hinsichtlich des Begriffs des Lebens keine exakte, allgemeingültige Definition existiert.Footnote 354 Der Mangel einer vereinheitlichten grundlegenden Konzeption des Lebensbegriffs hat in der theoretischen Biologie zur Erarbeitung umfangreicher Merkmalslisten des Phänomens Leben geführt. Dabei wird z. B. neben einem Stoffwechsel, der Energieumwandlung und Evolution vielfach auch das Phänomen der Selbststeuerung bzw. Selbsterhaltung als charakteristisch für Lebewesen erachtet.Footnote 355 Insbesondere letztere Begriffe konstituieren als Basiseigenschaft von Lebendigkeit einen fruchtbaren Ansatz für systemtheoretische Betrachtungen, welche über intuitive oder klassisch biochemisch geprägte Begriffsauffassungen von Leben hinausgehen. Als verallgemeinertes Abgrenzungsmerkmal zwischen lebenden und leblosen Systemen kann an dieser Stelle auf den Begriff der Autopoiesis zurückgegriffen werden. Dieser wurde ursprünglich im neurowissenschaftlichen Kontext von den Biologen Maturana und Varela im Rahmen der Untersuchung von Zellen geprägt, aber schon bald auf Lebewesen im Allgemeinen transferiert, wobei stets die Grundüberlegung darin bestand, das Kerncharakteristikum einer lebenden Einheit konzeptionell genauer herauszuarbeiten. Hierbei stellten die Autoren fest, dass das zentrale Merkmal eines lebenden Systems in der Fähigkeit besteht, sich aus sich selbst heraus zu erhalten und seine charakteristische Struktur bzw. Grundstruktur für eine gewisse Dauer zu stabilisieren, welches folglich auch die Reaktion bzw. Adaptivität an sich ändernde Umweltbedingungen inkludiert.Footnote 356 Lebende Systeme besitzen folglich sowohl die Eigenschaft der Selbstorganisationsfähigkeit als auch der SelbstreferenzFootnote 357, auf welche sich die Prozesse der Selbsterhaltung beziehen. Die Bezeichnung als Autopoiesis fokussiert terminologisch genau auf diese Befähigung, wie bereits die Begriffsherkunft aus dem griechischen αὐτός (autos [dt. selbst]) sowie ποιεῖν (poiein [dt. herstellen, machen]) verdeutlicht.Footnote 358 Unter Autopoiesis wird somit eine besondere Form der kontinuierlichen Selbsterzeugung und Selbsterhaltung verstanden, die als notwendige Eigenschaft lebender Systeme angesehen werden kann.Footnote 359 In diesem Sinne stellt generalisiert und in Abgrenzung zu engeren biologischen Definitionen auch Malik fest: „Unter ‚Lebensfähigkeit‘ ist vielmehr zu verstehen, dass Systeme, die die entsprechende Struktur aufweisen, sich an wandelnde Umstände in ihrer Umgebung anpassen, dass sie Erfahrungen aufnehmen und verwerten – also lernen, dass sie ihre Identität bewahren und sich entwickeln können.“Footnote 360 Der Terminus der Lebensfähigkeit weist dabei im Kern darauf hin, „dass die spezifische Zustandskonfiguration, in welcher sich ein System faktisch befindet, auf unbestimmte Zeit aufrechterhalten werden kann.“Footnote 361 Autopoietische Systeme lassen sich dabei den komplexen Systemen zuordnenFootnote 362, welche wiederum nach Simon „irgendwo in der Grauzone zwischen Leben und Nichtleben“Footnote 363 zu verorten sind. Grundsätzlich gilt dabei, dass Komplexität ein essentielles, notwendiges Kennzeichen des Lebens repräsentiert, denn „lebende Systeme sind extrem komplex und sie folgen eigenen Regeln, die manchmal den Naturgesetzen zu widersprechen scheinen.“Footnote 364 Auch Hejl stellt in diesem Zusammenhang fest: „Lebende Systeme sind […] nicht-triviale Systeme im Sinne Heinz von Foersters.“Footnote 365

Das Phänomen der Komplexität kann nun wiederum sowohl in Bezug auf die Umwelt als auch hinsichtlich des Systems selbst untersucht werden. Generell gilt dabei, dass Komplexität allgemein zu einer Unfähigkeit eines Systems führt, in einer gegebenen Entscheidungszeit die analysierbaren System- und Umweltzustände vollständig zu erfassen und zu verarbeiten, wobei wiederum zwischen der Eigenkomplexität des Systems sowie der Komplexität der Umwelt differenziert werden kann. Hinsichtlich des Begriffs der Komplexität wird im Weiteren auf die Überlegungen von GerlingFootnote 366 sowie Lingnau und BrenningFootnote 367 zurückgegriffen, wonach zwischen systemunabhängigen- und systemspezifischen Komplexitätsmerkmalen unterschieden wird. Dabei können Systeme erstens durch einen steten Wechsel der Systemzustände (Dynamik) sowie eine starke Vernetztheit der Elemente gekennzeichnet sein, so dass diese als systemübergreifende Komplexitätsmerkmale aufgefasst werden können. Darüber hinaus treten zweitens jedoch auch im Rahmen autopoietischer Systeme durch die Fähigkeit zur Selbstorganisation und -beobachtung weitere Komplexitätsmerkmale hinzu. So sind diese Systeme häufig mit einer Vielzahl von potentiell konfligierenden Ansprüchen konfrontiert, die im Zielsystem zu berücksichtigen sind (Polytelie), welches wiederum eine funktionale IntegrationsleistungFootnote 368 erfordert.Footnote 369 Da autopoietische Systeme ihre Umwelt stets interpretierend und damit restringiert wahrnehmen, tritt zudem regelmäßig das Phänomen der Intransparenz auf, welches dazu führt, dass das System „die Zustände einiger Systemvariablen nicht direkt feststellen kann.“Footnote 370 Autopoietische Systeme müssen sich damit allgemein – erst Recht im Rahmen komplexer Umwelten – „nicht nur an ihre Umwelt, sie müssen sich auch an ihre eigene Komplexität anpassen. Sie müssen mit internen Unwahrscheinlichkeiten und Unzulänglichkeiten zurechtkommen. Sie müssen EinrichtungenFootnote 371 entwickeln […], die abweichendes Verhalten reduzieren, das erst dadurch möglich wird, daß es dominierende Grundstrukturen gibt.“Footnote 372 In Bezug auf soziale Systeme kann dabei festgestellt werden, dass diese nicht nur als Einheit selbst komplex sind, sondern vielmehr auch komplexe Systemelemente enthalten. Inwiefern das Konzept der Autopoiesis jedoch auch auf soziale Systeme als Einheit selbst Anwendung finden kann, wird in der Literatur seit Längerem überaus kontrovers diskutiert, wobei sich auch in diesem Zusammenhang verschiedene Auffassungen entwickelt haben, die im Folgenden kurz skizziert seien.Footnote 373

Bereits bei den Begründern des Konzepts, Maturana und Varela, zeigen sich dabei erste Überlegungen, welche einen potentiellen Transfer des originär biochemischen Autopoiesisbegriffs auf die soziale Ebene konzeptionell unterfüttern könnten. So differenzieren Maturana und Varela mehrere Ebenen der Autopoiesis. In einem ersten Schritt wird hierbei die Zelle als die grundlegendste autopoietische Einheit aufgefasst, welcher eine Autopoiesis erster Ordnung zugeschrieben wird. Hierauf aufbauend kann nun durch strukturelle Kopplung, d. h. einem reziproken Zusammenschluss bzw. einer dauerhaften Interaktion dieser grundlegenden Einheiten, bei gleichzeitiger Erhaltung der inneren Autonomie bzw. Funktionslogik der Elemente, auf höherer Ebene ein Metazeller bzw. Organismus als autopoietische Entität zweiter Ordnung gebildet werden. Schließen sich diese Organismen (bzw. insbesondere menschliche Individuen) wiederum dauerhaft zusammen, so entsteht ein autopoietisches System dritter Ordnung.Footnote 374 In diesem Zusammenhang hebt auch Maturana hervor, dass (menschliche) Individuen das Kernelement eines sozialen Systems darstellen, denn es sei „konstitutiv für ein soziales System, daß seine Komponenten Lebewesen sind.“Footnote 375 Die bisherigen Ausführungen legen dabei nahe, dass das Grundkonzept der Autopoiesis auch auf soziale Einheiten prinzipiell übertragbar sein könnte, welches in diesem Sinne auch von einigen Autoren interpretiert wurde. So betont z. B. klassisch Beer: „The outcome, to which I was admittedly predisposed because of my own work, says that any cohesive social institution is an autopoietic system – because it survives, because its method of survival answers the autopoietic criteria […].“Footnote 376 Auch Geyer und Zouwen stellen fest: „[A]utopoiesis stresses the self-organizing, self-reproducing, and self-steering qualities of individuals and groups […].“Footnote 377 Ebenso heben schließlich auch Zelený und Hufford hervor, dass es ihre Intention sei, „to propose, demonstrate, and argue that Varela et al.’s criteria as they are applied to a biological (living) system can be applied to other systems that we currently do not consider ‚living‘ […]“Footnote 378, womit die Autoren auch Sozialsystemen, wie z. B. Familien, einen autopoietischen Charakter zuschreiben.Footnote 379

Zum Übertrag der Autopoiesis auf eine höhere Ebene muss dabei jedoch noch nach Maturana und Varela gelten, dass die Autopoiesis einer höheren Ordnung die Existenz der untergeordneten Ebenen bedingt.Footnote 380 Dies hat allerdings zu kontroversen Diskussionen geführt, insbesondere hinsichtlich der Frage, inwiefern ein soziales System als die Autopoiesis von Individuen beeinflussend gedacht werden kann. Bei Maturana findet sich in diesem Zusammenhang nun die Feststellung, dass ein soziales System stets als Ziel auch die Sicherung der individuellen Existenz seiner Mitglieder beinhalten müsse. So sei „eine Menge von Menschen, die die Erhaltung des Lebens ihrer Mitglieder nicht als Teil der Definition ihres Funktionierens als System einschließt, kein soziales System.“Footnote 381 Diese Position scheint, wie auch z. B. von Kirsch interpretiert, eine Übertragungsfähigkeit des Autopoiesisgedankens auf die soziale Ebene als strukturelle Kopplung dritter Ordnung nahezulegenFootnote 382 und dient Kirsch selbst wiederum als Grundlage seiner eigenen gradualistischen Überlegungen, welche Autopoiesis als empirisch denkbaren, aber eher unwahrscheinlichen Grenzfall für soziale Systeme auffasst.Footnote 383

Eine klare Position gegen eine Übertragbarkeit der Autopoiesis auf soziale Entitäten hat dagegen Varela eingenommenFootnote 384, welcher die Auffassung eines Transfers der Autopoiesiskonzeption auf andere als biochemische Systeme deutlich kritisiert. Kernargument seiner Kritik ist dabei die Auffassung, dass Autopoiesis sich stets auf materielle Selbstproduktion der Elemente beziehen müsse, welche nur im biochemischen Sinne denkbar seiFootnote 385, weshalb er für andere Kontexte die Einführung des Begriffs des „autonomen Systems“ vorschlägt, welches durch eine organisationale GeschlossenheitFootnote 386 gekennzeichnet sei.Footnote 387 Solche Systeme sind dabei nach Varela „a network of interactions of components that (i) through their interactions recursively regenerate the network of interactions that produced them, and (ii) realize the network as a unity in the space in which the components exist by constituting and specifying the unity’s boundaries as a cleavage from the background […].“Footnote 388 Als wesentliches Differenzierungsmerkmal zur Konzeption autopoietischer Systeme müssen folglich bei autonomen Systemen die konstituierenden Elemente nicht selbst erzeugt werden, sondern können auch von der Systemumwelt aufgenommen und dann spezifisch organisiert werden. In diesem Sinne könnte der Begriff des autonomen Systems folglich im graduellen Sinne zwischen den Extrempolen eines allopoietischenFootnote 389 und autopoietischen Systems verortet werden, so dass Autopoiesis als (Extrem-)Ausprägung von autonomen Systemen aufgefasst werden könnte.Footnote 390

Eine weitere bekannte Position in der sozialen Autopoiesisdiskussion stammt darüber hinaus von Peter Hejl. Dieser stimmt mit Maturana und Varela in einem ersten Schritt überein, Individuen als Elemente sozialer Systeme aufzufassenFootnote 391, folgt aber andererseits wiederum Varela darin, dass das Autopoiesiskonzept nicht auf soziale Systeme übertragbar sei, welches er nach einer umfassenden Diskussion benachbarter Begrifflichkeiten ex definitione ausschließt. Hejl erarbeitet dabei im Rahmen konstruktivistischer Theoriebildung einen alternativen Ansatz. So postuliert er, dass soziale Systeme evolutionär durch die Notwendigkeit einer Koordination zwischen Lebewesen entstanden seien, welches eine Parallelisierung von kognitiven Zuständen voraussetze. Gerade beim Menschen, welcher sich auf Anpassungsfähigkeit spezialisiert habe, sei diese durch die Möglichkeit einer kollektiven Gefahrenabwehr, welche „mögliche Gefahren in Elemente des Zusammenhalts“Footnote 392 transferierte, hochentwickelt. Die Parallelisierung der individuellen kognitiven Zustände zeige sich dabei „als physiologische Basis sozial erzeugter gemeinsamer Realitäten, von Sinn und Bedeutung […].“Footnote 393 Für soziale Systeme lehnt Hejl vor diesem konzeptionellen Hintergrund folglich die Bezeichnung als „autopoietisch“ explizit ab und schlägt vor, die aufgezeigte Parallelisierung mentaler Zustände als Synreferentialität sozialer Systeme zu bezeichnen.Footnote 394

Während die bisherigen Ansätze noch immer das menschliche Individuum als Kernelement sozialer Systeme auffassen, verfolgt die durch Niklas Luhmann begründete soziologische Theorietradition einen anderen konzeptionellen Zugang. So erachtet Luhmann gerade nicht menschliche Individuen als Elemente sozialer Systeme, sondern vielmehr Kommunikationen, wobei Luhmann einen spezifischen Kommunikationsbegriff zugrunde legt.Footnote 395 Der Mensch ist damit folglich nicht mehr Teil des sozialen Systems, sondern dessen Umwelt zuzurechnenFootnote 396, welche das soziale System lediglich anregen, aber nicht direkt beeinflussen kann (s. g. PerturbationenFootnote 397). Darüber hinaus abstrahiert Luhmann im Kontext der Autopoiesis vom physisch geprägten Begriff des Systemerhalts bzw. der materiellen Reproduktion und rückt das Konzept der „operationalen Geschlossenheit“ in den Fokus, die sich wiederum darin manifestiert, dass neue Operationen notwendig auf alten Operationen aufbauen müssten. Dies wird dann durch Luhmann für soziale Systeme dahingehend interpretiert, dass diese grundsätzlich autopoietisch seien, da Kommunikationen stets und ausschließlich durch Kommunikationen entstünden, wodurch ein hohes Maß an Abstraktheit, aber auch begrifflicher Schärfe innerhalb der Konzeption gewonnen wird. Durch zahlreiche Neufassungen von Begriffen kommt Luhmann schließlich zur provokanten These, dass nicht der Mensch selbst kommuniziere, sondern lediglich die Kommunikationen zwischen den Menschen: „[.] Menschen können nicht kommunizieren, nicht einmal ihre Gehirne können kommunizieren, nicht einmal das Bewußtsein kann kommunizieren. Nur die Kommunikation kann kommunizieren.“Footnote 398 In Luhmanns Werk ist folglich die Autopoiesis sozialer Systeme ex definitione gegeben.

An Luhmanns Werk schließt sich wiederum aus rechtswissenschaftlicher Sicht Gunther Teubner an, welcher ebenfalls postuliert, dass Kommunikationen die Elemente sozialer Systeme repräsentierten. Allerdings differiert Teubner dann hinsichtlich der Frage, wie die Autopoiesis sozialer Systeme zu konzipieren sei. Während bei Luhmann Autopoiesis bereits eine notwendige Voraussetzung jedes sozialen Systems repräsentiert, gebraucht Teubner einen differenzierteren Ansatz. So folgt er in einem ersten Schritt zwar Luhmann, dass Gesellschaftssysteme per se autopoietisch sind. Die Subsysteme der Gesellschaft jedoch müssen aus Teubners Perspektive nicht notwendigerweise selbst autopoietisch seinFootnote 399, sondern weisen zuerst einmal lediglich ein mehr oder minder großes Maß an Autonomie auf – womit Teubner explizit auf die Überlegungen Varelas zurückgreift.Footnote 400 Teubner differenziert in diesem Zusammenhang drei aufeinander aufbauende Stufen zunehmender Autonomie, welche er als Selbstbeobachtung, Selbstkonstitution und schließlich als Autopoiesis bezeichnet.Footnote 401 Autopoiesis ist bei Teubner allerdings nicht auf die Reproduktion der Systemelemente eines sozialen Systems beschränkt, sondern wird in einem weiteren Schritt auch z. B. auf die systemkonstituierenden Prozesse sowie das Gesamtsystem ausgedehnt. In diesem Zusammenhang greift Teubner auf den wiederum ursprünglich aus der Biologie stammenden Begriff des Hyperzyklus zurückFootnote 402, welcher den auf einer MetaebeneFootnote 403 stattfindenden Prozess der Selbsterhaltung eines übergeordneten Systems beschreibt, der wiederum miteinander verknüpfte Prozesse der Selbstkonstitution umfasst, „also die nochmalige zyklische Verkettung von zyklisch konstituierten Einheiten […].“Footnote 404 Soziale Systeme differenziert Teubner dann wiederum nach aufsteigender Autonomie in soziale Interaktionen, Gruppen sowie Organisationen, wobei letztere durch den postulierten Hyperzyklus mit dem zuvor aufgezeigten Autopoiesisbegriff korrespondieren.Footnote 405 Insgesamt kann also festgehalten werden, dass die Konzeption Teubners durch ein gradualistisches Verständnis des Autonomiekonzepts sozialer Einheiten gekennzeichnet ist, wobei der Grad der Ausprägung eine letztlich empirisch zu determinierende Frage darstellt.Footnote 406

Betrachtet man nun sowohl das Werk Luhmanns als auch Hejls, so wäre die Frage nach einer sozialen Autopoiesis lediglich binär als existent oder nicht existent zu beantworten.Footnote 407 Darüber hinaus existieren jedoch mit den Arbeiten von TeubnerFootnote 408 sowie von KirschFootnote 409 Ansätze, die eine soziale Autopoiesis im gradualistischen Sinne als denkbar erachten – eine Position, welche auch für diese Arbeit als fruchtbar aufgefasst wird. In diesem Sinne wären soziale Systeme graduell zwischen Allopoiesis und Autopoiesis zu verortenFootnote 410, wobei mit zunehmenden autopoietischen Eigenschaften das Ausmaß der Selbstbestimmtheit (Autonomie) des Systems ansteigt und Eigenschaften der Heteronomie bzw. Fremdbestimmtheit abnehmen. Diese Überlegung fasst nochmals die nachfolgende Abbildung 4.7 zusammen.

Abbildung 4.7
figure 7

Graduelles Autopoiesis-Konzept sozialer Systeme

Soziale Systeme wären demnach nicht mehr binär als autopoietisch oder allopoietisch zu klassifizieren, sondern es existieren vielfältige Zwischenabstufungen zwischen beiden Extrema. Darüber hinaus folgt die Arbeit der Überlegung Teubners hinsichtlich einer empirisch wahrscheinlichen Entwicklung autopoietischer Eigenschaften sozialer Systeme, wobei diese jedoch mit den Ausführungen Kirschs verbunden werdenFootnote 411, welcher den Menschen (und nicht Kommunikationen) als zentrales Element sozialer Systeme erachtet. Die Begründung sozialerFootnote 412 Systeme findet in diesem Kontext folglich durch die Interaktion von Individuen innerhalb dieser Systeme statt. In diesem Sinne sei davon ausgegangen, dass (menschliche)Footnote 413 Individuen und deren (formalen wie informalen) Beziehungen soziale Systeme bilden, wobei gerade bei stabilisierten Systemen, wie dies (institutionelle) Organisationen repräsentierenFootnote 414, Individuen bestimmte formalisierte Stellen ausfüllen und durch die stete Interaktion der jeweiligen Stelleninhaber empirisch erkennbar die organisationale Struktur aufrechterhalten, welches somit (unter bestimmten Rahmenbedingungen als Organisation) das Potential zur systemspezifischen Autopoiesis mitbegründet. Die vorausgegangenen Überlegungen fasst nochmals die nachfolgende Tabelle 4.1 zusammen.

Tabelle 4.1 Überblick über zentrale Positionen in der AutopoiesisdiskussionFootnote

In Anlehnung an Kirsch, W. (1997), S. 329. Dabei sei nochmals darauf hingewiesen, dass das genaue Begriffsverständnis der Autopoiesis zwischen den Konzeptionen durchaus variiert. Vgl. hierzu auch die Anmerkung bei Kirsch, W. (1997), S. 328.

Diejenigen sozialen Systeme, welche nun auf der Mesoebene ein solches autopoietisches Potential und damit ein dauerhaftes, eigenes Zielsystem und genuine systemische Ansprüche besitzenFootnote 416 – Organisationen im institutionellen Sinne –, werden im Folgenden detaillierter betrachtet.

4.3.3.2 Zum Begriff der institutionellen Organisation

Befasst man sich näher mit dem Terminus der Organisation, so zeigt sich recht schnell die im Detail vorherrschende Heterogenität der existierenden Begriffsauffassungen im sozialwissenschaftlichen Diskurs. So stellen in diesem Zusammenhang auch Kuper und Thiel pointiert fest: „Obwohl Organisation als ein Zentralbegriff der Sozialwissenschaften gelten kann, besteht kein Konsens über seine Definition.“Footnote 417 Um diesen für die weiteren Ausführungen bedeutsamen Begriff konzeptionell präziser zu fassen, wird im Folgenden eine kurze Systematisierung vorgenommen und das für die weiteren Ausführungen maßgebliche Begriffsverständnis erarbeitet.

In einem ersten Schritt kann in Anlehnung an die klassische organisationswissenschaftliche Literatur zwischen einem instrumentellen und institutionellen Organisationsbegriff differenziert werden.Footnote 418 Pointiert wird in diesem Zusammenhang vielfach festgestellt, dass erstere eine Organisation hat, während letztere eine Organisation ist. In diesem Sinne verweist der erste Begriff folglich auf eine Eigenschaft (Prädikat), welche Systemen im Sinne ihrer Geordnetheit bzw. Ordnung allgemein zugeschrieben wird. Der instrumentelle Organisationsbegriff beschreibt demnach, dass ein System organisiert ist. Hierauf aufbauend kann wiederum in einem zweiten Schritt zwischen der Aufbau- und Ablauforganisation differenziert werden. Während die Aufbauorganisation die Beziehungen bzw. Strukturen zwischen den Elementen widerspiegeltFootnote 419, beschreibt die Ablauforganisation die stattfindenden Prozesse bzw. Interaktionen zwischen diesen Elementen und umfasst damit auch temporale Phänomene.Footnote 420 Die genannten Teildimensionen können zudem noch weiter hinsichtlich der Zwecknotwendigkeit und Adaptivität über die Zeit hinweg unterschieden werden. So ist die Grundstruktur des Systems, wie bereits zuvor eruiert, notwendig zeitinvariant, während die Adaptions- bzw. Aufbaustruktur sich nach vorherrschenden Umweltbedingungen anpassen muss, um die Existenz des Systems zu sichern. Das System selbst jedoch, welches die aufgezeigte „Geordnetheit“ sowie die innerhalb der Elemente stabilisiert homöostatisch stattfindenden Prozesse aufweist, wird in der Literatur häufig als institutionelle Organisation bezeichnet und korrespondiert damit am ehesten mit dem Alltagsverständnis des Terminus „Organisation“ als einem spezifischen komplexenFootnote 421 sozialenFootnote 422 System.

Neben der aufgezeigten Zweiteilung hat die Literatur auch eine Fülle weiterer Differenzierungen erarbeitetFootnote 423, welche terminologisch im Detail differieren. Betrachtet man allerdings die dort vorgestellten Systematiken näher, so zeigt sich, dass trotz aller Unterschiede begrifflich eine Gemeinsamkeit deutlich wird. So differenzieren viele Autoren neben dem aufgezeigten instrumentellen und institutionellen Begriffsverständnis drittens eine funktionale Perspektive auf den Organisationsbegriff, welcher auf die Funktion des Organisierens fokussiert und damit folglich eine der klassischen Managementfunktionen repräsentiert.Footnote 424 So betonen auch Koontz, ODonnell und Weihrich neben Planning, Staffing, Leading und Controlling die Relevanz des Organizing als originären Bestandteil der allgemeinen Managementfunktion.Footnote 425 Fasst man nun die bisherigen klassifikatorischen Überlegungen zusammen, so kann konstatiert werden: „Eine Organisation (institutionell) hat eine Organisation (instrumentell) und bedarf der Organisation (funktional).“Footnote 426 Die aufgezeigten Überlegungen fasst nochmals die nachfolgende Tabelle 4.2 zusammen.

Tabelle 4.2 Systematisierung des OrganisationsbegriffsFootnote

Lingnau, V. / Beham, F. / Fuchs, F. (2020), S. 23.

Die aufgezeigte Begriffssystematik kann nun wiederum mit der bereits eruierten Differenzierung zwischen fremdorganisierten, d. h. allopoietischen, und selbstorganisierten, d. h. autopoietischen, Einheiten in Verbindung gebracht werden. So sind insbesondere autopoietische Systeme in der Lage, auch in komplexen Umwelten durch interne Selbstorganisation und -adaption ihre charakteristische Grundstruktur zu erhalten. Der funktionale Organisationsbegriff ist folglich diesen Systemen inhärent und ermöglicht diesen, ihre Organisation im instrumentellen Sinne in Bezug auf die Grundstruktur zu erhalten bzw. ihre weiteren Aufbaustrukturen an sich wandelnde Umwelterfordernisse zu adaptieren. Als institutionelle Organisationen können nun genau diejenigen Entitäten aufgefasst werden, welche durch funktionale Organisation im Stande sind, ihre Existenz (bzw. Organisiertheit) auf Dauer aufrechtzuerhalten.Footnote 428 Bei diesen sind die drei aufgezeigten Begriffe folglich so miteinander verknüpft, dass die institutionelle Organisation durch die Fähigkeit der funktionalen Organisation ihre instrumentelle Organisation im Kern erhalten und im Detail adaptieren kann, um ihre Existenz zu sichern. Die Möglichkeit der Entstehung autopoietischer Eigenschaften als empirisches Phänomen kann auch im organisationalen Kontext durch den Begriff der Emergenz erklärt werdenFootnote 429, welcher zuerst im Rahmen philosophischer Arbeiten von Lewes über die Entstehung des menschlichen Geistes geprägtFootnote 430 und mittlerweile in einer Vielzahl von Wissenschaftsdomänen aufgenommen wurde.Footnote 431 Grundgedanke des Emergenzbegriffs ist dabei, dass im systemischen Kontext neue Eigenschaften spontan entstehen können, welche nicht in den konstituierenden Elementen bereits enthalten sein müssen bzw. nicht auf deren Summe trivial zu reduzieren wären.Footnote 432 So stellt beispielsweise Hartig-Perschke fest: „Mit dem Terminus ‚Emergenz‘ wird üblicher Weise das Auftreten neuer Eigenschaften auf einer ‚höheren‘ Ordnungs- oder Systemebene bezeichnet.“Footnote 433 Ebenso konstatieren auch Krohn und Küppers paradigmatisch: „Emergenz bezeichnet das plötzliche Auftreten einer neuen Qualität, die jeweils nicht erklärt werden kann durch die Eigenschaften oder Relationen der beteiligten Elemente, sondern durch eine jeweils besondere selbstorganisierende Prozeßdynamik […].“Footnote 434 Ähnlich subsumiert Goldstein: „Therefore, explanations that include the construct of emergence contain the claim that emergent phenomena are neither predictable from, deducible from, nor reducible to the parts alone.“Footnote 435 Der Emergenzbegriff ist damit paradigmatisch prinzipiell antireduktionistisch geprägt.Footnote 436 In der Literatur wird in diesem Zusammenhang noch häufig zwischen starker und schwacher Emergenz differenziert, wobei bei ersterer die emergenten Eigenschaften grundsätzlich und bei letzterer gegenwärtig unter Nutzung aktuell verfügbaren Wissens und Methoden nicht erklärt werden können.Footnote 437 Dabei sei es für die weiteren Überlegungen aus pragmatischer Perspektive als ausreichend erachtet, dass die „neue Qualität“ gegenwärtig nicht erklärt werden kann, unbeschadet der Frage, ob dies nur einem aktuell fehlenden methodischen oder faktenbezogenen Wissens geschuldet oder prinzipiell unmöglich ist.Footnote 438

Der Begriff der Emergenz ist wiederum eng mit dem Konzept der Autopoiesis verknüpft, wie auch Hartig-Perschke hervorhebt: „Tatsächlich stehen sich der Begriff ‚Autopoiesis‘ und der Begriff der ‚Emergenz‘ also recht nahe.“Footnote 439 Ähnlich konstatiert auch Blanchard, dass der Begriff der Emergenz „oft in Verbindung mit dem Wort ‚Selbstorganisation‘ gebraucht [wird].“Footnote 440 Als grundlegende Voraussetzung von Emergenz gilt dabei das Vorhandensein einer ausreichenden Komplexität. So stellt auch Stepanić fest: „The notions of complex systems and emergence are rather closedly related.“Footnote 441 Ähnlich resümiert auch Sawyer: „[T]here is a consensus that complex systems may have autonomous laws and properties at the global level that cannot be easily reduced to lower-level, more basic sciences.“Footnote 442 Dabei gilt jedoch, dass auch andere Systeme komplex sein können, jedoch nicht notwendigerweise Kerneigenschaften der Autopoiesis bzw. Lebensfähigkeit entwickeln müssen.Footnote 443 So kommt es bei Lebewesen evident nicht nur auf Komplexität als alleinige Voraussetzung der Lebensfähigkeit an, sondern vielmehr muss innerhalb der Komplexität auch eine bestimmte Konfiguration bzw. Geordnetheit der Grundstruktur schon ex ante vorliegen, welche das entstehende System überhaupt in die Lage versetzt, seine Homöostase zu initiieren, sich folglich stabil gegenüber seiner Umwelt abgrenzen zu können. Bei institutionellen Organisationen findet sich diese Initialstruktur insbesondere in der formalen Organisation, welche die Entstehung strukturierter Selbsterhaltungsprozesse im Rahmen arbeitsteilig organisierter Tätigkeiten begünstigt bzw. als dessen Katalysator erachtet werden kann. Dies erscheint gerade auch vor dem Hintergrund plausibel, dass organisationale Stellen teilweise (gerade im rechtlichen Kontext) als „Organe“ bezeichnet werden. Die vorausgegangenen Überlegungen zeigen damit, dass die Komplexität eines sozialen Systems demnach als notwendige Voraussetzung zur Entstehung autopoietischer Systemeigenschaften aufgefasst werden kann. Hierzu muss jedoch ein hinreichendes Maß an initialer Struktur hinzutreten, um autopoietische Prozesse zu ermöglichen.

