Der Vorgang, bei dem digitale Daten im Zuge der Computerisierung entstehen, gespeichert und manuell oder automatisch ausgewertet werden, entzieht sich der unmittelbaren und vollständigen Beobachtbarkeit durch den Menschen. Es mag zwar in gewissem Grad ein Bewusstsein über vermeintliche Konsequenzen oder Resultate geben, wenn digitale Daten entstehen, gespeichert oder ausgewertet werden. Man kann jedoch nicht vollumfänglich und oft nur mit großer Mühe im Ansatz nachvollziehen, wie Mechanismen der mittlerweile weltumspannenden Datenentstehung und -verwertung ablaufen und permanent produzierte Ergebnisse zustande kommen. Das hat vor allem zwei Gründe: Zum einen kann der technische Vorgang nunmehr, und damit anders als bei vielen anderen menschlichen Werkzeugen und Produkten, nicht direkt und umfassend über den visuellen menschlichen Wahrnehmungskanal aufgenommen werden. Der Computer, über den man in der Regel Zugang zu den digitalen Daten erhält, ist dann eine sogenannte ‚Black Box‘, deren Inhalt und interne Mechanismen für Betrachtende nicht unmittelbar ersichtlich sind. Zum anderen kommt es im Zuge der Digitalisierung, die hier zunächst als eine fortschreitende Computerisierung von Alltag und Lebenswelt zu verstehen ist, zu einer Vervielfachung und Verstetigung der datenproduzierenden Anwendungen und der informationstechnischen Werkzeuge, die einen Zugriff oder – um hier die Analogie des Sehens fortzuführen – einen Einblick in diese digitalen Daten erlauben und Datenverarbeitungsprozesse überhaupt erst möglich machen.

Die weitreichende Nicht-Einsehbarkeit der Artefakte der Computerisierung geht einher mit einer fast ebenso weitreichenden Nicht-Nachvollziehbarkeit ihrer latenten sozialen Mechanismen und der gesellschaftlichen Konsequenzen. Dabei ist es gerade die computergestützte Datenverarbeitung, die zusammen mit dem Überbegriff der Digitalisierung auf eine weitgehend positive Grundhaltung bei den Menschen stößt (acatech & Körber Stiftung, 2020; Bitkom, 2014; Europäische Kommission, 2010, 2017b; Initiative D21 e. V., 2020; Lünich & Marcinkowski, 2018). Die Gesellschaft weiß um die vermeintlich elementare Bedeutung der digitalen Computertechnik und informationsverarbeitender Systeme für die Welt. Sie beschreibt sich selbst mitunter bereits als eine digitale Gesellschaft. Ein Abschalten der Digitaltechnik ist also mittlerweile undenkbar geworden und es gibt vermeintlich kein Zurück hinter den Status quo. Vielmehr hat man sich mit dem gesellschaftlichen Vordringen von Phänomenen und Artefakten der Digitalisierung und mit der mit ihnen einhergehenden digitalen Datensammlung und -verwertung anscheinend abgefunden, trotz substantieller nachteiliger und risikobehafteter Entwicklungen wie bspw. Privatheitsrisiken und der Nicht-Nachvollziehbarkeit automatisiert im Hintergrund getroffener Entscheidungen durch vernetzte Computersysteme. Sei es unverzichtbare Steuerungstechnik in Industrie, Handel und Verkehr oder lediglich das Smartphone, auf das bereits die Mehrheit aller Jugendlichen im Leben nicht mehr verzichten will (Bitkom, 2019). Vielerorts wird mithin noch mehr Digitalisierung gefordert, selbst wenn zunächst oft ungeklärt bleibt, was eigentlich konkret gemeint ist, wenn mit Bezug auf die Verbreitung von Computertechnik und den damit einhergehenden gesellschaftlichen Veränderungen derzeit ganz allgemein von der Digitalisierung gesprochen wird.

Dieser Umgang der Gesellschaft mit der Digitalisierung wirft Fragen auf: Woher rühren die weit verbreiteten Überzeugungen von der positiven Wirkmächtigkeit der Digitalisierung? Worauf genau beziehen sich überhaupt die gesellschaftlichen Erwartungen, wenn es um den positiven Einfluss der Digitaltechnik geht? Und welche Konsequenzen haben diese Erwartungen für Legitimation und Delegitimation von Handeln und Entscheiden in der digitalen Gesellschaft?

