Das vorliegende Kap. 7 beantwortet die zweite Hauptfrage dieser Studie, wie bzw. über welche Ausbildungsqualitäten/-spezifika sich die FMS Gesundheit heute als Ausbildungsprogramm auf der Sekundarstufe II im Vergleich zur BGB FaGe profiliert.Footnote 1 Die im Titel dieser Studie behauptete Andersartigkeit der beiden Ausbildungsprogramme sowie die Unterschiede zwischen Ausbildungssituationen der FMS Gesundheit in unterschiedlichen Sprachregionen werden untersucht und mit empirischem Material belegt.

Die Ergebnisdarstellung gliedert sich entlang der beiden Ausbildungsprogrammen. Das bedeutet, dass die Ausbildungssituationen FMS Gesundheit und BGB FaGe in zwei gesonderten, jedoch analog strukturierten Abschn. (7.1 und 7.2) dargelegt werden. Die von Baethge (2006) zur Charakterisierung der beiden institutionellen Ordnungen von Allgemein- und Berufsbildung vorgeschlagenen und in der empirischen Analyse untersuchten Dimensionen (Zielgruppe, Bildungsziele, Bildungsinhalte, Wissensformen und Modi der Wissensvermittlung und -aneignung) leiten die Ergebnisdarstellung. Dabei wird an entsprechenden Stellen auf sprachregional unterschiedliche Ausbildungsspezifika bzw. deren unterschiedliche Ausprägungen verwiesen. Eine systematische Zusammenstellung dieser sprachregionalen Unterschiede in der Profilierung der FMS Gesundheit erfolgt in einem eigenständigen Abschn. (7.2.6), das die Ergebnisdarstellung zur Ausbildungssituation FMS Gesundheit abschließt. Anschließend wird in Abschn. 7.3 die Vergleichsperspektive wieder auf die beiden Ausbildungsprogramme FMS Gesundheit und BGB FaGe gerichtet und in tabellarischer Form die zentralen Unterschiede bezüglich der beiden untersuchten Ausbildungsprofile zusammengefasst.

7.1 Ausbildungsprofil BGB FaGe

Folgende Fragen, die die zu untersuchenden Qualitätsdimensionen repräsentieren, leiten die Ergebnisdarstellung der Ausbildungsspezifika der BGB FaGe:Footnote 2 Wie lässt sich die Zielgruppe der BGB FaGe beschreiben? Welche Bildungsziele werden in der BGB FaGe verfolgt? Welche Bildungsinhalte werden behandelt, welche Wissensformen resultieren daraus für die Lernenden und wie wird das Wissen vermittelt bzw. erworben?

7.1.1 Zielgruppe: Lernende

Gemäß Berufs-CheckFootnote 3 zählt der Kontakt mit Menschen sowie eine rasche und genaue Auffassungsgabe zu den wichtigsten Voraussetzungen für den FaGe-Beruf, während Einfühlsamkeit, Teamarbeit sowie eine körperliche und psychische Belastbarkeit als wichtige Fähigkeiten oder Interessen definiert sind. Ähnliche Eigenschaften (Bereitschaft im Team zu arbeiten, zur Übernahme von Verantwortung und dazu, sich mit anderen Menschen auseinandersetzen, sowie ein Interesse am menschlichen Körper) werden auch in der Informationsbroschüre der Laufbahnberatung Gesundheitsausbildungen des Kantons Zürich (Fall A) für die anvisierte Zielgruppe einer BGB FaGe genannt (Laufbahnberatung Gesundheitsberufe; OdA Gesundheit Zürich 2015).

7.1.1.1 Merkmale der FaGe-Lernenden

FaGe-Lernende lassen sich oftmals als «Macherinnen» (Leitung BGB FaGe Berufsfachschule_A) beschreiben. Das heisst, dass die mehrheitlich weiblichen FaGe-Lernenden oftmals «hinkommen und machen und die Theorie erst nachher entwickeln wollen, also, das heisst ausprobieren, händig tätig sein. Das ist etwas, das ich finde, zeichnet viele aus» (Leitung BGB FaGe Berufsfachschule_A). Die Lernenden wollen auch «unbedingt mit Menschen zusammenarbeiten, das ist so die Wunschvorstellung, viel Kontakt mit Menschen, sehr kommunikative Leute generell, das Herz häufig auch auf der Zunge» (Leitung BGB FaGe Berufsfachschule_A). Die Lernenden wählen die BGB FaGe also u. a. aufgrund von Eigenschaften, die typischerweise mit Weiblichkeit konnotiert werden (Joris und Witzig 1987) und in der häuslichen Welt Geltung beanspruchen. Die Tatsache, dass die FaGe-Ausbildung trotz steigendem Männeranteil nach wie vor eine «Frauendomäne» (Anderegg 2018) ist, konnte auch in den Unterrichtsbesuchen beobachtet werden: Das Geschlechterverhältnis der besuchten FaGe-Klasse war 21:6 bzw. 20:2. Der ausgehend von einem geringen Niveau leicht ansteigende Männeranteil bei den Eintritten in die BGB FaGe, ist aus Sicht von FaGe-Vertreterinnen und -Vertretern auf diverse Werbekampagnen z. B. gesundheitsberufe.ch oder puls-berufe.ch zurückzuführen, mit denen bewusst versucht wird, auch junge Männer für den FaGe-Beruf anzusprechen (Leitung BGB FaGe Berufsfachschule_A). Solche Werbekampagnen, verstanden als Forminvestitionen, tragen dazu bei, die Reichweite der rufförmigen Konvention zu vergrößern und das Image eines für beide Geschlechter attraktiven und angesehenen Berufes in der Öffentlichkeit zu verankern. Denn «[f]rüher hat man immer gesagt, ein Mann in der Pflege gleich schwul [sic]» (Bk-LP_1_AFootnote 4).

Die befragten Berufskundelehrpersonen weisen zur Charakterisierung der FaGe-Lernenden zudem auf eine große Heterogenität sowohl bzgl. der verschiedenen Nationalitäten als auch der schulischen Leistung hin (Bk-LP_2_A). Dies geschieht zum einen mit Blick auf die unterschiedlichen Leistungsniveaus, die die FaGe-Lernenden auf der Sekundarstufe I vorweisen. Zum anderen gebe es auch viele FaGe-Lernende, die die Freude am Lernen aufgrund diverser schulischer Misserfolge verloren haben (Bk-LP_2_A). Oftmals sind es die Fächer Mathematik und Sprachen, die den FaGe-Lernenden auf der Sekundarstufe I Schwierigkeiten bereitet haben. Die BGB-FaGe-Ausbildung kommt diesen jungen Menschen insofern entgegen, als diese Fächer «bei uns [in der Berufsfachschule, R. E.] nicht den gleichen Stellenwert haben, die Lernenden Mathematik und Deutsch halt vielleicht mehr anwendungsspezifisch brauchen, als dass es z. B. grammatikalisch richtig ist» (Bk-LP_2_A).

7.1.1.2 Ausbildungsmotive der FaGe-Lernenden

Die BGB FaGe ist für viele jungen Frauen eine «Wunschausbildung» (Bk-LP_1_A) bzw. ein «Wunschberuf» (Leitung BGB FaGe Berufsfachschule_A), erfordert aber aus Sicht einer langjährigen Berufskundelehrperson vor Ausbildungsbeginn «eine ganz bewusste Entscheidung» (Bk-LP_2_A). Auf die Frage, weshalb die FaGe-Ausbildung gewählt wurde bzw. was diesen Beruf ausmache, zählen die befragten Lernenden eine Reihe häuslicher Eigenschaften auf: helfen, das Soziale, den Patientinnen und Patienten nahestehen (FaGe-Lernende_1), das Zwischenmenschliche, die familiäre Atmosphäre im Team (FaGe-Lernende_3). Die Lernenden begründen ihre Ausbildungsentscheidung für die BGB FaGe und gegen eine schulische Ausbildung auf der Sekundarstufe II außerdem damit, dass «man sieht, wie das so ist, mit Erwachsenen zusammenzuarbeiten, und so etwas auch die ganze Teamarbeit, weil Schule ist doch einfach theoretisch» (FaGe-Lernende_2). Ein anderer Grund ist der Wunsch, «mal zu sehen, wie das Arbeiten ist» (FaGe-Lernende_1). Die befragten FaGe-Lernenden wollen «lieber arbeiten gehen als in die Schule. […] [I]ch finde irgendwie, das Arbeiten ist spannender» (FaGe-Lernende_3). Die Theorielastigkeit einer schulisch-allgemeinbildenden Ausbildung war auch der Grund dafür, dass sich eine der Lernenden für die duale BGB FaGe und gegen die FMS Gesundheit (deren Informationsabend sie besucht hat) entschieden hat. Diese FaGe-Lernende begründet ihre Entscheidung wie folgt:

Ich wollte später nicht zu denen gehören, die schlussendlich irgendwo arbeiten, die nur Schule hatten und nicht wissen, wie arbeiten ist, und irgendwie oben stehen [in der Berufshierarchie, R. E.] und einfach nicht wissen, wie arbeiten geht, sagen wir es mal so. […] Genau, und so wollte ich nicht enden. (FaGe-Lernende_1)

Diese häuslich-betrieblichen Ausbildungsmotive von Berufserfahrung bzw. Erfahrung in der Berufspraxis ergänzen die befragten Lernenden um das marktliche Motiv des Geldverdienens: «[E]in Grund war klar das Geld. Also wenn man jung ist, denkt man sich: ‹Wow, voll cool, man hat sein eigenes Geld, zwar nicht viel, aber dennoch›» (FaGe-Lernende_3; FaGe-Lernende_2).

Resümee Zielgruppe BGB FaGe

Die FaGe-Lernenden, die überwiegend aus jungen Frauen bestehen, werden von FaGe-Vertreterinnen und -Vertreter als «Macherinnen» (Leitung BGB FaGe Berufsfachschule_A) beschrieben, die gern händig tätig sind, die Interaktion mit Menschen und im Arbeitsteam schätzen und nicht die dazugehörige Theorie präferieren. Eine Herausforderung ist es aus Sicht von Berufskundelehrpersonen, die unterschiedlichen schulischen Leistungsniveaus, die es in den FaGe-Klassen gibt, zu handhaben, denn einige Lernende seien aufgrund diverser schulischer Misserfolge auch «schulmüde» (Bk-LP_2_A). Als Motive für die BGB FaGe und gegen eine schulische Ausbildung im Bereich Gesundheit betonen die Lernenden insbesondere häuslich-betriebliche Aspekte wie den Einblick in die Berufspraxis, den Wunsch, zu arbeiten, sowie das marktliche Argument des Geldverdienens.

7.1.2 Bildungsziele

Die Vermittlung und der Erwerb von «berufsspezifischen Qualifikationen» (Bundesversammlung der Schweizerischen Eidgenossenschaft 2002, Art.15) und einer «grundlegende[n] Allgemeinbildung» (Bundesversammlung der Schweizerischen Eidgenossenschaft 2002, Art.15) gelten gemäß neuem Berufsbildungsgesetz als übergeordnete Bildungsziele einer jeden drei- oder vierjährigen BGB. Im vorliegenden Kapitel werden diese beiden Bildungsziele spezifisch für die BGB FaGe betrachtet und es wird gezeigt, welche Bezugspunkte dabei leitend sind. Außerdem wird der Frage nachgegangen, welchen Stellenwert die Persönlichkeitsentwicklung in der BGB FaGe hat.

7.1.2.1 Handlungskompetenz in berufspraktischen Pflegesituationen

Das grundlegende Ziel der BGB FaGe ist die gezielte Vorbereitung der Lernenden auf die Ausübung der Berufstätigkeit als FaGe im Berufsalltag einer Institution des Gesundheitswesens. Entsprechend wird in der BGB FaGe grundsätzlich die «konkrete Anwendung des Wissens in der Praxis der Arbeitswelt» (Meyer 2019, S. 425) angestrebt. Denn «[s]chlussendlich sollen ja die Leute [die FaGe-Lernenden, R. E.] in der Handlungssituation in der Praxis das Theoriewissen abrufen und nützen können. […] [D]ort müssen sie handlungskompetent sein» (Bk-LP_1_A). Konventionensoziologisch betrachtet sind zwei Aspekte zentral: Erstens sollen sich die FaGe-Lernenden eine pflegespezifische Fachlichkeit aneignen, die sie künftig in berufspraktischen Handlungssituationen, z. B. in einem Spital oder Pflegeheim, unmittelbar anwenden und umsetzen können. Die Lernenden werden dieser industriellen Rationalität folgend, in der dreijährigen Berufsausbildung zu professionell einsatzfähigen und handlungskompetenten Fachkräften für den Arbeitsmarkt – d. h. «fertige[n] Produkten» («produits finis» [Derouet 1992, S. 106]) – ausgebildet (Boltanski und Thévenot 2007). Zweitens verfolgt die BGB FaGe das grundlegende Ziel, die Lernenden i. S. der marktlichen Rationalität mit einer Employability (Beschäftigungsfähigkeit) auszustatten und damit auf die Anforderungen des Arbeitsmarktes generell vorzubereiten.Footnote 5 Mit der gezielten Ausbildung handlungskompetenter FaGe sowie deren Vorbereitung auf die Anforderungen des Arbeitsmarktes im Gesundheitswesen vereint die BGB FaGe industrielle und marktliche Bildungsziele.

7.1.2.2 Vermittlung einer grundlegenden Allgemeinbildung

Die im allgemeinbildenden Unterricht vermittelte grundlegende Allgemeinbildung soll die Lernenden auf die Bewältigung sowohl «private[r] als auch berufliche[r] Herausforderungen» (SBFI 2006) vorbereiten und ist insbesondere zweckorientiert sowie alltagsnah.Footnote 6 Diese Zweckorientierung kommt darin zum Ausdruck, dass die Lernenden beispielsweise «keinen Aufsatz [schreiben], nur damit ein Aufsatz geschrieben ist» (Bk-LP_1_A). Vielmehr erfolgt der Sprachenerwerb berufsbezogen sowie themen- und handlungsorientiert (BBT 2006). So werden z. B. im Rahmen des übergeordneten Unterrichtsthemas Arbeit die deutschen Sprachkenntnisse trainiert, indem ein Arbeitsvertrag schriftlich aufgesetzt oder ein Bewerbungsschreiben verfasst wird (Bk-LP_1_A). Zusätzlich zu dieser funktionalen, zweckorientierten und damit industriellen Qualität zeichnet sich die in der BGB FaGe vermittelte Allgemeinbildung auch i. S. der häuslichen Konvention durch eine Nähe zur «vie quotidienne»Footnote 7 (Derouet 1992, S. 102) aus: Die Allgemeinbildung soll die FaGe-Lernenden darauf vorbereiten, «fit zu werden für das Leben» (Bk-LP_1_A), um Herausforderungen des privaten Lebens meistern zu können. Das Bildungsziel der Vermittlung einer grundlegenden Allgemeinbildung wird von den Befragten zusätzlich über arbeitsmarktbezogene Eigenschaften, die die marktliche Konvention widerspiegelt, valorisiert. Formatiert und stabilisiert ist dieser Kompromiss zwischen industrieller, marktlicher und häuslicher Konvention im Fall A z. B. im Lehrplan des allgemeinbildenden Unterrichts der untersuchten Berufsfachschule: Einerseits sind darin arbeitsmarktbezogene bzw. das Berufsleben betreffende Unterrichtsthemen definiert, die das Selbstverständnis der BGB FaGe als Zubringer zum Arbeitsmarkt unterstreichen, z. B. Der Lehrbeginn oder Arbeit und Zukunft. Andererseits finden sich im genannten Lehrplan aber auch Unterrichtsthemen, die den häuslichen Bereich des Lebens tangieren, z. B. Wohnen (z. B. Wohnformen, Wohnungssuche und Mietrecht) oder Zusammenleben (z. B. Formen des Zusammenlebens, Verlobung, Heirat und Ehe) (Zentrum für Ausbildung im Gesundheitswesen Kanton Zürich 2016).

7.1.2.3 Persönlichkeitsentwicklung

Obwohl nicht explizit im neuen Berufsbildungsgesetz als Bildungsziel verankert, ist die Persönlichkeitsentwicklung der FaGe-Lernenden ein wesentlicher Bestandteil der Ausbildung. Denn FaGe-Lernende müssen mit Ausbildungsbeginn (im noch jungen Alter von ca. 16 Jahren) insbesondere zwei Herausforderungen begegnen: erstens dem notwendigen Eintritt in den Berufs- und Erwachsenenalltag und zweitens der aufgabenbedingten unmittelbaren Konfrontation mit dem «Puls des Lebens» (Bk-LP_1_A), wie die nachfolgende Aussage einer Berufskundelehrperson verdeutlicht:

Also das ist in der Pflege wirklich speziell. Also kein anderer mit irgendwie 16, 17 [Jahren, R. E.] steht halt so im Leben […], manchmal halt auch knietief in der Scheiße, also, nicht wörtlich gesprochen, sondern halt effektiv. […] Also, ich meine die Werbung [für den FaGe-Lehrberuf, R. E.] ‹Am Puls des Lebens›, die ist so treffend. (Bk-LP_1_A)

Die Lernenden sollen über die Ausbildungszeit hinweg «reifer» (Leitung BGB FaGe Berufsfachschule_A) und «überlegter» (Leitung BGB FaGe Berufsfachschule_A) werden. Mit den Begriffen Lebensrealitäten, Tod und Krisensituationen (Leitung BGB FaGe Berufsfachschule_A) betont eine FaGe-Vertretung zusätzlich die Nähe zum und die Konfrontation mit dem täglichen Leben als besondere Gegebenheiten der Ausbildungssituation BGB FaGe, in der die Lernenden sich persönlich entwickeln sollen.