Institutionelle Organisationen sind vor diesem Hintergrund dementsprechend in der Lage, irreduzible systemische Eigenschaften zu entwickeln, welche sich nicht notwendigerweise auf die isolierten Eigenschaften ihrer MitgliederFootnote 444 zurückführen lassen und diese folglich übersteigen. Während also einfache Sozialsysteme, wie diese sich in alltäglichen Interaktionen zeigen, nur ein geringes Maß an autopoietischen Eigenschaften und damit nur ein geringes Maß an Autonomie aufweisen, können institutionelle Organisationen emergent Eigenschaften der Lebensfähigkeit entwickeln, welche sich nach innen durch kollektive IdentitätFootnote 445, geteilte Werte sowie überindividuelle (organisationale) Ziele bzw. AnsprücheFootnote 446 und nach außen durch Selbsterhalt und gemeinsames Auftreten gegenüber der Umwelt manifestieren. Durch dieses autopoietische Potential können (institutionelle) Organisationen auch als quasi-lebende Systeme definiert werden, welche ihre eigene Existenz auf Dauer sichern und sich somit von weniger komplexen, nicht-dauerhaften sozialen Zusammenkünften des Alltags wie einfachen, kurzlebigen Interaktionssystemen abgrenzen lassen. Diese Überlegungen zeigt nochmals die nachfolgende Abbildung 4.8 auf.

Abbildung 4.8
figure 8

Institutionelle Organisationen als spezifische soziale Systeme

Basierend auf diesen Überlegungen können Organisationen im institutionellen Sinne nun wie folgt definiert werden: „(Institutionelle) Organisationen sind spezifische zeitstabile soziale Systeme, welche emergent-autopoietische Eigenschaften entwickeln und damit ihre Grundstruktur dauerhaft selbst aufrechterhalten können.Footnote 447 Sie werden durch von Menschen ausgefüllte Stellen (Organisationsmitglieder) und deren (formalen wie informalen) Beziehungen gebildet. Die auf Dauer ausgerichtete Grundstruktur ist dabei für die Elemente und deren Beziehung bindend (z. B. durch gemeinsame Zweckbindung).Footnote 448

In diesem Zusammenhang erscheint vor dem Kontext der organisationalen Autopoiesis abschließend noch eine kurze Diskussion des Reproduktionsbegriffs relevant. So kritisiert ein Teil der Literatur den Transfer des Autopoiesisbegriffs auf soziale Systeme, welche aus Individuen bestehend konzipiert werdenFootnote 449, da in Organisationen schließlich keine Individuen „produziert“ würden.Footnote 450 Eine solche, sicherlich teilweise ironisch konnotierte, Feststellung greift jedoch aus mehreren Gründen zu kurz. Dabei scheinen zuerst einmal die pauschale Kritik sowie vielfältige Missverständnisse in diesem Zusammenhang häufig darauf zu beruhen, dass menschliche Individuen ausschließlich als biochemische Einheiten aufgefasst werden, welches jedoch aus ethischer, aber auch anthropologischer Perspektive in kritischer Weise reduktionistisch erscheint und als Basiswerturteil eigentlich begründungspflichtig wäre – allerdings interessanterweise im einschlägigen Schrifttum kaum thematisiert wird. Vielmehr ist doch gerade in Umkehrung dieser Auffassung ersichtlich, dass eine Annahme von Aufgaben bzw. formalisiert – von organisationalen Stellen – als Mitglied nicht nur eine überindividuelle oder soziale Konstruktion bzw. ein „Label“ darstellt, sondern (gerade im Laufe der Zeit der Mitgliedschaft) auch Teil der Identität, Fähigkeiten und des Wesens eines Menschen wird, welches mit dem organisationalen System fortgeschrieben wird. Man nimmt eben nicht nur die Rolle des Vereinsvorstands oder Hochschullehrers ein, sondern ist dies auch.Footnote 451 Darüber hinaus, und hierauf weist bereits Teubner hin, greift zweitens eine Reduktion des Autopoiesisbegriffs auf die Erzeugung der Elemente zu kurz, weshalb er eine Erweiterung auf Prozesse, Metaprozesse sowie das ganze System vorschlägt.Footnote 452 Besonders letztere Idee erscheint hier konzeptionell bedeutsam. So bezieht sich die Autopoiesis nicht nur auf den Erhalt sozialer Systemelemente – hier also das Individuum in seiner Stelle – sondern vielmehr gerade auf das gesamte System, welches sich gegenüber seiner Umwelt selbst zu erhalten vermag. Dabei ist im strengen Sinne die vorige, von Teubner aufgezeigte Begriffsreihung redundant, da der Erhalt des Systems als Ganzes freilich schon die konstituierenden systemischen Prozesse wie auch dessen Subsysteme bzw. Elemente inkludiert. Verzichtet man folglich auf eine verkürzte biochemische Begriffskonnotation im Kontext einer Elementeproduktion und fokussiert vielmehr auf das Systemganze, so ist ein Transfer auf die soziale Ebene weit weniger problematisch. Zum Kern des Autopoiesisbegriffs soll in diesem Sinne also die gesamtsystemische Selbsterhaltung gewählt werden, welches dann wiederum auch Prozesse der Selbstorganisation sowie eine kollektive Identität des Systems umfasst, auf welche diese Prozesse bezogen sind. So besitzen Organisationen (aus sich selbst heraus!) gegenüber ihrer Umwelt das Potential, ihre Existenz zu erhalten, indem die Strukturen des Systems intern adaptiert werdenFootnote 453, welches sich z. B. in einem Diskurs über die Änderung von Geschäftspraktiken oder die Schaffung neuer Stellen manifestiert. Abschließend kann darüber hinaus auch noch aus einer weiteren Perspektive der teils immaterielle Substanzcharakter der Organisation als Einheit verdeutlicht werden. Hierbei nimmt zur Erhaltung des organisationalen Ganzen – insbesondere vor dem Hintergrund der fortschreitenden Digitalen Transformation – der Begriff des Wissens eine zentrale Rolle ein. Betrachtet man diesen genauer im organisationalen Kontext, so zeigt sich auch hier, dass die organisationale Autopoiesis nicht auf die Reproduktion von physischen Entitäten abzielt. Es kann somit konstatiert werden: „Der (Re-)Produktion innerhalb einer Organisation liegen [.] keine (bio-)chemischen Prozesse zugrunde, sondern Prozesse von Aufnahme, Verarbeitung und Weitergabe von Informationen bzw. WissenFootnote 454 im Rahmen der organisationalen Beziehungen […].Footnote 455

Die Bedeutung des Wissens lässt sich im organisationalen Kontext mit einigen klassischen Überlegungen aus der Managementliteratur verknüpfen. So können auch im Sinne Garuds und Poracs Manager als „information workersFootnote 456 aufgefasst werden. Ähnlich subsumieren Schermerhorn und Bachrach: „Managers are information processors who use analytical, technological, and information competencies to fulfill their roles in the management process.“Footnote 457 Folglich ist das Vorhandensein von organisationalem Wissen entscheidend, um fundierte Entscheidungen zu treffen, welches im Weiteren der Arbeit auch nochmals im Kontext des strukturierten Legitimitätsmanagements aufgegriffen wird. Dabei spielen aber ebenso, wie gerade das Zitat von Schermerhorn und Bachrach aufzeigt, zunehmend technologische Elemente eine zentrale Rolle, so dass im Folgenden noch kompakt auf den Komplementärbegriff des technischen Systems eingegangen wird, bevor schließlich beide im Gesamtmodell des Unternehmens als sozio-technisches System integriert werden.

4.3.4 Das technische bzw. IMF-System in der Wissensgesellschaft

Der Begriff des technischen Systems wird sowohl fachspezifisch im Rahmen der betriebswirtschaftlichen Forschung als auch darüber hinaus in einer Vielzahl von Begriffskonnotationen verwendet. So findet sich beispielsweise gerade im ingenieurwissenschaftlichen Kontext häufig eine Klassifikation, welche zwischen materialbasierten, energiebasierten und informationsbasierten technischen Systemen differenziert.Footnote 458 In der betriebswirtschaftlichen Literatur zeigt sich dagegen häufig eine güterspezifische AbgrenzungFootnote 459, welche auch menschliche Individuen als Produktionsfaktor bzw. Ressource auffasst.Footnote 460 Einer solchen, obschon verbreiteten Begriffsauffassung soll im Weiteren allerdings nicht unkritisch gefolgt werden. So würde zum einen eine undifferenzierte Inklusion die inhaltlich bedeutsame Differenzierung zwischen sozialen und technischen Systemen vernachlässigen, zum anderen erscheint die terminologisch gleichlautende Einordnung von technischen Systemen und Menschen als „Gut“ selbst problematisch, wie auch die Wahl des Terminus „Humankapital“ zum Unwort des Jahres 2004 verdeutlicht.Footnote 461 Wird nun aber im betriebswirtschaftlichen Diskurs genauer zwischen sozialen und technischen Systemen differenziert, so zeigt sich, dass unter der Bezeichnung des technischen Systems vielfach primär die Betriebsmittel (und ggf. materielle Ressourcen) subsumiert werden, welches konzeptionell jedoch noch zu kurz greift. Aus diesem Grund sei im Folgenden ein erweitertes technisches Systemmodell vorgestellt, welches in Anlehnung an die Vorschriften des deutschen Handelsgesetzbuches das technische System in drei Subsysteme differenziert.Footnote 462 In diesem Sinne kann das technische System nochmals in ein immaterielles, materielles sowie ein finanzielles Teilsystem untergliedert werden, wobei das Gesamtsystem hieran angelehnt als IMF-System bezeichnet wird. Das immaterielle Subsystem umfasst dabei alle nichtkörperlichen Gegenstände, wie z. B. Patente, Lizenzen, Markenrechte, Software usw., aber auch Wissen, welches im Zuge der Wissensgesellschaft, wie aufgezeigt wurde, zunehmend an Relevanz für einen dauerhaften unternehmerischen Erfolg gewinnt. Dagegen beinhaltet das materielle Subsystem alle physischen Güter wie die klassischen Betriebsmittel, d. h. Maschinen und Anlagen, aber auch betriebliche Grundstücke sowie Vor-, Teil- und Fertigprodukte, welche sich durch ihre materielle Substanz auszeichnen. Darüber hinaus können dem materiellen Subsystem auch die betrieblich genutzten Pflanzen und Tiere zugerechnet werden. Neben diesen beiden realgüterlichen Subsystemen kann im Rahmen der IMF-Klassifikation schließlich noch das Finanzsystem des Unternehmens als eigenständiges System herausgestellt werden, welches die monetären Mittel (Nominalgüter) enthält.

Die genaue Zusammensetzung bzw. relative Bedeutung der drei Subsysteme basiert dabei wiederum auf dem genauen Geschäftsmodell eines spezifischen Unternehmens. So ist ersichtlich, dass bspw. bei Finanzdienstleistern wie Banken oder Versicherungen, bei welchen die Wertschöpfungstätigkeit wesentlich durch den Einsatz finanzieller Mittel geprägt ist, das Finanzsystem im Fokus der unternehmerischen Tätigkeit liegt, während z. B. wiederum die existierenden materiellen Systeme, wie die IT-Infrastruktur, in der Regel eine untergeordnete bzw. sekundäre Rolle einnehmen. Bei Softwaredienstleistern dürfte dagegen regelmäßig ein stärkerer Fokus auf dem immateriellen System (Softwareprodukte bzw. Dienstleistungen) liegen, während wiederum bei klassischen Industrieunternehmen meist das materielle System von zentraler Bedeutung ist. Insgesamt gilt jedoch, dass die drei Subsysteme keine isolierten Einheiten darstellen, sondern vielmehr durch vielfältige Interaktionen sowie Interdependenzen gekennzeichnet sind.Footnote 463 Im Rahmen der Wertschöpfungstätigkeit sind neben den internen, d. h. organisationszugehörigen Stakeholdern, welche auch für die Steuerung des technischen Systems Verantwortung übernehmen, vielfältige externe Stakeholder involviert, die z. B. als Lieferanten materielle Realgüterströme oder als Kapitalgeber Nominalgüterströme in das technische System einbringen, bzw. als Konsumenten den unternehmerischen Output entgegennehmen, welches dann wiederum mit einem Zahlungsinput in das Finanzsystem einhergeht. Die aufgezeigten Überlegungen zur Konzeption des technischen Systems eines Unternehmens als IMF-Systems fasst nochmals kompakt die nachfolgende Abbildung 4.9 zusammen.

Abbildung 4.9
figure 9

Das technische System eines Unternehmens als IMF-SystemFootnote

Lingnau, V. / Beham, F. / Fuchs, F. (2020), S. 43.

Neben diesen konzeptionellen Grundlagen ergeben sich insbesondere im Kontext der Wissensgesellschaft einige interessante Implikationen, welche im Folgenden noch kurz skizziert seien. So zeigt die klassische Literatur nach wie vor eine vorherrschende Auffassung, technische Systeme lediglich als trivial zu beschreibende Einheiten (s. g. Trivialmaschinen) aufzufassen, welches eine vollständige, externalistische Kontrollmöglichkeit implizieren und im Sinne von Foersters ein deterministisches, d. h. wohlprognostizierbares Verhalten unterstellen würde.Footnote 465 Der Mensch bzw. das soziale Systeme träte in diesem Zusammenhang folglich als Instanz auf, welche die technischen Einrichtungen vollständig deterministisch zu kontrollieren vermag. Allerdings muss festgehalten werden, dass im Rahmen der Digitalen Transformation technische Einrichtungen, obgleich immer noch zentral durch allopoietische Eigenschaften gekennzeichnet, in gewissen Grenzen zunehmend Autonomie gewonnen haben bzw. auch weiter gewinnen werden, welches sich darin manifestiert, dass Maschinen bzw. Anlagen und deren Software im Rahmen der s. g. Industrie 4.0 auch partiell eigenständige Optimierungsentscheidungen durchführen können.Footnote 466 Ein bekanntes, in diesem Zusammenhang häufig aufgeführtes Beispiel ist die Smart Factory, in welcher sich Softwareapplikationen und damit verknüpfte materielle Produktionssysteme relativ autonom an dynamische Produktionsanforderungen anpassen können.Footnote 467 Die Fertigungsanlagen sowie die Logistiksysteme verfügen damit über die Möglichkeit, sich in gewissen Grenzen quasi selbst zu organisieren und auf veränderte Rahmenbedingungen eigenständig zu reagieren. Als technische Grundlage dieser Systeme können dabei die cyber-physischen Systeme [CPS] aufgefasst werden, welche wiederum mithilfe des Internets der Dinge und Dienste unterschiedlich stark strukturierte Datenmengen bzw. (mittlerweile) vielfach WissenFootnote 468 austauschen. Diese CPS können wiederum als vollautomatisierte Produktionseinheiten auftreten, welche mittels ihrer Systemkomponenten, d. h. insbesondere unter Zuhilfenahme von embedded systemsFootnote 469, in der Lage sind, mit diversen Komponenten des IMF-Systems (z. B. Maschinen und Anlagen, aber auch Software bzw. Parametereinstellungen) zu interagieren bzw. diese zu beeinflussen. Die nachfolgende Abbildung 4.10 fasst diese Überlegungen sowie die zentralen Entwicklungsstufen zur Industrie 4.0. nochmals zusammen.

Abbildung 4.10
figure 10

Entwicklungsstufen der Digitalen Transformation zur Industrie 4.0Footnote

Lingnau, V. / Brenning, M. (2018), S. 140; Lingnau, V. / Brenning, M. (2015), S. 456.

4.3.5 Gesamtmodell des Unternehmens

Die vorausgegangenen Überlegungen können nun genutzt werden, um das Unternehmen als sozio-technisches System, d. h. als Gesamtsystem, welches sowohl das soziale wie technische Teilsystem zu einem Ganzen integriert, zu konzipieren. Dabei ist jedoch festzuhalten, dass noch nicht jedes sozio-technische System sinnvollerweise bereits als „Unternehmen“ bezeichnet werden kann. So sind z. B. kurzlebige Zusammenkünfte, wie Demonstrationszüge oder gesellige Runden, welche unter Einbezug technischer Mittel realisiert werden, evident noch keine Unternehmen, so dass in diesem Zusammenhang offensichtlich noch weitere konstitutive Elemente hinzutreten müssen. Neben dem zentralen, bereits diskutierten, charakteristischen Betriebszweck der monetären Wertschöpfung (im primären oder sekundären Sinne)Footnote 471 sind dies im Wesentlichen drei Faktoren: Erstens muss der genannte, charakteristische Instrumental- bzw. Betriebszweck vom sozio-technischen System für Dritte erkennbar über eine gewisse (Mindest-)Dauer verfolgt werden. Darüber hinaus ist zweitens eine Disposition über knappe Ressourcen (d. h. Wirtschaften), welche mit einem gewissen Mindestprofessionalisierungsgrad (z. B. hinsichtlich der Planmäßigkeit oder dem vorhandenen Wissen und Können) vonstattengeht, charakteristisch. Schließlich ist ein Unternehmen drittens durch die Existenz eines Betreibers gekennzeichnet, welcher gegenüber den Stakeholdern als formaler Träger von Rechten und Pflichten auftritt – so z. B. in Kauf- oder Arbeitsverträgen.Footnote 472 Ein solcher Betreiber ist im privatrechtlichen Kontext die Gesellschaft im rechtlichen Sinne, d. h. z. B. eine Aktiengesellschaft, welche das Unternehmen als sozio-technisches System betreibt. In diesem Sinne kann folglich konstatiert werden:

Unternehmen sind von einem Betreiber betriebene sozio-technische Systeme, die für eine gewisse Dauer (im Sinne des „going concern“ Footnote 473 ) für Dritte erkennbar dem instrumentellen Zweck (Betriebszweck) der monetären Wertschöpfung dienen, es sei denn, dass die Erfüllung dieses Betriebszwecks nach Art und Umfang einen gewissen Professionalisierungsgrad (z. B. hinsichtlich Planmäßigkeit oder Wissen und Können) bei Entscheidungen über den Einsatz der knappen Ressourcen („Wirtschaften“) nicht erfordert. Footnote 474

Von der Gesellschaft (im rechtlichen Sinne) als Träger rechtlicher Verantwortung ist jedoch wiederum der Träger moralischer Verantwortung zu differenzieren, welcher sich gegenüber den Stakeholdern und deren Ansprüchen im moralischen Sinne zu verantworten hat. Letzterer (moralischer) Verantwortungsträger ist (neben weiterhin bestehenden Einzelaspekten der Individualverantwortung), vor dem aufgezeigten Hintergrund einer zunehmenden Komplexität der globalisierten Wirtschaftswelt, vor allem das soziale System des Unternehmens.Footnote 475 Dabei sei für die weitere unternehmensethische Konzeption paradigmatisch davon ausgegangen, dass das soziale System als organisationale Einheit im institutionellen Sinne existiert, d. h. genuin eigene systemische Ziele besitzt und Ansprüche gegenüber seiner Umwelt entwickeln kann, wobei, wie im Weiteren gezeigt wird, aus ethischer Perspektive besonders der intrinsische Zweck des sozialen Systems, welcher sich im obersten Ziel der Existenzsicherung manifestiert, als Begründungspunkt von Unternehmensethik herangezogen wird.Footnote 476 Diese Überlegungen subsumiert nochmals die nachfolgende Abbildung 4.11.

Abbildung 4.11
figure 11

Das Unternehmen als sozio-technisches SystemFootnote

In Anlehnung an Lingnau, V. / Beham, F. / Fuchs, F. (2020), S. 56.

Nachdem nun das Unternehmen als spezifisches sozio-technisches Gesamtsystem erarbeitet wurde, stellt sich noch die Frage nach den unternehmerischen Zielen, da ohne diese eine geordnete unternehmerische Tätigkeit bzw. jegliches strukturierte ManagementFootnote 478 undenkbar wäre. So stellt auch Colsman fest: „Steuerung ist nur dort möglich, wo es ein Ziel gibt.“Footnote 479 Neben dem zentralen Begriff des Ziels sind zudem noch aus Gründen der terminologischen Präzision die verwandten Begrifflichkeiten des Zwecks sowie des Anspruchs zu klären. Dies erfolgt im nachfolgenden Abschnitt.

4.3.6 Ziele, Zwecke und Ansprüche des Unternehmens

4.3.6.1 Begriffliche Grundlagen

Betrachtet man zuerst den Begriff des Ziels, so lässt sich konstatieren, dass Ziele in der betriebswirtschaftlichen Literatur vielfach als erwünschte zukünftige Zustände definiert werden.Footnote 480 Fasst man diese Ziele wiederum hierarchisch zusammen, so entsteht ein System miteinander über verschiedene Ebenen verknüpfter Ziele, welche folglich das unternehmerische Zielsystem bilden. Dabei ist zu konstatieren, dass der Begriff der „Unternehmensziele“ eigentlich in einem ersten Schritt vor allem die Ziele des sozialen Teilsystems bzw. der institutionellen Organisation als Kollektiv umfasstFootnote 481, schließt man einmal aus, dass technische Elemente genuin eigene Ziele aufweisen können. Daher sei nun in einem ersten Schritt auf die Entstehung von Zielen im organisationalen Kontext eingegangen. Zur Konzeption von kollektiven Zielen hat die Literatur diverse Ansätze hervorgebracht, wobei für die weiteren Ausführungen auf eine Taxonomie zurückgegriffen sei, welche ursprünglich auf die Überlegungen von Marschak und Radner zurückgeht und später nochmals bei Rapoport im Überblick systematisiert und präzisiert wurden.Footnote 482 Basierend auf deren Überlegungen kann zwischen vier verschiedenen Ausprägungen sozialer Systeme hinsichtlich der Organisiertheit des Systems und der Frage des Verhältnisses von Kollektiv- und Individualzielen differenziert werden. Den sozialen Zusammenschluss mit der geringsten Kohäsion der Organisiertheit kann in diesem Sinne als Spiel bezeichnet werden. Hierbei verfügen lediglich die interagierenden Individuen über eigene Ziele, welche sie im Rahmen gegebener Spielregeln mehr oder minder bewusst verfolgen. Ein übergeordnetes systemisches Ziel ist demnach nicht vorhanden. Auf der nächsten Stufe befindet sich im Rahmen dieser Taxonomie dann die Koalition – ein Begriff, welcher sich ähnlich auch in der Koalitionstheorie von Cyert und March wiederfindet.Footnote 483 In diesem Fall weisen die Koalitionsteilnehmer sowohl eigenständige Zielsetzungen auf als auch Kollektivziele, welche aus Verhandlungs-, Kontroll- und Anpassungsprozessen der Teilnehmer der Koalition resultieren. Formal können nach Lingnau und Härtel diese Prozesse vektoranalytisch dargestellt werden, wobei sich die Kollektivziele als Resultante je nach Wirkmächtigkeit der einzelnen Koalitionsteilnehmer ergeben.Footnote 484 Diese Überlegung visualisiert nochmals Abbildung 4.12, welche beispielhaft die Entstehung des Verhandlungsziels „a“ aus den bewusst repräsentierten Zielen der Organisationsteilnehmer bzw. Suborganisationsgruppen x, y, z, je nach deren Einfluss (hier: ax, ay und az), aufzeigt.

Abbildung 4.12
figure 12

Koalitionsziele als Resultierende durch Verhandlungs-, Kontroll- und AnpassungsprozesseFootnote

Lingnau, V. / Härtel, I. (2014), S. 2.

Die nächste Stufe der sozialen Organisiertheit kann dann als Stiftung bezeichnet werden. Hierbei existieren nicht nur individuelle wie auch kollektiv ausgehandelte Ziele, vielmehr kann die soziale Einheit selbst eigenständige (genuine) Systemziele hervorbringenFootnote 486, welche mit den Individual- bzw. Koalitionszielen korrespondieren können, aber nicht müssen.Footnote 487 Schließlich kann als letzte Stufe der sozialen Organisiertheit mit dem Team ein zielhomogenes Kollektiv beschrieben werden, in welchem folglich die organisationalen Ziele mit den Individualzielen vollständig zusammenfallen.

Für die Ausführungen dieser Arbeit erscheint dabei insbesondere das Konzept der Stiftung besonders fruchtbar, da dieses an die Autopoiesisbetrachtung der Organisation als quasi-lebendes System anschlussfähig ist. So weist gerade dieses Konzept am ehesten die Eigenschaften eines Organismus auf, wie auch Rapoport feststellt: „Finally, a foundation may be regarded as a type of organization most resembling an organism.“Footnote 488 In diesem Sinne weist das soziale System des Unternehmens als institutionelle Organisation sowohl Individual-, als auch gemeinsame Verhandlungsziele auf, allerdings auch eigenständige organisationale Ziele, welches sich z. B. durch das Potential zur Autopoiesis emergent im obersten Ziel der Existenzsicherung zeigt.Footnote 489 Die vorausgegangenen Überlegungen subsumiert nochmals die nachfolgende Tabelle 4.3.

Tabelle 4.3 Taxonomie verschiedener existenter Zieltypen nach sozialem SystemtypFootnote

Lingnau, V. / Beham, F. / Fuchs, F. (2020), S. 37.