Analog zum politischen Handeln bezieht auch das Handeln in der sich digitalisierenden Gesellschaft „seine Rationalität wie auch seine Legitimität aus bestimmten Annahmen oder Vorstellungen über die Wirklichkeit. Argumente, Programme und Begriffe (…) spiegeln nicht die reale Welt, sondern spezifische Interpretationen derselben wider“ (J. Hofmann, 1993, S. 13). Diesen mittelbaren wirklichkeitskonstruierenden Zugang und Umgang mit der Digitalisierung untersucht die vorliegende Arbeit an einem ihrer zentralen Elemente: den digitalen Daten, die im Zuge der Digitalisierung und der Verbreitung von Informations- und Kommunikationstechnologie (IuK) laufend weltweit entstehen, gespeichert, zusammengeführt und ausgewertet werden. Die hierbei entstehenden großen digitalen Datenbestände werden auch als Big Data bezeichnet: ein Begriff, der eine besondere Wahrnehmung von digitalen Daten und Erwartungen an diese formuliert.

Die Funktion digitaler Daten im Rahmen der Digitalisierung ist dabei ihrem Wesen nach zu allererst eine mathematische, betrifft hier Zahlen, Symbole und Formeln. Kurzum ist Information gemeint; ausgedrückt in einer binär codierten Sequenz von Zustandsbeschreibungen, die elementar für das Funktionieren der Digitaltechnik sind. Digitale Daten zeitigen dann allerdings insbesondere immer dort soziale Konsequenzen, wo sie menschliche Entscheidungen beeinflussen (Mau, 2017; Mayer-Schönberger & Cukier, 2013; Nassehi, 2019; Reckwitz, 2017). Doch wie nähert man sich einem nicht direkt und unmittelbar zu beobachtenden Untersuchungsgegenstand? Wie Hofmann (1993) betont, hat es sozialwissenschaftliche Forschung ja gerade „nicht mit eindeutigen Tatbeständen (…) zu tun, sondern mit theoriegeladenen Konstrukten, bestehend aus einem Amalgam sozialwissenschaftlicher und alltagsweltlicher Definitionen, Konventionen und Abstraktionen“ (S. 14). Als solch ein theoriegeladenes Konstrukt müssen mit Blick auf die notwendige Analyse ihrer sozialen Wirkmächtigkeit auch digitale Daten verstanden werden.

Die vorliegende Arbeit versucht dabei mittels einer umfassenden sozialwissenschaftlichen Analyse Antworten auf die zuvor aufgeworfenen Fragen zur Wahrnehmung der Digitalisierung in der Gesellschaft zu geben. Dabei ermöglicht das nachfolgend beschriebene Vorgehen eine empirisch geleitete Reflexion über die menschliche Perspektive auf eine der zentralen Erzählungen der digitalisierten Gesellschaft: den Mythos Big Data und seine Rolle für die gesellschaftliche Wahrnehmung der Entwicklungen der Digitalisierung. Die folgenden Ausführungen lassen sich dabei in zwei Teile aufteilen und geben die übergeordnete Strukturierung der Arbeit vor. Gesellschaftliche Diskurse zur datengetriebenen Digitalisierung und Wissensgesellschaft führen zu einem Wahrnehmungsmuster von digitalen Daten, das – so das Argument des ersten Teils der vorliegenden Arbeit – in einem weit verbreiteten Glauben in Bezug auf digitale Daten münden könnte. Wie gezeigt werden wird, vereint dieses sogenannte ‚Big-Data-Glaubenssystem‘ (BDGS) für das Individuum nur mittelbar zu erfahrende und somit weitgehend unnachprüfbare Eindrücke, die mit digitalen Daten im Rahmen der Digitalisierung verbunden sind. Diese Wahrnehmungen können vor dem Hintergrund der gesellschaftlichen Erzählung einer Wissensgesellschaft und deren Resonanz in den persönlichen Überzeugungen von Erkenntnis- und Nutzengewinnen integriert werden.