[D]er große Unterschied [zwischen einer schulischen und einer berufsbildenden Ausbildung. R. E.] ist, dass sie [die Lernenden, R. E.] mehr als zur Hälfte […] in der Praxis [sind]. […] Und dort sind sie halt Teil vom Erwachsenenleben, Teil vom Berufsleben, sofort. Also ab der ersten Lehrwoche sind sie Teil der Erwachsenenwelt und das ist der große Unterschied. Eine Schule ist immer eine geschützte Werkstatt, da kann ja de facto nichts passieren. Aber in der Praxis können sie natürlich wirklich Mist bauen, also gerade in der Pflege, es kann jemand wirklich Schaden nehmen. Also, wenn sie die Medis [Medikamente, R. E.] vertauschen […], [d]ann kann das eine Notfallsituation geben. [...] Sie [die FaGe-Lernenden, R. E.] werden sicher stark konfrontiert mit den Situationen. (Bk-LP_1_A)Footnote 8

Indem die FaGe-Vertreter/-innen insbesondere die Konfrontation mit der Lebensrealität sowie das Eingebundensein in die Berufs- und Erwachsenenwelt hervorheben, valorisieren sie insbesondere die betrieblichen Aspekte der häuslichen Konvention als besonders förderliche Rahmenbedingungen für die Entwicklung der Persönlichkeit. Ausgehend davon devalorisiert dieselbe FaGe-Vertretung ein schulisches Setting, i. S. einer «geschützten Werkstatt, [in der, R. E.] ja de facto nichts passieren kann» (Bk-LP_1_A), als ungeeignet. Denn im Vergleich zu FaGe-Lernenden, die während ihrer Ausbildung durch die Konfrontation mit dem «Puls des Lebens» (Bk-LP_1_A) erwachsen werden, bleibt ein Jugendlicher, der eine schulisch allgemeinbildende Ausbildung wie die FMS Gesundheit absolviert, «noch ein ziemliches Kind» (Bk-LP_1_A). Außerdem wird die unmittelbare Auseinandersetzung mit anspruchsvollen Lebenssituationen von FaGe-Vertreterinnen und -Vertreter als entscheidender Teil des Professionalisierungsprozesses der Lernenden gesehen. Im Sinne der industriellen Rationalität wird die Entwicklung der Persönlichkeit in der BGB FaGe demnach auch durch zweckdienliche, professionalisierende und funktionale Qualitätsaspekte charakterisiert, die insgesamt auf die Herausbildung einer Pflegefachpersönlichkeit abzielen. Die FaGe-Vertreter/-innen valorisieren die Entwicklung der Persönlichkeit in der BGB FaGe also mit Bezug sowohl auf die häuslich-betriebliche als auch auf die industrielle Konvention: Erstens geht es um ein Erwachsenwerden in Konfrontation mit der Berufs- und Alltagspraxis und zweitens um die Herausbildung einer Pflegefachpersönlichkeit, die eine zentrale Rolle im Professionalisierungsprozess von FaGe-Lernenden spielt.

Resümee Bildungsziele BGB FaGe

Zentrale Bezugspunkte für die Definition der Bildungsziele in der BGB FaGe sind die Berufsfachlichkeit und damit verbunden die Vorbereitung auf die Berufstätigkeit auf dem Arbeitsmarkt. Dies resultiert aus dem Selbstverständnis der BGB FaGe, ein funktionaler und gezielter Zubringer zum Arbeitsmarkt zu sein. In diesen Zusammenhang ist auch die Herausbildung einer Pflegefachpersönlichkeit einzubetten. Zu diesen industriellen Eigenschaften kommt eine klare Ausrichtung an den Erfordernissen des Arbeitsmarktes hinzu, was die marktliche Rationalität der BGB FaGe betont. Die häusliche Konvention ist die dritte Rationalität, die sich im Zusammenhang mit den Bildungszielen der BGB FaGe als bedeutsam erwiesen hat: einerseits im Hinblick auf die Vermittlung von Allgemeinbildung, die sich u. a. auch am Alltagsleben und den sich darin stellenden Aufgaben orientiert, andererseits um das Erwachsenenwerden als bedeutsames Bildungsziel für die Ausbildung angehender FaGe zu valorisieren. Betont haben die FaGe-Vertreter/-innen in diesem Zusammenhang insbesondere häuslich-betriebliche Eigenschaften als förderlicher Rahmen, während das schulische Setting in diesem Zusammenhang zurückgewiesen wurde.

Im Folgenden wird aufgezeigt, welche Bildungsinhalte zum Erreichen dieser Bildungsziele vermittelt werden. Diese Ausführungen sowie diejenigen in den Kapiteln zu den Wissensformen und der Wissensvermittlung und -aneignung beschränken sich aus forschungspragmatischen Gründen sowie Gründen der besseren Vergleichbarkeit der beiden Ausbildungsprogramme auf die berufs(feld)spezifischen schulischen Ausbildungsbestandteile. Für die BGB FaGe entspricht dies dem Berufskundeunterricht. Die restlichen Ausbildungsbestandteile – der allgemeinbildende Unterricht sowie die überbetrieblichen Kurse – werden nicht berücksichtigt. Insbesondere eine konventionensoziologische Analyse der überbetrieblichen Kurse wäre interessant, weil dieser «dritte Lernort» (Minder 2019) strukturell ein berufspraktisches und ein schulisches Lernsetting vereint.

7.1.3 Bildungsinhalte

Um die Lernenden für die Berufstätigkeit als FaGe zu befähigen, stehen die in der BGB FaGe vermittelten Bildungsinhalte klar im Dienst der beruflichen Tätigkeiten bzw. der Ausübung des Berufes (SBFI 2017; Veillard 2017Footnote 9):

Sie [die FaGe-Lernenden, R. E.] werden darauf vorbereitet, dass sie mit den Patientinnen und Patienten im alltäglichen Teil, also bei den Aktivitäten, die jeder Mensch jeden Tag macht, dort im Prinzip eigenständig mit den Patientinnen und Patienten umgehen können. (Bk-LP_2_A)

Die Organisation der Bildungsinhalte folgt dieser starken Ausrichtung an den pflegespezifischen Handlungskompetenzen und -bereichen (Dietzen 2015; Heinemann 2012; Scharnhorst und Kaiser 2018) und nicht einer fachdisziplinären Logik, wie dies in der FMS Gesundheit der Fall ist.Footnote 10 Eine Berufskundelehrperson verdeutlicht diesen Sachverhalt folgendermaßen:

Fakt ist, dass wir nicht Fachunterricht geben […], sondern, dass es in der FaGe-Ausbildung ganz klar an Kompetenzen orientiert ist. […] Es ist wirklich weg von ‹Guten Morgen, zwei Lektionen Bio[logie]›. Das ist es nicht, das ist es gar nicht. (Leitung BGB FaGe Berufsfachschule_A)

Diese Verwertbarkeit und Anwendbarkeit der Bildungsinhalte und damit die industriellen Qualitätseigenschaften der im Berufskundeunterricht vermittelten Bildungsinhalte sind in zentralen Grundlagendokumenten der BGB FaGe wie dem Bildungsplan EFZ FaGe sowie dem darin enthaltenen Qualifikationsprofil formatiert (Tab. 7.1).Footnote 11

Tab. 7.1 Qualifikationsprofil EFZ FaGe.

Das Qualifikationsprofil EFZ FaGe fasst alle während der BGB FaGe zu erwerbenden beruflichen Handlungskompetenzen zu acht sogenannten Handlungskompetenzbereichen zusammen (OdASanté 2016). Die beruflichen Handlungskompetenzen repräsentieren die zentralen Aufgaben des Berufsbildes FaGe, weisen einen engen berufs- und pflegespezifischen Bezug auf, leiten das Pflegehandeln klar an, sind an den Bedürfnissen des Arbeitsmarktes in der Pflege ausgerichtet und werden dort nachgefragt (SBFI 2017).Footnote 12 Die zu erlernenden Bildungsinhalte sollen mit Blick auf die Ausübung der Berufstätigkeit als FaGe zweckdienlich und funktional nützlich sein (Veillard 2017). Es sind die im Rahmen der Berufstätigkeit als FaGe konkret anfallenden Aufgaben, die als grundlegende Bezugspunkte für die Definition und Legitimation der relevanten Bildungsinhalte fungieren. Aus Sicht einer Berufskundelehrperson geht es stets darum, «dass ich [als FaGe, R. E.] in der Situation professionell handeln kann. […] Also sie [die Lernenden, R. E.] sollten wirklich sagen: ‹Ich kann, ich kann, ich kann, ich kann›» (Bk-LP_1_A). Die Definition der relevanten Bildungsinhalte folgt also einer industriellen Logik i. S. einer «série de savoir-faire»Footnote 13 (Derouet 1992, S. 106), wonach «c’est la tâche qui est première et c’est à partir d’elle que doit être conçue l’organisation scolaire»Footnote 14 (Derouet 1992, S. 106).

Als «reine Grundbildung» (Leitung BGB FaGe Berufsfachschule_A; Bk-LP_2_A; FaGe-Lernende_3; FaGe-Lernende_2), «eher breite» (Leitung BGB FaGe Berufsfachschule_A), «generalistische Ausbildung» (Bk-LP_2_A) umfassen die in der BGB FaGe vermittelten Bildungsinhalte

kein Hintergrundwissen, um bis ins Detail zu verstehen, was jetzt zum Beispiel Krankheiten sind. Sie [die FaGe-Lernenden, R. E.] bekommen bei gewissen Erkrankungen einen guten Hintergrund, damit sie die Aktivitäten gut durchführen können, aber nicht mehr, also nicht im Detail, was macht jetzt das mit dem Blutbild, wenn das so und so ist, und warum mache ich denn das und dieses und jenes. (Bk-LP_2_A)

Naturwissenschaftliche Fächer wie Biologie und Chemie werden nicht als eigenständige disziplinäre Fächer unterrichtet, sondern fließen als «Bezugswissenschaften» (Leitung BGB FaGe Berufsfachschule_A) in den Berufskundeunterricht ein, wenn es inhaltlich um thematische Blöcke wie Anatomie, Physiologie, Atmung und Harnwegsinfektionen geht, «[a]ber es ist nicht so, dass wir Grundlagen in Biologie machen» (Leitung BGB FaGe Berufsfachschule_A).

Bestimmte berufliche Handlungskompetenzen (z. B. die in Tab. 7.1 umrahmten) sind körperbezogen, dringen in die Privat- und Intimsphäre von Patientinnen und Patienten ein und tangieren Tabus, wie eine Berufskundelehrperson in ihrer Aussage zum Ausdruck bringt: «Ich denke, es gibt kaum eine Ausbildung, in welcher es so gar kein Tabu gibt. […] Also, ja, es wird alles zum Thema, alles, also halt von Ausscheidungen über das Sterben, über Sex, über Gewalt, einfach alles» (Bk-LP_1_A). Die FaGe-Vertreter/-innen valorisieren die in der BGB FaGe vermittelten Bildungsinhalte als Teil eines «univers très perméable à des valeurs comme l’affectivité [et] le corps»Footnote 15 (Derouet 1992, S. 102). Diese häusliche Qualitätseigenschaft wird auch daran sichtbar, dass den FaGe-Lernenden Inhalte vermittelt werden, «die man auch für das normale Leben neben dem Job brauchen kann. Sie haben Schulstunden in Ernährung, in Alltagsgestaltung, in Hauswirtschaft» (Leitung BGB FaGe Berufsfachschule_A). Die Bildungsinhalte weisen demnach auch eine Verknüpfung mit dem alltäglichen Leben auf (Derouet 1992).

Das bereits eingeführte Qualifikationsprofil EFZ FaGe, Semesterpläne von Berufsfachschulen sowie das professionelle Selbstverständnis der Berufskundelehrpersonen, die sich nicht als Biologie- oder Chemielehrperson verstehen, sondern immer wieder betonen: «[I]ch unterrichte PFLEGE, (mit Nachdruck) ich unterrichte PFLEGE. […] Ich bin Berufskundelehrer für PFLEGE» (Bk-LP_1_A), fungieren als teils materielle und teils immaterielle Formate, die zusammen ein Qualitätsdispositiv in der Ausbildungssituation der BGB FaGe aufspannen. Diese unterschiedlichen Formate verankern sowohl industrielle als auch häusliche Qualitätseigenschaften in der Ausbildungssituation der BGB FaGe, stabilisieren deren Reichweite und bringen deren Mächtigkeit zum Ausdruck.

Resümee Bildungsinhalte BGB FaGe

Zusammenfassend wird festgehalten, dass die in der BGB FaGe vermittelten Bildungsinhalte als Serie aufeinander aufbauender beruflicher Handlungskompetenzen eines spezifischen Berufsprofils definiert sind, die der pflegespezifische Berufsalltag von einer professionellen und handlungskompetenten FaGe verlangt. Die Legitimität der Bildungsinhalte definiert sich in der BGB FaGe demnach i. S. der industriellen Konvention über deren unmittelbare Verwertbarkeit und Anwendbarkeit mit Blick auf die pflegespezifische Handlungsfähigkeit bzw. die Berufstätigkeit auf dem Arbeitsmarkt (Chatel 2006). Ergänzend berufen sich die befragten FaGe-Vertreter/-innen auf Qualitätseigenschaften der häuslichen Konvention, um die in der BGB FaGe zu erlernenden Bildungsinhalte zu valorisieren: die Auseinandersetzung und Konfrontation mit tabuisierten Themen, die menschliche Nähe und Vertrautheit erfordern, sowie eine zum Teil enge Verknüpfung zwischen den Bildungsinhalten und dem alltäglichen Leben.

7.1.4 Wissensformen

Die Bildungsverordnung zur BGB FaGe unterscheidet drei Wissensformen, die sich FaGe-Lernende aneignen müssen (SBFI 2016b): handlungsleitende Kenntnisse (darunter Fach- bzw. Faktenwissen, theoretische Konzepte, Normen und Regeln), Fähigkeiten (wie der Umgang mit Instrumenten, Apparaten, Patientinnen und Patienten sowie das Vertrautsein mit Prozeduren und Abläufen des Berufsalltags) und Haltungen (Werte und Einstellungen). Der Bildungsplan EFZ FaGe weist für jede zu erwerbende berufliche Handlungskompetenz diese drei Wissensformen detailliert aus (OdASanté 2016). Im Folgenden werden diese unterschiedlichen Wissensformen konkret ausgeführt und es wird aufgezeigt, durch welche Qualitätseigenschaften sich diese auszeichnen.

7.1.4.1 Handlungsleitende Kenntnisse

Die handlungsleitenden Kenntnisse, die sich die Lernenden im Berufskundeunterricht aneignen, beschreibt eine Berufskundelehrperson als «sehr, sehr berufsspezifisch und wenig in dem Sinne allgemeinbildend» (Bk-LP_1_A). Entsprechend geht es für FaGe-Lernende

nicht darum, zu wissen, wie Zucker in einer Pflanze entsteht oder weshalb die Fischschwärme in den Ozeanen sterben. […] Es geht wirklich einfach darum: Was brauche ich, um das Grundverständnis zu haben, um schlussendlich z. B. die Infusionen verabreichen zu können? (Bk-LP_1_A)

Ein allgemeines, abstraktes und von der konkreten Berufstätigkeit losgelöstes Wissen – wie es in der staatsbürgerlichen Konvention Geltung beansprucht – wird also für die Charakterisierung der im Berufskundeunterricht erlernten Wissensform zurückgewiesen. Vielmehr wird ein funktional auf die Ausübung und Bewältigung berufstypischer Pflegetätigkeiten ausgerichtetes Wissen valorisiert (Scharnhorst und Kaiser 2018). Diese industrielle Qualität der handlungsleitenden Kenntnisse ermöglicht Absolventinnen und Absolventen einer BGB FaGe den unmittelbaren Eintritt in den Arbeitsmarkt sowie die Aufnahme der Berufstätigkeit. Außerdem ermöglicht dieses industrielle Wissen auch, dass sich die Lernenden insbesondere am betrieblichen Lernort oftmals in einem planenden und voraussichtigen Handlungsmodus bewegen, in dem sie situativ die richtigen Pflegemaßnahmen durchführen.

Anhand dreier Beispiele wird im Folgenden verdeutlicht, inwiefern diese industriellen Qualitätsmerkmale der im Berufskundeunterricht angeeigneten Wissensform in der Ausbildungssituation formatiert, materialisiert und verankert sind. Als erstes Beispiel dient ein während des beobachteten Berufskundeunterrichts zu bearbeitender Arbeitsauftrag, in dem die FaGe-Lernenden Fragen der folgenden Art beantworten mussten (persönliches Skript Berufskundelehrperson):

  • «Welche atemunterstützende Lagerung kann die FaGe bei Frau Menghi anwenden? Was bewirkt diese Lagerung?»

  • «Worauf muss die FaGe bei der Inhalation von Frau Menghi achten?»

  • «Bei einem Angina-pectoris-Anfall wird Nitroglyzerin eingesetzt. Wie ist dieses Medikament in Kapselform einzunehmen?»