Neben dem Begriff des Ziels existiert mit dem Zweckbegriff ein verwandtes Konzept, welches in der Literatur mit vielfältigem Begriffsinhalt und häufig mehr oder minder synonym gebraucht wird.Footnote 491 Wird dagegen eine Systematisierung vorgenommen, so zeigt sich in diesem Zusammenhang eine beachtliche Begriffsheterogenität. Eine bekannte Differenzierung wurde im betriebswirtschaftlichen Kontext z. B. von Eichhorn und Merk vorgenommen, welche Ziele klassisch als erwünschte Zustände, Zwecke jedoch als „zielorientierte Verwirklichung des Mitteleinsatzes“Footnote 492, also prozessual, auffassen.Footnote 493 Hans Ulrich wiederum differenziert zwischen Zwecken und Zielen, indem er den Zweck als externalistisch konnotiert auffasst, d. h. funktional gegenüber der Umwelt definiert, während die Ziele internalistisch, d. h. durch das System selbst, gesetzt würden.Footnote 494 Beide Positionen weisen allerdings konzeptionelle Limitationen aufFootnote 495, weshalb im Weiteren der Auffassung gefolgt sei, dass der Zweckbegriff im Gegensatz zum Begriff des Ziels weniger beschreibt was erreicht werden soll, sondern wozu bzw. wofür etwas getan wird (s. g. „causa finalisFootnote 496). Der Zweck kann damit sinnstiftend im Sinne des sozialwissenschaftlichen Begriffs des Verstehens wirken, also gegenüber den Stakeholdern erklären, warum bestimmte Ziele existieren bzw. verfolgt werden. Zwecke sind damit übergreifend bzw. systematisch überdauernd und durchziehen die organisationalen Ziele, indem sie diesen Sinn geben.Footnote 497 Dabei kann weiter zwischen dem Instrumentalzweck und einem systemisch-intrinsischen Zweck differenziert werden. Der erstere Zweckbegriff beschreibt demnach den instrumentellen Zweck, welcher bei Unternehmen charakteristisch in der ökonomischen Wertschöpfung liegt und zugleich das im Vergleich zu anderen Betriebsformen differenzierende MerkmalFootnote 498 darstellt. Der intrinsische Zweck bezieht sich dagegen auf den Selbstzweck, welcher emergent-autopoietisch bei (quasi-)lebenden Systemen entsteht, sich im Selbsterhalt gegenüber der Umwelt manifestiert und sich im obersten Ziel der Existenzsicherung des Systems gegenüber seiner Umwelt ausdrückt.Footnote 499 So betont auch Kleinfeld: „Die oberste, im Rahmen ihrer jeweiligen systemspezifischen Rationalität gebildete Präferenz einer Organisation besteht folglich darin, ihr ‚Überleben‘, d. h. ihren Fortbestand als solche zu sichern.“Footnote 500 Auch Simon stellt in diesem Zusammenhang fest: „Überleben wird dabei zum Rationalitätskriterium des Handelns.“Footnote 501 Schließlich resümiert auch Wolf: „Oft wird in der Systemerhaltung bzw. dem Systemüberleben das wichtigste Ziel von Organisationen gesehen.“Footnote 502

Nach der erfolgten Abgrenzung von Zwecken und Zielen ist nun ebenfalls der Begriff des Anspruchs zu klären, welcher im betriebswirtschaftlichen Schrifttum meist relativ unsystematisiert gebraucht wird. Dabei sei im Folgenden auf ein teleologisches Anspruchsverständnis rekurriert, welches grundlegende Vorüberlegungen in der rechtlichen Sphäre findet. So definiert § 194 Abs. 1 BGB einen Anspruch als „[d]as Recht, von einem anderen ein Tun oder Unterlassen zu verlangen […].“Footnote 503 Ein solches Anspruchskonzept umfasst allerdings nur rechtlich kodifizierte Ansprüche, so dass unkodifizierte, moralisch begründete Ansprüche vernachlässigt würden. Zudem fehlen in der rein legalistischen Definition gegen sich selbst gerichtete Ansprüche (Selbstansprüche), welche ebenfalls in eine Anspruchskonzeption aufgenommen werden sollten. Die vorausgegangenen Überlegungen führen damit unter Rückgriff auf den Zielbegriff zu folgendem, teleologischen Anspruchsverständnis: Ansprüche ergeben sich aus den Zielen eines Anspruchsträgers. Sie sind gegen einen Dritten oder sich selbst gerichtet und beziehen sich auf das Tun oder Unterlassen einer Entscheidung oder Handlung.Footnote 504

Ansprüche resultieren folglich aus einer Transformation von Zielen mittels Adressatenbezug, wobei Selbstansprüche durch tautologische und Fremdansprüche durch einfache Transformation aus Zielen entstehen. Kompakt könnten Ansprüche somit auch als gerichtete Erwartungen einer Zielerfüllung bezeichnet werden. Dabei existieren jedoch nicht nur monokausale Verbindungen von Zielen zu Ansprüchen. Vielmehr können realiter auch zwischen den Ansprüchen wiederum selbst Beziehungen entstehen. Ein kurzes Beispiel möge dies verdeutlichen: So kann beispielsweise aus dem Ziel, das Studium mindestens mit „gut“ abzuschließen, ein Selbstanspruch, dieses Ziel auch zu erreichen, entwickelt werdenFootnote 505, wobei auch weitere, derivative Selbstansprüche, z. B. fleißig zu lernen, entstehen können. Aus dem Selbstanspruch können zudem Ansprüche an Dritte entwickelt werden, welche z. B. an die Lehrkräfte, Kommilitonen, Eltern etc. gerichtet werden und darauf abzielen, das genannte Ziel verwirklichen zu helfen (d. h. „etwas zu tun“) oder zumindest dieses nicht zu stören (d. h. „etwas zu unterlassen“). Die aufgezeigte Systematisierung fasst nochmals die nachfolgende Abbildung 4.13 zusammen.

Abbildung 4.13
figure 13

Entstehung von Ansprüchen durch (tautologische) Transformation von ZielenFootnote

Lingnau, V. / Beham, F. / Fuchs, F. (2020), S. 32. Dabei können Ansprüche und deren Verwirklichung anhand empirischer Restriktionen freilich im Zeitablauf auch die vorige Zielhöhe, aber auch das Anspruchsniveau verändern. Auf diese Rückkopplungsprozesse sei jedoch aus Vereinfachungsgründen in der Abbildung verzichtet. Zur Adaption der Anspruchs- bzw. Zielhöhe vgl. auch die Ausführungen zur „aspiration adaptation theory“ in Selten, R. (2001), S. 18–24 sowie grundlegend Selten, R. (1998); Sauermann, H. / Selten, R. (1962).

4.3.6.2 Implikationen für das organisationale Zielsystem und die Bedeutung normativer Ziele

Die vorausgegangenen Überlegungen können nun auf das organisationale Zielsystem übertragen werden, wobei davon ausgegangen wird, dass sich wiederum innerhalb des Zielsystems eine hierarchische Ordnung der Ziele anhand des für die jeweilige Ebene charakteristischen Oberziels erstellt werden kann. Diese übergeordneten Ziele können wiederum innerhalb der gleichen Hierarchiestufe weitere untergeordnete Zielsetzungen enthalten, welche im Folgenden als Zwischenziele und Unterziele bezeichnet werden.Footnote 507 Betrachtet man die aktuelle betriebswirtschaftliche Literatur, so zeigt sich nach wie vor häufig eine Differenzierung zwischen strategischen und operativen Zielen, wobei ggf. zwischen diesen Zielen noch eine taktische Ebene verortet wird.Footnote 508 Zur Unterscheidung dieser Ebenen wird für die weiteren Ausführungen der Arbeit folgende Klassifikation zugrunde gelegt: Auf der strategischen Zielebene können alle Ziele, welche den Aufbau sowie den Erhalt von Erfolgspotentialen (bei Unternehmen: Wertschöpfungspotentiale) umfassen, subsumiert werden. Hierin eingebettet bzw. untergeordnet finden sich die operativen Ziele bzw. die Nutzung dieser Erfolgspotentiale. Charakteristisch für die operative Zielebene ist dabei die effektive wie effiziente Nutzung von Erfolgspotentialen zur Generierung von Erfolg, d. h. bei Unternehmen: der regelmäßigen Erzielung einer ökonomischen Wertschöpfung. Obschon diese klassische Zweiteilung nach wie vor eine große Verbreitung in der betriebswirtschaftlichen Literatur aufweist, ist der klassische strategisch-operative Ansatz doch als zu restriktiv zu kritisieren. So vernachlässigt dieser die normativen Grundlagen, welche unternehmerischem Handeln immer schon zugrunde liegen, denn dieses Handeln findet klarerweise immer bereits in durch Werte präformierten Erwartungshaltungen der Gesellschaft als organisationaler Umwelt statt. Gerade vor dem Hintergrund zunehmend kritischer Stakeholder ist zu konstatieren, dass eine rein strategisch-operative Ausrichtung Gefahr läuft, nicht zu prüfen, inwiefern Strategien sowie operative Entscheidungen bzw. Handlungen überhaupt normativ zulässig sind, denn, wie gezeigt wurde, ist in einer freiheitlichen Gesellschaft noch nicht jedes strategische wie auch operative Handeln bereits selbstverständlich hinreichend legitimiert. Eine Missachtung der normativen Sphäre unternehmerischer Entscheidungen, kann dabei, wie etliche Unternehmensskandale aufzeigen, mit gravierenden und sogar existenziellen Konsequenzen einhergehen.Footnote 509

Auf diesen Überlegungen aufbauend ist damit die klassische Zweiteilung des organisationalen Zielsystems zu erweitern, so dass in einer übergeordneten Ebene auch die normativen Voraussetzungen des wirtschaftlichen Handelns beleuchtet und konzeptionell abgebildet werden.Footnote 510 Diese Ebene wird in Anlehnung an die Überlegungen der St. Galler SchuleFootnote 511 als normative Zielebene bezeichnet. Als normatives Oberziel dieser Ebene wird dabei der Aufbau und der Erhalt von Legitimität konzipiert, welcher, wie im Weiteren gezeigt wird, zum Ausgangspunkt des normativen ManagementsFootnote 512 als strukturiertem Legitimitätsmanagement und zur Begründung von Unternehmensethik als intrinsisch relevanter Verantwortungsübernahme genommen werden kann. Alle drei Ebenen, d. h. die normativen, strategischen wie operativen Ziele, werden schließlich von einem obersten Ziel geprägt, welches auch als systematisches Metaziel oder Basalziel bezeichnet werden könnte, das die fundamentale Grundlage allen unternehmerischen Handelns bildet und besonders durch den aufgezeigten intrinsischen Zweck des sozialen Systems begründet wird. Dieses ist das Ziel der Existenzsicherung, welches letztlich allen normativen, strategischen als auch operativen Zielsetzungen inhärent ist. In diesem Sinne stellt auch Hering fest: „Als oberstes Ziel eines Unternehmens kann die langfristige Sicherung seines Fortbestands angesehen werden.“Footnote 513 Ebenso hebt auch Dickmann hervor: „Das oberste Unternehmensziel stellt nach herrschender Literaturmeinung die langfristige Existenzsicherung des Unternehmens dar.“Footnote 514 Ähnlich betonen schließlich auch Zdrowomyslaw und Kasch „[d]ie Unternehmenssicherung (Überleben) als oberstes Ziel […].“Footnote 515 Dabei dienen letztlich alle drei Zielebenen (Legitimität, Wertschöpfungspotentiale, Wertschöpfung) diesem obersten Ziel. So ist die langfristige Existenzsicherung nur möglich, wo das Unternehmen legitimierte Wertschöpfungspotentiale entwickelt und diese in einem legitimen Sinne effektiv wie effizient nutzt, so dass stets alle der drei aufgezeigten Zielebenen Berücksichtigung finden müssen. Es sei daher nochmals betont, dass sowohl strategische als auch operative Entscheidungen normativ überzeugend fundiert sein müssen. Diese Überlegungen fasst nochmals die nachfolgende Abbildung 4.14 zusammen.

Abbildung 4.14
figure 14

Die organisationalen Zielebenen im Überblick

Aus den Zielen der genannten Ebenen lassen sich wiederum, wie gezeigt wurde, durch Transformation bestimmte organisationale Ansprüche ableiten. Ansprüche können dabei, basierend auf den Überlegungen von DahrendorfFootnote 516, sowie hierauf aufbauend WillenbacherFootnote 517, je nach Konkretisiertheit von Inhalt, Ausmaß sowie zeitlichem BezugFootnote 518 weiter in drei Arten differenziert werden. Während Interessen generell ein eher niedriges Niveau an Konkretisiertheit aufweisen, sind Forderungen bezüglich ihres Inhalts, Ausmaßes sowie zeitlichen Bezugs relativ stark konkretisiert. Ansprüche, welche hinsichtlich der genannten Spezifikation ein mittleres Niveau aufweisen, werden schließlich als Anliegen bezeichnet. Dies verdeutlicht nochmals die nachfolgende Abbildung 4.15.

Abbildung 4.15
figure 15

Überblick über die drei AnspruchstypenFootnote

Lingnau, V. / Beham, F. / Fuchs, F. (2020), S. 33. Vgl. grundlegend auch Willenbacher, P. (2017), S. 23.

Basierend auf diesen Überlegungen können nun nochmals die Beziehungen zwischen Zielen und Ansprüchen genauer untersucht werden. Ziele der obersten Ebene, wie sie sich z. B. im Überleben oder im Aufbau wie Erhalt der Legitimität wiederfinden, sind meist eher abstrakt bzw. geringer spezifiziert und dürften dabei häufig zu Interessen, wie bspw. dem Überlebensinteresse oder dem Interesse des Erhalts der gesellschaftlichen Legitimität führen. Ziele mittlerer Konkretisiertheit, wie bspw. im strategischen Bereich, korrespondieren dann folglich eher mit dem Anspruchstyp des Anliegens, während aus operativen Zielen häufig konkrete Forderungen entstehen dürften. Abschließend sei allerdings festgehalten, dass eine solche Zuweisung eher idealtypisch aufzufassen ist, denn je nach genauer Situation können bspw. auch aus den höheren organisationalen Zielebenen sehr konkrete Ansprüche resultieren. So ist es z. B. denkbar, dass sich aus dem Ziel der Existenzsicherung bzw. des Erhalts von Legitimität in Krisenzeiten auch sehr konkrete Ansprüche, d. h. Forderungen, gegenüber den Stakeholdern entwickeln, bspw. illegitimes, schädigendes Verhalten zu unterlassen.Footnote 520

4.3.6.3 Schlussfolgerungen für das sozio-technische Gesamtsystem

Im Folgenden können die bisher primär organisational fokussierten Ausführungen auch nochmals konkret in Beziehung zum sozio-technischen Gesamtsystem gesetzt und konzeptionell vertieft werden. Hierbei sind insbesondere noch die Rolle des technischen Systems sowie die Implikationen auf die Eigenschaften des Gesamtsystems zu klären. Hinsichtlich des Zielbegriffs kann zum einen festgestellt werden, dass technische Systeme von Menschen (bzw. anderen kunstfertigen WesenFootnote 521) zur Realisierung von individuellen wie kollektiven Zielen geschaffen werden. Technische Systeme besitzen damit in einem ersten Schritt keine originär eigenständigen Ziele, sondern sind auch im unternehmerischen Kontext den organisationalen Zielen dienend gestaltet. Wie die Ausführungen im Rahmen der Industrie 4.0 zeigten, erscheint es jedoch klar, dass in einem derivativen Sinne aus den vordefinierten bzw. vorgeprägten organisationalen Zielen das technische System partiell auch eigenständig Subziele bilden kann. So ist z. B. plausibel, dass ein durch die Hard- und Software relativ selbständig optimierter Routenplan durchaus technisch relativ autonom definierte Ziele enthält, welche bezüglich ihrer aktuellen Realisierung auch von technischen Systemen selbst überwacht werden. Die Letztverantwortung muss jedoch stets beim sozialen System als i. d. R. institutioneller Organisation verbleiben, welche auch einen Letztvorbehalt gegenüber den technischen Systemen besitzen muss, wenngleich bei hoher Komplexität der genaue Zielzustand der technischen Systeme im Detail nicht immer transparent sein mag. Das Unternehmen als sozio-technische Gesamtheit enthält damit die Eigenschaften sowohl des sozialen als auch des technischen Systems, wobei bemerkt sei, dass das aktive gestalterische Potential des sozialen Systems im Zielbildungsprozess dominieren und damit das Gesamtzielsystem prägen dürfte.Footnote 522 Ähnlich kann auch im Kontext des Zweckbegriffs argumentiert werden. Technische Systeme dienen hinsichtlich ihres Zwecks der Organisation: zum einen in der Realisierung ihres Instrumentalzwecks (z. B. Wertschöpfung), zum anderen aber auch im Sinne des intrinsischen Zwecks zur organisationalen Selbsterhaltung. Bei letzterem kann zudem ebenfalls argumentiert werden, dass für einen außenstehenden Beobachter das Unternehmen vielfach als Einheit auftritt, so dass hierbei z. B. das Interesse zu Überleben von der Organisation auf das Gesamtunternehmen übertragbar wird, insbesondere wenn man bedenkt, dass das soziale Teilsystem in der Regel ohne technische Einrichtungen seine Existenz nicht erhalten kann. Im Rahmen der Ansprüche kann ebenfalls auf diese Überlegungen zurückgegriffen werden. Originär besitzt im Unternehmen sicherlich erst einmal nur das soziale Subsystem genuin Ansprüche gegenüber seiner Umwelt. Technische Systeme werden jedoch zur Übertragung von Ansprüchen sowie zur Sammlung bzw. Analyse von Stakeholderansprüchen organisational genutzt, wobei auch hier wiederum das Unternehmen regelmäßig als artikulierende Einheit von Ansprüchen wahrgenommen wird.

Im Nexus von Ansprüchen, Zielen und hieran orientierten Handlungen nimmt nun insbesondere das Management eine überragende Bedeutung ein, denn dieses ist damit beauftragt, die organisatorischen Rahmenbedingungen so zu setzen, dass das Unternehmen (als Ganzes, d. h. auch hinsichtlich seiner technischen Mittel) seinem Wertschöpfungszweck dauerhaft erfolgreich mit legitimen Mitteln nachkommt. Hierbei ist das Management folglich als zentrale Steuerungsinstanz gefordert, entsprechend perturbierend auf untergeordnete organisationale Ebenen (sowie ggf. auch direkt oder indirekt auf das technische System) so einzuwirkenFootnote 523, dass die kollektiven und systemischen Ziele dauerhaft legitimiert erreicht werden und das Gesamtsystem „Unternehmen“ stabilisiert wird bzw. erhalten bleibt. So stellen auch Hoitsch und Lingnau fest: „Aufgabe des Managements ist es, durch Entscheidungen die leistungs- und finanzwirtschaftlichen Prozesse so zu steuern, dass die betrieblichen Ziele möglichst optimal erreicht werden […].“Footnote 524 Ähnlich resümiert auch von Känel: „Die Realisierung des Geschäftsbetriebes eines Unternehmens […] bedarf zwingend einer Führung, die ihrerseits Ziele setzt, das arbeitsteilige Handeln der Bereiche des Unternehmens organisiert, plant, koordiniert und damit steuert und die zugleich die erreichten Ergebnisse kontrolliert und analysiert. Diese Aufgabe ist durch das Management des Unternehmens – im Sinne einer zweckbestimmten, zielgerichteten Unternehmensführung – wahrzunehmen […].“Footnote 525

Dabei gewinnt, wie im Weiteren ausgeführt wird, neben klassisch strategisch-operativen Überlegungen korrespondierend zur Bedeutung der Berücksichtigung der Legitimität unternehmerischen Handelns im Zielsystem des Unternehmens auch die normative Dimension zunehmende betriebswirtschaftliche Relevanz für das Management und kann damit zum Ausgangspunkt der Konzeption einer genuinen Mesoethik genommen werden. Der Begriff des Managements und insbesondere des normativen Managements ist Gegenstand der nachfolgenden Ausführungen, in welchen neben konzeptionellen Grundlagen des normativen Managements auch ein für die Praxis relevantes Instrument zur Integration und Reflexion der Stakeholderansprüche in Bezug auf das unternehmerische Zielsystem entwickelt wird.

4.4 Normatives Management als systematisches Legitimitätsmanagement

4.4.1 Grundlagen des Managementbegriffs

Der Begriff des Managements weist, obschon seiner neuzeitlichen Anmutung, lange in der Menschheitsgeschichte zurück. So stellt auch Combe fest: „Management has a long history and dates back to well before it became a subject of formal study. […] Empires were built on effective management of resources […] to protect those civilisations.“Footnote 526 Ähnlich subsumieren Moore und Pareek: „The idea of management dates back to the beginning of civilization.“Footnote 527 Eine etymologische Auseinandersetzung mit dem Managementbegriff zeigt dabei, dass dieser vermutlich von den beiden lateinischen Termini manus und agere („an der Hand führen“) herrührt. Die genaue Begriffsherkunft ist jedoch wissenschaftshistorisch bis heute nicht unumstritten, so dass in der Literatur auch andere Wurzeln, z. B. in mansionem agere („das Haus führen“), postuliert werden.Footnote 528 Das Wort Management, welches im fachwissenschaftlichen Diskurs im angelsächsischen Sprachraum popularisiert wurdeFootnote 529, fand dabei ab Mitte des letzten Jahrhunderts zunehmende Verbreitung in der deutschsprachigen betriebswirtschaftlichen Forschung.Footnote 530 In der heutigen Betriebswirtschaftslehre hat sich dabei, analog zu den Ausführungen im Rahmen des Organisationsbegriffs, mittlerweile eine Differenzierung zwischen einer funktionalen und institutionellen Begriffsauffassung weitgehend etabliert. Hierbei beschreibt der funktionale Managementbegriff die Tätigkeit der Unternehmensführung bzw. -steuerungFootnote 531, während der institutionelle Begriff auf die soziale Entität bzw. das organisationale Subsystem rekurriert, welche diese Funktion dominant institutionalisiert bzw. professionalisiert ausübt.Footnote 532

Hinsichtlich der Funktion des Managements hat die Literatur eine Vielzahl von Systematisierungen erarbeitet.Footnote 533 Diese reichen von einer verbreiteten Aufgabendifferenzierung nach dem klassischen „Fünferkanon“ des prévoir, organiser, commander, coordonner, contrôler bei FayolFootnote 534, planning, organizing, staffing, leading und controlling bei Koontz, ODonnell und WeihrichFootnote 535 sowie das POSDCORB-Konzept von Gulick, welches die vorigen Systematiken um die Funktion des Reportings sowie der Budgetierung erweitert.Footnote 536 Daneben findet sich in der Literatur auch vielfach eine hierarchische Differenzierung der Managementfunktionen, wobei sich die Managementfunktionsebene jeweils auf die organisationale bzw. unternehmerische Zielebene bezieht, ist das Management doch wie gezeigt mit der Ausbalancierung und Erreichung von unternehmerischen Zielen befasst.Footnote 537 Die klassische Betriebswirtschaftslehre differenziert nun analog zu den Ausführungen zum Zielbegriff wiederum zwischen einem übergeordneten strategischen und untergeordneten operativen Management.Footnote 538 Anknüpfend an die vorigen Überlegungen kann dabei festgestellt werden, dass das strategische Management mit der Zielerreichung auf strategischer Ebene und damit im Kern mit der Schaffung unternehmerischer Wertschöpfungspotentiale befasst ist. Das operative Management wiederum knüpft hieran an und befasst sich mit der Realisierung operativer Zielsetzungen, d. h. der effizienten wie effektiven Nutzung von Erfolgs- bzw. Wertschöpfungspotentialen zur Erzielung unternehmerischen Erfolgs (Wertschöpfung). Eine solche Zweiteilung, obschon nach wie vor terminologisch verbreitet, erscheint jedoch als zu restriktiv. So würde in Bezug auf das zuvor aufgezeigte dreistufige Zielsystem ein rein strategisch-operatives Management zum einen die normativen Grundlagen des Handelns vernachlässigen, zum anderen gilt für die freiheitliche Gesellschaft, wie auch einleitend herausgearbeitet wurde, dass noch nicht jedes strategische wie auch operative Handeln bereits selbstverständlich gesellschaftlich hinreichend begründet ist. Diese Überlegungen führten insbesondere die St. Galler Schule zur Notwendigkeit der Konzeption eines eigenständigen normativen Managements, welches die strategische und operative Ebene in einen normativen Rahmen einbettet,Footnote 539 allerdings jedoch ohne dieses zur Begründung von Unternehmensethik fruchtbar zu machen. Die verstärkte konzeptionelle Ausarbeitung einer strukturierten normativen Reflexion unternehmerischen Handelns als genuine Unternehmensethik erscheint gerade vor dem immer noch vorherrschenden betriebswirtschaftlichen Fokus auf strategische wie auch operative Fragestellungen in der Forschung, aber auch der unternehmerischen Praxis, welche normativen Fragestellungen ebenfalls häufig noch skeptisch gegenübertritt, hochrelevant. So wird die Beschäftigung mit normativen Problemstellungen vielfach noch als „‚schöne Idee‘, ‚Kuschelkapitalismus‘, ‚Sozialromantik‘ oder ‚Thema für Sonntagspredigten angesehen, das mit der ‚harten unternehmerischen Realität‘ wenig zu tun habe.“Footnote 540 Die normative Geschäftsgrundlage der unternehmerischen Tätigkeit wird damit nach wie vor häufig konzeptionell aber auch praktisch vernachlässigt.

Dabei ist zu betonen, dass sich ein solches normatives Management gerade nicht in einem reinen ComplianceansatzFootnote 541 erschöpfen darf, sind doch die rechtliche und moralische Sphäre (trotz Überschneidungen) i. d. R. nicht vollständig deckungsgleich.Footnote 542 So laufen auch Vorschläge des reinen Compliance-Managements in die Leere, werden nicht noch zusätzlich die gesellschaftlichen Moralvorstellungen in unternehmerischen Entscheidungen und Handlungen integriert. Es sei daher nochmals betont: „Compliance is not enough!“Footnote 543 Auch Shamoo und Resnik heben in diesem Sinne hervor: „However, from an ethical point of view, mere compliance is not enough: one must go beyond compliance. Focusing on compliance is a minimalist approach to ethics.“Footnote 544 In ähnlicher Weise betonen Kayes, Stirling und Nielsen: „Ethical lapses by employees can put organizations at substantial risk. Although improved compliance procedures can help limit this risk, successful efforts must extend beyond compliance […].“Footnote 545 Ebenso resümieren Schaffer, Agusti und Dhooge: „[T]he law is a floor above which our ethical conduct should rise.“Footnote 546 Analog konstatieren auch Freeman, Harrison und Wicks: „Many companies simply don’t go far enough when they articulate their ethics policies in terms of compliance with a set of regulations or a code of conduct […].“Footnote 547 Schließlich stellen ebenfalls Pies, Hielscher und Beckmann fest, dass sich die „gesellschaftliche Akzeptanz [..] zunehmend als Engpass [erweist] […], denn längst schon wird nicht mehr alles, was legal ist, auch als legitim anerkannt.“Footnote 548 Folglich muss das normative Management insbesondere auch beruhend auf gesellschaftlich anerkannten, guten GründenFootnote 549 die gewählten Strategien und operativen Entscheidungen bzw. Handlungen überzeugend begründen können, welches somit aus ethischer Perspektive zum Kern dieser Managementfunktion erklärt werden kann. So stellt auch Rüegg-Stürm in Bezug auf die Stakeholderansprüche fest, dass diese „einer respektvollen Würdigung und einer sorgfältigen argumentativen Abwägung [bedürfen] [.] und die getroffene Entscheidung [.] schliesslich nachvollziehbar zu begründen (Legitimierung) [ist].“Footnote 550

Die vorausgegangenen grundlegenden funktionalen Managementüberlegungen können nun wiederum mit dem institutionellen Managementbegriff in Verbindung gebracht werden. Dabei gilt in einem ersten Schritt, dass aus institutioneller Perspektive prinzipiell zwar jede Managementebene zu einem gewissen Grad mit normativen, strategischen und operativen Entscheidungen befasst ist.Footnote 551 Allerdings kann, wie auch die betriebliche Praxis zeigt, durchaus eine schwerpunktmäßige Zuordnung der Tätigkeiten vorgenommen werden. So werden normative und eher langfristige bzw. weniger konkretisierte Entscheidungen in der Regel vom Topmanagement getroffen, welches auch als „Corporate Figurehead“ nach außen wie innen das Unternehmen maßgeblich repräsentiert bzw. der zentrale Adressat für die normative Rahmengestaltung im Unternehmen darstellt. Das mittlere Management nimmt dagegen regelmäßig vornehmlich Aufgaben und Entscheidungen mittlerer Reichweite und Konkretisiertheit sowie mit strategischem Bezug wahr, während das untere Management eher mit sehr konkreten bzw. operativen Entscheidungen betraut ist. Diese Zusammenhänge fasst die nachfolgende Abbildung 4.16 zusammen.