Dabei wird in Kapitel 2 zunächst allgemein auf die Digitalisierung als übergeordnetes Phänomen sowie auf die an sie unter den Vorzeichen sozialen Wandels gerichteten Erwartungen abgestellt. Es ist dann auf die digitalen Daten einzugehen, die bezüglich des (Selbst-)Verständnisses der digitalisierten Gesellschaft eine zentrale Rolle einnehmen. Abgeleitet von den geläufigen Definitionen des Begriffs Big Data wird in Kapitel 3 gezeigt, welche konkreten epistemischen Vorstellungen in Bezug auf die digitalen Datenbestände im Glaubenssystem bestehen können und mithin beobachtbar sein sollten. Dafür wird, ausgehend von den Beschreibungsdimensionen von Big Data, die ihren Ursprung in einer primär wissenschaftlich-industriellen Perspektive auf die großen digitalen Datenbestände nehmen, zum einen ein allgemeines Verständnis für die Beschaffenheit der digitalen Daten hergestellt. Zum anderen wird in Kapitel 4 der Verwertungs- und Wirkungszusammenhang digitaler Daten adressiert, der zu einem sogenannten Mythos Big Data beiträgt (boyd & Crawford, 2012). Die an diesen geknüpften Erwartungen an die Richtigkeit der Daten und aus ihnen gewonnenen Erkenntnis bilden zentrale Elemente des Glaubenssystems. Diese besondere Qualität der digitalen Daten für Erkenntnis und Wissen fallen hier auf einen fruchtbaren Boden, der in den letzten Jahrzehnten durch die öffentlichen Diskurse über die angesprochene Wissensgesellschaft bestellt wurde. In deren Rahmen hat eine Bewertungs- und Vergleichslogik Ausbreitung gefunden, die in Kapitel 5 besprochen wird und in deren Rahmen sich der vermeintliche Nutzen der Digitalisierung für Individuum und Gesellschaft durch die Quantifizierung des Sozialen verdeutlichen lässt. Eine Erwartungshaltung, die sich aus der Wahrnehmung der dokumentierten Potentiale digitaler Daten ergibt, lässt sich unter den Vorzeichen der Nicht-Nachprüfbarkeit der tatsächlichen Voraussetzungen, Qualitäten und Konsequenzen digitaler Daten dann in Kapitel 6 als Glaubenssystem skizzieren.

Es schließen folglich in Kapitel 7 Fragen nach der Prävalenz und Konsequenz dieses Big-Data-Glaubenssystems an, die im zweiten Teil der Arbeit empirisch beantwortet werden. Es wird dabei zunächst in einer ersten Studie eine standardisierte kognitionspsychologische Messung dieses Glaubenssystems vorgeschlagen, für die aufbauend auf den Beschreibungsdimensionen von Big Data eine Itembatterie für die Anwendung in Befragungsstudien entwickelt wurde. Wie in Kapitel 8 dokumentiert, kam diese Itembatterie in einer Erhebung zur Skalenkonstruktion zum Einsatz. Diese führt zu einer vierdimensionalen Befragungsskala, die auf Einschätzungen der Genauigkeit, des Wissensgewinns sowie des individuellen und gesellschaftlichen Nutzens der großen digitalen Datenbestände Bezug nimmt. Die Skalenentwicklung wurde dann nachfolgend in zwei weiteren Erhebungen validiert und Ergebnisse aus der Anwendung im Feld werden in Kapitel 9 berichtet. Es zeigt sich hierbei eine ausgeprägte Überzeugung von einem Wissensgewinn aus Big Data, der mit Erwartungen an zu realisierenden individuellen sowie gesellschaftlichen Nutzen durch die Sammlung und Auswertung großer digitaler Datenbestände einhergeht.

Mögliche Konsequenzen des Glaubens an digitale Daten für Legitimation und Delegitimation von Handeln und Entscheiden in der digitalen Gesellschaft werden dann in Kapitel 10 am Beispiel aktueller Fragen der gesellschaftlichen Einführung von Anwendungen der Künstlichen Intelligenz (KI) untersucht. Hierbei wurde in vier Erhebungen einer zweiten Studie geprüft, inwieweit sich prädispositive Glaubensüberzeugungen des BDGS auf kognitive, affektive und konative Komponenten der Einstellung zu Computeranwendungen auswirken, mit deren Hilfe Muster in den großen digitalen Datenbeständen erkannt werden können. Hierzu werden der Aufbau und die Ergebnisse der Untersuchungszusammenhänge jeweils nachvollziehbar dokumentiert und diskutiert. Schlussendlich werden in Kapitel 11 die Ergebnisse der Arbeit zum Glauben an Big Data zusammengefasst und vor dem Hintergrund aktueller globaler Entwicklungen eingeordnet sowie Empfehlungen und Anschlussfragen für die Zivilgesellschaft, die Politik und die Wissenschaft formuliert.