Abgefragt wird ein handlungs- bzw. anwendungsorientiertes, funktionales und zweckdienliches Wissen, das sich an den im Rahmen der Berufstätigkeit als FaGe wahrzunehmenden Aufgaben orientiert. Analog werden die industriellen Qualitätseigenschaften des im Berufskundeunterricht zu erwerbenden Wissens (Handlungsorientierung, Berufsfachlichkeit, Funktionalität), als zweites Beispiel, in schriftlichen Prüfungsfragen formatiert. Zum Thema Niereninsuffizienz können folgende Prüfungsaufgaben exemplarisch aufgeführt werden (persönliches Skript Berufskundelehrperson):

  • «Der Arzt verordnet bei Frau Russi tägliche Gewichtskontrolle. Nennen Sie zwei Punkte, auf die Sie bei der Durchführung achten müssen.»

  • «Frau Russi leidet jetzt auch unter Juckreiz am ganzen Körper. Beschreiben Sie zwei pflegerische Maßnahmen, mit denen Sie zur Linderung beitragen können.»

Zum Thema Wunden und Wundheilung kann folgende Prüfungsaufgabe genannt werden (persönliches Skript Berufskundelehrperson):

  • «Frau Pulver möchte von Ihnen wissen, was sie machen kann, damit ihre Wunde besser heilt. Beschreiben Sie zwei Maßnahmen, die Frau Pulver beachten sollte.»

Die Berufsfachlichkeit als Wissensform der industriellen Konvention ist, als drittes Beispiel, auch in der kognitiven Form der pflegespezifischen Fachsprache stabilisiert (OdASanté 2016).Footnote 16 Das Erlernen einer gesundheitsspezifischen Fachsprache ist dabei für angehende FaGe insbesondere bedeutsam, um im stark berufshierarchisch gegliederten Gesundheitswesen von tertiär ausgebildeten Ärztinnen und Ärzten sowie Pflegefachkräften als qualifizierte Fachkräfte wahrgenommen zu werden (Bk-LP_1_A). Die pflegespezifische Fachsprache als kognitives Format der industriellen Konvention ist in der Ausbildungssituation auch in einem eigenen Lehrmittel – dem FaGe-Glossar – materialisiert.

7.1.4.2 Fähigkeiten

Am betrieblichen Lernort pflegen FaGe Patientinnen und Patienten in unmittelbarem Körperkontakt. Um im Pflegeprozess z. B. Wundverbände zu wechseln, eine Intimpflege durchzuführen oder ein Gespräch mit dementen Patientinnen und Patienten zu führen, sind Handarbeit sowie körperlicher Einsatz gefragt. Es ist primär im Betrieb, aber auch in den überbetrieblichen Kursen, in denen sich die Lernenden dieses pflegespezifische «Handling» (Bk-LP_2_A) i. S. spezifischer Handgriffe aneignen. Diese sind nötig, um z. B. Blutentnahmen oder subkutane bzw. intramuskuläre Injektionen durchzuführen, Patientinnen und Patienten mit gelähmten Extremitäten oder Demenz richtig zu mobilisieren (Bk-LP_1_A). Dieses betrieblich-berufliche Erfahrungswissen (Böhle 2015; Dietzen 2015) ist zentral, denn «[d]ie Pflege ist zu einem sehr großen Teil Handarbeit» (Bk-LP_1_A). Die Lernenden werden im betrieblichen Ausbildungsteil aber auch mit Routinen alltäglicher pflegespezifischer Arbeitsprozesse und -abläufe vertraut gemacht, wie dem Führen der Patientendokumentationen. Erkennbar wird hier, dass die insbesondere im praktischen Ausbildungsteil der BGB FaGe zu erlernenden Wissensformen Qualitäten der häuslich-betrieblichen Konvention betonen. Dazu gehören körpergebundenes und spezifisches betrieblich-berufliches Erfahrungswissen, berufspraktische Fertigkeiten (Handling) sowie Arbeitsprozess- und Betriebswissen.

Den FaGe-Lernenden werden ihrem Ausbildungsstatus entsprechende Handlungskompetenzen übertragen, um bestimmte Aufgaben der öffentlichen Gesundheitsversorgung wahrzunehmen. Wie Teun Zuiderent-Jerak (2007) zeigt, sind die Lernenden dabei mit unterschiedlichen Auslegungen des Gemeinwohls konfrontiert, das sie mit ihren Handlungen anstreben. Dazu gehören u. a. Rationalisierung und Standardisierung der Pflegemaßnahmen (industrielle Konvention), individuelle Orientierung am Patienten bzw. an der Patientin (häusliche Konvention) und Kosteneinsparungen in der Pflege (marktliche Konvention). Hinzu kommt, dass sich FaGe-Lernende die Kompetenz aneignen müssen, sich im beruflichen Pflegealltag zwischen verschiedenen Handlungsregimen zu bewegen (Thévenot 2009). Das Handlungsregime des rechtfertigbaren Handelns ist qua Berufsauftrag immer präsent. Die Lernenden müssen jedoch in ihrem Ausbildungsalltag immer wieder einfache spezifische Pflegemaßnahmen durchführen, die i. S. einer «planerischen und voraussichtigen Handlungslogik» (Vogel 2019, S. 445) vorbereitet, vorstrukturiert und geplant werden. Entsprechend bewegen sich die FaGe-Lernenden im betrieblichen Ausbildungsalltag auch immer wieder im Regime des planenden Handelns (Thévenot 2010). In Anlehnung an Vogel (2019, S. 440) kann in diesem Zusammenhang festgehalten werden, «dass das tägliche Handeln in Organisationen nicht per se auf Rechtfertigungsordnungen fußt, sondern, dass es Dispositive als ‹Stützen der Handlung› sind, welche Rechtfertigungsordnungen an das planende Handeln vermitteln». Der Bildungsplan sowie das darin enthaltene Qualifikationsprofil EFZ FaGe sind als Forminvestitionen Teile eines solchen Dispositivs, das den rechtfertigbaren Handlungsmodus bei der Wahrnehmung der öffentlichen Gesundheitsversorgung qua Berufsauftrag in konkrete pflegespezifische Handlungskompetenzen in planendes Handeln übersetzt.

Während dieses planenden und vorausschauenden Handelns werden die Lernenden immer wieder mit Pflegesituationen konfrontiert, die Tabus, die Intimsphäre oder eine besondere Nähe zu einem Patienten bzw. einer Patientin tangieren, wie es eine 18-jährige FaGe-Lernende im Zusammenhang mit einer ihr in Erinnerung gebliebenen Pflegesituation exemplarisch erzählt:

Ich habe es gerne, besonders jetzt auch demente Personen, die nahe am Tod sind, die Nähe suchen und umarmen wollen. Manchmal geben sie dir auch Küsschen auf die Wange und erzählen Geschichten von früher. Manchmal erzählen sie von der Mama und vom Papa, die zwar nicht mehr existieren, aber für sie [als demente Personen, R. E.] schon noch. Und dann weinen sie [die dementen Personen, R. E.] auch und du kannst sie in den Arm nehmen, du kannst sie trösten. Besonders Demente sind oftmals wie Kinder und du gibst die Nähe, die sie brauchen. Und ich finde das am Schönsten an meinem Beruf. (FaGe-Lernende_1)

Dieses Beispiel zeigt, wie die FaGe-Lernende in dieser spezifischen Situation das Regime des planenden Handelns verlassen und während des Besuchs im Zimmer des Patienten bzw. der Patientin ins Regime des Handelns im Vertrauten wechseln muss. Mithilfe der Körpersprache (Thévenot 2010) versucht die Lernende den situativen Bedürfnissen des Patienten bzw. der Patientin gerecht zu werden und ihr bzw. ihm das zu geben, was er bzw. sie in diesem spezifischen Moment braucht (Thévenot 2009).Footnote 17 Im Sinne einer Verknüpfung zwischen diesen beiden Handlungsregimen müssen FaGe-Lernende also die «Handhabung» (Vogel 2019, S. 440) solcher Situationen lernen. Wäre beispielsweise im Moment der Umarmung eine dritte Person ins Patientenzimmer eingetreten und hätte als Ausdruck der «Empörung» (Vogel 2019, S. 441) gefragt, was los sei, hätte die FaGe wiederum einen situativen Wechseln ins Regime des rechtfertigbaren Handelns machen müssen und mit Bezug auf eine Konvention rechtfertigen müssen, dass sie als FaGe in ihrem Handeln z. B. nicht in das Regime der Liebe gefallen sei.Footnote 18

Eine wesentliche für FaGe-Lernende zu erwerbende Fähigkeit besteht also zusätzlich zur Aneignung des praktischen Handlings auch darin, situativ zwischen verschiedenen Handlungsregimen zu wechseln, was von Thévenot (2009, S. 808) als «delicate composition work between regimes» bezeichnet wurde. Dieses im Berufsalltag immer wieder situative «Gefangensein» (Thévenot 2014, S. 14) zwischen divergierenden Handlungsimperativen charakterisiert den FaGe-Beruf als sogenannte «intermediary profession» (Thévenot 2014, S. 14), in der die FaGe situativ immer wieder Spannungen und die Gleichzeitigkeit unterschiedlicher Handlungsmodi handhaben müssen (Thévenot 2009; Vogel 2019). Diese von Thévenot (2014, S. 14) auch als «art of composition» bezeichnete Fähigkeit ist als wesentlicher Bestandteil des Professionalisierungsprozesses von FaGe-Lernenden zu betrachten (Dahmen 2019).

Zusammengefasst bedeutet dies, dass sich die FaGe-Lernenden im betrieblichen Lernsetting häusliche Wissensformen wie praktisches Erfahrungswissen i. S. praktischer Handgriffe und Routineabläufe aneignen. Außerdem sind die FaGe-Lernenden durch die Konfrontation mit Patientinnen und Patienten sowie in der Interaktion mit diesen immer wieder gezwungen, zwischen unterschiedlichen Rechtfertigungsordnungen und den damit verbundenen Vorstellungen des relevanten Gemeinwohls zu vermitteln sowie situativ zwischen unterschiedlichen Handlungsregimen zu wechseln und Situationen entsprechend zu handhaben.

7.1.4.3 Professionelle Haltung

Viele Situationen im Pflegealltag sind moralisch anspruchsvoll, oftmals sind FaGe auch mit ethischen Dilemmata konfrontiert. Um in solchen Situationen professionell handeln zu können, ist die Auseinandersetzung mit den eigenen Haltungen essenziell, wie es eine Berufskundelehrperson betont:

Wenn ich zum Beispiel jemanden betreue, der eine Suchterkrankung hat, dann kann ich das Fachwissen über die Suchtmittel haben oder überhaupt über das Thema Suchterkrankungen. Ich kann vielleicht sogar die Fähigkeiten in einer deeskalierenden Gesprächsführung haben, aber, wenn ich Süchtige einfach Arschlöcher finde, die ohnehin quasi selbst schuld sind, dann kann ich nicht professionell einen Suchterkrankten betreuen. Das meine ich mit Haltung. […] Also muss ich mich, und das machen unsere FaGe ständig, immer extrem mit meiner Haltung zum Thema auseinandersetzen, natürlich nicht bei der Anatomie des Bewegungsapparats, aber sobald es dann wirklich ans Eingemachte geht. (Bk-LP_1_A)

Diese Auseinandersetzung mit den eigenen Haltungen zu Aspekten des Pflegealltags, in denen existenzielle Themen behandelt werden, impliziert ein während der BGB FaGe stattfindendes «encadrement morale» (Derouet 1992, S. 96) der Lernenden. Diese moralische Charakterbildung trägt gemäß einer Berufskundelehrperson zur Entwicklung der Persönlichkeit der Lernenden bei (Bk-LP_1_A). Ethisch-professionelle Haltungen, verstanden als eine der drei zentralen während der BGB FaGe zu erwerbenden Wissensformen, werden von den Akteurinnen und Akteuren also mit Bezug auf die häusliche Konvention valorisiert, gemäß welcher charakterbildende Ausbildungseigenschaften von Bedeutung sind.

Resümee Wissensformen BGB FaGe

Die BGB FaGe kennt drei unterschiedliche Wissensformen: handlungsleitende Kenntnisse, Fähigkeiten und ethisch-professionelle Haltungen. Die handlungsleitenden Kenntnisse sind stark berufsspezifisch, anwendungs- und zweckorientiert und beschränken sich auf ein Minimum an theoretischen Grundlagen. Vermittelt wird nur, was nötig ist, um Pflegemaßnahmen in der Berufspraxis auszuüben. Angesprochen sind damit Eigenschaften der industriellen Konvention. Insbesondere im betrieblichen Ausbildungsteil, aber auch in den überbetrieblichen Kursen eignen sich die FaGe-Lernenden zudem praktische Fähigkeiten i. S. berufsspezifischer Handgriffe und Routinen an. Dabei handelt es sich um Wissensformen, die in der häuslich-betrieblichen Konvention Geltung beanspruchen, genauso wie die ethisch-professionellen Haltungen, die auf eine moralisch charakterbildende Erziehung der FaGe-Lernenden abzielen. Die Handhabung von Situationen, d. h. der Wechsel zwischen unterschiedlichen Handlungsregimes, ist zudem als eine weitere zentrale Wissensform zu erachten, die sich FaGe aneignen müssen.

7.1.5 Wissensvermittlung und -aneignung

Im Folgenden wird die Vermittlung des Wissens in der BGB FaGe in unterschiedlichen berufsspezifischen Ausbildungsgefäßen betrachtet. Diese sind der schulisch-theoretische, der betrieblich-praktische und der schulisch-praktische Ausbildungsteil.

7.1.5.1 Berufsspezifisch schulisch-theoretischer Ausbildungsteil

Die Vermittlung des im Berufskundeunterricht zu erwerbenden berufsspezifischen, zweck- und handlungsorientierten Wissens erfolgt «immer direkt verquickt» (Bk-LP_2_A) und ist «ungemein an der Praxis orientiert» (Bk-LP_2_A). Der zentrale Bezugspunkt der Wissensvermittlung im Berufskundeunterricht ist die «berufliche Handlungsrealität» (Scharnhorst und Kaiser 2018, S. 28). Dies wird im Folgenden anhand unterschiedlicher Beispiele aus dem beobachteten Berufskundeunterricht veranschaulicht.

Während der Arbeitsauftrag zum Thema Demenz im FaGe-Klassenplenum besprochen wird, simuliert die Berufskundelehrperson eine dement-depressive Patientin mit atypischen und wenig offensichtlichen Symptomen einer Demenzerkrankung. Mit der an die FaGe-Lernenden adressierten Frage «Was würden Sie in dieser Situation als FaGe tun?» stellt die Berufskundelehrperson eine Verbindung zwischen den im schulischen Setting zu erwerbenden handlungsleitenden, berufsfachlichen Kenntnissen (Wissen über Demenzerkrankung) und der beruflichen Handlungsrealität einer bzw. eines FaGe her. Letztere wird also über die Simulation bzw. Inszenierung einer konkreten Pflegesituation, die im Berufsalltag auftreten kann, in den schulischen Kontext übersetzt (Erlemann 2004; Kneebone 2016; Nyberg, Cock 2019). Dies ist ein erster Hinweis darauf, dass die Wissensvermittlung im schulischen Setting des Berufskundeunterrichts zwar der häuslichen Rationalität folgt, die dem Lernen vor Ort und in der praktischen Anwendung Bedeutung beimisst, dass aber insbesondere schulische Aspekte (Simulation, Rollenspiel, Inszenierung) dieser Rationalität hervortreten.

Ausgangspunkt der Vermittlung des Wissens im Berufskundeunterricht ist stets eine «typische berufliche Handlungssituation» (Scharnhorst und Kaiser 2018, S. 26) aus dem Pflegealltag – «und die ist eigentlich immer: Eine FaGe geht zu einer Patientin und macht dort etwas» (Bk-LP_1_A).Footnote 19 Dem Prinzip dieser – wie sie eine Berufskundelehrperson nennt – «situierten Didaktik» (Bk-LP_1_A) folgen sowohl die verwendeten Lehrmittel als auch die zu bearbeitenden Arbeitsaufträge. Abb. 7.1 verdeutlicht dies exemplarisch an einem Auszug aus dem FaGe-Lehrmittel Pflege und Betreuung im Zusammenhang mit der beruflichen Handlungskompetenz Klientinnen und Klienten bei der Atmung unterstützen.

Abb. 7.1
figure 1

(Bildquelle: Leitner und Snozzi, 2015, © Careum Verlag)

Typische Pflegesituation als Ausgangspunkt der Wissensvermittlung im Berufskundeunterricht FaGe.

Abb. 7.1 macht sichtbar, wie die berufliche Handlungsrealität einer FaGe über die Verschriftlichung und didaktische Aufbereitung einer typischen, im Berufsalltag auftretenden Pflegesituation im Berufskundeunterricht und damit in den Klassenraum geholt und dort künstlich konstruiert wird. Ausgehend von dieser Situationsschilderung sollen sich die Lernenden das Wissen und damit auch die erforderlichen Handgriffe und Techniken zur Durchführung von atmungsunterstützenden Pflegemaßnahmen (atemstimulierende Einreibung und atemerleichternde Lagerung) aneignen. Die in Abb. 7.2 sichtbaren Illustrationen zeigen hierfür einen sukzessiven Prozess des praktischen Vormachens und Nachahmens, was in der häuslichen Konvention eine bedeutende Form der Wissensvermittlung und -aneignung darstellt (Diaz-Bone 2018a). Dieses Vormachen und Nachahmen findet jedoch nicht im betrieblichen Sinne in der Interaktion mit Patientinnen und Patienten statt, sondern wird ins schulische Setting übertragen. Die Lernenden erwerben das Wissen im Berufskundeunterricht also in einem geschützten Rahmen und mithilfe einer didaktisch aufbereiteten, sukzessiven und grafisch illustrierten Erklärung.