Abbildung 4.16
figure 16

Zusammenführung von funktionaler und institutioneller Managementebene sowie zeitlicher Bezug

Die bisherigen Ausführungen dieses Kapitels können nun nochmals subsumierend in der folgenden Tabelle 4.4 dargestellt werden, welche neben der jeweiligen Managementfunktion die korrespondierende institutionelle Managementebene, die dominante unternehmerische Zielebene sowie die hieraus primär abgeleiteten Ansprüche umfasst. Dabei könnte darüber hinaus und in Anlehnung an die bekannte Klassifikation der St. Galler SchuleFootnote 552 die normative Ebene auch als Begründungsebene, die strategische Ebene als Gestaltungsebene und die operative Ebene als Nutzungsebene der unternehmerischen Wertschöpfungspotentiale bezeichnet werden.

Tabelle 4.4 Synopse von unternehmerischer Managementfunktion, -institution und den korrespondierenden Zielen und Ansprüchen

Die vorausgegangenen Überlegungen haben sowohl in Bezug auf das unternehmerische Zielsystem wie auch im Managementkontext die Bedeutung einer kritischen normativen Reflexion aufgezeigt. Diese werden im Weiteren explizit zur Begründung einer Unternehmensethik herangezogen. Es gilt folglich: Unternehmensethik (im praktischen Sinne) dient als normatives Management (funktional) der Sicherstellung einer jederzeit hinreichenden gesellschaftlichen Legitimität als Grundvoraussetzung dauerhaft erfolgreichen unternehmerischen Handelns und bedarf der Institutionalisierung sowie der systematischen Methoden.

Der Begriff der Legitimität steht damit im Zentrum der unternehmensethischen Konzeption dieser Arbeit. Jedoch zeigt auch dieser eine große Bandbreite an begrifflicher Ausdeutung, weshalb der Legitimitätsbegriff im nachfolgenden Kapitel nochmals detaillierter konzeptionell eruiert und für die weiteren Ausführungen dieser Arbeit fruchtbar gemacht wird.

4.4.2 Zum Begriff der Legitimität und deren Implikationen für das normative Management

Befasst man sich näher mit der Historie des Wortes Legitimität, so zeigt sich interessanterweise mit dem Ursprung im lateinischen „lex“ bzw. „legis“ zuerst eine gewisse Nähe zum Terminus der Legalität, welcher etymologisch eine vergleichbare Wurzel aufweist.Footnote 553 Inhaltlich kann jedoch klar festgestellt werden, dass beide Konzepte deutlich unterschiedliche Konstrukte repräsentieren. So stellt auch Göbel pointiert fest: „Legalität und Legitimität sind [.] nicht deckungsgleich.“Footnote 554 Auch nach Boulding gilt in diesem Sinne: „The two concepts are not the same.“Footnote 555 Während Legalität das Konstrukt der rechtlichen Sphäre beschreibt, referenziert der Begriff der Legitimität im wirtschaftsethischen SinneFootnote 556 auf die Moral. Da, wie gezeigt wurde, Recht und Moral im besten Falle überlappen, jedoch nicht identisch sindFootnote 557, ergibt sich vor dem Hintergrund des Nichtausreichens einer legalistischen Betrachtung auch hier nochmals die Relevanz einer klaren begrifflichen Differenzierung.Footnote 558

Wissenschaftshistorisch wird dabei der erste explizit wissenschaftliche Gebrauch des Legitimitätsbegriffs häufig Max Weber zugeschriebenFootnote 559, welcher den Begriff in seinem Werk „Wirtschaft und Gesellschaft“ zur Analyse der Anerkennung von Herrschaftsordnungen gebrauchte, wobei er jedoch keine detaillierte Definition des Begriffs vornahm. Vielmehr untersuchte er, basierend auf einem eher intuitiv vorausgesetzten BegriffsverständnisFootnote 560, ein soziales Handeln, welches an einer „legitimen OrdnungFootnote 561 orientiert ist, welchem er wiederum die größte Stabilität bzw. Verbindlichkeit zurechnete.Footnote 562 An diese grundlegenden Überlegungen Webers schlossen sich in der sozialwissenschaftlichen Forschung nun einige Autoren, wie z. B. ParsonsFootnote 563, an, welcher zu den ersten Autoren zählt, die nun auch eine explizite Definition des Begriffs vorgenommen haben. Neben anderen Autoren wie BouldingFootnote 564 hat dann auch Parsons Schüler LuhmannFootnote 565 den Legitimitätsbegriff definiert und in seinen Werken gebraucht. Interessanterweise lässt sich im modernen Schrifttum gerade auch in der politikwissenschaftlichen Forschung mittlerweile eine starke Rezeption des Legitimitätsbegriffs konstatieren.Footnote 566 Darüber hinaus existiert auch seit Ende der 1970er Jahren im angelsächsischen Raum ein Transfer der Überlegungen auf die organisationale Ebene, welches mit dem Begriff des Neoinstitutionalismus korrespondiert.Footnote 567 Mit dem Entstehen der St. Galler Schule hat schließlich als jüngste Entwicklung der Begriff der Legitimität auch zunehmend Einzug in das deutschsprachige betriebswirtschaftliche sowie insbesondere wirtschaftsethische Schrifttum genommen, womit sich der Fokus von der Begründetheit gesellschaftlicher Herrschaftsstrukturen auf die gesellschaftliche Anerkennung von Betrieben als legitimierungsbedürftigen Einheiten verschiebt.Footnote 568

Zur näheren inhaltlichen Bestimmung des Legitimitätsbegriffs hat die Forschung insbesondere ab den 1970er Jahren eine Fülle an Definitionsvorschlägen erarbeitet. Neben den soziologischen Überlegungen von Parsons, Berger und LuckmannFootnote 569 sowie Luhmann findet sich so z. B. bei Maurer die Auffassung von Legitimität als organisationalem „right to exist“Footnote 570. Dowling und Pfeffer definierten dabei wenig später Legitimität als „congruence between the social values associated with or implied by [organizational] activities and the norms of acceptable behavior in the larger social system of which they are a part.“Footnote 571 Ähnlich erachtet auch Richardson Legitimität als „a quality of congruence between acts and social values.“Footnote 572 Ashforth und Gibbs wiederum referieren hinsichtlich des Status einer legitimierten Einheit auf „the extend that its means and ends appear to conform with social norms, values, and expectations.“Footnote 573 Mitte der 1990er Jahre entwickelte schließlich Suchman einen Vorschlag, welcher bis heute, trotz aller Kritik und Weiterentwicklung in Bezug auf zunehmend komplexere und tendenziell enumerative AnsätzeFootnote 574 als Standarddefinition der Legitimität gelten kann.Footnote 575 In diesem Sinne definiert Suchman Legitimität als eine „generalized perception or assumption that the actions of an entity are desirable, proper, or appropriate within some socially constructed system of norms, values, beliefs, and definitions.“Footnote 576 Einen Überblick über existierende Legitimitätsdefinitionen gibt auch nochmals die nachfolgende Tabelle 4.5.

Tabelle 4.5 Überblick über existierende Legitimitätsdefinitionen

Den meisten Definitionen ist dabei, neben kleineren Unterschieden, der Korrespondenzgedanke von Handlungen oder Konsequenzen mit gesellschaftlich existierenden Werten gemein, weshalb diese Ansätze klar als empirisch ausgerichtet aufgefasst werden können und folglich auf einem deskriptiv-ethischen Fundament aufbauen. Neben diesem nach wie vor vorherrschenden, deskriptiven bzw. empirischen Ansatz haben neuerdings, basierend auf den Überlegungen von FoldvaryFootnote 577 sowie Baur und PalazzoFootnote 578, Melé und Armengou ein Legitimitätskonzept vorgeschlagenFootnote 579, welches nicht mit dem faktisch vorherrschenden Moralbestand beginnt, sondern auf ethischen Prinzipien beruht und klar einer ethisch-normativen Auffassung folgt.Footnote 580 Die vorausgegangenen Überlegungen können dabei auch als fruchtbares Fundament der Unternehmensethikkonzeption dieser Arbeit herangezogen werden. So folgt, wie im Weiteren noch ausgeführt wird, die Arbeit zwar grundsätzlich der empirischen Auffassung Suchmans im Sinne eines deskriptiv-ethischen bzw. moralbasierten Fundaments der Legitimität, wird jedoch im Rahmen eines zweistufigen Ansatzes zusätzlich neben einer kritisch-deskriptiven Perspektive auch die Möglichkeit einer ethisch-normativen Evaluation der faktisch herrschenden Legitimitätsnormen offerieren.Footnote 581

Darüber hinaus hat die Literatur insbesondere seit Mitte der 1990er Jahre mit dem Beitrag von Aldrich und Fiol noch weitere Systematisierungsansätze hervorgebracht, welche sich auf eine genauere Spezifikation der Legitimität als multidimensionales Konzept fokussieren. So unterscheiden Aldrich und Fiol eine kognitive und eine soziopolitische Dimension der Legitimität, wobei die erstere auf das Verständnis z. B. gegenüber einem Produkt oder einer Handlung abzielt (im Extremfall: „Selbstverständlichkeit“ als Legitimierungsbasis), während letztere die gesellschaftlichen Basiswerte repräsentieren, wie sie auch von zentralen, einflussreichen Stakeholdern bzw. Stakeholdergruppen vertreten werden.Footnote 582 Hieran anknüpfend hat sich eine Vielzahl an konzeptionellen Erweiterungen und Abänderungen entwickelt. So unterscheidet die ebenfalls häufig aufgegriffene Systematik nach Suchman neben der kognitiven Komponente der Legitimität auch eine pragmatische und moralische Form, wobei die pragmatische Legitimität durch Eigennutzüberlegungen fundiert sei (z. B. Nützlichkeit eines Unternehmens), während die moralische Ausprägung eine allgemeine normative Zustimmung repräsentiere. Die kognitive Komponente wird von Suchman dann wiederum im Sinne von selbstverständlichen Werten gedeutet, wobei sich zwischen den drei Legitimitätstypen ein absteigendes Maß an organisationaler Beeinflussbarkeit ergibt, welches wiederum invers hierzu mit einer größeren Stabilität dieser Legitimitätsauffassungen korrespondiere.Footnote 583 In weiteren darauffolgenden Veröffentlichungen zeigt sich im Detail jedoch ein heterogenes Bild.Footnote 584 So differenzieren z. B. Foreman und WhettenFootnote 585 lediglich eine kognitive und pragmatische Dimension, während Golant und SillinceFootnote 586 eine kognitive und evaluative Legitimität unterscheiden und Kostova und RothFootnote 587 eine interne und externe Dimension.Footnote 588 Ruef und Scott differenzieren wiederum einerseits die soziopolitische Dimension nochmals in eine normative und regulative KomponenteFootnote 589 und stellen diese der kognitiven Legitimität gegenüber, andererseits unterscheiden sie auch zwischen technischer und managementbezogener Legitimität.Footnote 590 Ähnlich konzipieren auch Zimmerman und Zeitz Legitimität in einer kognitiven, soziopolitisch normativen sowie soziopolitisch regulativen Dimension.Footnote 591 Darüber hinaus findet sich bei Deephouse et al. auch eine viergliedrige Taxonomie in regulatorische, pragmatische, normative sowie kulturell-kognitive Legitimität.Footnote 592 Schließlich existieren sogar noch deutlich feiner differenzierte Konzeptionen, so z. B. bei Beaulieu und Pasquero, die eine legale, identitätsbezogene, moralische, technische, institutionelle sowie wahrnehmungsbezogene Legitimität unterscheiden.Footnote 593 Einen Überblick gibt nochmals die nachfolgende Tabelle 4.6.

Tabelle 4.6 Überblick über existierende Systematiken zu Legitimitätsformen

Insgesamt kann somit auch hinsichtlich der feineren Aufgliederung der Legitimität eine große Heterogenität der taxonomischen Vorschläge konstatiert werden, welche zudem trotz ähnlicher Terminologien wiederum im Detail begrifflich-inhaltlich differieren. So resümiert auch Stelzer: „Die Existenz verschiedener Formen von Legitimität steht somit außer Frage, die Anzahl und Benennung dieser bleibt jedoch unklar.“Footnote 594 Darüber hinaus erscheint konzeptionell aber auch die Begriffssystematisierung vielfach eher intuitiv bzw. weniger systematisch gestaltet und inhaltlich zeigen sich (auch innerhalb der Systematiken) einige Überlappungen, z. B. bei der kognitiven vs. evaluativen Legitimitätssystematisierung. Des Weiteren erscheint aber auch begriffssystematisch die teilweise vorgenommene Integration von allgemeinen Regulierungsaspekten in einigen Konzeptionen problematisch, berührt dies doch eher die rechtliche Sphäre. Die vielfach aufgegriffene Dreiteilung in pragmatische, moralische sowie kognitive Legitimität von Suchman könnte dabei zwar möglicherweise mit den Begriffen Eigennutz, Moral und Ethos (im obigen Sinne) verknüpft werden. Allerdings zeigen sich auch hier einige kritische Aspekte. So ist zum einen auch bei Suchman die Terminologie eher unsystematisch gesetzt. Zudem ist bereits die Bezeichnung als „pragmatisch“ potentiell irreführend, da Legitimitätsevaluationen im Kern auf gesellschaftlichen Moralvorstellungen beruhen, so dass letztlich alle Legitimitätskonzepte von der Moral ausgehen müssenFootnote 595, bzw. die Bezeichnung als „moralische Legitimität“ wiederum redundant wäre. Der Begriffsinhalt der kognitiven Legitimität ist zwar konzeptionell interessant, da er auf verinnerlichte Werte und damit auf das Ethos bezogen werden könnte. Allerdings ist auch dieser Begriff zum einen (zumindest aus kognitionspsychologischer Perspektive) wiederum irreführend, da gerade keine Reflexion von Werten vorgenommen wird, zum anderen sind für die weiteren Ausführungen vor allem übergreifende bzw. aggregierte Werte von BedeutungFootnote 596, weshalb auch hier die Moral als Grundbegriff im Fokus steht. Auch die partikular-individualistische Begründung von Legitimität im Sinne der „pragmatischen“ Legitimität erscheint problematisch, insofern diese nicht wiederum doch auf gesellschaftlicher Ebene legitimiert, d. h. moralisch, ist. Ähnlich stellen auch ODwyer, Owen und Unerman fest: „Attaining pragmatic legitimacy is the first step in ensuring the long term prosperity of a practice. However, a failure to attain moral legitimacy can potentially undermine the preservation of any secured pragmatic legitimacy.“Footnote 597 Darüber hinaus wird das dreistufige Konzept Suchmans auch von Palazzo und Scherer kritisch evaluiert. So würden früher unkritisch akzeptierte Hintergrundannahmen (wie die Shareholder Value-Doktrin) immer häufiger hinterfragt, während eine rein individuell wie kollektiv vorteilsbegründete („pragmatische“) Legitimität auf zunehmend gesellschaftlichen Widerstand stoße, woraus die Autoren auch die steigende Bedeutung der „moralischen“ Legitimität als unternehmerische Legitimierungsbasis herausarbeiten.Footnote 598

Überdies werden jedoch auch in den vorigen Systematisierungsansätzen vielfach die zugrunde liegenden Werte und das Bewusstsein dieser Werte („Wertewissen“) kategorial vermischt. Will man nach dem Inhalt des Legitimitätsbegriffs nochmals näher und systematischer differenzieren, so erscheint eher ein Ansatz sinnvoll, welcher Legitimität in zwei Dimensionen differenziert: erstens nach dem Werteinhalt und zweitens nach der Bewusstheit der Repräsentation. Mithilfe eines solchen Ansatzes könnten die bisherigen Differenzierungen integriert werden. So steht z. B. außer Frage, dass der Moralinhalt nicht zwingend nur auf Pflichten gegenüber anderen rekurriert, wie die obigen Systematiken oftmals unterstellen, sondern durchaus auch z. B. berechtigte, d. h. gesellschaftlich legitime Eigeninteressen, -anliegen etc. enthalten (z. B. ein fair bepreistes Produkt mit guter Qualität zu erhalten), wodurch die zuvor als „moralisch/normativ“ und „pragmatisch“ bezeichnete Legitimitätskonzeption integriert wäre. Im zweiten Schritt kann nun differenziert werden, wie konkret diese Ansprüche mental repräsentiert sind. Dabei wurde schon zuvor herausgearbeitet, dass Ansprüche nicht nur konkrete Forderungen beinhalten, sondern auch z. B. abstrakte, weniger konkretisierte und oftmals weniger bewusste Interessen. Hiermit lässt sich auch der intensiv geführte Diskurs hinsichtlich der „kognitiven Legitimität“ integrieren. Zudem gilt, dass Bewertungen sowohl von internen als auch externen Stakeholdern durchgeführt werden könnenFootnote 599, wobei es insgesamt stets auf den aggregierten Effekt auf gesellschaftlicher Ebene ankommt, weshalb hier nochmals die Verknüpfung zum Begriff der Moral hervorgehoben sei.Footnote 600 In diesem Sinne stellt auch Stelzer fest, „dass es sich bei Legitimität um eine generalisierte Wahrnehmung handelt.“Footnote 601 Die Differenzierung zwischen technischer und managementbezogener Legitimität kann wiederum herangezogen werden, um im Kontext dieser Arbeit nochmals herauszustellen, dass nicht nur das soziale System, sondern das gesamte sozio-technische System „Unternehmen“ einer Legitimitätsbewertung unterzogen wird. Weitere Systematisierungen, wie z. B. hinsichtlich einer legal fundierten Legitimität, sind schließlich eher unpassend, da diese keine saubere Abgrenzung zur rechtlichen Dimension vornehmen oder einen anderen, moralisch/rechtlich undifferenzierten Legitimitätsbegriff voraussetzen würden.

Eine weitere in der Literatur diskutierte Fragestellung befasst sich darüber hinaus mit der Konzeption des Ausmaßes an Legitimität und im Spezifischen, inwiefern Legitimität nur im binären oder vielmehr im gradualistischen Sinne gedacht werden sollte. So fassen z. B. auch in einem früheren Beitrag Deephouse und Suchman Legitimität noch klar als dichotome Variable auf.Footnote 602 In diesem Sinne gilt: „[A]n organization is either legitimate or illegitimate.“Footnote 603 Diese Auffassung haben jedoch beide Autoren in einem späteren Beitrag wieder zugunsten einer ordinalen bzw. viergestuften Legitimitätsauffassung aufgegeben.Footnote 604 Eine Vier- bzw. Mehrfachstufung, wenngleich mit anderen konzeptionellen Überlegungen, nehmen auch Boutilier und Thomson vorFootnote 605, wobei im Rahmen dieser Arbeit ein auf diesen Überlegungen aufbauender, aber explizit gradueller Ansatz gewählt sei. So erscheint es klar, dass Legitimität stets in einem gradualistischen Sinne mehr oder minder vorhanden ist, unbeschadet der Feststellung, dass diese graduelle Ausprägung nochmals konzeptionell in Subklassen unterteilt werden kann.Footnote 606 In diesem Zusammenhang kann mit Boxenbaum konstatiert werden: „An [organization] is not simply legitimate or illegitimate; it can be slightly legitimate, somewhat legitimate, or highly legitimate.“Footnote 607 Es gilt folglich: „[L]egitimacy [is] a continuous construct […].“Footnote 608 Ebenso resümiert Hassoun: „Legitimacy […] comes in degrees.“Footnote 609 Auch Reinecke, van Bommel und Spicer definieren demgemäß „legitimacy in continuous rather that in binary terms.“Footnote 610 Intendiert man im Kontext der Legitimität eine binäre Klassifikation, so scheint eine solche Größe vielmehr die soziale „licence to operate“ zu repräsentieren, welche entweder vorhanden oder durch die Gesellschaft entzogen worden sein kann.Footnote 611

Damit sei herausgestellt, dass für die weiteren Ausführungen nicht davon ausgegangen wird, dass Legitimität lediglich binär als vorhanden oder nicht vorhanden aufgefasst werden kann. Folglich herrscht stets ein mehr oder minder großes Maß an gesellschaftlicher Legitimität des Unternehmens vor, wobei für das normative Management der existenzgefährdende Bereich, in welchem der Entzug der sozialen „licence to operateFootnote 612 drohtFootnote 613, in jedem Falle zu vermeiden ist. Dabei kann jedoch auch ein größeres Maß an Legitimität sinnvoll sein, da dieses dann als Puffer fungiert, welcher das Unternehmen im Falle von Fehlentscheidungen in seiner Existenz schützen kann. In diesem Sinne gilt folglich: „[L]egitimacy insulates the organization from external pressures […].“Footnote 614

Das normative Management ist folglich damit beauftragt, dafür zu sorgen, dass stets ein genügendes Maß an gesellschaftlicher Legitimität vorhanden ist und hat Maßnahmen zu ergreifen, um dieses aufzubauen bzw. zu erhalten.Footnote 615 Die Bedeutung eines stets ausreichenden Maßes an Legitimität als zentrale Vorbedingung einer dauerhaften Existenzsicherung sowie des langfristigen Erfolgs eines Unternehmens wird vielfach in der Literatur hervorgehoben. In diesem Sinne sei nochmals betont, dass die Tätigkeit des Aufbaus und Erhalts von Legitimität gerade nicht rein appellativ bzw. als idealistischer Gedanke aufzufassen, sondern von existentieller Relevanz für den dauerhaften Unternehmenserfolg ist. So stellen auch Demuijnck und Fasterling fest: „It has been underlined by many authors that […] organizationalFootnote 616 legitimacy, is not only important as a moral ideal, but also for the survival of corporations. This implies that it can be worthwhile for an organization to take care of its legitimacy – there may be an interest for an organization to enhance its legitimacy.“Footnote 617 Ähnlich resümieren auch Johnson und Holub: „Legitimacy theory is based on the idea that in order to continue operating successfully, organizations must act in a way that is socially acceptable to society.“Footnote 618 Ebenso hebt auch Zyglidopoulos hervor: „It is important for business organizations to acquire and maintain organizational legitimacy because […] this increases the firm’s chances of acquiring from its environment the resources that it needs to survive.“Footnote 619 Analog stellen auch Zimmerman und Zeitz fest: „Survival is the most frequently recognized effect of legitimacy.“Footnote 620 Schließlich betonen auch Palazzo und Scherer die Notwendigkeit „that business firms today must reconsider their policies to maintain and reproduce legitimacy.“Footnote 621 Diese zentralen Überlegungen visualisiert nochmals die nachfolgende Abbildung 4.17.

Abbildung 4.17
figure 17

Normatives Management als gradualistisch orientiertes LegitimitätsmanagementFootnote

In Anlehnung an Lingnau, V. / Fuchs, F. (2019), S. 246. Die Bedeutung von Vertrauen in die Redlichkeit des Unternehmertums kann auch mit einem klassischen, ursprünglich politikphilosophischen, Zitat von Albert Schweitzer herausgestellt werden, welcher konstatiert: „Vertrauen ist für alle Unternehmungen das große Betriebskapital, ohne welches kein nützliches Werk auskommen kann. Es schafft auf allen Gebieten die Bedingungen gedeihlichen Geschehens.“ (Schweitzer, A. (2013), S. 128).

Hinsichtlich der Tätigkeit des normativen Managements ergibt sich abschließend noch eine kurze Diskussion der Begriffe Legitimität, Legitimation und Legitimierung. Während für den Begriff der Legitimität ein Gebrauch im Sinne einer legitimierten Einheit, d. h. eines Zustandes, weitgehend unstrittig ist sowie mit dem Begriff der Legitimierung zumeist der Prozess bezeichnet wird, der diesen Zustand aufbaut bzw. erhältFootnote 623, gilt dies interessanterweise gerade für den verwandten Begriff der Legitimation nicht. So verwenden manche Autoren, wie z. B. Bleicher und Abegglen den Begriff im statusbezogenen Sinne, welche u. a. herausstellen, dass „die Unternehmung [.] im Zeitablauf ihre gesellschaftliche Legitimation“Footnote 624 verlieren könne. Die überwiegende Mehrheit gebraucht den Begriff jedoch prozessualFootnote 625, also synonym zum Begriff der Legitimierung.Footnote 626 So betont auch Bitektine: „Legitimacy as a property conferred on an organization by its audiences should be distinguished from legitimation, which emphasizes the process of social construction of legitimacy.“Footnote 627 Ebenso resümiert auch Maurer: „Legitimation is the process whereby an organization justifies to a peer or superordinate system its right to exist, that is, to continue to import, transform and export energy, material, or information.“Footnote 628 Dieser Auffassung soll auch im Rahmen dieser Arbeit gefolgt werden, wobei der Begriff der Legitimierung bevorzugt wird. In jedem Falle verdeutlichen die vorigen Überlegungen nochmals die Relevanz, dass stets begrifflich klar gekennzeichnet werden sollte, inwiefern der Prozess einer Legitimierung oder der normativ erwünschte Zustand der Legitimität gemeint ist.

Die vorausgegangenen Ausführungen können damit wie folgt zusammengefasst werden: Das normative Management hat aus ethischer PerspektiveFootnote 629 die Aufgabe, durch Legitimierung die Legitimität des Unternehmens aufzubauen bzw. zu erhalten, wobei im Kern die systematische Reflexion der an das Unternehmen gerichteten Ansprüche steht, sowie die Möglichkeit der jederzeit gesellschaftlich überzeugenden Begründung, ob und wie diese im unternehmerischen Zielsystem und konkreten Handlungen Berücksichtigung finden. Dabei handelt es sich bei der Legitimierung ersichtlicherweise nicht um einen einmaligen, sondern vielmehr einen kontinuierlichen ProzessFootnote 630, woraus die Notwendigkeit eines kontinuierlichen Legitimitätsmanagements folgt. So kann auch mit Edelstam konstatiert werden: „Legitimacy can never be taken for granted or conferred once and for all.“Footnote 631 Aus diesem Grunde befasst sich das nachfolgende Kapitel detaillierter mit dem Prozess der Legitimierung, wobei nochmals zwischen der organisationalen Motivation dieser Legitimierung und dem evaluierten sozio-technischen Gesamtsystem differenziert wird.