Abb. 7.2
figure 2

(Bildquelle: Leitner und Snozzi, 2015, © Careum Verlag)

Illustration eines schulischen Prozesses des Vormachens und Nachahmens.

Als Zwischenfazit wird festhalten, dass sich die Wissensvermittlung im Berufskundeunterricht FaGe stark an berufstypischen Pflegesituationen aus dem Berufsalltag einer FaGe und damit an deren beruflichen Handlungsrealität ausrichtet. Letztere wird mithilfe didaktischer Formate aufbereitet, konstruiert, simuliert, inszeniert und nachgestellt und damit ins schulische Setting übersetzt. Zusätzlich zu dieser Artikulation schulischer Aspekte der häuslichen Konvention sind für die Wissensvermittlung im Berufskundeunterricht auch Eigenschaften der industrielle Konvention relevant: In den Ausführungen wurde an unterschiedlichen Stellen darauf verwiesen, dass es darum geht, sich das Wissen im Hinblick auf Aufgaben des Pflegealltags i. S. einer Best Practice, teilweise angeleitet und instruiert (Derouet 1992), sowie anhand des Umgangs mit konkreten Situationen («traitement des situations concrètes» [Derouet 1992, S. 107]) anzueignen. Die Ausbildungssituation im Berufskundeunterricht FaGe zeichnet sich entsprechend durch ein Dispositiv aus Objekten und Formaten (Lehrmitteln, Arbeitsaufträgen, Prüfungen und situierten Didaktik) aus, das bzgl. der dort stattfindenden Wissensvermittlung sowohl häuslich-schulische als auch industrielle Ausbildungseigenschaften betont und materialisiert.

Nachdem die Modi der Wissensvermittlung und -aneignung im schulischen Setting des Berufskundeunterrichts genauer betrachtet wurden, folgen Ausführungen zur Wissensvermittlung im betrieblich-praktischen Ausbildungsteil.

7.1.5.2 Berufsspezifisch betrieblich-praktischer Ausbildungsteil

Eine Berufskundelehrperson äußert sich dazu folgendermaßen: «Lernen tue ich es in der Praxis, wenn ich es mache, es geht gar nicht anders» (Bk-LP_1_A). In diesem Sinne erfolgt die Wissensvermittlung im betrieblichen Ausbildungsteil primär als «ein vor Ort und in der praktischen Herstellung, […], schrittweises Vermitteln des Produktionswissens» (Diaz-Bone 2018a, S. 174) (wobei die Produktion im Fall des FaGe-Berufes der Pflegeprozess ist). Es geht dabei um «Handarbeit, die durch die betriebliche Praxis erlernt wird» (Diaz-Bone 2018a, S. 174), d. h. um «erfahrungsbasiertes betrieblich-berufliches Lernen» (Dietzen 2015, S. 17). Eine Berufskundelehrperson betont diesen Sachverhalt wie folgt:

[I]ch meine, die Pflege ist gut zur Hälfte Handling. Und dort meine ich auch ein Gespräch führen, das ist auch Handling. Ich kann alle, ich kann Schulz von Thun, aktives Zuhören und gewaltfreie Kommunikation nach Rosenberg in- und auswendig kennen. Das nützt mir überhaupt nichts, wenn ich mit Ihnen spreche. […] Ich muss in der Praxis üben […]. Und dann gehen sie [die FaGe-Lernenden, R. E.] in die Praxis und betreuen dann dort tagtäglich solche Leute und dann versuchen sie einfach einmal so zu sprechen. Und das hast du einfach nicht, wenn du fünf Tage die Woche Schule hast. Wie willst du das auch ausprobieren? Du kannst ja gar nicht üben. (Bk-LP_1_A)

Die FaGe-Vertretung betont für die Qualitätszuschreibung der Wissensvermittlung und -aneignung die Möglichkeit z. B. Kommunikationskonzepte im Berufsalltag ausprobieren, üben und anwenden zu können. Dies betrifft Situationen, die in der Schule nicht geübt werden können, z. B. die

Kommunikation mit jemandem [Patient/-in, R. E.], der in einer akuten Krise steckt, weil er nämlich auf der Visite vorhin erfahren hat, dass der Tumor jetzt schon Metastasen hat im Hirn und in den Nieren, und dann die Visite wieder draußen [ist] und ich [als FaGe, R. E.] mit einem Tee ins Zimmer komme und der [Patient, R. E.] am Weinen ist. (Bk-LP_1_A)

Es geht darum, dass die Lernenden das Handling i. w. S. verstanden in der betrieblichen Pflegepraxis, d h. unmittelbar in der Interaktion mit Patientinnen und Patienten üben, sodass sie auch die emotionale Intensität des FaGe-Berufes kennenlernen. Während die FaGe-Vertreter/-innen betriebliche Aspekte der häuslichen Konvention betonen, um die Qualität der Wissensvermittlung im betrieblichen Ausbildungsteil zu valorisieren, weisen sie eine an der staatsbürgerlichen Konvention orientierte Wissensvermittlung – i. S. von «l’école prépare à la vie en tournant le dos à la vie»Footnote 20 (Derouet 1992, S. 88) – zurück. Die betrieblichen Aspekte des Lernens im unmittelbaren Berufsalltag kommen im folgenden Austausch zweier 17-jähriger FaGe-Lernender über ihre Erfahrungen im Umgang mit verstorbenen Patientinnen und Patienten deutlich zum Ausdruck:

L1: Und vor allem man lernt das ja auch, also, es ist nicht gerade, dass man in ein Zimmer gebracht wird und du hast Tote vor dir. […] Du wirst Schritt für Schritt eben begleitet.

L3: Man wird irgendwie angesprochen: ‹OK pass auf, nicht erschrecken. Wenn es dir zu viel ist//›

L1: //Genau, es kann vielleicht noch sein/also, er [der Verstorbene, R. E.] kann vielleicht noch Atem herauslassen.

L3: Ja, es ist so schlimm gewesen.

L1: Genau, sie [die Verstorbenen, R. E.] scheiden vielleicht auch noch aus. Und sie [die erfahreneren Berufskollegen, R. E.] fragen auch immer, also, sie fragen auch immer im Voraus: ‹Schaffst du das? Willst du es mal versuchen?› Und du bist am Anfang eigentlich nie alleine, besonders in der Lehre nicht. Klar, irgendwann dann schon, aber du wirst darauf vorbreitet. […] Also, sie bereiten dich immer darauf vor. Also, es ist nichts, das gerade plötzlich kommt. (FaGe-Lernende_1&3)

Die Lernenden schildern, dass der Wissenserwerb im betrieblichen Ausbildungsteil nicht nur in der direkten Konfrontation mit der Lebensrealität und der Berufspraxis stattfindet, sondern auch körpergebunden ist und so z. B. auch über diverse Sinne (wie riechen, sehen und tasten) erfolgt. Dabei handelt es sich um Eigenschaften, die in der häuslichen Konvention bedeutsam sind. Auch der Verweis darauf, dass es in solchen anspruchsvollen Situationen zentral ist, als «Lehrling[e]» (Berner 2019) vorerst noch begleitet zu werden, verweist auf häusliche Eigenschaften der Wissensvermittlung am betrieblichen Lernort.

In diesem Kapitel wurde anhand verschiedener Aspekte der Wissensvermittlung und -aneignung dargelegt, dass sich das Lernsetting im betrieblichen Ausbildungsteil der BGB FaGe insbesondere an betrieblichen Aspekten der häuslichen Konvention orientiert (u. a. Konfrontation mit Lebens- und Berufsrealität, Begleitung der Lernenden durch eine erfahrenere Fachkraft, körpergebundene und erfahrungsbasierte Wissensvermittlung, Begleitung durch erfahrenere Person), während die staatsbürgerliche Konvention, i. S. einer abstrakten und von konkreten Lebensrealitäten losgelösten Wissensvermittlung, zurückgewiesen wird.

Bezüglich der Frage, wie die Vermittlung praktischer Fertigkeiten in der BGB FaGe erfolgt, war nicht nur das duale, sondern auch das schulisch organisierte Ausbildungsmodell von Interesse. Im untersuchten Westschweizer Kanton Waadt (Fall C) wurde daher eine besondere Ausprägung dieses schulischen Ausbildungsmodells untersucht. Dieses sieht für Lernende, für die die Konfrontation mit dem Pflegealltag z. B. aufgrund ihrer persönlichen Reife, ihres noch geringen Alters oder schwieriger familiärer Umstände im ersten Ausbildungsjahr noch zu früh erscheint, die Vermittlung berufspraktischer Fähigkeiten im Kontext der Berufsfachschule und nicht z. B. in einem Spital oder Altersheim vor. Vor dem Hintergrund des Vergleichs von FMS Gesundheit und BGB FaGe erschien dieses Ausbildungsmodell mit Blick auf die Vermittlung praktischen Wissens relevant, da erwartet wird, dass es sowohl schulische als auch betrieblichen Aspekte der häuslichen Konvention betont. Dies wird im Folgenden ausgeführt.

7.1.5.3 Berufsspezifisch schulisch-praktischer Ausbildungsteil

In diesem schulisch organisierten Ausbildungsmodell der BGB FaGe mit einer sogenannten integrierten Praxis (frz. pratique intégrée) absolvieren die Lernenden im ersten Ausbildungsjahr die praktischen Ausbildungsbestandteile an der Berufsfachschule und nicht in einer Institution des Gesundheitswesens und damit nicht in Konfrontation mit kranken Patientinnen und Patienten (Ruiz 2018).Footnote 21 Dieses Ausbildungsmodell sieht vor, dass die FaGe-Lernenden im ersten Ausbildungsjahr auf die Transition in die anspruchsvolle und intensive pflegerische Berufsrealität vorbereitet werden und nicht mit Beginn der Ausbildung sofort schwierige Aufgaben übernehmen müssen. Den Berufskundeunterricht absolvieren die Lernenden dieses speziellen Ausbildungsmodells zusammen mit den FaGe-Lernenden der regulären schulisch organisierten BGB FaGe.

Die Vermittlung praktischer Fertigkeiten findet im ersten Ausbildungsjahr im sogenannten appartement statt, der ehemaligen Wohnung des Hausmeisters im Gebäude der Berufsfachschule. Die Räumlichkeiten wurden so umfunktioniert und ausgestattet, dass sie heute unterschiedliche Settings repräsentieren, in denen sich der Berufsalltag einer bzw. eines FaGe abspielen kann: Wohn-, Bade-, Schlaf- und Spitalzimmer. Gelernt wird in Form von Rollenspielen (die Lernenden nehmen alternierend die Rolle der FaGe-Lernenden, der Patienten und der Beobachter ein) oder in der Interaktion mit speziell hierfür geschulten Simulationspatienten unter Anwesenheit oder zumindest Beobachtung von Lehrpersonen. Es liegt hier also ein Lernsetting vor, das i. S. einer geschützten Umgebung, wie die Lehrpersonen es bezeichnen, die Berufspraxis und damit verbunden auch die Konfrontation mit Patientinnen und Patienten ins schulische Lernsetting übersetzt und dort realistisch nachstellt.

Die Wissensvermittlung im Rahmen der integrierten Praxis sieht vor, dass die Lernenden zu Beginn jeweils einen schulischen Input zum Thema des Tages (z. B. Schmerzen) im Plenum erhalten. Anschließend müssen sie entsprechende praktische Arbeitsaufträge lösen. Hierfür ist je Räumlichkeit eine typische Pflegesituation als Ausgangslage beschrieben, die auf das Üben einer bestimmten Handlungskompetenz abzielt. Im Spitalzimmer sollten die FaGe-Lernenden während der beobachteten Unterrichtssequenz die nachfolgende Aufgabe lösen:

Situation im Spitalzimmer

Heute Morgen übernehmen Sie die Betreuung von Frau Dumont. Sie leidet unter starken Rückenschmerzen bei der Bewegung (Arthrose) und ist auf Hilfe angewiesen, um aufzustehen, um sich im Speisesaal etwas zu trinken zu holen. Frau Dumont läuft mit einer Gehhilfe, weiss aber nicht genau, wie man diese korrekt verwendet. Sie besprechen mit Frau Dumont die korrekte Anwendung der Gehilfe. Sie besprechen mit Frau Dumont außerdem, was sie beabsichtigt, heute Vormittag zu machen. Die Pflegefachkraft bittet Sie außerdem, Frau Dumonts Schmerzen zu bewerten, um ihre Schmerzbehandlung – aktuell 3 x 1g Dafalgan/24 h auf Reserve (die Frau Dumont nicht nachgefragt hat) – anzupassen. Wie gehen Sie vor, um Frau Dumonts Schmerzen zu bewerten? (persönliches Skript, FaGe-Lehrperson, Übersetzung, R. E.)

Wie bereits in Abschn. 7.1.5.1 ausgeführt, wird auch in diesem Arbeitsauftrag eine typische Situation aus dem Berufsalltag einer FaGe schriftlich konstruiert und didaktisch aufbereitet. Der Arbeitsauftrag, eine schmerzbehaftete Patientin im Spital zu pflegen, erfolgt nicht in der Konfrontation mit der tatsächlichen Patientin Madame Dumont, sondern in Konfrontation mit einer anderen FaGe-Ausbildungskollegin, die die Rolle der Patientin Frau Dumont übernimmt. Diese Person simuliert die Schmerzen und verhält sich gemäß den Informationen aus dem Situationsbeschrieb. Die betriebliche Pflegerealität wird hier in einem schulischen Lernsetting dargestellt, in dem die FaGe-Lernenden im geschützten Rahmen die praktischen Fertigkeiten üben können, z. B. das korrekte Abfragen von Schmerzen oder unterschiedliche Hilfestellungen beim Aufstehen aus dem Bett.

Die Wissensvermittlung im Ausbildungsmodell der integrierten Praxis kommt also keinem Lernen am «Ernstfall» (Scharnhorst und Kaiser 2018, S. 27) gleich, wird aber durch ein Dispositiv, insbesondere die soziomaterielle räumliche Ausstattung, vorstrukturiert, was die betrieblichen Aspekte derselben Konvention in die Lernsituation einbringt. Fünf Beispiele veranschaulichen dies im Folgenden. Das erste Beispiel ist die realitätsgetreue Ausstattung des Spitalzimmers u. a. mit Krankenbett, Krankenmobilien, Vorhang zur Gewährleistung der Privatsphäre, Desinfektionsmittel am Eingang des Zimmers (Abb. 7.3). Das zweite Beispiel betrifft die Vorkehrungen (zwei Klebestreifen auf dem Rücken), um ein Ziehen bzw. Schmerzen im Rücken der Person in der Rolle der Patientin möglichst realitätsgetreu zu simulieren. Diese Maßnahmen sollen dazu beitragen, den tatsächlichen Pflegeprozess in der Interaktion mit Patientinnen und Patienten und damit häuslich-betriebliche Ausbildungseigenschaften in die schulische Lernsituation einzubringen.

Abb. 7.3
figure 3

(Bildquelle: eigene Fotos)

Realitätsgetreu ausgestattetes Spitalzimmer zur Vermittlung praktischer Fertigkeiten in der schulisch organisierten BGB FaGe.

Das dritte Beispiel, das als Teil dieses Dispositivs zu erachten ist, ist die Berufskleidung, die die Lernenden sowie die Lehrpersonen im appartement tragen (Boltanski und Thévenot 2007): eine weiße Uniform für die Lernenden, eine türkisfarbene Uniform für die Lehrpersonen (wodurch in den Institutionen des Gesundheitswesens die Berufshierarchie und damit einhergehende Kompetenzen signalisiert werden), ein Namensbadge und eine kleine Uhr sowie Stifte in der Brusttasche. Das vierte Beispiel ist, dass u. a. beim Thema Körperpflege mit Simulationspatienten gearbeitet wird, die in der Regel eine Badehose tragen, teilweise aber auch bereit sind, sich vollständig auszuziehen. In diesen Situationen ist die Nähe des schulischen Lernsettings zu einem häuslich-betrieblichen fließend. Das fünfte Beispiel besteht darin, dass die Lernenden am Ende des Arbeitsauftrags die Patientendokumentation ausfüllen müssen, wie es im Berufsalltag üblich ist. Die Berufskleidung sowie diverse andere Objekte und kognitive Formate (z. B. Führen der Patientendokumentation und Zimmerausstattung wie in der Pflegepraxis) sind also Teile eines in der Lernsituation der integrierten Praxis aufgespannten Dispositivs, das sowohl betriebliche als auch schulische Eigenschaften der häuslichen Konvention materialisiert und stabilisiert. Obwohl häuslich-betriebliche Ausbildungseigenschaften situativ in das Lernsetting der integrierten Praxis Eingang finden, wurde die schulische Artikulation der häuslichen Konvention während des Unterrichtsbesuchs von den beiden Lehrpersonen stets hervorgehoben, z. B. indem die Lehrpersonen im Rahmen der Besprechung der Fallbeispiele und der abschließenden Reflexion im Plenum immer wieder unterstrichen, dass «en realité après c’est différent»Footnote 22 (Beobachtungsnotizen Unterrichtsbesuch schulisch organisierte BGB FaGe) und ergänzend eigene Erfahrungen aus der Berufspraxis als Pflegefachfrau bzw. Ergotherapeutin anfügten.

Resümee Wissensvermittlung BGB FaGe

Die Wissensvermittlung in der BGB FaGe zeichnet sich insbesondere durch zwei mächtige Konventionen aus. Zu nennen ist erstens die industrielle Konvention, der zufolge das Wissen im Berufskundeunterricht in engem Bezug zum und in der Ausrichtung am Berufsbild der/des FaGe und den darin wahrzunehmenden Aufgaben vermittelt wird. Zurückgewiesen wird eine theoretisch-abstrakte Wissensvermittlung, die losgelöst vom Ausbildungsalltag der Lernenden und damit in der staatsbürgerlichen Konvention bedeutsam ist. Zweitens sind für die Wissensvermittlung in der BGB FaGe häusliche Qualitätseigenschaften zentral, die jedoch in unterschiedlichen Settings verschieden akzentuiert werden. Im betrieblichen Ausbildungsteil erfolgt die Wissensvermittlung in Konfrontation mit Patientinnen und Patienten, eingebunden in einen Pflegeprozess und eingebettet in die Berufspraxis. Entsprechend werden die betrieblichen Aspekte der häuslichen Konvention betont. Im schulischen Setting des Berufskundeunterrichts werden diese betrieblichen Eigenschaften der häuslichen Konvention in ein schulisches Setting übersetzt, das heisst, der Patientenkontakt wird didaktisch aufbereitet und nachgestellt und der Prozess des Vormachens und Nachahmens wird z. B. grafisch illustriert. Das untersuchte schulische Ausbildungsmodell der BGB FaGe, bei dem die unmittelbare Konfrontation mit der Berufsrealität erst im zweiten Ausbildungsjahr stattfindet, ist insofern ein interessantes Lernsetting, als es häuslich-schulische und häuslich-betriebliche Ausbildungseigenschaften vereint: Es geht zwar um den Erwerb praktischer Fähigkeiten in einem geschützten Rahmen u. a. mit Simulationspatienten und Rollenspielen, allerdings stellt insbesondere die soziomaterielle Ausstattung der Lernsituation (wie Berufskleidung, Spitaleinrichtung und Schmerzsimulation) die Berufspraxis und damit ein betriebliches Setting realistisch dar.

7.2 Ausbildungsprofil FMS Gesundheit

Folgende Fragen, die die zu untersuchenden Qualitätsdimensionen repräsentieren, leiten die Ergebnisdarstellung zu den Ausbildungsspezifika der FMS Gesundheit: Welche Zielgruppe lässt für die FMS Gesundheit ausmachen? Welche Bildungsziele werden verfolgt? Welche Bildungsinhalte werden behandelt und welche Wissensformen resultieren daraus für die FMS-Schülerinnen und -Schüler? Wie wird das Wissen in der FMS Gesundheit vermittelt bzw. erworben?

7.2.1 Zielgruppe: Schülerschaft

Mit Blick auf die Zielgruppe der FMS Gesundheit lassen sich ausgehend von den Aussagen der befragten FMS-Akteurinnen und -Akteure der Kantone Zürich (Fall A) und Basel-Landschaft (Fall B) insbesondere zwei Aspekte herausstellen: Die «richtigen Schülerinnen und Schüler» (FMS-Leitung_2_B) sind insbesondere aus Sicht leitender und unterrichtender FMS-Vertreter/-innen u. a. Jugendliche, die nach der Sekundarstufe I bereits eine genaue Vorstellung von einer weiterführenden Ausbildung an der FH oder HF im Bereich Gesundheit haben (FMS-LP_4_A; FMS-Schülerin_4_A; FMS-Leitung_1_B).

Also, das ist so das, was für mich die richtigen Leute sind. […] Und das ist für mich eigentlich so wirklich etwas ganz Typisches, dass die FMS eben nicht einfach ist: Ja ich habe jetzt die Matura [das Gymnasium, R. E.] nicht geschafft, ich mache die FMS. […] Und das sind für mich dann eben die, welche wirklich den Entscheid, die FMS zu wählen, bewusst machen mit dem weiteren Weg. ‹Dort will ich hin und die FMS ist der Weg, welcher mich dorthin führt, damit ich die weitere Ausbildung anfangen kann›. (FMS-Leitung_1_B)

Insbesondere der Weg über die Fachmaturität an die FH wird als «Königsweg [erachtet]. Also unsere Idee ist, dass die meisten nachher an die Fachhochschule gehen» (FMS-LP_1_A). Entsprechend ist auch die «Klientel, welche wir ausbilden, eigentlich eine Klientel, welche man in die FH hineinbringen will» (FMS-Leitung_1_A). Im Unterschied zu leitenden und unterrichtenden FMS-Vertretungen erachten die befragten Schüler/-innen hinsichtlich der Zielgruppe auch einen zweiten Aspekt als relevant, nämlich, dass die FMS eben gerade auch für Jugendliche geeignet ist, die noch nicht genau wissen, was sie wollen (FMS-Schülerin_4_A) oder noch etwas Zeit brauchen, um «sich halt noch etwas [zu] finden» (FMS-Schülerin_5_A).

7.2.1.1 Merkmale der FMS-Schülerschaft

Wie auch in der BGB FaGe zeichnet sich die FMS-Schülerschaft generell, aber insbesondere im Berufsfeld Gesundheit, durch einen hohen Frauenanteil aus. Obwohl die Lehrpersonen es schwierig finden, eine Typisierung i. S. von Pauschalaussagen der Schülerschaft je Berufsfeld vorzunehmen, sind sie sich einig, dass Unterschiede zwischen den Schülerinnen und Schülern der einzelnen Berufsfelder erkennbar sind (FMS-LP_1_A). So seien die Schüler/-innen des Berufsfelds Gesundheit im Vergleich zu denjenigen anderer Berufsfelder «ein anderer Typus von Schülerinnen und Schülern, das ist ganz, ganz spannend, die sind anders» (FMS-Leitung_2_B), «häufig etwas die Seriöseren» (FMS-LP_1_A). Letzteres äußere sich auch darin, dass sich Schüler/-innen des Berufsfelds Gesundheit oftmals der «Ernsthaftigkeit» (FMS-LP_1_B) resp. der Bedeutung der Ausbildung mit Blick auf die weiterführende Berufsausbildung resp. die Berufsausübung bewusst seien. Deshalb, so eine FMS-Leitung, 

sono molto più rigorose nel modo di lavorare, nel rispetto delle regole, come se già sapessero che il loro mondo sarà un mondo molto più regolato dove comunque tu avrai la vita delle persone nelle mani perché se tu sbagli un dosaggio puoi uccidere. Non so da cosa viene, ma io lo vedo già in prima questa grandissima differenza.Footnote 23 (FMS-Leitung_2_D)

Das Bewusstsein, dass die Inhalte später relevant sind, hängt gemäß leitenden und unterrichtenden FMS-Vertretungen möglicherweise damit zusammen, dass die Schüler/-innen des Berufsfelds Gesundheit durchaus klare Vorstellungen von ihrem weiteren Ausbildungsweg haben, und auch häufig wissen, was sie wollen (FMS-LP_1_A; FMS-Leitung_1_B; FMS-Leitung_2_D). Bezüglich der inhaltlichen Interessen und schulischen Stärken sind für viele Schüler/-innen aus dem Berufsfeld Gesundheit die Fächer Mathematik und Naturwissenschaften «eher weniger ein Problem» (FMS-Leitung_1_B; FMS-LP_1_A). Diese Schüler/-innen sind außerdem oftmals ruhiger, konzentrierter als diejenigen anderer Berufsfelder und «haben eine Denkweise, die sehr, ja geordnet ist, systematisch ist, […] sie denken vielleicht mehr in Strukturen» (FMS-Leitung_2_B).

Ein anderes Bild der FMS-Schülerschaft zeichnen hingegen die FMS-Vertreter/-innen aus dem Kanton Waadt (Fall C): Die FMS sei für viele Schüler/-innen keine Wahlschule, sondern vielmehr eine letzte Möglichkeit, auf der Sekundarstufe II eine allgemeinbildende und damit schulische Ausbildung zu absolvieren. Während leitende FMS-Vertretungen in den Kantonen Zürich und Basel-Landschaft eine profilierte Schülerschaft beschreiben, die ein Ziel vor Augen hat, sehen die leitenden FMS-Vertretungen des untersuchten Westschweizer Kantons die FMS eher als Ausbildung einerseits für Jugendliche, die es nicht auf das Gymnasium geschafft haben, und andererseits für Jugendliche, die nicht wussten, was sie machen sollten:

L1: Je pense que l’ECG, d’une certaine manière, arrange bien tout le monde, parce que ça absorbe un certain nombre d’élèves qui ne sont pas dans la formation professionnelle, qui ne sont pas dans l’école de maturité, et puis ils restent un petit peu entre deux.

L2: Encore une fois, ceux qui n’ont pas trouvé de place ou qui ne savent pas quoi faire, ou qui n’ont pas les compétences pour aller en école de maturité, ce n’est pas un choix, c’est qu’on absorbe ceux qui ne savent pas où aller.

L1: C’est un peu par défaut, oui. (...) Malheureusement.Footnote 24 (FMS-Leitung_1 & 2_C)

Auf der stark segregierten Sekundarstufe II der Westschweiz schliesst die FMS im Kanton Waadt demnach eine Lücke, dient als «Ventil» (Vertretung_3 EDK), wodurch der FMS insbesondere eine sozial-integrative Funktion zukommt (FMS-Leitung_2_B). Die FMS nimmt entsprechend eine sozial-gesellschaftliche Verantwortung wahr, denjenigen Jugendlichen eine Ausbildungsmöglichkeit zu bieten, für die keine Alternativen infrage kommen. Diese staatsbürgerliche Qualität wird von Befragten im Kanton Waadt C oft betont, um die FMS zu valorisieren.

Verantwortlich für dieses noch heute vorherrschende Image der FMS ist u. a. die Tatsache, dass die FMS in der Westschweiz – anders als heute – lange Zeit keine Zulassungsbedingungen kannte. Vielmehr stand die FMS in der Westschweiz i. S. von «je veux, je vais»Footnote 25 (Vertretung_3 EDK) allen Schülerinnen und Schülern offen. Dahinter stand die Idee, «qu’il fallait faire quelque chose pour une certaine population d’élèves, qui ne sont pas près à travailler […] et puis qui ne sont pas aptes, ou qui n’ont pas envie de faire le collège»Footnote 26 (Vertretung_3 EDK). Die FMS-Schüler/-innen kommen im Kanton Waadt entsprechend oftmals nur mit unkonkreten Berufsvorstellungen in die FMS und wissen oftmals auch nach dem dritten FMS-Jahr noch nicht, in welche Richtung ihr weiterer Ausbildungsweg gehen soll. Wie in Abschn. 7.2.2.2.1 gezeigt wird, hängt dies möglicherweise auch mit dem Fehlen institutionalisierter Ausbildungsformate zusammen, die die Berufs(feld)wahl unterstützen. Viele FMS-Vertreter/-innen aus dem Kanton Waadt berichteten auch von sozial-erzieherischen Problemen (FMS-LP_2_C), die den Unterricht prägen und von Schülerinnen und Schülern, die schwache schulische Leistungen erbringen und Schwierigkeiten haben, sich für die Schule und das Lernen zu motivieren (FMS-Leitung_2_C; FMS-LP_2_C).

In der Vergangenheit konnte Ähnliches auch im Kanton Tessin (Fall D) beobachtet werden. Die FMS fungierte dort als Bildungsangebot für Jugendliche, die nicht wussten, welchen weiteren Ausbildungsweg sie einschlagen wollten, und war daher lange Zeit keine Wahlschule (FMS-Leitung_1_D).

Devo anche dire che purtroppo ai tempi, spesso non era scelta la nostra scuola, era un po’ la scuola di ripiego, la scuola parcheggio. [E]ra proprio la scuola dove non eri abbastanza interessato, abbastanza bravo per andare al liceo, non volevi andare a fare un apprendistato, ti interessava magari VAGAMENTE qualcosa di sociosanitario, ma molto vagamente, allora venivi da noi.Footnote 27 (FMS-Leitung_2_D)

Diese Funktion der FMS eines ‹Auffangbeckens› wurde zusätzlich durch das Image einer einfachen Schule sowie eines «refugium peccatorum»Footnote 28 (FMS-Leitung_2_D.) befördert. Obwohl es gemäß leitenden FMS-Vertreter/-innen des Kantons Tessin auch heute noch Schüler/-innen gibt, die sich für die FMS entscheiden, «obwohl es vielleicht nicht gerade die Richtung ist, die sie wollen, aber es ist eine Möglichkeit, um nicht zu Hause zu bleiben, weil sie keine Lehrstelle finden» (FMS-Leitung_1_D; FMS-Leitung_2_D), hat sich die FMS im Tessin von einer «Schule der Nichtwahl» (FMS-Leitung_2_D, Übersetzung R. E.) zu einer «Schule der Wahl» (FMS-Leitung_2_D, Übersetzung R. E.) entwickelt.

7.2.1.2 Ausbildungsmotive der Schüler/-innen für die FMS Gesundheit

Die Motive, aufgrund deren sich die Schüler/-innen für die FMS Gesundheit entschieden haben, sind vielfältig. Neben der Begründung, die FMS sei gewählt worden, weil sie ein Zubringer in die tertiären Gesundheitsausbildungen ist, lassen sich die weiteren Ausbildungsmotive zu folgenden Kategorien zusammenfassen: Alternative zum bzw. Umweg ans GymnasiumFootnote 29, zusätzliche Entscheidungszeit, allgemeinbildende Schule, Alternative zu einer BGB. Zudem verfolgen die Schüler/-innen in der FMS Gesundheit sehr unterschiedliche Ausbildungsziele (u. a. Geburtshilfe, Biochemie, Erwerb der gymnasialen Maturität). Die Motive, aus denen sich die Jugendlichen für eine FMS Gesundheit entschieden haben, und die Perspektiven, die sie damit verfolgen, sind in der Tabelle in Anhang I im Überblick zusammengestellt.

Resümee Zielgruppe FMS Gesundheit

Die von den Jugendlichen genannten Ausbildungsmotive verweisen insbesondere auf zwei Diskrepanzen im Vergleich zur aus Sicht leitender und unterrichtender FMS-Vertreter/-innen anvisierten Zielgruppe: Erstens profilieren die FMS-Vertreter/-innen die FMS heute, außer in der Westschweiz, als Wahlschule und nicht mehr als Notlösung, während die Ausbildungsmotive in vielen Fällen zeigen, dass die FMS von den Jugendlichen oftmals gewählt wurde, weil der Besuch des Gymnasiums nicht möglich war oder der Einstieg in die Arbeitswelt zu anstrengend erschien. Die zweite Diskrepanz zwischen Soll- und Ist-Schülerschaft betrifft die Zukunftsvorstellungen der Schüler/-innen. Leitende FMS-Vertretungen der  Kantone Zürich und Basel-Landschaft hätten gern Schüler/-innen an der FMS, die bereits genaue Vorstellungen davon haben, wohin ihr Ausbildungsweg führen soll, zumindest in der Hinsicht, dass sie eine Tertiärausbildung an der HF oder FH absolvieren wollen. Viele Jugendliche haben die FMS jedoch gewählt, weil diese ihnen aufgrund der Ausbildungsstruktur noch etwas mehr Zeit ermöglicht, um herauszufinden wohin der künftige Ausbildungsweg führen soll und damit die Berufs(feld)wahl zu treffen. Im untersuchten Westschweizer Kanton zeichnet sich die Schülerschaft insbesondere dadurch aus, dass viele davon die FMS als Umweg zur Erlangung der gymnasialen Maturität absolvieren.

7.2.2 Bildungsziele

Die FMS verfolgt einen dreifachen Bildungsauftrag und damit insbesondere drei Bildungsziele: erstens die Vermittlung einer vertieften Allgemeinbildung, zweitens die Einführung in Berufsfelder und damit die Vorbereitung auf tertiäre Bildungsgänge sowie drittens die Förderung der Persönlichkeitsbildung (EDK 2018b). Das vorliegende Kapitel gliedert sich entlang dieser drei Bildungsziele und geht folgenden Fragen nach: Welche Konventionen sind im Hinblick auf die Valorisierung dieser Bildungsziele der FMS Gesundheit mächtig und welche Bezugspunkte sind bedeutsam? Wie sind diese Konventionen in der Soziomaterialität der Ausbildungssituation formatiert?