4.4.3 Prozess der Legitimierung

4.4.3.1 Relevanz aus neo-institutionalistischer Perspektive

Die Relevanz einer kontinuierlichen Legitimierung kann aus konzeptioneller Perspektive mit einer bestimmten Forschungstradition des sogenannten Neoinstitutionalismus verknüpft werden. So stellen Deephouse et al. fest: „Legitimacy is a fundamental concept of organizational institutionalism. It influences how organizations behave and has been shown to affect their performance and survival.“Footnote 632 Auch Koch resümiert in diesem Sinne: „Dem Neo-Institutionalismus folgend können Organisationen ihr Überleben dann sichern, wenn sie sich auf ihre Umwelt einstellen, um durch diese anerkannt und legitimiert zu werden.“Footnote 633 Ebenso konstatiert Miebach prägnant: „Die institutionellen Strukturen sichern das Überleben der Organisation […].“Footnote 634

Der Begriff des Neoinstitutionalismus bezeichnet dabei prinzipiell ein breites und relativ heterogenes Feld, wie in der Literatur häufig hervorgehoben wird. So stellen auch Scherm und Pietsch fest: „Der Neoinstitutionalismus bildet keine in sich geschlossene Theorie, sondern stellt eine Anhäufung sehr unterschiedlicher Sichtweisen dar […], die eng mit den verschiedenen Perspektiven wissenschaftlicher Disziplinen verknüpft sind.“Footnote 635 Aus diesem Grunde sei hier nur kurz auf den soziologischen Neoinstitutionalismus eingegangen, welcher heute „zu den bedeutendsten Ansätzen in den Sozialwissenschaften“Footnote 636 gehört. Der soziologische Neoinstitutionalismus greift hierbei im Kern die bereits existierenden grundlegenden institutionentheoretischen Überlegungen („alter Institutionalismus“) bei Weber, Durkheim, Selznick aber auch Parsons wieder auf und macht diese für die moderne organisationstheoretische Forschung fruchtbar.Footnote 637 Grundgedanke dieser insbesondere seit Ende der 1970er Jahren von Autoren wie Meyer und RowanFootnote 638, ZuckerFootnote 639 sowie DiMaggio und PowellFootnote 640 entwickelten konzeptionellen Überlegungen ist, dass Organisationen immer in bereits wertpräformierten Umwelten existieren, an welche sie sich im normativen Sinne anpassen müssen, um ihre Existenz zu sichern.Footnote 641 Reine Effizienzüberlegungen der ökonomischen Konzeptionen, welche in den Jahrzehnten zuvor einen dominierenden Einfluss ausübten, werden aus dieser Perspektive als nicht mehr ausreichend erachtet, um den organisationalen Bestand auf Dauer zu sichern. Vielmehr muss hierzu auch die Legitimität der organisationalen Strukturen und Handlungen treten, welche sich an gesellschaftlichen Werten, d. h. der Moral, orientieren.Footnote 642 Organisationen werden in dieser Hinsicht „stets innerhalb eines gesellschaftlichen Bezugssystems gesehen [.], welches gerade nicht ökonomistisch verengt operationalisiert wird.“Footnote 643 Der soziologische Neoinstitutionalismus versteht sich folglich auch als explizites „Gegenprojekt zu den institutionenökonomischen Ansätzen, d. h. konkret zum Transaktionskostenansatz und zur Agency-Theorie“Footnote 644 sowie zum klassischen Rational-Choice Paradigma.Footnote 645 Eine Konsequenz der Adaptionsnotwendigkeit an die normative Systemumwelt ist dabei das vielfach postulierte Konzept der Isomorphie, welches darauf hindeutet, dass diese Entitäten im Laufe ihrer Geschichte durch die vorherrschenden normativen Erwartungshaltungen geprägt werden und sich normativ-institutionell angleichen.Footnote 646 Hierauf aufbauend wird auch die Relevanz einer kontinuierlichen Legitimierung bzw. eines steten normativen Managements deutlich, da sich aggregierte Werthaltungen, wie diese die Moral repräsentiert, im Zeitablauf durchaus ändern können. Die Organisation muss folglich, bereits aus Eigeninteresse der Legitimitätssicherung, darauf achten, dass bspw. ihre Handlungen nicht den vorherrschenden gesellschaftlichen Werten widersprechen.

An der vorgestellten Auffassung wurde allerdings auch in der Literatur zum Teil die Kritik geübt, dass diese zu sehr passivistisch wäre, insofern die Organisation zum einen lediglich als mehr oder minder unbewusster Rezipient von äußeren Normen („Moral“) auftrete und zum anderen das instrumentelle Potential, d. h. die bewusste Nutzung von Legitimität als Ressource missachte.Footnote 647 Auf diesen Zusammenhang weist so z. B. auch eine existierende Forschungsrichtung der Legitimierung im Sinne der RessourcentheorieFootnote 648 hin, welche z. T. als „strategisches“Footnote 649 Konzept bezeichnet wird.Footnote 650 In diesem Sinne stellt „Legitimität eine Ressource [dar], die eine Organisation hervorrufen und entsprechend ihrer Ziele absichtlich, zielstrebig und kalkuliert einsetzen kann.“Footnote 651 Aus diesem Grunde ist der Erhalt der Legitimität zentral „to attract resources, potential partners, and opportunities for market growth and sustainable competitive advantage.“Footnote 652 Allerdings hat bereits Suchman in seinem klassischen Beitrag darauf hingewiesen, dass beide Ansätze keinen Widerspruch darstellen, sondern vielmehr als zwei Seiten der Legitimierungsbetrachtung aufgefasst werden können. So stellt Suchman fest: „To a large extent, of course, the distinction between strategic and institutional approaches is a matter of perspective, with strategic theorists adopting the viewpoint of organizational managers looking ‚out‘, whereas institutional theorists adopt the viewpoint of society looking ‚in‘ […]“Footnote 653, weshalb es wichtig sei, „to incorporate this duality into a larger picture that highlights both the ways in which legitimacy acts like a manipulable resource and the ways in which it acts like a taken-for-granted belief system […].“Footnote 654 Damit befasst sich die erste Perspektive mit dem real stattfindenden, existenznotwendigen Adaptionsprozess von gesellschaftlichen Normen, während die zweite Perspektive die motivationale Komponente der Relevanz des Legitimitätserhalts bzw. eines systematischen Legitimitätsmanagements aus organisationalem Eigeninteresse in den Fokus rückt. Darüber hinaus erscheint jedoch im Rahmen dieser Arbeit auch relevant, darauf hinzuweisen, dass gerade große Organisationen nicht nur Rezipienten moralischer Normen sind, sondern auch in gewissen Zügen Einfluss auf die gesellschaftlichen Wertvorstellungen nehmen. Folglich stellt sich der Prozess der Legitimierung zwar im Kern als Bezugnahme auf gesellschaftliche Werte dar, wobei allerdings über die Zeit hinweg auch der gestalterische Einfluss hinsichtlich dieser Werte konzeptionell nicht unterschlagen werden sollte.Footnote 655

4.4.3.2 Zentrale Dimensionen der Legitimitätsevaluation und deren Implikationen

Die bisherigen Ausführungen legten dabei durch die Fundierung des Legitimitätsprozesses auf Basis des Neoinstitutionalismus einen starken Fokus auf Organisationen bzw. soziale Systeme. Wie gezeigt wurde, sind Unternehmen sinnvollerweise allerdings vielmehr aus einem sozialen und technischen System bestehend zu konzipieren. Um den Prozess der Legitimierung nun genauer konzeptionell zu durchdringen, sei wieder an die grundlegenden Überlegungen des Abschnitts 4.3 angeknüpft. In diesem Zusammenhang wurde zuvor bereits herausgearbeitet, dass Unternehmen als sozio-technische Einheiten aus einem sozialen wie einem technischen Teilsystem bestehen, wobei das soziale System regelmäßig als institutionelle Organisation auftritt. Diese Überlegungen können nun mit dem Legitimitätsbegriff und insbesondere der prozessualen Dimension der Legitimierung in Verbindung gebracht werden. Dabei sei zuerst einmal festgestellt, dass Legitimität von den Stakeholdern (extern wie auch intern) mittels eines Evaluationsprozesses dem Gesamtsystem, d. h. dem Unternehmen zugeschriebenFootnote 656 wird. Demgegenüber weist die institutionelle Organisation (bzw. verallgemeinert: das soziale Subsystem) das Interesse auf, die Legitimität des Gesamtsystems zu erhalten, um ebenfalls seine eigene Existenz zu sichern, woraus die intrinsische Relevanz von Unternehmensethik bereits zuvor begründet wurde. Um den Aufbau und Erhalt von Legitimität im Rahmen eines strukturierten normativen Managements zu ermöglichen, ist jedoch noch ein genaueres Verständnis der Evaluationsdimensionen notwendig. Zur feineren Durchdringung dieser Evaluation durch die Stakeholder wird nun wiederum auf die oben ausgearbeitete klassische Dreiteilung der Ethik hinsichtlich Intentionen, Handlungen und Konsequenzen zurückgegriffen.Footnote 657 Diese Klassifikation kann dabei mit den Zielen, Handlungen sowie den Konsequenzen unternehmerischen Handelns in Verbindung gebracht werden und konstituieren zentrale Dimensionen der Legitimitätsevaluation. Vor diesem konzeptionellen Hintergrund ergeben sich für das normative Management folgende Implikationen:Footnote 658

Erstens ist dafür zu sorgen, dass alle legitimen Ansprüche der Stakeholder bei der Analyse des unternehmerischen Zielsystems reflektiert und – wo dies möglich ist – integriert werden, welches hinsichtlich der Definition der Ziele als erwünschte zukünftige Zustände analog zu den Intentionen des klassischen philosophischen SubjektsFootnote 659 gedacht werden kann. Zur Sicherstellung, dass legitime Ansprüche im unternehmerischen Zielsystem hinreichende Beachtung finden, ist, wo möglich, auf dialogische Prozesse zurückzugreifen. Die im Rahmen dieser Arbeit entwickelte Konzeption beruht damit, wie auch die Arbeiten von Steinmann und Löhr, im Kern auf einem diskursethischen Fundament. Der diskursive Kern der Konzeption kann wiederum mit dem bereits erörterten Begriff der Verantwortung in Verbindung gebracht werden, welcher als Teilbegriff das „Antworten“ bzw. zumindest die Fähigkeit, substantiiert Antworten zu können, umfasst.Footnote 660 So konstatiert auch Stelzer: „Die aktive Gestaltung organisationaler Legitimität […] ist als ein dialogischer Prozess zwischen einer Organisation und ihren Anspruchsgruppen zu konzeptualisieren.“Footnote 661 In diesem Sinne übernimmt das soziale System des Unternehmens Verantwortung, indem es legitime Ansprüche diskursiv prüft oder zumindest sich potentiell einem solchen Diskurs jederzeit überzeugendFootnote 662 stellen könnte. Denn in einigen Fällen ist ein regelmäßig real stattfindender Diskurs nicht möglich, so dass in diesem Falle pragmatisch eine introspektive Formulierung (interner Monolog)Footnote 663 unternehmerischer Ziele mit einer Antizipation bzw. Schätzung der existierenden Stakeholderansprüche stattfinden muss. Dies gilt z. B. für den Fall der Zeitknappheit bzw. bei Entscheidungsdruck, vielfach jedoch auch für Stakeholderansprüche, welche zwar latent existieren, aber nicht wirkmächtig artikuliert werden (können), so z. B. bei Individuen, deren Ansprüche (zumindest aktuell) nicht durch VereinigungenFootnote 664 vertreten werden oder diese selbst nicht wirkungsvoll zur Geltung bringen können. In diesem Sinne ist folglich nicht nur die gegenwärtig direkt oder indirekt diskursiv (oder auch konfrontativ!) aktive Stakeholderschaft zu beachten, welcher zumeist eine verstärkte Aufmerksamkeit zukommt, sondern auch „passive“ Stakeholder, die ihre Ansprüche gegenwärtig nicht oder zumindest nur indirekt artikulieren, insbesondere auch, weil diese Ansprüche von anderen Stakeholdern oder Anspruchsvertretern aufgegriffen und in den öffentlichen Diskurs eingebracht werden können. Grundaufgabe des normativen Managements ist es folglich, dafür Sorge zu tragen, dass möglichst alle legitimen Ansprüche im unternehmerischen Zielsystem Berücksichtigung finden. Dabei ist jedoch zu beachten, dass nicht davon ausgegangen werden kann, dass stets alle Stakeholderansprüche zueinander kompatibel sind, sondern i. d. R. immer auch gewisse Divergenzen bzw. ein gewisses Konfliktpotential aufweisen. Aus diesem Grunde existiert regelmäßig das Problem, dass nicht alle Ansprüche vollständig berücksichtigt werden können, auch wenn diese z. B. hinsichtlich Inhalt und Ausmaß prinzipiell gesellschaftlich wohlbegründet (d. h. legitimiert) sein mögen. In diesem Falle ist sicherzustellen, dass eine mögliche „Benachteiligung einzelner Stakeholder [..] auf Basis gesellschaftlich anerkannter Werte und Normen begründet“Footnote 665 wird, um die Legitimität des Unternehmens zu sichern.

Ist das unternehmerische Zielsystem prinzipiell legitimiert, so ist zweitens zu prüfen, inwiefern die Handlungen unter Nutzung legitimer Mittel die Umsetzung der zuvor definierten Ziele fördern. In diesem Sinne steht „die Erreichung des Wertschöpfungszwecks stets unter einer dreifachen Legitimitätsprämisse. So muss zum Erhalt der Legitimität dauerhaft mit legitimen Mitteln eine legitime Wertschöpfung für alle Stakeholder mit legitimen Ansprüchen geschaffen werden.“Footnote 666 Aus Sicht der Wirtschaftsethik der Schule um Homann und insbesondere auch Suchanek ist hierbei darauf zu achten, dass diejenigen Handlungen, welche im Einklang mit den legitimen Zielen des Unternehmens stehen, gefördert werden, worauf auch Peter Ulrich hinweist.Footnote 667 Darüber hinaus ist, wo eine formale Förderung der Unternehmensziele nicht möglich, sinnvoll oder gewünscht ist, auch darauf zu achten, dass zumindest keine Fehlanreize gesetzt werden. Komplementär hierzu erscheint auch die Verankerung in einer ethiksensitiven Unternehmenskultur als langfristige Gestaltungsmaßnahme im Sinne der kulturalistischen Unternehmensethik sinnvoll.Footnote 668

Schließlich ist dann drittens darauf zu achten, dass mittels einer regelmäßigen Ergebniskontrolle überprüft wird, dass die legitimen Zielsetzungen mittels legitimer Tätigkeiten des Unternehmens auch erreicht werden. Dies dürfte insbesondere bei Handlungen, welche besondere gesellschaftliche Gefahrenpotentiale induzieren (z. B. Hochrisikotechnologien im Bereich der Chemie, Medizin oder Kerntechnik) von großer Relevanz sein. Hierbei ist es folglich besonders wichtig, die Konsequenzen der unternehmerischen Tätigkeiten gründlich nachzuverfolgen und jederzeit überzeugend erklären zu können, wo das Unternehmen im Sinne der Controllability ggf. keine oder nur geringe Einflussmöglichkeiten hatte. Für beide Schritte ist dabei wiederum ein dialogischer Prozess vorzuziehen, welcher die betroffenen Stakeholder, soweit möglich, regelmäßig einbezieht.

Hinsichtlich eines vertieften Verständnisses des Evaluationsprozesses der Legitimität kann in diesem Rahmen wiederum auf das Modell von Tost rekurriert werden. Sie unterscheidet dabei insgesamt drei Phasen der Legitimitätsevaluation: erstens eine initiale Urteilsbildung („judgment formation“), zweitens die Urteilsanwendung („judgment use“) und drittens die Urteilsneubewertung („judgment reassessment“). In der Phase der Urteilsbildung hinsichtlich der Legitimität eines Unternehmens kann die Evaluierung sowohl passiv durch z. B. „Cues“ von Dritten, wie bspw. den Medien, übernommen, aber auch durch aktive Informationssuche entstehen. In diesem Sinne gilt folglich, dass ein „legitimacy judgment is formed either through an evaluative or passive judgment mode.“Footnote 669 Ähnlich resümieren auch Gehman, Lefsrud und Fast diese Überlegungen wie folgt: „Stakeholders’ legitimacy evaluation processes have been described as being an active judgment of the organization’s observable properties and behaviours or a passive judgement relying on cues from others (regulators, media, or other opinion shapers), with reassessment loops […].“Footnote 670 Somit ist sowohl die Eigendarstellung, aber auch das Bild, das Dritte über ein Unternehmen darlegen, von Bedeutung. Im zweiten Schritt ist ein Legitimitätsurteil über das zu bewertende Unternehmen gefunden und stabilisiert. Interessant erscheint dann konzeptionell insbesondere wieder der Schritt zwischen der zweiten und dritten Stufe, d. h. die Frage, wann eine Neubewertung der Legitimitätsevaluationen stattfindet. In diesem Zusammenhang stellt Tost drei Mechanismen („jolts“, „contradictions“ und „reflexivity“) heraus. Für ersteres gilt dabei prinzipiell, dass allgemeine gesellschaftliche oder technologische Umbrüche zu einer Veränderung der Legitimitätsevaluationen führen können. Gleiches gilt auch zweitens für potentiell widerstreitende Werte in der Gesellschaft oder auch schlichtweg drittens für spontane Reflexionen der Legitimität, welche bei Stakeholdern auftreten können.Footnote 671 Unbeschadet der Feststellung, dass die drei aufgezeigten Dimensionen kaum als konzeptionell unabhängig voneinander aufgefasst werden können, steht im Kern bei allen drei Konstrukten die Idee des „mental alarm“Footnote 672, welche wiederum für die weiteren Ausführungen genutzt werden kann. Die erörterten Zusammenhänge fasst nun nochmals die nachfolgende Abbildung 4.18 zusammen.Footnote 673

Abbildung 4.18
figure 18

Modell des kontinuierlichen Legitimierungsprozesses

Dabei können die Überlegungen von Tost in dem Sinne fruchtbar gemacht werden, dass Stakeholder folglich sowohl aktiv nach Informationen über die Legitimität der unternehmerischen Ziele, Handlungen sowie Erklärungen über deren Konsequenzen suchen oder generell auf eine „Alarmierung“ durch Dritte setzen können, woran sich dann ggf. wiederum eine aktive Informationssuche anschließt. Gerade letzteres Verhalten dürfte dabei i. d. R. vorherrschend sein. Neben einigen überaus aktiven Stakeholdern, welche sich engagiert mit dem Unternehmen befassen, dürfte die meist übergroße Zahl an Stakeholdern darauf vertrauen, dass viele (wenn auch nicht alleFootnote 674) Unternehmen prinzipiell legitimiert und relativ verantwortungsvoll geführt werden, da sonst Gegenteiliges über die Medien kommuniziert würde. Vor diesem Hintergrund sei hier auch nochmals die Relevanz der Berücksichtigung legitimer Ansprüche „stiller“ Stakeholder hervorgehoben. Prinzipiell erscheint es dabei vernünftig, davon auszugehen, dass vielen Unternehmen in grundsätzlich legitimen Tätigkeitsfeldern meist im passiven Sinne eine gewisse Grundlegitimität im Sinne eines gesellschaftlichen „goodwills“ bzw. Vertrauensvorschusses zukommt, welches im Sinne der Klassifikation von Boutilier und Thomson in etwa als „Akzeptanz“ bezeichnet werden könnte.Footnote 675 So stellen auch Deephouse et al. fest: „The overwhelming majority of organizations […] are legitimate. Most of the time, most stakeholders passively take most organizations for granted.“Footnote 676 Somit wäre in einem ersten Schritt folglich darauf zu achten, dass durch das Unternehmen keine Verletzungen der gesellschaftlich vorherrschenden Werte stattfinden, welche als Skandale in der Öffentlichkeit kritisch diskutiert werden könnten und das kognitive „Alarmsystem“ der Stakeholder aktivieren würden. Allerdings erscheint eine reine Akzeptanz noch zu gering, um die Legitimität des Unternehmens auf Dauer zu sichern. Folglich gilt auch: „Avoiding scandals is not enough!“ So ist das normative Management auch diskursiv gefordert, gerade bei Großunternehmen, nicht nur passivistisch auf eine Vermeidung von Skandalen zu fokussierenFootnote 677, sondern vielmehr auch darüber hinaus regelmäßig die Sinnhaftigkeit des unternehmerischen Tuns zu erklären, also folglich auch ein aktives Legitimitätsmanagement in der Öffentlichkeit zu betreibenFootnote 678, um den Puffer an Legitimität zu erhöhenFootnote 679 und das Unternehmen zu schützen. Dabei erscheint es jedoch wichtig, stets glaubhaft zu handeln und keine Maßnahmen zu ergreifen, welche durch kognitive Dissonanz bzw. Alarmierung („Argwohn“) bei den Stakeholdern gerade der Intention des Aufbaus und Erhalts der Legitimität zuwiderlaufen würde. In diesem Sinne betont auch Stelzer, dass „vor allem ein ‚zu starkes Aufbegehren‘ im Rahmen der Legitimierung negative Auswirkungen haben [kann].“Footnote 680 Dies erscheint insbesondere ex post bzw. nach dem Auftreten von Skandalen bzw. gesellschaftlichen Kontroversen bedeutsam, so dass hier überzeugend das Vertrauen zurückgewonnen werden muss.Footnote 681

Hinsichtlich eines aktiv-diskursiven Legitimitätsmanagements sei abschließend auch noch auf die vielfach diskutierte Differenz zwischen symbolischem und substanziellem Management eingegangen. So legen einige klassische Arbeiten im Rahmen des soziologischen Neoinstitutionalismus naheFootnote 682, dass es gar nicht so sehr auf substantielles Management, d. h. der genuinen bzw. ernsthaften Reflexion und Integration von legitimen Ansprüchen, ankäme, sondern vielmehr lediglich auf den „Schein“ der Legitimität gegenüber der Gesellschaft bzw. ggf. unwissenden Stakeholdern.Footnote 683 Dies stellen auch Ashforth und Gibbs wie folgt fest: „There are two general means by which organizations seek legitimacy: (1) substantive management, and (2) symbolic management […].“Footnote 684 Ein solch reines normatives impression managementFootnote 685 zur Errichtung einer „Legitimitätsfassade“Footnote 686 erscheint jedoch überaus kritisch zu evaluieren. So zeigte bspw. Grimes im Kontext von Verschwörungsmythen bzw. -erzählungenFootnote 687, dass die Geheimhaltung von Praktiken, in welchen eine Vielzahl von Individuen involviert ist, kaum auf die Dauer wahrscheinlich erscheint.Footnote 688 Damit kann jedoch im Transfer auf die „wahren“ unternehmerischen Ziele und Handlungen geschlussfolgert werden, dass in großen sozialen Systemen (wie gerade im Kontext von Großunternehmen!) problematische Zielsetzungen, Handlungen, aber auch deren Konsequenzen, kaum auf Dauer verheimlicht werden können.Footnote 689 Im Gegenteil ist damit zu rechnen, dass diese bereits nach kürzester Zeit publik werden, wodurch die Legitimität des Unternehmens erst recht gefährdet ist und auch hier wieder ein solches Konzept der eigentlichen Intention des Aufbaus und dem dauerhaften Erhalt der Legitimität zuwiderläuft. So stellen auch Boxenbaum und Jonsson fest: „Institutional decoupling carries with it a risk of detection where it would no longer confer legitimacy, but probably shame, on the organization.“Footnote 690

Gleiches gilt auch für einige weitere in der Literatur neben einer Adaption an gesellschaftliche Normen vorgeschlagene Handlungsalternativen. So stellt z. B. Suchman neben einer reinen Konformität auch die Alternativen der Selektion bestimmter zu adressierender Subgruppen der Gesellschaft sowie die Manipulation vor.Footnote 691 Beide letztgenannte Alternativen erscheinen für eine dauerhaft erfolgreiche Legitimierung jedoch weniger zielführend. Scheidet eine intendierte Manipulation bzw. Täuschung mit ähnlichen Argumenten wie beim Scheinmanagement spätestens durch die Diffusion dieser Intention an die Öffentlichkeit aus, so ist auch eine lediglich partielle gesellschaftliche Ansprache von Subgruppen kritisch, falls diese es versäumt, eine hinreichende Masse an Stakeholdern zu überzeugen. Als vierte viable Option könnte jedoch, auch der Bezeichnung nach zutreffender, eine wohlverstandene Mitbegründung neuer gesellschaftlicher Werte konzipiert werden, wie diese bei Zimmerman und Zeitz als Erweiterung der Überlegungen Suchmans vorgestellt wird.Footnote 692 So gestalten gerade große Unternehmen evident mit ihrer Existenz auch gesellschaftliche Werte mit bzw. prägen Lebensstile und Wertvorstellungen. Allerdings ist hier wiederum zu beachten, dass zum einen eine solche normative Mitgestaltung auf akzeptierten gesellschaftlichen Normen aufbaut und klar von intendierten Manipulationsversuchen ohne Bereitschaft der eigenen Adaption bzw. kritischen Reflexion abgegrenzt ist. Hier kommt es folglich wieder auf gute GründeFootnote 693 und eine überzeugende diskursive gesellschaftliche Beteiligung an. Zum anderen ist jedoch auch zu beachten, dass gesellschaftliche Werte sich meist eher mittel- bis langfristig ändern, so dass ein solcher Ansatz auch eher auf dieser Zeitskala als wirksam für das normative Management zu erachten wäre. Die vorausgegangenen Überlegungen subsumiert nochmals die nachfolgende Abbildung 4.19.

Abbildung 4.19
figure 19

Langfristiger Einfluss möglicher Legitimierungsmaßnahmen

Für einen dauerhaften Legitimierungserfolg sinnvoll kann somit zusammengefasst nur die Anpassung an bzw. Berücksichtigung von Werten sowie die diskursive Auseinandersetzung als normative (Mit-)Gestaltung erachtet werden, die mit guten Gründen überzeugend im gesellschaftlichen Diskurs tätig wird. Dauerhaft erfolgreiches normatives Management ist somit in jedem Falle als substantielles Management zu implementieren. Um ein solches normatives Management systematisch betreiben zu können, bedarf es jedoch wiederum der Instrumente, die ein strukturiertes und planmäßiges Vorgehen ermöglichen. Nachdem die Arbeit nun zuvor die konzeptionellen Grundlagen der Unternehmensethikkonzeption detailliert erarbeitet hat, fokussieren die Ausführungen im Weiteren auf die praktische Nutzbarkeit der zuvor gewonnenen Erkenntnisse im Sinne der Klassifikation nach Stokes. Dazu wird, wie bereits einleitend ausgeführt, im Weiteren mit dem Analytischen Framework ein Instrument entwickelt, welches das normative Management in der Praxis hinsichtlich eines strukturierten (bzw. planmäßigen!Footnote 694) Vorgehens im Rahmen der Funktion des Aufbaus und Erhalts der unternehmerischen Legitimität zu unterstützen vermag.

4.5 Das Analytische Framework als Instrument eines strukturierten Legitimitätsmanagements

4.5.1 Konzeptionelle Grundlagen des Frameworks

Wie bereits zuvor dargestellt wurde, findet sich eine praktisch orientierte Unternehmensethik, welche weniger streng konzeptionell, dafür jedoch eher in praktischen Problemfeldern tätig wird, vor allem im angelsächsischen Raum, in welchem auch einige Autoren s. g. ethical frameworks entworfen haben, die eine strukturierte, ethisch begründete bzw. reflektierte normative Argumentation unterstützen.Footnote 695 Im deutschsprachigen Raum stellen solche Ansätze jedoch nach wie vor eher eine Ausnahme dar. Eine dieser wenigen Ausnahmen repräsentiert das analytische Framework von Küpper, welches im Weiteren zum Ausgangspunkt des Entwurfes eines eigenen Ansatzes genommen wird. Als Vorteil der Konzeption Küppers kann dabei sicherlich zum einen die Praxisnähe sowie die Möglichkeit einer systematischen Reflexion ethischer Probleme hervorgehoben werden. Wie Küpper richtigerweise feststellt und bereits einführend dargestellt wurde, sind normative Fragen nicht letztbegründbar (s. g. Münchhausen-TrilemmaFootnote 696). In diesem Sinne scheint gerade für die BWL, mit ihrem historisch begründet, relativ kritischen Standpunkt zu ethisch-normativen Fragestellungen, ein analytischer Zugang fruchtbar. Hierbei geht es folglich nicht darum, normative Fragen für die Praxis letztklären oder appellativ argumentieren zu wollen, sondern der wissenschaftliche Anspruch besteht vielmehr darin, Instrumente zu entwickeln, mit welchen die Argumentation des normativen Managements systematisch unterstützt und damit die diskursive Transparenz und Präzision geschärft werden kann. Dabei muss im Ansatz von Küpper allerdings festgestellt werden, dass die von ihm fokussierten „ethischen Probleme“ noch relativ vage bleiben bzw. kaum spezifiziert werden und damit in ihrer Detektion weitestgehend der Intuition des Anwenders überlassen bleiben.Footnote 697

Aus diesem Grunde soll im Rahmen dieser Arbeit ein wesentlich fundamentalerer Zugang zu einem analytischen Framework gelegt werden, welches mit der systematischen und kritischen Analyse der Ansprüche der Stakeholder beginnt, mit dem Ziel, eine strukturierte, ausgewogene und überzeugende Begründung für das normative Management zu schaffen, mit welchem dieses transparent darlegen kann, welche Ansprüche in welchem Ausmaß erfüllt werden (können), um die Legitimität des Unternehmens zu sichern. Als konzeptionelle Grundlage kann dabei auf die Stakeholder Theory zurückgegriffen werden, welche insbesondere von Edward Freeman in den wissenschaftlichen Diskurs eingebracht wurde.Footnote 698 Grundgedanke dieses Ansatzes ist, dass Unternehmen einer Vielzahl von Anspruchsgruppen gegenüberstehen, welche die Unternehmensführung beachten sowie deren begründete Ansprüche substantiell wie überzeugend gegeneinander abwägen und soweit möglich integrieren muss, um das Unternehmen dauerhaft erfolgreich zu führen. Ein einseitiger Fokus auf bestimmte Stakeholdergruppen, wie z. B. die Eigenkapitalgeber, mit rein instrumenteller Betrachtung der anderen Stakeholdergruppen, wie dies z. B. die Shareholder Value-Theorie postuliert, wäre lediglich unter den Idealprämissen der traditionellen neoklassischen Theorie (vollkommene Märkte, vollständige Verträge etc.) plausibel und impliziert in realen Handlungskontexten die existenzielle Gefahr eines Legitimitätsverlustes.Footnote 699 Folglich hat die Unternehmensführung im Rahmen einer normativ reflektierten Stakeholder-Theorie alle legitimen Ansprüche der internen und externen Stakeholder zu berücksichtigen und diese auszubalancieren. So konstatiert auch Bemmels: „There is a long list of interest groups that exercise influence in the head offices and boardrooms of the world [..]. Employees and unions, customers and consumer advocates, bankers and creditors, environmentalists, governments and the public at large all have legitimate interests that you have to balance off against the shareholders’ desire to make money.“Footnote 700 Ebenso kann auch mit Campbell und Alexander festgestellt werden: „A company must give a stream of value to each stakeholder […]. If stakeholders do not perceive such value, they will redirect their loyalty, either gradually or precipitously.“Footnote 701 Die vorausgegangenen Überlegungen subsumiert nochmals die nachfolgende Abbildung 4.20.