7.2.2.1 Vermittlung einer vertieften Allgemeinbildung

Während im Rahmen des allgemeinbildenden Unterrichts der BGB FaGe die Vermittlung einer grundlegenden Allgemeinbildung angestrebt wird (Abschn. 7.1.2.2), steht in der FMS (generell, nicht spezifisch für das Berufsfeld Gesundheit) eine vertiefte Allgemeinbildung im Zentrum (EDK 2004). Darunter wird eine möglichst breite Bildung verstanden, was erklärt, weshalb die Schüler/-innen an der FMS eine Vielzahl an Fächern – von Sprachen über Mathematik und Geschichte bis hin zu Bildnerischem Gestalten und Musik – absolvieren. Eine FMS-Lehrperson aus dem Kanton Basel-Landschaft (Fall B) äußert sich dazu folgendermaßen: «Bildung an und für sich ist ja eben auch schon ein Wert. […] Sinn von Schule ist ja nicht nur, Arbeitskräfte auszubilden, sondern eben die Bildung allgemein, ja, auch die Menschen irgendwie zu formen» (FMS-LP_4_B). In diesem Sinne werden all diese Fächer «letztlich auch [als] Kulturtechniken [verstanden, R. E.], die man als Bürger später braucht, um als Mensch vollständig gebildet zu sein» (FMS-Leitung_2_B). Dies bestätigt auch eine leitende FMS-Vertretung aus dem Kanton Waadt (Fall C): «[O]n part du principe que cette formation en école de culture générale généralise, humanise intellectuel, et tout leur apportera beaucoup»Footnote 30 (FMS-LP_2_C). Der angestrebte breite Wissenshorizont dient als Grundlage, um «mündige Bürger und Bürgerinnen» (FMS-Leitung_2_B) auszubilden sowie den Schülerinnen und Schülern eine gewisse «Gesellschaftsfähigkeit» (FMS-Leitung_1_B) mitzugeben, die in der «heutigen komplexen Welt zentral [ist] als Staatsbürger» (FMS-Leitung_1_B). Insgesamt trage die in der FMS vermittelte Allgemeinbildung zu einer «construction personnelle»Footnote 31 (FMS-Leitung_1_C) bei, wie eine leitende FMS-Vertretung im Fall C im Vergleich zu einer BGB hervorhebt:

[L]a structure de l’école de culture générale, […] donne justement cette culture générale, […] cette ouverture. Ils [les élèves de l’ECG, R. E.] n’auront peut-être pas besoin de faire de la littérature française quand ils seront dans un cabinet médical. Je reste persuadé que c’est un plus pour le jeune qui peut faire ça, qui ne fait pas QUE du professionnel, mais qui fait une école assez générale, avec une formation dans des domaines qui ne lui seront peut-être pas utiles techniquement, mais pour sa construction personnelle, en tant qu’être humain, en tant que personne, c’est important. Et ça, c’est différent de l’apprentissage. En apprentissage on apprend la technique de la profession, mais, on ne va pas faire des maths [de la mathématique, R. E.] dont on n’a pas besoin, on ne va pas faire de l’anglais dont on n’a peut-être pas besoin etc. Et puis nous [à l’ECG, R. E.], on peut amener ça. Et, c’est quelque chose qu’on entend, de dire: Okay, peut-être que les jeunes qui sortent de l’ECG techniquement ils ont un peu moins de compétences techniques que ceux qui ont fait l’apprentissage. MAIS ils composent beaucoup par cette ouverture d’esprit qu’ils ont enfin – dans l’idéal.Footnote 32 (FMS-Leitung_1)

Während (wie in Abschn. 7.1.2.2 aufgezeigt) in der Berufsbildung die vermittelte Allgemeinbildung zweckorientiert ist, zielt die in der FMS vermittelte Allgemeinbildung auf eine allgemeine Menschenbildung im humboldtschen bzw. neuhumanistischen Sinne. Diese Orientierung an einem staatsbürgerlichen Verständnis von Allgemeinbildung konnte in allen untersuchten Fällen beobachtet werden, war jedoch im Kanton Waadt i. S. einer «ouverture d’esprit»Footnote 33 (FMS-Leitung_1_C) besonders ausgeprägt. In den beiden Deutschschweizer Kantonen Zürich und Basel-Landschaft hingegen wurde der Vermittlung einer vertieften Allgemeinbildung nicht nur eine staatsbürgerliche Qualität zugeschrieben, sondern auch eine bestimmte Funktionalität und Zweckorientierung und damit zusätzlich auch eine industrielle Qualität.

Ich denke ein [ausschließlich, R. E.] neuhumanistisches Bildungsverständnis, da würden wir einfach an der FMS unseren Bildungsauftrag verfehlen, weil es ganz eindeutig so ist, dass es eben darum geht, sie [die Schüler/-innen, R. E.] auf Fähigkeiten und Kompetenzen in einer Berufswelt vorzubereiten, also, das sehe ich schon so. (FMS-Leitung_2_B)

Aus Sicht der befragten Schüler/-innen des Berufsfelds Gesundheit aller untersuchten Fälle sollte die Allgemeinbildung stärker auf ein späteres Studium im Bereich des gewählten Berufsfelds ausgerichtet sein, wie die nachfolgende Aussage einer Schülerin zeigt:

Ich verstehe manchmal auch nicht, das ist vielleicht auch eine Schattenseite [des breiten Fächerangebots, R. E.], wieso wir eigentlich noch Geschichte haben. Also, klar ist Geschichte wichtig und so, aber ich verstehe einfach nicht, es hat irgendwie NICHTS mehr zu tun damit [mit Gesundheit, R. E.]. Ich meine, im dritten Jahr sind wir schon recht Richtung Gesundheit und wir haben auch sehr viele Berufsfeldfächer und so. Und ich verstehe einfach nicht, wieso wir dann irgendwie noch so GESCHICHTE und so, also so Allgemeinwissensfächer haben, weil, ja, du bist ja eigentlich hier, damit du Richtung GESUNDHEIT gehst. […] [D]as bringt uns nachher nichts mehr. (FMS-S_2_B)

Die Aussage dieser Schülerin steht stellvertretend für viele weitere, die verdeutlichen, dass sich die befragten Schüler/-innen ein stärker industriell orientiertes Verständnis von Allgemeinbildung an der FMS wünschen (FMS-Schüler_4_B; FMS-Schüler_6_B).

7.2.2.2 Berufsfeldspezifische Vorbereitung auf Tertiärausbildungen

Im Vergleich zur ehemaligen Diplommittelschule wird die berufsfeldspezifische Vorbereitung auf nichtuniversitäre Tertiärausbildungen heute im FMS-Curriculum «ganz klar wirklich viel stärker gewichtet» (FMS-LP_2_B). Heute können sich die Schüler/-innen in der FMS bereits «ein bisschen spezialisieren auf den Bereich, den sie später machen wollen» (FMS-LP_4_B). Das berufsfeldvorbereitende Bildungsziel der FMS stellte sich während der Analyse als facettenreich heraus und wird im Folgenden aus zwei Perspektiven betrachtet: Im ersten Teil wird die berufsfeldvorbereitende Funktion i. w. S. ausgelegt und in diesem Zusammenhang die Funktion der FMS als «Schule für die Berufsfindung» (EDK 2001, S. 4) thematisiert. Im Anschluss wird aufgezeigt, was die Einführung ins Berufsfeld Gesundheit an der FMS beinhaltet.

7.2.2.2.1 Berufsfeldwahl

Im Vergleich zur BGB FaGe setzt der Eintritt in die FMS von den jungen Heranwachsenden noch keine getroffene Berufswahl voraus. Vielmehr bietet die FMS den Jugendlichen im ersten Ausbildungsjahr förderliche Rahmenbedingungen, um sich mit der Berufsfindung bzw. der Berufs(feld)wahl auseinanderzusetzen. Das Basisjahr der FMS ist entsprechend so aufgebaut, dass die Schüler/-innen «schon mal sehen [können], wo das [ihr, R. E.] Interesse ungefähr liegt» (FMS-Schüler_1_A). In beiden untersuchten Deutschschweizer Kantonen sind im FMS-Curriculum spezifische Ausbildungsformate institutionalisiert, die darauf abzielen, die Berufsfeldwahl vorzubereiten: die Berufsfeldwahltage sowie das außerschulische Orientierungspraktikum. Das Ziel dieser beiden Ausbildungsformate ist es, dass die Schüler/-innen «wirklich auch nochmal so die Bandbreite sehen, wo kann man überhaupt hin» (FMS-Leitung_1_B), um nachher wirklich sicher zu sein, in welche Richtung der weitere Ausbildungsweg führen soll.

Im Rahmen der Berufsfeldwahltage stellen erstens die Abnehmerinstitutionen (HF und FH) je Berufsfeld unterschiedliche weiterführende Studiengänge vor: Für das Berufsfeld Gesundheit waren dies während der Beobachtung u. a. Pflege, Lebensmitteltechnologie, Umweltingenieurwissenschaften, Dentalhygiene, Facility Management, Physiotherapie usw.Footnote 34 Zweitens besuchen die Schüler/-innen anschließend die Abnehmerinstitutionen und treten in Kontakt mit Studierenden. Ihre Erfahrungen müssen die Schüler/-innen in einer entsprechenden Portfolioarbeit zusammenfassen, bevor die entsprechenden zentralen Erkenntnisse im Klassenverband besprochen werden. Die Schüler/-innen sollen sich während der Portfolioarbeit mit der eigenen Berufsmotivation und mit ihren Leidenschaften, Stärken und Schwächen in Bezug auf ein bestimmtes Berufsfeld sowie der eigenen Bildungs- bzw. Berufslaufbahn auseinandersetzen (FMS-Leitung_1_B; FMS-Leitung_2_B). Die Berufsfeldwahltage als spezifisches Ausbildungsformat sind demnach «Entscheidungshilfe[n]» (Kanton Basel-Landschaft 2011, S. 10) im Prozess der Berufs(feld)wahl. Konventionensoziologisch betrachtet sind Berufsfeldwahltage ein Kompromissformat, das sowohl industrielle (gezielte und zweckorientierte Hinführung zu einem Berufsfeld und einem damit verbundenen Bereich an FH oder HF) als auch inspirierte Qualitätseigenschaften (Berufsmotivation, ggf. Berufung und Leidenschaften) vereint und damit diese beiden Konventionen in der Ausbildungssituation der FMS Gesundheit formatiert.

In diesem Zusammenhang zeigen sich sprachregionale Unterschiede, denn im Kanton Waadt (Fall C) wurden bisher keine solchen Ausbildungsformate zur Förderung und Unterstützung des Berufs(feld)wahlprozesses in der FMS institutionalisiert, obwohl die befragte FMS-Leitung zunehmend bestrebt ist, der Berufsfeldwahl mehr Bedeutung beizumessen, sodass die Schüler/-innen mit der Berufsfeldwahl eine bewusste Wahl treffen (FMS-Leitung_1_C; FMS-Leitung_2_C). Die Leitenden der FMS stellen nämlich immer wieder fest, dass viele FMS-Schüler/-innen trotz einer gesundheitsspezifischen Berufsfeldwahl später einen Beruf außerhalb der Gesundheitsbranche anstreben (FMS-S_C). Aus Sicht leitender FMS-Vertretungen hängt dies damit zusammen, dass sich die Jugendlichen nicht eingehend mit der Berufsfeldwahl und damit auseinandersetzen, was Gesundheitsberufe sind, da die Schüler/-innen nicht in Berufen denken würden (FMS-Leitung_2_C). Um diese Problematik anzugehen, wurde entschieden, künftig ebenfalls den Berufs(feld)wahlprozess i. S. einer Auseinandersetzung der Schüler/-innen u. a. mit ihren Berufswünschen, Interessen und Berufsmotivationen bewusst zu unterstützen. Ausgerichtet am Beispiel der Berufsfeldwahltage der beiden Deutschschweizer Kantone Zürich und Basel-Landschaft soll künftig auch im Kanton Waadt in ein solches Ausbildungsgefäß investiert werden.

Das zweite Ausbildungsformat, das zweiwöchige Orientierungspraktikum, ist im Reglement über die Anerkennung der Abschlüsse von FMS festgeschrieben und dort als obligatorisch definiert (EDK 2018c). Dieses außerschulische Kurzpraktikum dient den Schülerinnen und Schülern als «eine letzte Gelegenheit, ihre getroffene Berufsfeldwahl zu überdenken und allenfalls das Berufsfeld zu wechseln» (Kanton Basel-Landschaft 2011, S. 10). Nach der Ansicht eines Schülers hilft das Orientierungspraktikum «wenn man sich noch nicht sicher ist» (FMS-Schüler_6_B), weil es möglich ist, «ein wenig schauen [zu] gehen» (FMS-Schülerin_1_B). Im Sinne der häuslichen Konvention dient dies dazu die Berufsfeldwahl durch Einblicke in den Berufsalltag des Berufsfelds abzusichern (FMS-Leitung_1_A). Ein FMS-Schüler äußert sich dazu folgendermaßen: «[A]ls ich dieses Praktikum gemacht habe, […] hat sich das wie so eingeschmolzen in mir drin, so ja, ja das will ich machen» (FMS-Schüler_4_B). Die obigen Aussagen konstruieren eine Qualität des Orientierungspraktikums, die Eigenschaften der häuslich-betrieblichen und inspirierten Konvention betont.

Abschließend wird festgehalten, dass die FMS-Akteurinnen und -Akteure in den Kantonen Zürich und Basel-Landschaft die FMS als «Schule für die Berufsfindung» (EDK 2001, S. 4), insbesondere mit Bezug auf Qualitätseigenschaften der häuslich-betrieblichen, inspirierten und industriellen Konvention, valorisieren und diese Konventionen in spezifischen Ausbildungsformaten in der Ausbildungssituation verankert sind. Im Kanton Waadt bestehen entsprechende Bestrebungen, in Ausbildungsformate wie die Berufsfeldwahltage zur Unterstützung des Berufs(feld)wahlprozesses zu investieren.

7.2.2.2.2 Einführung in das Berufsfeld Gesundheit

Im Sinne von «[d]ie Fachmittelschule [soll] ganz klar ihren Auftrag vor Augen haben, […] die Schüler/-innen studierfähig zu machen» (FMS-Leitung_2_B), d. h. «gezielt die Studierfähigkeit zu fördern» (Leitungskonferenz FMS Basel-Landschaft 2017, S. 5), valorisieren FMS-Vertreter/-innen die FMS Gesundheit mit Bezug auf die industrielle Konvention als funktionalen und zielgerichteten Zugang zu den FH (FMS-Leitung_1_A; FMS-LP_1_A). Dies bestätigen FMS-Schüler/-innen des dritten Ausbildungsjahres aus dem Kanton Waadt, indem sie betonen, an der FMS Gesundheit darauf vorbereitet zu werden «à continuer nos études, […] à continuer le travail, à magasiner les connaissances»Footnote 35 (FMS-S_C). Im Vergleich zur BGB FaGe, die spezifisch auf das Berufsbild FaGe ausgerichtet ist und zweckorientiert auf die darin wahrzunehmenden Berufstätigkeiten bzw. -aufgaben vorbereitet, werden die Schüler/-innen der FMS Gesundheit ins Berufsfeld Gesundheit eingeführt, indem sie die fachliche Basis erhalten, die für weiterführende tertiäre Bildungsgänge im Bereich Gesundheit erforderlich ist, unabhängig davon, ob der Berufswunsch künftig Geburtshelfer/-in, Physiotherapeut/-in, Pflegefachmann/-frau oder Dentalhygieniker/-in ist. Die Einführung ins Berufsfeld Gesundheit an der FMS ist demnach explizit

keine Berufsbildung, aber sie bereitet natürlich vor. Also, eben gerade im medizinischen Bereich sind halt die Grundlagen physikalisch und wenn man die lernt, wird man schon auf die Berufsbildung vorbereitet, das kann man schon sagen […]. Also man ist jetzt nicht eine gute Krankenschwester, wenn man weiß, wie groß der Luftdruck ist, aber es ist eine Vorbereitung auf das, ja. (FMS-LP_4_B)

Die Einführung ins Berufsfeld Gesundheit wird an der FMS als eine «indirekte Berufsvorbereitung» (FMS-LP_4_B) verstanden, denn es geht in den berufsfeldspezifischen Fächern, die mit Gesundheit viel zu tun haben, um den Erwerb eines vertieften Grundlagenwissens, das funktional und gezielt auf tertiäre Studiengänge im Bereich Gesundheit vorbereitet und damit das Fundament einer künftigen Expertise z. B. als Pflegefachperson oder Geburtshelfer/-in bildet. In den Kantonen Zürich und Basel-Landschaft versteht und profiliert sich die FMS Gesundheit aus dem Selbstverständnis heraus, auf eine Vielzahl gesundheitsspezifischer tertiärer Bildungsgänge vorzubereiten, als «breiter Weg» (FMS-Leitung_1_B) zu den FH. Im Verlauf dieser Studie zeichnete sich zudem ab, dass sich die FMS Gesundheit in den genannten beiden Fällen auch in einer anderen Hinsicht als breiter Weg in die FH versteht: nicht nur als Zubringer zu tertiären Gesundheitsausbildungen, sondern auch zu solchen im Bereich der Life Sciences. Dies wird von einer leitenden FMS-Vertretung aus Fall A damit begründet, dass «beide Fachhochschulen [Bereich Gesundheit als auch Life Sciences, R. E.] […] eigentlich von uns eine fundierte Ausbildung in Biologie, Chemie und Physik erwarten» (FMS-Leitung_1_A).

Die FMS-Akteurinnen und -Akteure der Fälle A und B versuchen entsprechend die industrielle Qualität der FMS Gesundheit i. S. eines gezielten Zubringers zu den FH durch Investitionen in unterschiedliche Formate der rufförmigen Konvention (z. B. Informationsbroschüren, Websites, Berufsfeldbezeichnung) zu stärken und deren Reichweite in sachlicher und räumlicher Hinsicht auszuweiten. Aus Sicht von FMS-Akteurinnen und -Akteuren des Kantons Waadt (Fall C) bereitet die FMS Gesundheit inhaltlich ähnlich wie in den Deutschschweizer Kantonen ebenfalls auf den Bereich Life Sciences vor. Die Berufsfeldbezeichnung Gesundheit sei daher eigentlich problematisch, da die Schüler/-innen in der FMS Gesundheit auch viel in Mathematik, Biologie, Chemie und Physik unterrichtet werden, was insgesamt einer wissenschaftlich-technischen Ausrichtung nahekommt (FMS-LP_1_C), mit der die Schüler/-innen auch in den Bereich der Ingenieurwissenschaften gehen könnten. Aus Sicht einer Lehrperson aus dem Fall C ist es wenig sinnvoll, den Schülerinnen und Schülern der FMS Gesundheit zwar eine ausgeprägte wissenschaftliche Ausrichtung abzuverlangen, ihnen aber gleichzeitig hinsichtlich der weiterführenden Berufsperspektiven zu sagen, das FMS-Berufsfeld Gesundheit diene nur dazu, in die Gesundheitsberufe zu gehen (FMS-LP_1_C). Ein wesentlicher sprachregionaler Unterschied besteht also darin, dass im Gegensatz zu den beiden untersuchten Kantonen der Deutschschweiz (Fälle A und B) die FMS-Akteurinnen und -Akteure aus dem Kanton Waadt (Fall C) bisher nicht in rufförmige Formate investiert haben, um das Image und damit auch die Profilierung der FMS Gesundheit zusätzlich auch in Richtung der Life Sciences zu lenken. Folglich geht es aus Sicht leitender FMS-Vertreter des Falls C künftig darum, die Anschlussmöglichkeiten an FH im Bereich Life Sciences abzusichern, um die FMS Gesundheit ebenfalls als breiten Zubringer zu den FH in den Bereichen Gesundheit und Life Sciences profilieren zu können (FMS-Leitung_1_C).Footnote 36

7.2.2.3 Persönlichkeitsentwicklung

Das Bildungsziel der Förderung der Persönlichkeit ist zwar ein Erbe der Diplommittelschule, die stark auf die Entwicklung der Persönlichkeit ausgerichtet war (FMS-Leitung_2_D), ist jedoch als «Steckenpferd» (Imdorf 2005, S. 76) auch heute noch für die Profilierung und Positionierung der FMS auf der Sekundarstufe II – zwischen Gymnasium und Berufsbildung – bedeutend, wie die folgende Aussage einer Vertretung der KFMS bestätigt:

Es gibt einen Weg in der Schweiz, der so wertvoll ist wie der gymnasiale oder der berufsbildende Weg, der eine Möglichkeit ist, in der auch die Persönlichkeit der Jungen sehr stark unterstützt wird und so […]. Das ist etwas, das uns [als FMS, R.E] charakterisiert. Und das, glaube ich, ist eine Charakteristik, die uns ein Plus gibt, welches die Leute aber nicht kennen. (Vertretung KFMS)

Im Gegensatz zu Lernenden, die eine duale BGB FaGe absolvieren und mit Ausbildungsbeginn unmittelbar mit der Berufspraxis konfrontiert werden, bewegen sich die Schüler/-innen in den ersten drei Ausbildungsjahren bis zum FMS-Ausweis wie zuvor auf der Sekundarstufe I in der geschützten Umgebung der Schule (FMS-Leitung_2_C). Dort erhalten die Jugendlichen nochmals Zeit, «um Fragen zu stellen, […] also, einfach, um den Sack aufmachen zu können […], um selbst zu entdecken, ‹wer bin ich und was will ich?› […] [U]nd das braucht Zeit, Zeit um seine Persönlichkeit zu entwickeln» (FMS-Leitung_2_B; Vertretung Studiengang Pflege FH). Zu diesem «Reifungsprozess» (FMS-LP_2_B, FMS-Leitung_2_D) gehört auch, sich die Frage zu stellen: «[W]elches sind meine Stärken?» (FMS-Leitung_2_B). «[D]as schulen wir sehr stark» (FMS-Leitung_2_B) an der FMS. Es ist «diese Auseinandersetzung mit sich, die eigentlich permanent immer wieder zumindest angestoßen wird» (FMS-Leitung_1_B) und «die Reflexion darüber, ja, das, finde ich, gehört zur Persönlichkeitsentwicklung» (FMS-Leitung_2_B). «Es geht an der FMS wirklich um eine Persönlichkeitsbildung» (FMS-Leitung_2_B). Anders als die FaGe-Lernenden, die mit Ausbildungsbeginn ins Erwachsendasein eintreten und sich darin zurechtfinden müssen, sind die Schüler/-innen an der FMS weiterhin (fast ausschließlich) unter Gleichaltrigen, die ihre unmittelbare Umgebung (FMS-Leitung_1_C) bilden. Mit dem Erwachsenendasein werden die Schüler/-innen der FMS Gesundheit in den ersten drei Ausbildungsjahren kaum konfrontiert. Der Klassenverband ermöglicht es den Schülerinnen und Schülern, wesentliche Aspekt wie z. B. Verhaltensregeln und Sozialverhalten zu lernen und den «Gemeinschaftsgedanken» (FMS-LP_1_B) zu fördern. Im Klassenverband würden viele zwischenmenschliche Aspekte «automatisch» (FMS-S_4_B) gelernt. Um die FMS Gesundheit als förderlichen Kontext für die Herausbildung der individuellen Persönlichkeit zu valorisieren, berufen sich FMS-Vertreter/-innen in allen untersuchten Kantonen auf schulische Eigenschaften der häuslichen Konvention wie u. a. einen geschützten Rahmen, die Peergroup, den Klassenverband und damit «das alltägliche Leben an der Schule» (FMS-LP_4_B).

Die Förderung der Persönlichkeitsbildung an der FMS soll aber nicht nur zu einer Entwicklung der Schüler/-innen als Individuen beitragen, sondern im Sinne der industriellen Rationalität auch auf die weiterführenden Berufsausbildungen im Bereich Gesundheit vorbereiten, «[w]eil sich auch die Berufe in Zukunft ja weiterentwickeln werden, das geht alles in Richtung Beziehung» (FMS-Leitung_1_D).

Sicuramente è una formazione che va nell’ottica dello sviluppo personale proprio perché ha questa caratteristica di progressione. Diciamo che dalla prima alla terza si preparano, maturano come persona, maturano anche nella capacità di ragionamento. Quindi, tutto va a fargli crescere, ma anche a dargli tutte quelle caratteristiche che poi saranno apprezzate domani in un mondo sanitario, dove comunque lavori con empatia, con sensibilità, con una capacità di riflessione, con una mediazione fra quello che sai e quello che vedi. Tutto questo ha il tempo di svilupparsi.Footnote 37 (FMS-Leitung_2_D)

Die Förderung der Selbst- und Sozialkompetenz als Teil der Persönlichkeitsbildung (EDK 2018b) wird als «wichtige Schlüsselqualifikationen» (Kanton Basel-Landschaft 2011, S. 5) und damit als industrielle Qualität der FMS Gesundheit verstanden: Die «Schülerinnen und Schüler [sollen] zu einer umfassenden Vorbereitung auf Aufgaben und Berufsfelder, die an ihre menschlichen Qualitäten hohe Anforderungen stellen» (Kanton Basel-Landschaft 2011, S. 5), vorbereitet werden. Die Schüler/-innen sollen nach der FMS in ihrer Persönlichkeit «wirklich stabil [sein] für diese Berufe, die nachher kommen» (FMS-LP_1_B), was insbesondere im Gesundheitswesen zentral ist. Dazu äußert sich eine FMS-Lehrperson folgendermaßen: «Ich gebe den Leuten [den Schülerinnen und Schülern an der FMS, R. E.] auch zu verstehen, dass sie für mich nicht Chemie-Genies sein müssen, wenn sie eben nachher am Krankenbett stehen, sondern, dass da noch andere Sachen zählen» (FMS-LP_1_B). Das Bildungsziel der Förderung der Persönlichkeitsbildung vereint demnach aus Sicht der FMS-Vertreter/-innen aller untersuchten Kantone Qualitäten der häuslich-schulischen und industriellen Konvention in sich.

Resümee Bildungsziele FMS Gesundheit

Mit Blick auf die Frage, welche Konventionen die Qualität der in der FMS vermittelten Bildungsziele aus Sicht verschiedener Akteurinnen und Akteuren fundieren und welche Bezugspunkte dabei bedeutend sind, zeigt sich zusammenfassend Folgendes: Die Vermittlung einer vertieften Allgemeinbildung wird von den FMS-Vertreterinnen und -Vertretern i. S. des humboldtschen bzw. neuhumanistischen Bildungsideals als allgemeine Menschenbildung verstanden. Diese staatsbürgerliche Qualitätszuschreibung konnte in allen untersuchten Kantonen festgestellt werden. In Zürich und Basel-Landschaft zeigte sich jedoch, dass die Akteurinnen und Akteure diesem Bildungsziel auch eine industrielle Qualität mit Blick auf die Vorbereitung auf weiterführende tertiäre Bildungsgänge beimessen.

Das Bildungsziel der Einführung ins Berufsfeld Gesundheit wurde insbesondere mit Bezug auf die industrielle Konvention valorisiert. Das in den berufsfeldspezifischen Fächern vermittelte Wissen soll primär i. S. eines fundierten fachlichen Grundlagenwissens der Vorbereitung auf weiterführende Bildungsgänge dienen. In den untersuchten Deutschschweizer Kantonen wurden im Zusammenhang mit der Förderung des Berufs(feld)wahlprozesses auch Qualitätseigenschaften der inspirierten Konvention wie Berufsmotivation und Leidenschaft zur Valorisierung des Bildungsziels der Berufsfindung herangezogen. Es wird festgehalten, dass der zentrale Bezugspunkt des berufsfeldeinführenden Bildungsziels die Vorbereitung auf ein Tertiärstudium und damit in unterschiedlichen Ausprägungen die Studierfähigkeit ist.

Das Bildungsziel der Persönlichkeitsentwicklung soll nicht nur der Herausbildung der individuellen Persönlichkeit dienen, sondern die Schüler/-innen als reife Persönlichkeiten auf die anspruchsvollen Berufe im Gesundheitswesen vorbereiten. Für die Valorisierung dieses Bildungsziels wurden von den FMS-Vertreterinnen und -Vertretern entsprechend insbesondere Eigenschaften der industriellen sowie der häuslichen Konvention betont, wobei für Letztere insbesondere eine schulische Artikulation hervorgehoben wurde (z. B. der geschützte Rahmen, die Peergroup und der Klassenverband).

7.2.3 Bildungsinhalte

Im Folgenden wird aufgezeigt, welche Bildungsinhalte zum Erreichen der obengenannten Bildungsziele vermittelt werden. Wie auch bei der BGB FaGe ist an dieser Stelle anzumerken, dass mit Blick auf die Analyse der Bildungsinhalte, Wissensformen sowie der Wissensvermittlung und -aneignung für die FMS Gesundheit nur der berufsfeldspezifische schulische Ausbildungsteil sowie zusätzlich die Fachmaturität Gesundheit betrachtet wurde. Der allgemeinbildende Unterricht in den Stammfächern ist unberücksichtigt geblieben, was einerseits forschungspragmatischen Gründen geschuldet ist und andererseits mit einer besseren Vergleichbarkeit der beiden Ausbildungsprogramme begründet wird.

7.2.3.1 Disziplinäre Fachlichkeit

Anders als die BGB FaGe versteht sich die FMS Gesundheit nicht als Ausbildung in einem spezifischen Beruf, sondern als Vorbereitung auf weiterführende tertiäre Ausbildungen in den Bereichen Gesundheit (und Life Sciences). Während die in der BGB FaGe vermittelten Bildungsinhalte zum Erwerb berufsspezifischer Handlungskompetenzen an einer pflegespezifischen Berufsfachlichkeit ausgerichtet sind, zielen die in der FMS Gesundheit vermittelten Bildungsinhalte auf eine berufsfeldspezifische disziplinäre Fachlichkeit ab, was aus den spezifischen Fachlehrplänen deutlich hervorgeht.Footnote 38 Da «die Hebamme nicht das gleiche [benötigt] wie ein Physiotherapeut und die [Schüler/-innen, R. E.], welche Naturwissenschaften machen, eher ein technisches Verständnis» (FMS-LP_3_A) brauchen, orientieren sich die in der FMS Gesundheit vermittelten Bildungsinhalte an einer «Grundlagenausbildung» (FMS-LP_3_A) bzw. «Basisausbildung» (FMS-LP_3_A), die für all diese unterschiedlichen tertiären Ausbildungen relevant ist: eine fundierte und breite Ausbildung in den naturwissenschaftlichen Fächern wie Biologie, Chemie und Physik. Anders als bei der BGB FaGe sind die naturwissenschaftlichen Fächer in der FMS Gesundheit nicht nur «Bezugswissenschaften» (Leitung BGB FaGe Berufsfachschule_A), sondern konstitutiver inhaltlicher Kern des Berufsfelds Gesundheit. Es wäre «nicht möglich, ein Gesundheitsprofil zu machen, ohne diese Fächer» (FMS-Leitung_1_A), denn die naturwissenschaftlichen Fächer «sind ja Gesundheit, ich meine das sind ja die Rüstzeugfächer» (FMS-LP_3_B).Footnote 39 Dieses industrielle Qualitätsmerkmal einer disziplinären Fachlichkeit wird sowohl am professionellen Selbstverständnis der befragten FMS-Lehrpersonen, die sich im Gegensatz zu den Berufskundelehrpersonen FaGe als Fachlehrpersonen (Biologie-, Chemie- oder Physiklehrperson) verstehen, als auch in den Schulräumlichkeiten der untersuchten FMS sichtbar. So weisen z. B. die in Abb. 7.4 dargestellten Schilder bestimmte Schulräume als disziplinäre Fachzimmer aus.

Abb. 7.4
figure 4

(Bildquelle: eigene Fotos)

Beschriftung der Schulräume als Fachzimmer in der FMSFootnote

‹Sammlungen›, wie auf der rechten Seite von Abb. 7.4 dargestellt, bezeichnen Vorbereitungsräume der naturwissenschaftlichen Fachzimmer (Röhl 2013).

.

Auch die innere Ausstattung dieser Fachzimmer materialisiert die industrielle Qualität einer disziplinären Fachlichkeit als Bezugspunkt zur Definition der Bildungsinhalte. So lässt z. B. die Ausstattung des Physikzimmers dieses als «ein[en] Ort [erscheinen, R. E.], der nahezu gänzlich einer naturwissenschaftlichen Sichtweise zugeordnet ist» (Röhl 2013, S. 54). Insbesondere die hinter verglasten Schränken sichtbaren (Mess-) Gerätschaften sowie die aufgehängten Maßeinheitstabellen verkörpern industrielle Qualitätseigenschaften wie Messbarkeit, Wissenschaftlichkeit und Funktionalität (Röhl 2013). In den geführten Gesprächen haben FMS-Lehrpersonen außerdem immer wieder auf das Physik-, Chemie- oder Biologiestockwerk bzw. den Physik-, Chemie- und Biologietrakt verwiesen und diese Soziomaterialität als für die untersuchte Ausbildungssituation relevant eingebracht (Hedtke et al. 2019). Diese Fachstockwerke bzw. -trakte sind mit Glasvitrinen ausgestattet, in denen typische fachdisziplinäre Gegenstände, z. B. Mikroskope oder andere technische (Mess-) Geräte, Strukturen chemischer Atome, Bilder aus dem Weltall und aufgeschraubte Motoren ausgestellt sind (Abb. 7.5).

Abb. 7.5
figure 5

(Bildquelle: eigene Fotos)

Gegenstände in den naturwissenschaftlichen Fachtrakten unterschiedlicher FMS.

Der Einbezug der schulräumlichen Ausstattung gibt Hinweise darauf, dass zusätzlich zur zuvor identifizierten industriellen Qualität der Bildungsinhalte eine staatsbürgerliche hinzukommt, und zwar dahingehend, dass die Bildungsinhalte auf das Verstehen fundamentaler Prinzipien und Konzepte abzielen, z. B. das Funktionieren eines Motors (Derouet 1992) oder den Aufbau chemischer Atome. Dies wird einerseits als Vorbereitung auf eine Tertiärausbildung in den Bereichen Gesundheit und Life Sciences, andererseits mit Blick auf künftige Kaderpositionen der FMS-Absolventen in diesen Bereichen als relevant erachtet, wie das Gespräch zwischen FMS-Lehrpersonen zeigt:

LP1: [M]an sollte nicht einfach so kategorisch sagen: ‹Ja, in der Pflege, das sind keine Naturwissenschaften oder so› […]. [M]an kann das nicht sagen, dass die [Schüler/-innen der FMS Gesundheit, R. E.] das nicht brauchen, denn die gehen ja an eine Fachhochschule, das heisst, die sind dann auch in der Pflege nicht die, die nur die HäfeFootnote 41 putzen, sondern sie sind dann verantwortlich unter anderem auch für die Medikamentenabgabe etc. Also sie müssen von dem [von den Naturwissenschaften, R. E.] schon genug verstehen, auch wenn sie dann in die Pflege gehen und nicht Biotechnologie studieren. Also, ich finde, das darf man nicht unterschätzen. Sie sind dann nicht einfach Pflegepersonal, sondern die, die studiert haben //

LP2://Nicht die FaGe//

LP1: Nein, wirklich, das ist dann eine andere Stufe. […] Ja, und sie sind im Kontakt mit Ärzten und da müssen sie natürlich eben, ob das jetzt Dialyse ist oder so. Also, sie müssen darüber [über die Naturwissenschaften, R. E.] Bescheid wissen, auch wenn sie sich nicht auf das spezialisieren, weil sie zum Teil eben ein Team leiten und so weiter. (FMS-LP_1 & 2_A)

Dieser Kompromiss aus staatsbürgerlichen und industriellen Qualitätseigenschaften der in der FMS Gesundheit vermittelten Bildungsinhalte ist also in unterschiedlichen materiellen und immateriellen Formaten (u. a. Schulräumlichkeiten, professionelles Selbstverständnis der Lehrpersonen) in der Ausbildungssituation FMS Gesundheit verankert und damit insgesamt in Form «ruhende[r] Dispositive» (Dodier 2010, S. 12) «in der Umgebung bereits mehr oder weniger vorhanden, bevor die Personen die Szene betreten» (Dodier 2011, S. 91).