Abbildung 4.20
figure 20

Überblick über die Anspruchsgruppen des UnternehmensFootnote

Vgl. grundlegend auch Freeman, R. E. (2010a), S. 25. Es sei angemerkt, dass auch das Management zu den internen Stakeholdern bzw. Mitarbeitern gehört. Aus Übersichtlichkeitsgründen wurde jedoch auf eine explizite Darstellung in der Abbildung verzichtet.

Dabei ist jedoch zu klären, welcher normative Maßstab bei der Evaluation der Stakeholderansprüche zugrunde zu legen ist. Wie die obigen Ausführungen aufzeigten, kann ein lediglicher Rekurs auf Rechtsnormen (Compliance-Management) als nicht hinreichend für ein normatives Management erachtet werden, um dauerhaft die Legitimität des Unternehmens zu sichern. Allerdings ist auch die konzeptionell bis heute dominierende rein faktisch-deskriptive Interpretation des Legitimitätsbegriffs nicht unumstritten geblieben, so dass für die Konzeption des Analytischen Frameworks auf eine zweistufige Legitimitätskonzeption zurückgegriffen wird. Die Relevanz eines solchen Konzepts kann auch nochmals mit den Überlegungen von Diehl fundiert werden, welcher feststellt: „Aktuellere Versuche, den Begriff der Legitimität zu präzisieren, zielen auf die Trennung zwischen deskriptiver und normativer Perspektive.“Footnote 703 Ein solch differenzierter Ansatz, welcher eine rein faktisch-deskriptive Legitimitätsanalyse mittels einer kritisch-deskriptiven, aber auch ggf. ethisch-normativen Reflexion weiterführt, wird im Folgenden vorgestellt.Footnote 704

4.5.2 Zweistufiges Konzept der Legitimitätsevaluation

Die erste Stufe dieses zweistufigen Ansatzes beruht dabei auf einem empirischen Zugang zur Legitimität und fokussiert damit auf den gesellschaftlich faktisch vorherrschenden Bestand an Moral. Der in diesem Kontext geläufige Begriff einer Wertegemeinschaft kann dabei mit den bereits in den Grundlagen eingeführten Begriff des „overlapping consensus“ nach Rawls gestützt werden, welcher davon ausgeht, dass trotz aller Differenzen ein gesellschaftlicher Mindestbestand an gemeinsamen Normen vorherrschen muss, damit eine Gesellschaft dauerhaft existieren kann.Footnote 705 So stellen Gesellschaften zwar keineswegs absolut homogene Werteinheiten dar und weisen vielfältige Partikularwerte in spezifischen Subkulturen auf, dennoch ist die Akzeptanz grundlegender gemeinsamer Werte (z. B. in freiheitlichen Gesellschaften die liberale Demokratie, Rechtsstaatlichkeit), zumindest bei der großen Mehrheit der Individuen, unabdingbar. Komplexer wird eine Betrachtung noch, wenn man an global operierende Unternehmen denkt, die in einer Vielzahl von im Detail differierenden Wertekontexten tätig sind. Hierbei können sich durchaus Wertedifferenzen ergeben, welche sich z. B. in der Existenz zusätzlicher Werte, aber auch im Detail differierender Interpretationen der als richtig empfundenen Reaktion auf einen Verstoß gegen einzelne Werte (z. B. kollektiver Scham im asiatischen Kulturraum) ergeben. Aus Perspektive der Sicherung der unternehmerischen Legitimität müssen damit in der Region, in welcher Geschäfte betrieben werden, aus empirischer Sicht in einem ersten Schritt faktisch die vorherrschenden, kulturspezifischen Werte Beachtung finden, um die Legitimität des Unternehmens zu sichern. In diesem Sinne handelt es sich bei der ersten Stufe der Legitimität, welche auch zentral für das normative Management im Sinne des strukturierten Legitimitätsmanagements ist, um die notwendige Legitimität, denn diese ist notwendige Voraussetzung, um in einer Wertegemeinschaft dauerhaft erfolgreich den Geschäften nachgehen zu können.

An einer rein faktischen, empirischen Fundierung der Legitimität ist jedoch auch Kritik geübt worden, da diese zu relativistisch sei und damit (zumindest hypothetisch) auch eine „Kultur der Teufel“ unkritisch zum Maßstab der unternehmerischen Legitimierung machen könne, welches wiederum, wie aufgezeigt, neuerdings bei Melé und Armengou zur Entwicklung eines normativen Legitimitätskonzepts führte, welches explizit auf einem ethisch-normativen Fundament aufbaut.Footnote 706 Kritik an einer rein faktisch-deskriptiven Konzeption kommt im wirtschaftsethischen Zusammenhang auch von Peter Ulrich, welcher eine rein an den faktischen Normbeständen ansetzenden Argumentation einer deutlichen Kritik unterzieht und als „Reflexionsstopp“ vor lediglich scheinbaren Normtatsachen bezeichnet.Footnote 707

Dieser Kritik kann nun mit einer zweiten Stufe der Legitimitätsevaluation begegnet werden. Dabei ist in einem ersten Schritt klar, dass eine dauerhafte Existenzsicherung die Berücksichtigung der faktisch vorherrschenden Moral (ungeachtet dessen, wie diese nun sein mag) schlicht notwendig ist, um in einem bestimmten Werteumfeld erfolgreich zu sein. Darüber hinaus bleibt es dem Management unbenommen, in einer gesellschaftlichen Umgebung, welche aus einer kritischen Perspektive heraus, bestimmten, als fundamental erachteten Werten diametral zuwiderläuft, keine Geschäfte zu betreiben.Footnote 708 Dies kann dann allerdings möglicherweise kurzfristig das Ende der Geschäftstätigkeit bedeuten, oder, jedoch langfristiger gedacht, potentiell zu ergreifende Maßnahmen implizieren, um überzeugend auf eine stetige Änderung (oder auch Durchsetzung) der (ggf. auch in der Bevölkerung bereits latent) vorherrschenden Werte einzutreten und seinen unternehmerischen Einfluss dementsprechend einzusetzen. Überdies ist eine kritische Evaluation vorherrschender Moralstandards auch bei einer Evaluation bzw. Ausbalancierung sich ggf. widersprechender Werte sinnvoll, wie diese gerade im Kontext einer globalen Wirtschaftstätigkeit auftreten können. Da, wie wissenschaftstheoretisch dargelegt und einleitend nochmals hervorgehoben wurde, solche Wertekonflikte nicht letztgelöst werden können,Footnote 709 ist auch hier ein Rückgriff auf bestimmte grundlegend anerkannte oder auch ethisch-normativ begründete Werte als Orientierungswissen hilfreich.

Als Basis einer solchen kritischen Evaluation kann folglich selbst wiederum zweistufig vorgegangen werden. In einem ersten Schritt kann hierbei auf einer bestimmten Forschungsrichtung der deskriptiven Ethik, allerdings mit kritischem Fokus, aufgebaut werden. Als konzeptionelle Grundlage dient zum einen die s. g. Common Morality Theory, welche bspw. prominent von Arnold, Beauchamp, Bowie sowie Childress vertreten wird.Footnote 710 Diese postuliert, dass es auch auf der globalen Ebene gemeinsame Grundwerte gibt, welche in ihrer prinzipiellen Richtigkeit nicht ernsthaft bestritten werden könnenFootnote 711, auch wenn sie bisher nicht immer umfassend verwirklicht sein sollten.Footnote 712 Diese prinzipiell anerkannten gemeinsamen Grundwerte sind auch für eine zukünftige friedliche Koexistenz auf globaler Ebene von entscheidender Relevanz. In diesem Sinne kann mit Höffe konstatiert werden: „Schon die Notwendigkeit eines ebenso friedlichen wie gerechten Zusammenlebens der angedeuteten Vielfalt erfordert die Anerkennung gewisser Grundsätze. Zu ihnen gehören außer der Menschenwürde die liberalen Freiheitsrechte und elementare Grundsätze der Gerechtigkeit.“Footnote 713

Die vorausgegangenen Überlegungen werden schließlich auch auf empirischer Ebene in Zusammenhang mit der s. g. Weltethosforschung in der Tradition von Hans Küng gestützt, welche auf deskriptivem Wege gemeinsame Grundwerte wie den Schutz des menschlichen Lebens, Verzicht auf Gewalt, GerechtigkeitFootnote 714, WahrhaftigkeitFootnote 715 etc. als gemeinsames Wertefundament aufzeigt.Footnote 716 Darüber hinaus kann jedoch auch, gerade im akademischen Kontext, in einem zweiten Schritt noch eine kritische Reflexion der vorherrschenden Moralvorstellungen anhand ethisch-normativer Überlegungen stattfinden. Hierbei wäre dann auf eine anerkannte normative Theorie, wie bspw. die Deontologie, Tugendethik oder utilitaristische Konzepte, zurückzugreifen, wobei deren Auswahl allerdings wiederum selbst begründungspflichtig ist.Footnote 717 Eine solche Reflexion der vorherrschenden Werte anhand grundlegender, deskriptiv ermittelter sowie ggf. ethisch-normativ begründeter Maßstäbe führt so schließlich zu einer wohlbegründeten bzw. hinreichenden Legitimität.Footnote 718 Die vorausgegangenen Überlegungen zu einer zweistufigen Legitimitätskonzeption verdeutlicht auch nochmals die nachfolgende Abbildung 4.21.

Abbildung 4.21
figure 21

Zweistufige Konzeption der Legitimitätsevaluation

4.5.3 Gesamtmodell des Analytischen Frameworks

Auf diesen Vorüberlegungen aufbauend kann nun das Analytische Framework konzipiert werden. Dieses Framework kann aus einer Metaperspektive, ähnlich wie andere betriebswirtschaftlich diskutierte Maßnahmen im Sinne der kontinuierlichen VerbesserungFootnote 719, als regelmäßig stattfindender, zyklischer Prozess aufgefasst werden. Dieser lässt sich wiederum in insgesamt sechs Phasen einteilen, wie die nachfolgende Abbildung 4.22 aufzeigt.

Abbildung 4.22
figure 22

Ablaufschema des Analytischen Frameworks als kontinuierlicher Verbesserungsprozess

Hierauf aufbauend ergibt sich detailliert das Ablaufschema des Analytischen Frameworks. Dieses beginnt in einem ersten klassifikatorischen Schritt mit der Ermittlung bzw. Gruppierung der Stakeholder eines Unternehmens. Sind die Stakeholdergruppen definiert, so erfolgt im nächsten Schritt die Ermittlung der Ansprüche der Stakeholder. Hierzu werden nach Anspruchsgruppe zuerst einmal alle ermittelbaren Ansprüche zusammengetragen und ggf. nach Inhalt, Zeit und Ausmaß weiter spezifiziert. Idealerweise kommen hier Verfahren des Diskurses zum Einsatz, wobei in Bezug auf die „stillen“ Stakeholder wiederum ggf. monologisch-antizipativ vorgegangen werden muss. Darüber hinaus eröffnet aber auch im Kontext der Industrie 4.0 bzw. der fortschreitenden Digitalen Transformation der Einsatz moderner Technologien, wie dies u. a. die Methoden des Big Data in Kombination mit Hochleistungsrechnern und Künstlicher Intelligenz darstellen, neue Möglichkeiten. Diese technologischen Grundlagen können genutzt werden, um bspw. im Rahmen semantischer Analysen in sozialen Netzwerken einen weiteren Anhaltspunkt bzw. Wissen über existierende Stakeholderansprüche zu erlangen.Footnote 720 So scheinen vor dem Hintergrund der vorausgegangenen systemtheoretischen Überlegungen materielle sowie immaterielle technische Systeme des Unternehmens zur Generierung eines umfassenderen Bildes der Stakeholderansprüche von zentraler Bedeutung.Footnote 721

Nachdem die Ansprüche der Stakeholder zusammengetragen wurden, erfolgt eine Prüfung dieser Ansprüche. Dabei können mehrere Prüfkriterien angelegt werden. In einem ersten Schritt erfolgt aus rein deskriptiver Perspektive ein Rekurs auf die faktisch existierenden Regeln bzw. Normen. Dies kann zuerst einmal die klassische rechtliche Zulässigkeit sein, welche allerdings, wie gezeigt wurde, als Compliance-Management noch zu kurz greift, um die Legitimität des Unternehmens zu sichern und im Folgenden daher ausgeklammert sei.Footnote 722 Vielmehr sind aus unternehmensethischer Perspektive die Ansprüche gerade auf moralische Zulässigkeit zu prüfen, welches folglich ebenfalls eine deskriptive Analyse darstellt. In diesem Zusammenhang kann nun wiederum auf die bereits aufgezeigte erste Stufe des Legitimitätsmanagements zurückgegriffen werden. Hierbei sind folglich zuerst einmal die spezifischen Werte, welche in den Wertegemeinschaften, in denen das Unternehmen seine Geschäftstätigkeit vollzieht, von Bedeutung. Bei global tätigen Unternehmen können allerdings, wie zuvor eruiert wurde, durchaus Wertekonflikte auftreten, so dass hier ggf. eine Reflexion und Abwägung dieser Werte vorgenommen werden muss.Footnote 723 In diesem Kontext sei nochmals betont, dass normative Fragestellungen nicht formal letztklärbar sind, so dass im Zweifel auf eine wohlbegründete deskriptive oder auch ethisch-normative Basis zurückgegriffen werden muss, wobei diese Wahl im Sinne des Analytischen Frameworks stets transparent zu machen ist. Diese Grundlagen dienen dann auch zur kritischen Reflexion in der zweiten Stufe der Legitimitätsprüfung. Hierbei kann wiederum in einem ersten Schritt auf prinzipiell anerkannte Grundwerte nach der Common Morality Theory oder dem Weltethos, wie sie sich bspw. auch in der Erklärung der allgemeinen MenschenrechteFootnote 724 der Vereinten NationenFootnote 725 widerspiegeln, zurückgegriffen werden. Ein solch kritisch reflektierter deskriptiv-ethischer Ansatz erscheint besonders für die Managementpraxis sinnvoll. Darüber hinaus kann schließlich, gerade auch in der Anwendung im akademischen Kontext, zusätzlich zur deskriptiv fundierten auch noch eine ethisch-normative Reflexion zugrunde gelegt werden, wobei an dieser Stelle diverse normative Konzeptionen wie die Deontologie nach KantFootnote 726 oder die Tugendethik von AristotelesFootnote 727 Anwendung finden können.

Ist die Prüfung abgeschlossen, so erhält man aus der Gesamtmenge der existierenden Ansprüche die begründeten Stakeholderansprüche. Nun gilt zwar, dass die Ansprüche der Stakeholder prinzipiell legitim bzw. wohlbegründet sein mögen, allerdings können auch diese immer noch zueinander in einem Konkurrenzverhältnis stehen.Footnote 728 Folglich ist in diesem Zusammenhang wiederum eine anschließende Konfliktanalyse der Ansprüche, sowohl innerhalb der Stakeholdergruppen als auch zwischen den Stakeholdergruppen, durchzuführen. Dabei kann mit Steinmann konstatiert werden, dass „dieses Spannungsverhältnis [.] (natürlich) widerspruchsfrei nicht generell und abstrakt sondern nur konkret situationsbezogen aufgelöst werden [kann].“Footnote 729 Falls einige der begründeten Ansprüche nach Inhalt, Zeit und Ausmaß nur partiell erfüllt werden können, ist auch in diesem Falle eine Schlechterstellung faktisch-moralisch (1. Stufe) sowie ggf. auch kritisch deskriptiv bzw. ethisch-normativ fundiert (2. Stufe) zu begründen.Footnote 730 Eine solche mehrstufige Analyse möglicher Konflikte reflektiert auch die Forderung Suchaneks, dass die tatsächliche Möglichkeit einer Umsetzung von bestimmten Ansprüchen bzw. realexistierende Handlungsrestriktionen neben der prinzipiellen Begründetheit dieser Ansprüche konzeptionell in der Unternehmensethik zu integrieren sind.Footnote 731

Nach dieser abschließenden Konfliktanalyse der begründeten Ansprüche erhält das Management folglich die Gesamtheit der nach Inhalt, Zeit und Ausmaß zu berücksichtigenden Ansprüche, welche in einem nächsten Schritt in unternehmerische Ziele und Handlungen zu integrieren sind. Dazu erfolgt in einem ersten Schritt eine Prüfung bzw. ggf. Redefinition existierender Unternehmensziele.Footnote 732 Zur Umsetzung dieser Ziele ist dann wiederum auf begründete, d. h. insbesondere auch legitime, Mittel zur Erreichung der Ziele zurückzugreifen. Da, wie auch die klassische BWL vielfach hervorhebt, Planung stets sinnvollerweise mit einer Kontrolle der Zielerreichung zu koppeln istFootnote 733, ist im dritten Schritt auch zu prüfen, inwiefern die vorigen Zielsetzungen erreicht wurden, bzw. ggf. dies bei der nächsten Diskussion der Ziele und möglicher Handlungen zu berücksichtigen. Wichtig ist dabei jedoch auch, dass wo möglich, Indikatoren und Maßgrößen bestimmt werden, um den Erfolg der Unternehmenshandlungen kontinuierlich sicherzustellen. Zudem ist auch hier zu reflektieren, wieweit mögliche Zielzustände zu beeinflussen sind, also hinsichtlich ihrer Controllability durch das Unternehmen eingeschränkt oder diesem in seiner Einwirkungsmöglichkeit gar entzogen sind.

Dabei ist des Weiteren festzustellen, dass bei Integration und Umsetzung der reflektierten Stakeholderansprüche vielfältige Hindernisse auftreten können, welche unternehmensethisch ebenfalls konzeptionell berücksichtigt werden sollten und aus welchen sich ggf. wiederum Implikationen für die Ergreifung von Metahandlungen im Sinne eines potentiellen „changing the rules of the game“ ergeben. So können, wiederum im Sinne Suchaneks, die empirisch existierenden Restriktionen zwar sehr wohl eine Umsetzung der begründeten Ansprüche erschweren. Es gilt daher nach wie vor, dass Unmögliches prinzipiell nicht legitimerweise gefordert werden kann. Allerdings können wiederum sehr wohl in diesem Zusammenhang legitime Ansprüche existieren, die Restriktionen auf legitime Weise zukünftig zu beseitigen. Folglich können sich aus empirisch existierenden Handlungsrestriktionen auf einer Metaebene wiederum Pflichten zu Handlungen ergeben, welche eine Beseitigung oder zumindest Verringerung dieser Restriktionen zum Ziel haben und zur Legitimitätssicherung ergriffen werden müssen, damit zukünftig kein Vorwurf einer illegitimen Unterlassung entsteht.

Als klassische Implementationshindernisse können z. B. im Sinne der wirtschaftsethischen Schule Homanns der Wettbewerbsdruck bzw. existierende Dilemmata oder auch Normkonflikte auf der Makroebene genannt werden, welche dann z. B. zu einem Eintreten für eine Änderung (bspw. im Rahmen von Lobbying oder freiwilligen Selbstverpflichtungen von Unternehmensnetzwerken) dieser existierenden Normen führen kann.Footnote 734 Umsetzungsschwierigkeiten können aber auch durch intern vorherrschende Werte, d. h. auf der Mesoebene, verursacht werden, so dass hier eine Reflexion der Unternehmenskultur notwendig wäre. Auch die Fähigkeiten sowie die Motivation der einzelnen Individuen können sich hinderlich auf die Umsetzung der definierten Ziele auswirken, so dass ebenfalls die Mikroebene reflektiert werden muss. Schließlich ergeben sich ggf. auch technische Restriktionen, welche eine Umsetzung der legitimen Ziele erschweren.

Abschließend sei nochmals hervorgehoben, dass die systematische Reflexion der existierenden Ansprüche der Stakeholder sowie deren Umsetzung einen kontinuierlichen Prozess darstellt, welcher sich folglich nicht auf eine einmalige Durchführung beschränken darf. Wie bereits oben aufgezeigt, können die Überlegungen zum Analytischen Framework auch mit den Entwicklungen im Rahmen der Digitalisierung verknüpft werden. So können die Informationen sowie die zentralen Reflexionsschritte und Analyseergebnisse des Analytischen Frameworks in einem normativen Management Cockpit visualisiert und regelmäßig aktualisiert werden, damit das Management auch über die normative Dimension des unternehmerischen Handelns stets einen transparenten Überblick erhält.

Die nachfolgende Abbildung 4.23 fasst die Struktur des Analytischen Frameworks nochmals anschaulich zusammen.

Abbildung 4.23
figure 23

Das Analytische Framework im Überblick

Die Ermittlung, Analyse und Integration der diversen, existierenden Stakeholderansprüche stellt dabei ein komplexes ProblemFootnote 735 dar. Folglich benötigt das Management neben des Einsatzes moderner Technologien vor dem Hintergrund begrenzter kognitiver Ressourcen auch weitere Führungsunterstützung, um die Ansprüche der Stakeholder in unternehmerischen Entscheidungsprozessen hinreichend abwägen sowie integrieren zu können. Hierzu sind regelmäßig s. g. Sekundärwissensträger organisational institutionalisiert, welche als Spezialisten spezifische Anspruchsgruppen in den Fokus rücken und damit Entscheidungen des Managements hinsichtlich ihrer Konsequenzen auf die Anspruchserfüllung einer Stakeholdergruppe reflektieren können. Dieses Konzept und insbesondere auch die spezifischen wirtschaftsethischen Implikationen für das Controlling als einer dieser Sekundärwissensträger sind Gegenstand des nächsten Abschnitts.

4.6 Unterstützung durch Sekundärwissensträger und Implikationen für das Controlling

4.6.1 Grundkonzept der Sekundärwissensträgerschaft und Controllingbegriff

Der Grundgedanke des Konzepts der Sekundärwissensträgerschaft beruht im Wesentlichen auf einer Abkehr vom Homo oeconomicus-Paradigma der traditionellen, neoklassischen Ökonomik und damit einer Distanzierung von den unrealistischen Annahmen auf kognitiver wie auch motivationaler Seite dieses Ansatzes. Kognitiv unterstellt dieses Konzept dabei zumeist eine infinite Informationsverarbeitungsgeschwindigkeit bzw. eine Vollständigkeit der entscheidungsrelevanten Information in einer gegebenen Entscheidungssituation, welches jedoch evident unrealistisch erscheint.Footnote 736 Eine realistische Reflexion des realen Menschen liefert hinsichtlich der kognitiven Kapazitäten die kognitionswissenschaftliche Forschung, welche die Grenzen hinsichtlich der Aufnahme und Verarbeitung von Informationen im Rahmen der s. g. bounded rationalityFootnote 737 untersucht, die wiederum maßgeblich auf den Arbeiten Herbert Simons beruht.Footnote 738 So stellte dieser bereits Ende der 1950er Jahre fest: „The capacity of the human mind for formulating and solving complex problems is very small compared with the size of the problems whose solution is required for objectively rational behavior in the real world – or even for a reasonable approximation to such objective rationality.Footnote 739 In diesem Sinne scheitert das traditionelle, neoklassische Optimierungsmodell mit der Prämisse vollständiger Information, denn „our bounded rationality does not permit it.“Footnote 740

Übertragen auf den Managementkontext bedeutet dies, dass das Management realistischerweise nicht zugleich alle existierenden Ansprüche kennen, diese Ansprüche auch wiederum begründet ausbalancieren, implementieren und die Anspruchserfüllung regelmäßig überprüfen kann. Es benötigt hierzu die Unterstützung durch Spezialwissen wie dieses in Organisationen durch die Sekundärwissensträger i. d. R. innerhalb bestimmter Abteilungen zur Entscheidungsunterstützung institutionalisiert ist. So fokussiert bspw. das Marketing auf die Ansprüche der Kunden, die Beschaffungsabteilung auf die Ansprüche der Lieferanten, die Personalabteilung auf aktuelles sowie potentielles zukünftiges Personal, die Finanzabteilung bzw. Bilanzbuchhaltung auf die Fremdkapitalgeber und das Controlling schließlich auf die Ansprüche der Eigenkapitalgeber. In diesem Sinne tritt zur Lösung betrieblicher Probleme neben dem primären Führungswissen des Managements das (aus dessen Perspektive) sekundäre Wissen der Sekundärwissensträger hinzu, durch welches das Management fundierte Entscheidungen treffen kann, ohne selbst vollständig über dieses jeweilige anspruchsgruppenspezifische Wissen verfügen zu müssen, wodurch dieses wiederum kognitiv entlastet wird.Footnote 741 In Bezug auf das Analytische Framework bedeutet dies, dass das Management im Wesentlichen auf das anspruchsgruppenspezifische Wissen der Sekundärwissensträger zurückgreift, welche die Ansprüche der jeweiligen Stakeholdergruppe kennen, analysieren bzw. aufbereiten und dem Management zur Verfügung stellen. Diese sind folglich intensiv bei der Anwendung des Analytischen Frameworks einzubinden.

Neben der kognitiven Perspektive, welche sich in der Notwendigkeit einer Entscheidungsunterstützung manifestierte, erscheint aber auch die motivationale Annahme eines unbegrenzten („harten“) OpportunismusFootnote 742 des Homo oeconomicus in Bezug auf reale Akteure kritikwürdig. So ist im Standardmodell der Ökonomik der Homo oeconomicus vollständig unaffektiert bzw. gleichgültig gegenüber anderen Menschen – außer in dem Falle, in welchem diese Individuen instrumentell zur Erreichung eigener Ziele nützlich erscheinen. In diesem Sinne stellt auch Boulding für den Homo oeconomicus fest, dass dieser „counted every cost and asked for every reward, was never afflicted with mad generosity or uncalculating love, and [.] never acted out of a sense of inner identity and indeed had no inner identity even if he was occasionally affected by carefully calculated considerations of benevolence or malevolence.“Footnote 743 Auch Manstetten resümiert ähnlich: „Das Wohlbefinden des Homo oeconomicus wird nicht von dem Wohlbefinden oder Elend anderer Menschen beeinflusst. Damit erscheint der Homo oeconomicus als kalkulierender und unersättlicher Egozentriker: Was ihn selbst angeht, so hat er nie genug; was die anderen Menschen angeht, so liegen Anteilnahme und Mitleid, Neid und Missgunst […] ganz außerhalb seines Horizontes.“Footnote 744 Demnach besitzt der Homo oeconomicus keine genuin sozialen Ziele und entspricht damit im Kern dem s. g. Faktor 1-Psychopathen.Footnote 745 Wie die empirische Forschung jedoch stabil zeigt, weisen reale Akteure zwar durchaus eigennützige, allerdings auch vielfältige soziale Motive, wie bspw. Altruismus oder Reziprozität, auf.Footnote 746 Die Erkenntnisse der verhaltenswissenschaftlichen Forschung führen damit in der motivationalen Dimension zum Konzept des bounded opportunismFootnote 747, welches zentral für die organisationale Entscheidungsbeeinflussung und damit wiederum höchst relevant bei der Gestaltung von unternehmerischen Anreizsystemen erscheint.Footnote 748 Zusammengefasst ergibt die realwissenschaftlich ausgerichtete verhaltenswissenschaftliche Forschung folglich zwei Handlungsfelder, welche unter dem Begriff der Führungsunterstützung subsumiert werden können: die aus den Erkenntnissen der bounded rationality abgeleiteten Implikationen hinsichtlich der Entscheidungsunterstützung sowie die Entscheidungsbeeinflussung vor dem Hintergrund des bounded opportunism.Footnote 749

Die vorausgegangenen Überlegungen können nun explizit für das Controlling fruchtbar gemacht werden. So stellt auch Sprinkle mit Referenz auf Demski und Feltham fest, dass die „two roles for managerial accounting information have been referred to as the decision-facilitating role and the decision-influencing role.“Footnote 750 Grundsätzlich kann dabei festgehalten werden, dass der Begriff des Controllings in der deutschsprachigen LiteraturFootnote 751 überaus schillernd ist und kontrovers diskutiert wird. Einen Überblick liefert dabei Friedl, welche die deutschsprachige Controllingforschung in drei große Richtungen gliedert:Footnote 752 Hierzu gehören erstens die informationsorientierten Konzeptionen, welches die Werke von ReichmannFootnote 753, Hahn und HungenbergFootnote 754 sowie Baum, Coenenberg und GüntherFootnote 755 beinhaltet. Hierbei geht es im Kern um die Bereitstellung von entscheidungsrelevanten Informationen bzw. Wissen, welches jedoch das Problem aufweist, dass dies prinzipiell auch für andere institutionalisierte Funktionsbereiche der Organisation gilt und daher kaum als controllingspezifisch bezeichnet werden kann bzw. keine controllingdiskriminierende Wirkung entfaltet. Darüber hinaus sind die koordinationsorientierten Controllingkonzeptionen zu nennen, welche insbesondere die Konzeptionen von HorváthFootnote 756 sowie KüpperFootnote 757 umfassen. In diesen Ansätzen wird Controlling funktional als Koordination eines mehr oder minder umfangreich ausdifferenzierten, organisationalen Führungssystems aufgefasst. Problematisch ist hierbei unter anderem, dass dies, praktisch unplausibel, eine Weisungsbefugnis gegenüber dem Management voraussetzen würde. Schließlich existiert mit der Konzeption von Weber und SchäfferFootnote 758 ein rationalitätsorientierter Ansatz, wobei das Controlling als Sicherstellung einer ausreichenden betriebswirtschaftlichen Rationalität der Unternehmensführung aufgefasst wird. Auch hier erscheint jedoch, neben dem per se schillernden Begriff der Rationalität, die Schwierigkeit, ohne Weisungsbefugnis eine wirtschaftliche Rationalität der Führung sicherstellen zu können, konzeptionell problematisch. Damit ist, unbeschadet der Fülle an existierenden Vorschlägen zur Konzeptionalisierung des Controllings im deutschsprachigen Raum, in der Gesamtschau immer noch zu konstatieren, dass bisher keine der Ansätze vor dem Hintergrund einer kritischen konzeptionellen Würdigung vollständig zu überzeugen vermag.Footnote 759

Die Arbeit folgt daher der Konzeption von Lingnau, welcher ein anspruchsgruppenspezifisches Konzept des Controllings mit verhaltenswissenschaftlicher Fundierung entwickelt, das explizit an den obigen kognitionswissenschaftlichen wie motivationalen Überlegungen realer Entscheidungsträger und damit der Bedeutung organisational institutionalisierter Sekundärwissensträger anknüpft. Hiernach ist das Controlling der „Träger des Wissens über die (formalzielorientierten) AnsprücheFootnote 760 der Eigenkapitalgeber und bringt dieses Wissen unter Berücksichtigung der begrenzten Rationalität und des begrenzten Opportunismus realer Entscheidungsträger in die betrieblichen Problemlösungsprozesse ein. Dies umfasst die mittelbare und unmittelbare Unterstützung des Managements bei Entscheidungen zu Nutzung, Aufbau und Erhalt betrieblicher Erfolgspotentiale, die Unterstützung des Managements bei Entscheidungen zur Beeinflussung von Entscheidungen und die Unterstützung des Managements bei der Begründung dieser Entscheidungen.“Footnote 761 Das Controlling liefert damit für alle drei Managementebenen (normativ, strategisch und operativ) Wissen zur Entscheidungsunterstützung sowie zur Entscheidungsbeeinflussung, indem es die Ansprüche der Eigenkapitalgeber in die betrieblichen Problemlösungsprozesse einbringt, so z. B. auch bei der Mitgestaltung und kritischen Reflexion unternehmerischer Anreizsysteme.Footnote 762 Im Rahmen dieser Arbeit sind dabei insbesondere einige normative Implikationen für das Controlling von Relevanz. Aus diesem Grunde wird im Folgenden der Fokus auf ethisch relevante Erkenntnisse für die Controllingforschung und -praxis gelegt. Pointiert formuliert geht es hierbei folglich um den Beitrag des Management Accountings zur organisationalen Accountability.

4.6.2 Ethische Implikationen für das Controlling

4.6.2.1 Konzeptionelle Unterschiede des angelsächsischen und deutschsprachigen Raums

Eine Betrachtung des Forschungsstands im Kontext ethischer Implikationen für die Controllingforschung und -praxis zeigt, dass einführend, wie auch in den Grundlagen der Wirtschaftsethik, zuerst eine zweigeteilte Betrachtung sinnvoll erscheint, welche zwischen dem englisch- und deutschsprachigen Raum differenziert. Für den angelsächsischen Bereich kann dabei konstatiert werden, dass gerade im Bereich der Accounting Ethics, teilweise sogar explizit mit Rekurs auf die Teildisziplin des Management- bzw. Managerial AccountingsFootnote 763, durchaus einige Veröffentlichungen existierenFootnote 764, wobei diese dennoch im Vergleich zu traditionellen Wirtschaftsethiklehrwerken eher eine Nische repräsentieren.Footnote 765 Ähnlich wie im Bereich der Business Ethics kann jedoch auch hier festgestellt werden, dass die Ausführungen zumeist eher pragmatisch bzw. instrumentell ausgerichtet sowie häufig durch einen Mikrofokus gekennzeichnet sind, d. h. es wird auf den Controller bzw. Management Accountant als handelnde Einheit fokussiert und zugleich die Relevanz eines „good conduct“ zur Steigerung des wirtschaftlichen Erfolgs anhand von Case StudiesFootnote 766 hervorgehoben. Auch für die Controllerpraxis nehmen ethische Fragen eine bedeutsame Rolle ein, wie z. B. die Statuten des britischen Chartered Institute of Management Accountants [CIMA]Footnote 767 oder des US-amerikanischen Institute of Management Accountants [IMA]Footnote 768 verdeutlichen.

Für den deutschsprachigen Raum lässt sich dagegen, wie auch für die Betriebswirtschaftslehre selbst bereits aufgezeigt, nach wie vor eine vorherrschende konzeptionelle Skepsis hinsichtlich der Beschäftigung mit ethischen Fragestellungen konstatieren.Footnote 769 Folglich findet auch in der deutschsprachigen Controllingforschung eine dezidierte Auseinandersetzung mit controllingethischen Fragen bisher nur in relativ überschaubarem Maße statt. So zeigt die Durchsicht der Literatur, dass lediglich zwei Schulen des Controllings bisher explizit auf ethische Implikationen eingehen – wenngleich dann auch eher kompakt und am Rande der konzeptionellen Überlegungen. Relativ ausführlich beschäftigt sich noch Küpper mit ethischen Fragestellungen in seinem Controllinglehrwerk, wobei dieser dann – konsistent zur eigenen, koordinationsorientierten Konzeption – die Notwendigkeit der Koordination von Wertvorstellungen der Organisationsmitglieder hervorhebt.Footnote 770 Darüber hinaus gehen auch Weber und Schäffer basierend auf ihren Überlegungen zur Rationalitätssicherung kurz auf ethische Implikationen ein, wobei sie innerhalb ihrer Konzeption folgerichtig und basierend auf der Annahme von vorherrschenden kognitiven wie motivationalen Divergenzen vom ökonomischen RationalprinzipFootnote 771 zum Schluss kommen, dass das „Controlling ethisch motiviertes Handeln […] begrenzen [muss], falls sich dieses nicht rechnet.“Footnote 772

Insgesamt kann damit nach wie vor konstatiert werden, dass im deutschsprachigen Raum eine intensivere konzeptionelle Beschäftigung mit ethischen Fragen des Controllings noch aussteht, welches gerade auch für die weitere Forschung von besonderer Bedeutung ist. Dabei scheint in einem ersten Schritt klar, dass zur glaubhaften Unterstützung einer ethisch reflektierten Unternehmensführung auch das Controlling mit gutem Beispiel vorangehen muss. Damit hat das Controlling zum einen die Einhaltung gesetzlicher Vorschriften im eigenen Bereich (Compliance), zum anderen aber auch die Legitimität des eigenen Handelns sowie der organisationalen Controlling-Subziele, sicherzustellen.Footnote 773

Darüber hinaus können gerade in Bezug auf die Controllingkonzeption von Lingnau und in Verknüpfung mit den Überlegungen zur im Rahmen dieser Arbeit entwickelten Unternehmensethikkonzeption noch einige weitere Erkenntnisse der aktuellen Forschung skizziert werden. Orientiert man sich an den beiden Dimensionen der Führungsunterstützung, so können diese Implikationen wie folgt nach den beiden Dimensionen der Entscheidungsunterstützung und Entscheidungsbeeinflussung systematisiert werden.

4.6.2.2 Implikationen hinsichtlich der Entscheidungsunterstützung

Hinsichtlich der Entscheidungsunterstützung ergibt sich im Kern vor allem eine kritische Reflexion des vorherrschenden Controllinginstrumentariums.Footnote 774 So beruhen bspw. einige klassische Controllinginstrumente wie das Capital Asset Pricing Model [CAPM] auf den unrealistischen Prämissen des vollkommenenFootnote 775 Kapital- bzw. Finanzmarktes.Footnote 776 Dabei zeigen jedoch die Finanzkrisen der letzten Jahre, dass nicht nur die Güter- und Arbeitsmärkte als unvollkommen angenommen werden müssen, sondern dies auch klarerweise für die Finanzmärkte gilt – wenngleich traditionell diesen immer noch häufig ein hohes Maß an Vollkommenheit zugeschrieben wird.Footnote 777 Vor dem Hintergrund der jedoch evident fehlenden Vollkommenheit dieser Märkte sind die hierauf aufbauenden klassischen Controllinginstrumente folglich einer kritischen Evaluation zu unterziehen und das Management über die Grenzen dieser Instrumente zu unterrichten, da ansonsten die gewonnenen Ergebnisse „zwar (rechnerisch) genau, aber (inhaltlich) falsch sind“Footnote 778, da die Prämissen und damit die realweltlichen Anwendungsgrenzen des Modells verletzt wurden. „Das mit hohem Aufwand berechnete Ergebnis ist dann sowohl genau als auch falsch (Scheingenauigkeit).“Footnote 779

So ist neben der Prämisse einer Vollkommenheit des Marktes beim CAPM bspw. zu problematisieren, dass der zugrunde zu legende risikolose Zinssatz in der Realität schwer eindeutig zu bestimmen ist. Denn, wie die Vergangenheit zeigt, sind gerade die häufig hierzu angesetzten Staatsanleihen auch nicht stets vollkommen risikofrei. Ebenso wäre letztlich auch normativ zu begründen, welche Staatsanleihe bzw. welches PortfolioFootnote 780 zur Ermittlung des risikofreien Investments herangezogen wird. Ebenso kritisch ist beim CAPM die Reduktion der Investitionspräferenzen auf den reinen Erwartungswert der Rendite und deren Standardabweichung zu erachten, welches z. B. die zunehmende Relevanz von genuinen Nachhaltigkeitspräferenzen vernachlässigt.Footnote 781 So stellen auch Beal, Goyen und Phillips fest: „One particular type of behavior that has emerged over the last 20 years or so is the desire to invest ethically.“Footnote 782 Auch Revelli und Viviani konstatieren in diesem Sinne: „In the past 20 years, socially responsible investing (SRI), which embodies ethical values, environmental protection, improved social conditions and good governance, has increasingly attracted the interest of individual and private investors, as well as academics.“Footnote 783

In Bezug auf die Repräsentation des Risikos kann darüber hinaus konzeptionell hinterfragt werden, inwiefern die Abbildung als symmetrische Deviation (Standardabweichung bzw. Varianz) vom Erwartungswert tatsächlich das relevante Risiko für den Investor widerspiegelt und nicht vielmehr lediglich die negative Abweichung („downside risk“), wie dies andere Risikomaße wie bspw. der Value at Risk [VaR]Footnote 784 repräsentieren. So stellte, wie auch Leippold hervorhebt, bereits Markowitz fest „that investors should be interested in minimizing downside risk for two reasons: First, only the downside risk is relevant to investors, not the symmetric risk such as variance. Second, under the assumption of normally distributed returns, any downside risk measure would yield the same result as a variance risk measure. Markowitz realizes that if the normality assumption is inappropriate, the downside risk measures become relevant.“Footnote 785 In diesem Sinne kann auch mit Mülhaupt konstatiert werden: „Risiko ist die Gefahr einer negativen Abweichung des tatsächlichen vom erwarteten Wert eines Ereignisses.“Footnote 786

Auch die Annahme zumindest homogener Erwartungen der Akteure dürfte in der Realität im Vergleich institutioneller und privater Anleger kaum aufrechtzuerhalten sein. Schließlich erscheint aber insbesondere auch die unkritische Fortschreibung von in der Vergangenheit realisierten (Ex-post-)Renditen in die Zukunft bzw. als Ansatz einer wohlbegründeten Ex-ante-Rendite kritisch. So zeigt sich, dass die Renditen der Vergangenheit häufig (auch im Vergleich zur Fremdkapitalverzinsung) sehr hoch ausfallen – und dies in einer Höhe, die standardökonomisch kaum plausibel zu erklären ist (s. g. Equity Premium PuzzleFootnote 787), unterstellt man nicht eine absurd hohe Risikoaversion der Investoren.Footnote 788

Darüber hinaus ist auch aus verhaltenswissenschaftlicher Perspektive kritisch festzustellen, dass klassische, kapitalmarktorientierte Ansätze häufig Shareholder als homogene, nutzenmaximierende Einheiten (s. g. Einmütigkeit der Shareholder) auffassen. Gibt man allerdings bereits eine einzige Annahme der klassischen Kapitalmarkttheorie – die Gleichheit von Soll- und Habenzinsen – auf, so kann diese Einmütigkeit nicht mehr gezeigt werden, vielmehr kommt es zu einer Vielzahl an Anspruchsniveaus. Dadurch divergieren die Präferenzen hinsichtlich unternehmerischer Investitionsentscheidungen, womit, je nach anfänglicher Kapitalausstattung und temporaler Konsumpräferenz, wiederum eine für einen Anleger vorteilhafte Investition möglicherweise für einen anderen Anleger als Verlust erscheint.Footnote 789

In diesem Zusammenhang ist auch festzustellen, dass in der verhaltenswissenschaftlichen Tradition Simons Investoren nicht als Maximierer, sondern vielmehr als SatisfiziererFootnote 790 aufzufassen sind.Footnote 791 Reale Investoren können aufgrund von Limitationen bezüglich vorhandenen Wissens, aber auch in Bezug auf die Möglichkeiten einer umfassenden Suche von Informationen, keine Globaloptimierung ihres Portfolios durchführen. Sie brechen daher die heuristische Suche nach superioren Investitionsentscheidungen bei Erreichung eines zuvor als hinreichend definierten Satisfizierungsniveaus abFootnote 792 und treffen basierend auf diesem Wissensstand ihre Investitionsentscheidung.Footnote 793 Vor diesem Hintergrund kann schließlich mit Kruschwitz und Husmann „die Schlussfolgerung gezogen werden, dass das CAPM heute nur noch geringe empirische Unterstützung findet.“Footnote 794 Obschon durchaus weiterer Forschungsbedarf hinsichtlich der Frage besteht, in welchen Kontexten Heuristiken erfolgversprechend und traditionellen Instrumenten bezüglich ihres Ergebnisses ebenbürtig, d. h. „ökologisch rational“Footnote 795, sind, sei hier nur auf die existierende empirische Evidenz verwiesen, nach der relativ einfache Heuristiken durchaus zu „guten“ bzw. vergleichbaren (und z. T. sogar superioren) Ergebnissen in Bezug zu traditionellen, mathematischen Optimierungsmodellen führen können.Footnote 796 Heuristiken sind nach Gigerenzer hinsichtlich der kognitiven Beanspruchung des Anwenders schnell bzw. sparsam, robust gegenüber neuen Situationen sowie transparent, d. h. leicht nachzuvollziehen.Footnote 797

Ein vielversprechender Ansatz zur Evaluation der realexistierenden, aber auch mit klassischen Instrumenten wie dem CAPM berechneten Eigenkapitalrenditen, stellt die vom Autor dieser Arbeit mitentwickelte FK+-Heuristik dar.Footnote 798 Grundgedanke ist hierbei, die Eigenkapitalrendite über die Fremdkapitalverzinsung zu berechnen. Geht man davon aus, dass spätestens seit der Regulierung durch Basel II und IIIFootnote 799 alle grundlegenden unternehmerischen Geschäftsrisiken im Fremdkapitalzinssatz berücksichtigt sindFootnote 800, so kann die anzusetzende Eigenkapitalrendite prinzipiell auch als eigenkapitalgeberspezifischer Risikozuschlag zu diesen bereits im Fremdkapitalzins eingepreisten grundlegenden Risiken ermittelt werden. Formal kann diese Beziehung mathematisch wie folgt formuliert werden:

$${r}_{EK}= {r}_{FK}+ {Risikopr\ddot{a} mie}_{EK}$$

Als zusätzliche, eigenkapitalgeberspezifische Zusatzrisiken sind insbesondere drei Risikodimensionen zu berücksichtigen. Dies ist erstens die Nachrangigkeit im Insolvenzfall (Nachrangigkeitszuschlag), da das Eigenkapital im Falle der Insolvenz zuerst zur Befriedigung offener Stakeholderansprüche genutzt wird. Ferner ist auch zweitens ein empirisch oftmals festzustellendes größeres negatives Abweichungsrisiko der Rendite (Renditerisikozuschlag) zu nennen. Schließlich können als dritte Risikokategorie noch andere, nicht im Fremdkapitalkostensatz abgedeckte Risiken (Restrisikozuschlag) genannt werden, wie bspw. das in bestimmten Regionen möglicherweise existierende Risiko einer entschädigungslosen Verstaatlichung.Footnote 801

Darüber hinaus hat die Literatur auch weitere Heuristiken, welche als Controllinginstrumentarium hilfreich sein könnten, hervorgebracht.Footnote 802 Beispielhaft wäre hier ein Modell zur vereinfachten Quantifizierung von Realoptionen bei LuehrmanFootnote 803 zu nennen, oder das Entscheidungsmodell von Slater, Reddy und ZwirleinFootnote 804, welches sowohl die Attraktivität eines risikoadjustierten Kapitalwerts als auch das Potential einer Realoption bewertet und beide Dimensionen dann in eine 9-Feldermatrix integriert.

Insgesamt ist vor dem aufgezeigten Hintergrund einer realwissenschaftlich fundierten Entscheidungsunterstützung für das Controlling die Schlussfolgerung zu ziehen, dass traditionelle Instrumente einer kritischen Reflexion hinsichtlich der ihnen zugrunde liegenden Prämissen zu unterziehen sind, um Instrumente einzusetzen, welche ein „höheres Potential an ökologischer Rationalität auf[weisen].“Footnote 805 So sind Ergebnisse, welche auf reinen Idealprämissen basieren, nicht unbedingt geeignet, um praxisbezogene Problemstellungen zu unterstützen. Dies gilt insbesondere auch für die normative Begründungsfunktion des Managements, wenn dieses seine Entscheidungen nicht auf realwissenschaftlich überzeugenden Instrumenten fundiert. Im Gegenteil droht, z. B. gerade durch den Ansatz systematisch zu hoher Renditeforderungen der Shareholder, wie auch der öffentliche Diskurs zeigt, sogar eine gesellschaftliche Delegitimation eines Unternehmens, weshalb die Relevanz einer kritischen Reflexion der zur Entscheidungsunterstützung des Managements eingesetzten Controllinginstrumente nochmals hervorgehoben sei.

Abschließend sei auch noch im Sinne der kritischen Methodenkompetenz eine expansive, unkritische Anwendung des Controllinginstrumentariums als alleiniger oder zumindest dominanter Entscheidungsmaßstab für das Management betrachtet. So heben zwar die Vertreter des traditionellen Shareholder Value-Ansatzes hervor, dass eine Maximierung des Shareholder Values als Residualgröße nur legitim sei, da diese lediglich nach Befriedigung aller anderen Ansprüche verbleibe und zudem die Eigenkapitalgeber auch das Hauptrisiko des Untergangs des Unternehmens tragen würden. Diese Feststellungen gelten allerdings lediglich unter den Bedingungen vollkommener Märkte (und hier: insbesondere vollständiger Verträge). In der Realität sind, wie aufgezeigt, weder die entsprechenden Märkte vollkommen noch die Beiträge der Stakeholder vollständig ex ante vertraglich fixiert bzw. rechtlich abgesichert. Dies zeigen auch etliche Unternehmensschieflagen, in welchen Mitarbeiter, aber auch Fremdkapitalgeber über die ex ante vertraglich spezifizierten Beiträge durch Lohnverzicht oder Stundung ebenfalls einen weiteren Beitrag zur Sicherung bzw. Sanierung des Unternehmens leisten. In diesem Sinne ist es folglich zentral, dass das Controlling das Management auch auf die Nicht-Komplementarität der Eigenkapitalwertmaximierung mit den Ansprüchen anderer Stakeholder und damit die Grenzen seiner Entscheidungsunterstützungsfunktion hinweist, wodurch Managemententscheidungen, wie auch der Stakeholderansatz nahelegt, nicht nur basierend auf den Ergebnissen der Instrumente des Controllings getroffen werden dürfen.

Nachdem nun die ethischen Implikationen für das Controlling in der Dimension der Entscheidungsunterstützung herausgearbeitet wurden, befasst sich die Arbeit im nächsten Unterkapitel noch mit den controllingrelevanten Erkenntnissen hinsichtlich der Entscheidungsbeeinflussung.

4.6.2.3 Implikationen hinsichtlich der Entscheidungsbeeinflussung

Im Rahmen der Entscheidungsbeeinflussung nimmt das Controlling eine zentrale Rolle bei der Mitgestaltung unternehmerischer Incentives ein, insbesondere seit dem Aufkommen wertorientierter AnreizsystemeFootnote 806 und der diesen zugrunde liegenden Performancemessung.Footnote 807 So stellt z. B. auch Kramer fest: „Innerhalb des Unternehmens werden Incentives häufig gemeinsam von der Geschäftsführung und dem Controlling entwickelt, verabschiedet und implementiert.“Footnote 808 Ebenso konstatieren Schäffer und Weber: „Während Anreize für Manager noch vor zehn oder zwanzig Jahren nur in den seltensten Fällen ein Thema waren, das Controller in Unternehmen aktiv mitgestalten konnten, ist dies heute zumindest in großen Unternehmen sehr häufig der Fall.“Footnote 809

Dabei erscheint allerdings eine kritische Untersuchung der Konsequenzen traditioneller monetärer Individualincentives bedeutsam, denn diese können zu einem negativen Selektionseffekt führen. In diesem Kontext untersuchte Kühn erstmalig auf konzeptioneller Ebene den Zusammenhang zwischen dem klassischen Menschenbild der Ökonomik (Homo oeconomicus) und traditionellen materiellen Incentives. Sie stellt dabei zum einen fest, dass Anreizsystemen stets ein bestimmtes Menschenbild als prototypisch unterstelltes Verhaltensmuster zugrunde liegt. Zum anderen wirken dann Anreizsysteme hierauf aufbauend durch ihre Belohnungsfunktion als Filter, denn Individuen, welche dem Anreizsystem entsprechend handeln, werden belohnt und steigen dadurch als leistungsstark evaluierte Mitarbeiter schneller in der organisationalen Hierarchie auf.Footnote 810 Klassische Anreizsysteme beruhen dabei auf dem Homo oeconomicus-Paradigma, d. h. der Annahme, dass Mitarbeiter vor allem durch extrinsische Anreize motiviert werden (müssen!) und ansonsten durch opportunistische Arbeitsvermeidung bzw. „Arbeitsleid“ gekennzeichnet sindFootnote 811, welches durch das Anreizsystem so gemildert werden soll, dass die opportunistische Eigennutzverfolgung zur (individuell quasi „unbeabsichtigten“) Komplementarität mit den unternehmerischen Zielen führt. Die Zugrundelegung des Homo oeconomicus als Set von Verhaltensannahmen stellt sich jedoch bei genauerer Betrachtung als überaus problematisch dar. So zeigt eine Analyse der Verhaltenseigenschaften des Homo oeconomicus-Modells, dass dieses im Kern die Eigenschaften eines s. g. Faktor 1-Psychopathen aufweistFootnote 812, der auch als „funktionaler“ bzw. „erfolgreicher“ PsychopathFootnote 813 sowie vielfach als „Corporate Psychopath“ bzw. „Unternehmenspsychopath“Footnote 814 bezeichnet wird.

Der Begriff der Psychopathie selbst weist eine lange Historie und in der Begriffsetymologie eine noch längere Zeit vorherrschende große Begriffsbreite auf.Footnote 815 Im alltagssprachlichen Begriffsverständnis besitzt dieser Begriff zudem häufig eine Konnotation mit Gewalttätigkeit, welche jedoch, wie die weiteren Ausführungen zeigen, nicht notwendig für das moderne Verständnis des Konstrukts der Psychopathie ist.Footnote 816 Erste fachwissenschaftliche Präzisierungsversuche lassen sich dabei ab dem 19. Jahrhundert auffinden, so z. B. bei Pinels Konzept der „manie sans délireFootnote 817, welches bereits die Klarheit, mit welcher Psychopathen normativ deviant handeln können, beinhaltet. Als wegweisend für die moderne Psychopathieforschung sind besonders die Überlegungen von Cleckley ab den 1940er Jahren zu nennenFootnote 818 sowie die hierauf aufbauende Systematisierung psychopathischer Eigenschaften in einer MerkmalslisteFootnote 819 zur Messung von Psychopathie nach HareFootnote 820, welche in der Literatur vielfach als „gold standard“Footnote 821 der modernen Psychopathieforschung aufgefasst wird. Die von Hare entwickelten 20 ItemsFootnote 822 können anhand empirischer faktoranalytischer Untersuchungen wiederum in mehrere Faktoren verdichtet werden. Als klassisch kann dabei die Zweifaktorenstruktur der Psychopathie erachtet werdenFootnote 823, welche auch zur Klassifikation des im organisationalen Kontext „erfolgreichen“ (Faktor 1-)Psychopathen herangezogen werden kann sowie dessen Bezeichnung erklärt. Der erste Faktor beschreibt hierbei die Beeinträchtigung der affektualen Ebene und umfasst sowohl die Empathielosigkeit bzw. KaltherzigkeitFootnote 824 eines Individuums als auch die Tendenzen zur interpersonellen Manipulation. Der zweite Faktor dagegen fokussiert auf eine Störung der Impulskontrolle, welches sich in einem erratischen und antisozialen Lebensstil äußert.Footnote 825 Die empirische Untersuchung der Faktoren zeigt dabei weiter, dass die „klassischen“, mit Gewalttätigkeit assoziierten Psychopathen eine starke Ausprägung des ersten und zweiten Faktors aufweisen. Gewalttätige, allerdings nicht-psychopathische Individuen weisen nur einen erhöhten zweiten Faktor der verminderten Impulskontrolle auf. Besonders interessant erscheinen für die wirtschaftswissenschaftliche Forschung dagegen diejenigen Individuen, welche eine starke Ausprägung des ersten Faktors der Psychopathie aufweisen, jedoch eine relativ geringe Ausprägung des zweiten Faktors, woraus die Bezeichnung als Faktor 1-Psychopath resultiert.Footnote 826 Die erörterten Zusammenhänge der zwei Faktoren zeigt auch nochmals die nachfolgende Abbildung 4.24.

Abbildung 4.24
figure 24

Arten psychopathischer Persönlichkeitsstörungen im Vergleich ihrer zweifaktoriellen Ausprägung der PCL-RFootnote

Beispielhafte Darstellung in Anlehnung an Babiak, P. (2016), S. 358. Die grauen Balken visualisieren jeweils die Maximalausprägung des spezifischen Faktors.

Diese Individuen, welche eine starke Ausprägung des ersten, nicht aber des zweiten Faktors aufweisen, sind zwar nicht körperlich gewalttätig, weisen jedoch eine stark kaltherzig-furchtlose und opportunistisch-manipulative Tendenz auf, wodurch diese – gerade auch durch ihre Redegewandtheit und Extrovertiertheit – oftmals fälschlich als starke Führungspersönlichkeiten, die auch in schwierigen Situationen harte Entscheidungen treffen können, eingeschätzt werdenFootnote 828 und dadurch in Unternehmen Karriere machen („Psychopathen in Nadelstreifen“Footnote 829). Allerdings ist für solche Individuen festzustellen, dass diese aufgrund ihres kaltherzigen, opportunistischen Charakters dazu neigen, ohne Gewissen oder Scham zu betrügen und zu lügenFootnote 830, wodurch diese ein enormes Risikopotential sowohl auf organisationaler als letztlich auch auf gesellschaftlicher Ebene darstellen. Dies wird nochmals dadurch potenziert, dass durch den überproportionalen Aufstieg dieser Individuen ein empirisch nachweisbarer Aggregationseffekt psychopathischer Individuen auf höheren Managementebenen aufzufinden istFootnote 831, wodurch diese einerseits internen Kontrollmechanismen leichter entgehen können, andererseits aber auch durch ihre Position und Einflussmöglichkeiten eine integre Unternehmenskultur leichter über die Zeit zu korrumpieren vermögen.

Dabei bringt die aktuelle empirische Forschung Corporate Psychopaths mit einer Vielzahl organisationaler Probleme in Verbindung, wie beispielsweise einem „organisational decline in terms of revenue, employee commitment, creativity and organisational innovativeness.“Footnote 832 Dieser organisationale Niedergang, welche Autoren wie Boddy zur Bezeichnung psychopathischer Individuen als „organizational destroyers“Footnote 833 führte, beruht auf mehreren Facetten. So betreiben Psychopathen häufig lediglich „impression management“Footnote 834, sind also für die ihnen zugewiesene Stelle oft nicht oder nur unzureichend qualifiziert.Footnote 835 In diesem Sinne konstatieren auch Babiak, Neumann und Hare „that psychopathy is more strongly associated with style than with substance.“Footnote 836 Ähnlich stellen Boddy und Taplin fest: „Psychopathic leadership is characterized by lying, such as claiming qualifications that the corporate psychopath does not actually possess.“Footnote 837 Darüber hinaus ist durch die Anwesenheit eines Psychopathen mit einer signifikanten Verschlechterung des Arbeitsklimas zu rechnen, bspw. durch Mobbing oder Intrigen. So resümieren Boddy und Taplin „that for most normal people, working under a corporate psychopath would usually entail the total destruction of job satisfaction.“Footnote 838 Dies führt einerseits zu einer Zerstörung des Commitments: „Therefore, it is not just physical withdrawal that is influenced by the presence of corporate psychopaths but also emotional withdrawal.“Footnote 839 Andererseits führt die Anwesenheit eines psychopathischen Vorgesetzten neben steigender PersonalfluktuationFootnote 840 regelmäßig zu erhöhten Krankenständen und FehlzeitenFootnote 841 – teilweise wird sogar von einer chronischen Traumatisierung einiger unterstellter Mitarbeiter berichtet, welche noch nach Jahren Angststörungen aufweisen.Footnote 842 Darüber hinaus führt das kontinuierliche Vorleben fragwürdigen Verhaltens durch Vorgesetzte („walking bad behaviour“) zu einer schleichenden moralischen Korruption der Organisation, insbesondere da Untergebene dazu neigen, das Verhalten ihrer Vorgesetzten zu imitieren, bzw. deren Werte in organisationalen Entscheidungsprozessen zu übernehmen. In diesem Sinne stellen auch Boddy, Ladyshewsky und Galvin fest: „Furthermore, the mimicking and mirroring of organizational leaders’ behaviour has been found in research into the toxic leadership of organizations [..] and this means that the presence of Corporate Psychopaths within an organization may well have an insidious effect on the ethical decision making of the whole organization […].“Footnote 843 So zeigen auch weitere Studien den negativen Einfluss psychopathischer Führungskräfte auf unternehmerische Nachhaltigkeitsentscheidungen.Footnote 844 Des Weiteren betreiben Psychopathen, wie bereits im Kontext des Homo oeconomicus verdeutlicht, regelmäßig eine harte opportunistische Eigennutzverfolgung, welche häufig von der Wertschöpfung der Untergebenen profitiert, ohne selbst hierzu wesentlich beizutragen. Dies resümiert auch Boddy im Rahmen einer Case Study wie folgt: „[C]orporate psychopaths are reported to be parasitic in that they feed off the good work of others and this current research confirms this viewpoint. The psychopathic CEO has reportedly strengthened his own position and external reputation while weakening the organisation that employs him, especially in terms of its human resource capability and overall performance.“Footnote 845

Schließlich konnte neuerdings auch erstmalig gezeigt werden, dass Psychopathen, insbesondere in den Ausprägungen des traditionellen Homo oeconomicus, d. h. Kaltherzigkeit und opportunistischem EigennutzstrebenFootnote 846, wirtschaftskriminellen Handlungen eher zustimmen.Footnote 847 Gekoppelt mit fehlender Reue und FurchtlosigkeitFootnote 848 sowie der Unfähigkeit aus Sanktionen oder Strafandrohungen zu lernenFootnote 849, stellen Psychopathen folglich einen großen organisationalen Risikofaktor dar, wie der Untergang einiger Großunternehmen (so z. B. auch EnronFootnote 850) verdeutlicht. In diesem Sinne stellt auch Boddy fest, dass „once great companies of longstanding history and with previously unblemished and even dignified reputations have been brought down by the misdeeds of a few of their leaders.“Footnote 851 Ähnlich schlussfolgern auch Boddy et al.: „[I]t has been theorized that their presence and influence will ultimately lead to organizational destruction and that an ethically bankrupt organization will become financially bankrupt […].“Footnote 852 Hierdurch kommt es schließlich dazu, dass Psychopathen „destroy[] the company from within by causing good people to leave, needlessly abandoning good business plans and by destroying its ethical reputation.“Footnote 853

Darüber hinaus sind allerdings auch einige gesellschaftliche Konsequenzen zu nennen. So werden die betrügerischen Entscheidungen psychopathischer Führungskräfte für wirtschaftliche Schäden in Milliardenhöhe sowie wesentlich für die Finanzkrise mitverantwortlich gemachtFootnote 854 – mit der Konsequenz einer wiederum global notwendigen staatlichen Intervention zur Sicherung des Bankenwesens und der Finanzmärkte, welche wiederum weltweit zu einer stark ansteigenden Staatsverschuldung führte. Des Weiteren haben die historischen Unternehmensschieflagen evident nicht nur Auswirkungen auf die Shareholder, sondern die Gesamtheit der Stakeholder – so auch bspw. die Mitarbeiter der Unternehmen sowie deren Familien. In diesem Sinne resümiert Boddy: „This is important because when large financial corporations are destroyed by the actions of their senior directors, employees loose [sic!] their jobs and sometimes their livelihoods, shareholders lose their investments and sometimes their life savings and societies lose key parts of their economic infrastructure. Capitalism also loses some of its credibility.“Footnote 855 Gerade letzterer Aspekt weist darauf hin, dass die vielfältig vorkommenden moralischen Fehltritte nicht nur zu einer Untergrabung der einzelnen unternehmerischen Legitimität führen, sondern ebenso auf der Makroebene das Vertrauen in das marktwirtschaftliche System als Ganzes bedrohen. So stellen auch etliche Autoren fest, dass sich das Vertrauen in das Wirtschaftssystem auf einem historisch niedrigen Stand befindet.Footnote 856 In der Gesamtschau kann damit in Bezug auf die organisationalen sowie gesellschaftlichen Konsequenzen mit Boddy konstatiert werden, dass Psychopathen „therefore a menace to the companies they work for and to society“Footnote 857 sind. Ähnlich betonen auch Hossiep und Ringelband: „[S]ie können ganze Unternehmen oder gar Volkswirtschaften zugrunde richten.“Footnote 858 Ebenso resümieren schließlich auch Walker und Jackson: „Moral emotion deficits potentially confer advantages on individuals to reap themselves business rewards such as money and status. However, these same rewards are unlikely to confer an advantage on the organization or the broader society […].“Footnote 859

Damit ergibt sich aus wirtschaftsethischer Perspektive die Frage, welche Möglichkeiten der Prävention gegenüber Psychopathen bestehen.Footnote 860 Bisher vorgeschlagene Ansätze wie Screeningprozeduren bei der Rekrutierung von MitarbeiternFootnote 861 erscheinen allerdings nicht zielführend, denn diese können durch Psychopathen als „Meister der Täuschung“ leicht umgangen werden.Footnote 862 Aber auch laufende Screenings, so z. B. mit dem von Mathieu et al. entwickelten BusinessScan360Footnote 863, sowie einer reinen Sensibilisierung des Personals für die ThematikFootnote 864 führt möglicherweise zu einer Kultur des Misstrauens sowie der Gefahr, dass psychopathische Individuen Kollegen durch geschickte Fehlinformationen gegeneinander aufwiegeln. Darüber hinaus hat die Literatur auch die Nutzung von „Red Flags“ (z. B. zunehmende Krankenstände, Fehlzeiten etc.) als Warnindikatoren vorgeschlagen.Footnote 865 Obschon komplementär überaus sinnvoll, wirken diese ebenfalls lediglich ex post, können also den Eintritt in die Organisation (ex ante) kaum verhindern. Es gilt daher, wie auch Irtelli und Vincenti feststellen, die „importance of primary prevention“Footnote 866. Hierzu wurden neben Befragungen teilweise auch medizinische Tests, wie bspw. ein Gehirnscan mittels Magnetresonanztomographie [MRT], vorgeschlagen. So weisen Psychopathen eine deutlich geringere Erregung in bestimmten, für die Verarbeitung emotionaler Stimuli notwendigen Gehirnarealen auf, wenn diese Individuen z. B. mit Abbildungen von Gewalt oder Leid konfrontiert werden, welches wiederum mittels MRT sichtbar gemacht werden kann.Footnote 867 Allerdings zeigen sich hier neben praktischen Problemen der Durchführung auch etliche rechtliche wie ethische Fragen der Zulässigkeit solcher Prozeduren bei der Personalakquise. Aus diesem Grunde erscheint für die weitere Forschung insbesondere die Erforschung psychopathieresistenter Strukturen notwendig, so dass eine Organisation bereits zu Beginn als nicht attraktiv für psychopathische Individuen erscheint.Footnote 868 Neben der Veränderung der organisationalen Abläufe, wie teilweise vorgeschlagen wurdeFootnote 869, scheint gerade die Erforschung der gegenwärtig vorherrschenden Entlohnungssysteme fruchtbar zur Gestaltung psychopathieresistenter Organisationen. Damit ergibt sich auch ein expliziter Anknüpfungspunkt für die Controllingforschung wie -praxis. Folgt man der oben skizzierten Argumentation Kühns, so sollten gerade die traditionellen, individualorientierten monetären Incentives („Bonuszahlungen“), welche nach wie vor in vielen Großunternehmen vorherrschend sind, Individuen mit diesen problematischen Charakterzügen anziehen. Im Umkehrschluss sollten soziale Arbeitsbedingungen mit festen Löhnen eher abschreckend auf psychopathische Individuen wirken. Diese Überlegungen wurden schließlich in einer aktuell noch unveröffentlichten Studie des Autors dieser Arbeit anhand zweier Leithypothesen ausformuliert und nochmals anhand des gewählten Erhebungsinstruments der PPI-RFootnote 870 genauer spezifiziert.Footnote 871 Hierbei wurden insgesamt 210 Professionals via Social Networks sowie persönlicher Kontakte akquiriert, welche sich wiederum aus 118 Männern sowie 92 Frauen zusammensetzen (inter/divers/sonstige: 0). Außerdem sind 54 Personen dem oberen Management zuzuordnen, davon 20 CFOs großer deutscher Unternehmen des MDAX. Die inferenzstatistische Analyse bestätigt im Kern die aufgezeigten Hypothesen. Es kann festgestellt werden, dass mit zunehmendem Grad der Psychopathie Individuen ein Unternehmen mit traditionellen monetären Einzelincentives attraktiver bewerten. Umgekehrt werden Unternehmen, welche sehr stark auf Teamarbeit und Gruppenboni setzen, mit steigendem Ausmaß an Psychopathie schlechter evaluiert. Darüber hinaus werden insbesondere aber auch bei feinerer Auflösung der PPI-Skala die vorigen Hypothesen bestätigt. So zeigt sich, dass die Kerneigenschaften des Faktor 1-Psychopathen im Sinne des Homo oeconomicus-Paradigmas, d. h. insbesondere Kaltherzigkeit sowie Machiavellistischer Egoismus, eine zentrale Rolle bei der Attraktivitätsbewertung von Incentiveschemata einnehmen. Kurz subsumiert kann festgestellt werden, dass im Rahmen klassischer Anreizsysteme insbesondere die Ausprägung des Machiavellistischen Egoismus einen hochsignifikanten positiven Einfluss auf die Attraktivitätsbewertung hat, während dieser Faktor hochsignifikant negativ im Bereich der sozialen Arbeitsbedingungen bzw. Entlohnung (Gruppenbonus) ausfällt, darüber hinaus ist auch der Faktor Kaltherzigkeit signifikant negativ in Bezug auf die Attraktivitätsevaluation der sozialen bzw. teamorientierten Entlohnung. Diese Studie bestätigt folglich die Vermutung, dass gerade traditionelle Incentives bzw. klassische Anreizsysteme, wie diese nach wie vor in vielen großen Industrieunternehmen, aber gerade auch im Finanzwesen dominieren, in der Tat psychopathische Persönlichkeiten (bzw. insbesondere Faktor 1-Psychopathen bzw. „Corporate Psychopaths“) anziehen, während eine sozialere Entlohnungsstruktur abschreckend wirkt. Die Abkehr von traditionellen Individualboni und die Ermöglichung von mehr sozialer Interaktion und teambasierter Evaluation könnte demnach zukünftig ein bedeutendes Element einer psychopathieresistenteren Organisation darstellen. Beachtet man das zuvor aufgezeigte Risiko bzw. überaus destruktive Potential, welches psychopathisches Führungspersonal für den dauerhaften unternehmerischen Erfolg darstellt, so gilt vor dem aufgezeigten Hintergrund für das Controlling, dass dieses das Management bei Entscheidungen über den Einsatz von traditionellen Anreizsystemen klar über dessen Grenzen und insbesondere auch über die Gefahren einer Anziehung problematischer Charakterzüge im Sinne des negativen Selektionseffekts informieren muss.

Allerdings ist auch festzuhalten, dass ein verantwortungsvolles unternehmerisches Handeln noch nicht unkritisch bzw. alleinig durch extrinsische Anreize oder Sanktionen motiviert werden kann, denn dies würde aus mehreren Gründen zu kurz greifen, weshalb dem Begriff der Organisations- bzw. UnternehmenskulturFootnote 872 eine zentrale Bedeutung zukommt. Hiermit befasst sich die Arbeit im nachfolgenden Kapitel.Footnote 873

4.7 Verankerung unternehmensethischer Maßnahmen innerhalb einer integren Unternehmenskultur

Der Begriff der Unternehmens- bzw. Organisationskultur stellt einen Transfer des ursprünglich kulturanthropologischen Begriffs auf die Mesoebene dar. Obschon viele Autoren die große inhaltliche Bandbreite des allgemeinen Kulturbegriffs hervorhebenFootnote 874, haben einige Autoren Definitionen dieses Begriffs vorgeschlagen.Footnote 875 So stellt etwa Lüddemann fest: „Kultur ist ein Gefüge aus Bedeutungskomplexen, das Sinnangebote bereitstellt.“Footnote 876 Darüber hinaus konstatiert Nassehi: „Kultur versorgt uns [.] mit Chiffren darüber, was wie und für wen bedeutsam ist.“Footnote 877 Eine vielzitierte Definition stammt auch von Kluckhohn, welcher Kultur definierte als „patterned ways of thinking, feeling, and reacting, acquired and transmitted mainly by symbols, constituting the distinctive achievements in human groups, including their embodiments in artifacts; the essential core of culture consists of traditional (i.e., historically derived and selected) ideas and especially their attached values.“Footnote 878 Im Kern des Kulturbegriffs geht es folglich um die Vermittlung von Sinn sowie bestimmten Werten, welche, wie klassisch Hofstede feststellte, als „collective programming of the mind“Footnote 879 bzw. nach Geertz als „webs of significance“Footnote 880 fungieren. Die sozialwissenschaftliche Forschung hat dabei in den letzten Jahrzehnten den ursprünglich gesellschaftswissenschaftlichen Begriff auf die Mesoebene übertragen und somit der organisationswissenschaftlichen Forschung zugänglich gemacht, denn auch hier nehmen gemeinsam geteilte Wertvorstellungen unmittelbaren Einfluss auf die unternehmerische Praxis.Footnote 881

Die Bedeutung von Kultur lässt sich vor dem Hintergrund der vorigen Ausführungen an mehreren Punkten festmachen. So ist zuerst einmal festzustellen, dass extrinsische Anreizsysteme zur (angestrebten) Kultur des Unternehmens passen müssen, da diese neben dem Hervorrufen von Problemen in der wirksamen Führung sonst auch intendierte kulturelle Veränderungen konterkarieren können.Footnote 882 Darüber hinaus ist bei alleinigem oder zu starkem Fokus auf die Mitarbeiterführung durch extrinsische Incentives die Gefahr eines moralischen Crowding Outs zu nennenFootnote 883, d. h. die Verdrängung einer verinnerlichten Moralbeachtung (Ethos) bzw. ein Handeln aus Überzeugung durch extrinsische Anreize. Hinsichtlich einer auch an intrinsischer Motivation orientierten Führung der Mitarbeiter nimmt eine reflektierte Betrachtung der Unternehmenskultur folglich eine zentrale Position ein. Schließlich, und dies ist ebenfalls von Bedeutung, existiert das Problem der wirkungsvollen praktischen Implementierung von unternehmensethischen Maßnahmen (z. B. im Rahmen des Analytischen Frameworks). So ist gerade eine Unternehmenskultur, welche für ethische Überlegungen hinreichend anschlussfähig ist, für die Erfolgsaussichten einer Implementation unternehmensethischer bzw. normativer Instrumente bedeutsam. In diesem Sinne konstatiert auch Dobiasch, „dass die Organisationskultur tatsächlich eine zentrale Bedeutung für den Erfolg oder Misserfolg der Implementierung von Ethikmanagement hat.“Footnote 884 Insbesondere scheint klar, dass die wirksame Integration bzw. Institutionalisierung von unternehmensethischen Erkenntnissen in einem normativen Management die Bereitschaft voraussetzt, Ethikprogramme nicht nur beiläufig als „Labels“ oder kurzfristig wirksame Kommunikationsprogramme zu erachten, sondern die Maßnahmen durch alle Organisationshierarchien ernsthaft zu verfolgen. So darf sich die Umsetzung, wie auch analog im Bereich der Legitimierungsansätze und den Grenzen eines rein symbolischen Managements bereits herausgestelltFootnote 885, evident nicht nur lediglich proklamativ in der Unternehmenskommunikation (bspw. auf der Homepage bzw. im Geschäftsbericht) niederschlagen, sondern muss auch tatsächlich durch alle Ebenen des Unternehmens verfolgt werden, da die Maßnahmen sonst ins Leere laufen. Hierzu ist dann auch der „tone from the top“ entscheidend, d. h. gerade die obersten Managementebenen müssen kulturprägend und integer diese verantwortungsbewusste Kultur vorleben und ernsthaft unterstützen. Dabei wird gerade im ethischen Forschungskontext häufig die große Bedeutung der Integrität der Unternehmenskultur als „Erfolgsfaktor[] guter Unternehmenspraxis und gesellschaftlicher Wohlfahrt“Footnote 886 hervorgehoben.

Hinsichtlich der Bestimmung des Begriffs der Integrität existieren ebenfalls verschiedene konzeptionelle Vorschläge.Footnote 887 So fassen etwa einige Autoren Integrität vorherrschend deskriptiv im Sinne einer Verlässlichkeit oder einer Orientierung an inneren Werten (Ethos) auf. In diesem Sinne konstatiert etwa Radtke mit Mikrofokus: „Eine Person ist in dem Grade integer, in dem sie fortwährend ihr Handeln an ihren Werten und Grundsätzen ausrichtet. Einem Menschen schreibt man zu Recht Integrität zu, wenn er bei seinem Handeln konsequent seinen inneren Werten folgt und diese gegenüber äußeren positiven und negativen Sanktionen sowie anderen Konsequenzen bevorzugt.“Footnote 888 Ebenso stellen Grassl und Schmutz fest: „Integrität ist die Übereinstimmung der persönlichen Werte mit dem eigenen Handeln.“Footnote 889 In diesem Sinne definieren auch Yoder-Wise, Kowalski und Sportsman: „Integrity is being honest, consistent, and uncompromising […]. We demonstrate integrity when we act in alignment with our stated values, beliefs, and principles.“Footnote 890 Schließlich definiert Wendel Integrität „in the sense of maintaining fidelity over time to one’s own commitments and loyalties.“Footnote 891

Darüber hinaus existieren jedoch auch Ansätze, welche explizit auf einer normativen Basis aufbauen. So beginnen etwa Hügelmeyer und Glöggler zwar scheinbar rein deskriptiv mit der Feststellung, dass es bei Integrität „um die Übereinstimmung von Werten mit konkretem Reden und Handeln; sowohl eine Frage der Authentizität als auch der Bedeutung von Grundüberzeugungen“Footnote 892 gehe, fügen jedoch schon wenig später konkretisierend hinzu: „Integres Führungshandeln schließt auch ein, die Integrität und Würde anderer Menschen zu respektieren.“Footnote 893 Noch deutlicher normativ versteht etwa Ulrich, konsistent zu seiner Wirtschaftsethikkonzeption, welche auf dem Konzept des zivilisierten Wirtschaftsbürgers aufbaut, Integrität wie folgt: „Integer denkt und handelt, wer auch im Wirtschaftsleben den Kriterien eines ‚zivilisierten‘ Umgangs mit anderen treu bleibt.“Footnote 894 An anderer Stelle konstatieren ebenfalls Ulrich und Kaiser: „Eine konsequent (vor-)gelebte Integritäts- und Verantwortungskultur im Unternehmen soll Mitarbeitende auf allen Ebenen zu einem kritisch-loyalen Mitdenken befähigen, berechtigen und ermutigen.“Footnote 895 Gleichsam normativ geprägt stellen auch Dungy und Whitaker fest: „Integrity is what you do when no one is watching: it’s doing the right thing all the time, even if it may work to your disadvantage.“Footnote 896 Auch Lennick, Kiel und Jordan resümieren auf normativer Basis: „When we act with integrity, we harmonize our behavior to conform to universal human principles.“Footnote 897 Schließlich konstatiert auch De George pointiert: „Acting with integrity is the same as acting ethically or morally.“Footnote 898

Das Konzept der Integrität wird dabei organisational wiederum häufig einem reinen Complianceprogramm gegenübergestellt.Footnote 899 Dabei zeigt die Durchsicht der Literatur, dass interessanterweise beide Ansätze nicht nur, wie die Bezeichnung nahelegt, auf die zugrunde liegende Norm fokussieren. In diesem Zusammenhang scheint aus Sicht der vorausgegangenen Überlegungen klar, dass ein reines Compliancemanagement bereits inhaltlich als nicht hinreichend zur dauerhaften Sicherung der Unternehmensexistenz zu erachten ist. Darüber hinaus zeigt sich allerdings auch, dass beide Ansätze ebenfalls aus motivationaler Perspektive in Bezug auf die Organisationsmitglieder auf konträren Auffassungen basieren, welches wiederum auf die zugrunde liegende Kultur referenziert.Footnote 900 So ist bei den meisten klassischen Complianceprogrammen ein stark extrinsisch motivierter bzw. kontrollorientierter Charakter festzustellen. In diesem Fall liegt dann nicht nur ein starker Fokus auf der Konformität mit externen Standards, um kriminelles Fehlverhalten zu verhindern. Vielmehr wird darüber hinaus auch den Mitarbeitern, basierend auf den traditionellen informationsökonomischen Überlegungen, ein potentiell unbegrenzter Opportunismus unterstellt, welches zur (scheinbaren) Notwendigkeit des Aufbaus umfangreicher Überwachungssysteme und der Androhung von Sanktionsmaßnahmen zur Erzielung von Compliance führt. Demgegenüber basieren Ansätze der Literatur, welche auf ein Integritätsmanagement setzen, neben grundlegenden, absichernden KontrollmaßnahmenFootnote 901 wesentlich stärker auf einer Selbstkontrolle, Selbstverantwortung und der moralischen Vernunftfähigkeit sozialer Wesen. Sie beruhen damit einerseits auf der Feststellung, dass eine vollständige Überwachung nicht möglich oder sinnvoll ist, gerade im Kontext freiheitlicher Gesellschaften, sowie letztlich andererseits auf verhaltenswissenschaftlichen Erkenntnissen, wie sie sich im Konzept des Bounded OpportunismFootnote 902 widerspiegeln, welche auch die intrinsische Motivation zu wertekonformem Verhalten hervorheben.

An der Verankerung anhand einer Kultur der Integrität ist jedoch gerade vor dem Hintergrund unterschiedlicher Begriffsbestimmungen auch Kritik geübt worden. Diese Anmerkungen lassen sich, ähnlich zum geäußerten Relativismusvorwurf einer rein deskriptiven Ethik bzw. einer potentiellen „Kultur der Teufel“, kompakt so subsumieren, dass schließlich ebenfalls bspw. mafiöse Organisationen „Integrität“ aufweisen, also verlässlich, treu und nach bestimmten internen Werten verpflichtet handeln.Footnote 903 Eine solche Auffassung karikiert allerdings zum einen die vielfach existierenden, bereits normativ geprägten BegriffsauffassungenFootnote 904, welche eben nicht nur als formales Prinzip einer konsistenten Normverfolgung auftreten, sondern vielmehr auf einem bestimmten inhaltlich (humanistisch) vorgeprägten Verständnisses dessen, was integer verfolgt wird, aufbauen. Darüber hinaus lassen sich die kritischen Anmerkungen hinsichtlich einer unterstellten Beliebigkeit des Begriffsinhalts der Integrität gerade vor dem Hintergrund des vorgestellten zweistufigen Legitimitätsansatzes deutlich entkräften bzw. die Frage, nach welchen Werten die Integrität zu bestimmen sei, nochmals konzeptionell präziser fassen. So kann, basierend auf dem elaborierten zweistufigen Legitimitätsansatz, festgestellt werden, dass Integrität auf eine verinnerlichte, mit legitimen Mitteln stattfindende Verfolgung legitimer unternehmerischer Ziele zur Erfüllung (realisierbarer) legitimer Stakeholderansprüche fokussiert. Legitimität ist damit erstens nicht beliebig oder lediglich anhand der aktuellen Wertvorstellungen der handelnden Personen bzw. der Organisation zu bestimmen, sondern vielmehr nach der gesellschaftlichen Moral. Darüber hinaus ist auch zweitens eine kritische ReflexionFootnote 905 dieser vorherrschenden Moral an universellen Standards sowie ggf. fundierter normativer Konzepte möglich. Der Begriff der Integrität ist folglich erst recht vor diesem konzeptionellen Hintergrund nicht inhaltlich beliebig disponibel oder ethisch unterbestimmt. Eine Kultur, die in diesem Sinne ein Handeln mit Integrität, also eine verlässliche bzw. verinnerlichte (d. h. intrinsisch als bedeutsam empfundene) Beachtung legitimer Stakeholderansprüche verstärkt, kann hierdurch die Integration ethischer Maßnahmen und die Verwendung von Instrumenten wie dem Analytischen Framework klar unterstützen. In jedem Falle gilt bei der Implementation unternehmensethischer Maßnahmen auch die Relevanz der Unternehmenskultur zu beachten – oder: „culture matters!“Footnote 906