7.2.3.2 Kein «Gesundheits-Groove»

Die FH verlangen, einer leitenden FMS-Vertretung zufolge, «einfach eine gute, fundierte Ausbildung in Biologie und Chemie, aber nicht unbedingt, dass wir [die FMS Gesundheit, R. E.] eine Ausbildung in Gesundheitsaspekten machen» (FMS-Leitung_1_A). Die FMS-Rektoren und Lehrpersonen sind sich in allen Fällen einig, dass es in weiten Teilen von den jeweiligen Lehrpersonen abhängt, inwiefern konkrete Anknüpfungs- und Bezugspunkte zum Feld der Gesundheit hergestellt werden, z. B. mithilfe von Querverbindungen: Beim Thema Hebegesetz ist die Querverbindung z. B. das rückenschonende Heben schwerer Gewichte wie Patienten; beim Thema Gase ist sie die Lunge resp. die Lungenfunktion. Die befragten FMS-Vertreter/-innen sind sich aber einig, dass Schüler/-innen den «Gesundheits-Groove» (FMS-Leitung_1_A)

nicht so wirklich spüren, wenn sie [in das Berufsfeld Gesundheit, R. E.] hineingehen. Sie haben einfach die Fächer, die mit Gesundheit viel zu tun haben, [...] [a]ber es hat keinen wirklichen Gesundheits-Groove, wie es das sicher hat, wenn jemand irgendwie eine FaGe-Lehre macht. (FMS-Leitung_1_A)

Diese Aussage als Ausgangspunkt nehmend, wurde bei den Schülerinnen und Schülern nachgefragt, in welchen Ausbildungsbereichen ihrer Meinung nach die Gesundheit im Berufsfeld Gesundheit spürbar und erkennbar ist. Dazu gab es folgende Reaktionen von den Befragten: «[P]uh, schwierig zu sagen» (FMS-Schüler_2_A), «das ist eine gute Frage» (FMS-Schüler_1_A), «[n]irgends» (FMS-Schülerin_6_A), «gar nicht» (FMS-Schülerin_5_A), «il n’y a aucun lien qui est fait, en fait»Footnote 42 (FMS-S_C), «il n’y a pas trop de trucs liés à la santé»Footnote 43 (FMS-S_C), «[c]e n’est pas vraiment de la santé»Footnote 44 (FMS-S_C), «on ne fait rien qui a à voir avec la santé vraiment»Footnote 45 (FMS-S_C) oder «wir in Gesundheit, wir haben einfach nur viel Mathe[mathik], viel Bio[logie], viel Chemie und viel Physik, […] [a]ber Gesundheit spürt man eigentlich nirgends heraus» (FMS-Schülerin_3_A). Diese Einschätzungen geben exemplarisch den Grundtenor der erhaltenen Antworten der Schüler/-innen wieder. Für viele Schüler/-innen sind damit enttäuschte Erwartungen in Bezug auf das gewählte Berufsfeld Gesundheit verbunden, denn sie hatten vor Ausbildungsbeginn eine gesundheitsspezifischere Ausrichtung der Bildungsinhalte erwartet, wie die folgende Aussage stellvertretend verdeutlicht (FMS-S_C; FMS-S_1_A; FMS-S_3 & 5_A):

[M]oi ce que je pensais trouver en santé, c’est surtout qu’on ait des SCIENCES, vraiment un truc basé sur le corps humain. Et puis en se retrouvant ici ce n’est vraiment presque QUE des maths, des maths, des maths, des maths (tous rient). Et puis sincèrement, […] je pensais qu’on allait faire plus corps humain, qu’on allait vraiment plus détailler sur l’option, sur là-dessus on allait voir plusieurs choses, et puis non, […] on n’a que de la biologie en gros.Footnote 46 (FMS-S_C)

Eine FMS-Physiklehrperson wendet in diesem Zusammenhang ein, der Physiklehrplan sei zwar «sehr unspezifisch, was Gesundheit angeht» (FMS-LP_4_B) (außer u. a. bei Themen wie Blutdruck und Anwendungen aus dem medizinisch-technischen Bereich, worunter u. a. Aspekte wie Röntgenröhre, Methoden der Strahlentherapie, Magnetspin- und Computertomographie und Ultraschalluntersuchung fallen (Kanton Basel-Landschaft 2011), die physikspezifischen Bildungsinhalte wiesen jedoch durchaus «Anknüpfungspunkte zum Berufsfeld Gesundheit» (FMS-LP_4_B) auf. Dieselbe Physiklehrperson begründet dies wie folgt:

Bevor man irgendwie Ultraschall verstehen kann, muss man erst mal Schall verstanden haben. Und bevor man MRI [Magnet-Resonanz-Imaging, R. E.] verstehen kann, muss man erst Mal wissen, was ein Magnetfeld überhaupt ist. Beim Röntgen muss man verstehen, was überhaupt irgendwie Strahlung ist und so. […] Die modernen Geräte sind dermaßen kompliziert, man kann nicht aus dem Nichts heraus deren Funktion verstehen, also muss man eigentlich einen ziemlich großen Sockel haben. Und das ist, glaube ich, eher die Idee dieses Lehrplans, dass man eben diesen Sockel da unterrichtet. (FMS-LP_4_B)

Die Schüler/-innen sollen in der FMS Gesundheit also die Grundlagen in den gesundheitsspezifischen Berufsfeldfächern lernen und sich damit das erforderliche Wissen aneignen, um verstehen zu können, wie z. B. eine Röntgenröhre funktioniert oder weshalb Insulin nicht in Tablettenform eingenommen werden sollte. Mit Blick auf die künftige Ausübung eines Gesundheitsberufs (ggf. in leitender Kaderposition) ist dies aus Sicht von FMS-Rektoren und Lehrpersonen unerlässlich. Befragte Leitende, Lehrpersonen und die Schülerschaft beurteilen die Qualität der Bildungsinhalte also unterschiedlich. Während für erstere klar ist, dass Bildungsinhalte essenziell sind, die z. B. auf das Verstehen der physikalischen Vorgänge bei Schallwellen abzielen, um später in Kaderfunktionen im Bereich Gesundheit oder Life Sciences tätig zu sein, kritisieren viele der befragten Schüler/-innen diese staatsbürgerliche Qualität der Bildungsinhalte dahingehend, dass sie sich eine zweckdienlichere, funktionalere sowie gesundheitsspezifischere und damit stärker industrielle Ausrichtung der Bildungsinhalte wünschen.

Hinsichtlich der Bildungsinhalte lässt sich ein fallspezifischer Unterschied feststellen: Im Kanton Waadt und Tessin ergänzen das Fach Philosophie und Ethik bzw. die Fächer Philosophie und Psychologie die stark naturwissenschaftliche Ausrichtung des Berufsfelds Gesundheit. Die vermittelten Bildungsinhalte in diesen Fächern sollen Schüler/-innen der FMS Gesundheit dazu befähigen, das darin erworbene Wissen im Hinblick auf ethische Fragen, die die Berufstätigkeit im Gesundheitswesen tangieren, zu nutzen, und sie für diese Fragen sensibilisieren (Canton de Vaud 2016a). Entsprechend erachtet die verantwortliche Fachlehrperson das Fach Philosophie und Ethik als gesundheitsspezifisches Berufsfeldfach mit Blick auf die Berufsvorbereitung im Bereich der Pflege als wertvoll (FMS-LP_2_C).

Resümee Bildungsinhalte FMS Gesundheit

Die in der FMS Gesundheit vermittelten Bildungsinhalte folgen einer fachdisziplinären Logik. Das Ziel ist es, dass sich die Schüler/-innen im Berufsfeld Gesundheit ein fundiertes Wissen in den Naturwissenschaften aneignen, weil dies die Grundlage aller weiterführenden tertiären Bildungsgänge in Gesundheit (und Life Sciences) ist. Zu dieser industriellen Qualität einer disziplinären Fachlichkeit kommt eine staatsbürgerliche Ausrichtung der Bildungsinhalte hinzu, wonach grundlegende Konzepte und Prinzipien der berufsfeldspezifischen Fächer vermittelt werden. Diese beiden Konventionen sind in der Ausbildungssituation u. a. in einem ruhenden Dispositiv aus schulräumlicher Ausstattung, professionellem Selbstverständnis der Lehrpersonen und Fachlehrplänen formatiert und materialisiert. Die Mächtigkeit dieser beiden Konventionen wird dadurch in der Ausbildungssituation FMS Gesundheit stabilisiert.

7.2.4 Wissensformen

7.2.4.1 Theoretisch-abstraktes Wissen und überfachliche Kompetenzen als Grundlagen für weiterführende Tertiärausbildungen

Das Wissen, das die Schüler/-innen in der FMS Gesundheit erwerben, ist nicht wie in der BGB FaGe auf ein spezifisches Berufsprofil bezogen. Vielmehr sollen die Schüler/-innen der FMS Gesundheit grundlegende, (teilweise) theoretisch-abstrakte Prozesse und Prinzipien der berufsfeldspezifischen Fachdisziplinen verstehen und theoretisch (nicht praktisch) anwenden können (FMS-LP_3_A). Die FMS-Vertreter/-innen betonen damit eine Orientierung am Allgemeinen als eine zentrale Qualitätseigenschaft des in der FMS Gesundheit vermittelten Wissens. Im Folgenden wird anhand von Prüfungsfragen sowie eines Arbeitsauftrags exemplarisch verdeutlicht, wie diese staatsbürgerliche Wissensform im berufsfeldspezifischen Unterricht der FMS Gesundheit formatiert ist. In der beobachteten Biologielektion mussten die Schüler/-innen im Rahmen eines Arbeitsauftrags zum Thema Klassische Genetik – Farbenblindheit passend zur beschriebenen Ausgangslage ein Stammbaumschema erstellen, darin die Genotypen eintragen und die Art der Vererbung bestimmen. Die Schüler/-innen sollten herausfinden, ob die Kinder des an Farbenblindheit erkrankten Mannes ebenfalls davon betroffen sein können. Dieser Arbeitsauftrag zielte gemäß der entsprechenden Biologielehrperson übergeordnet auf das Verstehen grundlegender Prinzipien (Derouet 1992, S. 91) und (Vererbungs-) Prozesse der klassischen Genetik ab. Auch das zweite Beispiel, eine Prüfungsaufgabe im Berufsfeldfach Physik, bringt zum Ausdruck, dass in der FMS Gesundheit i. S. der staatsbürgerlichen Konvention ein sogenanntes «savoir abstrait» (Derouet 1992, S. 88) gefördert wird.

Für zukünftige Raumsonden untersucht die NASA auch einen neuartigen Ionenantrieb. Dabei werden Xenonatome ionisiert, in einem elektrischen Feld beschleunigt und durch eine Düse mit großer Geschwindigkeit gestoßen. Eine Sonde mit Ionenantrieb kann während rund 300 Tagen ununterbrochen beschleunigen und erreicht dabei eine Geschwindigkeit von rund 1300 km/h. Wie groß wäre die durchschnittliche Beschleunigung einer Sonde mit Ionenantrieb? Welche Strecke hätte sie nach 200 Tagen zurückgelegt? Wie lange bräuchte die Sonde für die Beschleunigung von 0 auf 100 km/h? Wäre der Ionenantrieb auch für Autos interessant? (Prüfungsaufgabe im Berufsfeldfach Physik; persönliches Skript Physiklehrperson)

Die Lösung dieser Aufgabe erfordert ein grundlegendes physikalisch-mathematisches Verständnis: Die Schüler/-innen müssen physikalische Gesetzmässigkeiten, Konzepte und die entsprechenden Berechnungsformeln kennen, diese richtig anwenden und anschließend die mathematischen Berechnungen durchführen. Anders als das stark handlungsleitende, anwendungsorientierte und praxisbezogene Wissen, das in den Prüfungsfragen des Berufskundeunterrichts FaGe abgefragt wurde (Abschn. 7.1.4.1), weist das in den Berufsfeldfächern der FMS Gesundheit vermittelte Wissen keinen unmittelbaren Bezug zum Ausbildungsalltag der Schüler/-innen, einem konkreten Berufsbild, dessen Alltag oder typischen darin vorzufindenden Situationen auf. In der FMS Gesundheit eignen sich die Schüler/-innen also ein nicht anwendungsorientiertes und praxisbezogenes Wissen an, sondern eines, das auf das Verstehen und die Reflexion grundlegender chemischer, physikalischer und biologischer Prozesse abzielt. Mit Blick auf die Ausbildung zukünftiger tertiär ausgebildeter Fachkräfte, die in Kaderpositionen Verantwortung tragen und nicht «nur Hände bieten» (Bk-LP_2_A), ist dies aus Sicht einer FMS-Leitung unerlässlich:

Ich finde eigentlich schon, dass diejenigen, welche in den Kaderberufen arbeiten, dass die irgendwo ein vernünftiges Niveau haben und dass deren Konzepte von Naturwissenschaften wirklich stimmen. […] Und ich will eigentlich wirklich, dass die Leute, die da reingehen, einfach wirklich genügend Grundlagen haben, dass sie auch Sachen kritisch hinterfragen können und dass sie auch wirklich verstehen, was passiert. (FMS-Leitung_1_A)

Als angehende tertiär ausgebildete Fachkräfte «brauchen sie [die Schüler/-innen der FMS-Gesundheit, R. E.] die Grundlagen, sie brauchen das alles nachher» (FMS-LP_1_A), um beispielsweise zu verstehen, «warum jetzt ein Medikament so oder anders wirkt. Sie müssen wissen, was die verschiedenen funktionellen Gruppen sind, um nachher nachvollziehen zu können, wenn jetzt das mit irgendetwas anderem interagiert» (FMS-LP_1_A).

Ausgehend vom Bildungsziel, «die Schülerinnen und Schüler studierfähig zu machen» (FMS-Leitung_2_B), sollen sie zudem Wissen i. S. überfachlicher Kompetenzen erwerben, z. B. «Lernstrategien entwickeln, und zwar um Kompetenzen zu entwickeln, die sie dann später im Studium brauchen» (FMS-Leitung_2_B). Dazu gehört neben den Grundtechniken des wissenschaftlichen Arbeitens ein hohes Maß an Information-Literacy sowie Arbeits- und Lernstrategien (Leitungskonferenz FMS Basel-Landschaft 2017). Die Schüler/-innen der FMS Gesundheit sind gewohnt, (selbstständig) zu lernen, sie sind sozusagen «Lernprofis» (FMS-LP_4_B), denn sie wissen, wie Informationen in unterschiedlichsten Fächern memoriert werden, sie können Beziehungen zwischen den Fächern herstellen, große Mengen Unterrichtsstoff aufnehmen und verarbeiten sowie vernetzt denken. Zusätzlich zu den inhaltlich-fachlichen Kenntnissen sollen die Schüler/-innen in der FMS Gesundheit also i. S. eines Kompromisses zwischen industrieller und projektförmigen Konvention auch überfachlich, arbeitsmethodisch und lerntechnisch auf ein Studium an der FH vorbereitet werden. Damit besteht für Schüler/-innen der FMS Gesundheit bereits eine große Nähe zwischen ihrem Schulalltag und den Anforderungen, die der Alltag im Studium an einer FH stellt (FMS-LP_4_B). Diese industriell-projektförmigen Qualitätseigenschaften des in der FMS Gesundheit vermittelten theoretischen Wissens werden u. a. in spezifischen dafür vorgesehenen Ausbildungsgefäßen wie dem methodenzentrierten Unterricht oder den selbstorganisierten Lernphasen gefördert.

Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass die drei Konventionen (staatsbürgerlich, industriell und projektförmig), die die Qualität des in der FMS Gesundheit vermittelten Wissens fundieren nicht nur auf der diskursiven Ebene in den Aussagen von Leitenden oder Lehrpersonen wiederzufinden sind, sondern auch in der soziomateriellen Ausstattung der Ausbildungssituation FMS Gesundheit u. a. in Prüfungsfragen, Lernaufträgen und Ausbildungsgefäßen eingelagert und formatiert sind.

In der FMS Gesundheit «ist [es] nicht nur unterrichten mit Papier, irgendwelches Auswendiglernen von irgendwelchen Dingen und rechnen, sondern im Praktikum hantiert man schon auch mit Pipette und irgendwie Flüssigkeit und Thermometer und heißem und kaltem Wasser und so Sachen» (FMS-LP_4_B). «Also das ist uns ganz wichtig», betont eine Chemielehrperson, «dass wir das [das Chemie-Praktikum, R. E.] nicht zur Theoriestunde verkommen lassen» (FMS-LP_1_B). Ausgehend von diesem Zitat sowie der Tatsache, dass die FMS Gesundheit seitens Berufsbildungsvertreter/-innen immer wieder mit der Kritik einer unzureichenden Praxiserfahrung konfrontiert wird, wurde in der vorliegenden Studie explizit der Frage nachgegangen, inwiefern die FMS Gesundheit praktische Wissensformen fördert und welches Praxisverständnis FMS-Vertreter/-innen haben.Footnote 47

7.2.4.2 Keine Berufspraxis

Praxis bedeutet in der FMS Gesundheit anders als in der BGB FaGe nicht, «dass man jetzt so denkt: Wie ist der Berufsalltag einer Krankenschwester? Das ist die Berufspraxis, das ist eben was Anderes» (FMS-LP_4_B). Eine FMS-Lehrperson führt dies folgendermaßen aus:

Es ist sicher nicht so, dass man jetzt einen UntersuchFootnote 48 simuliert, das ist es nicht. Und das wäre dann für mich Berufsbildung. Praxis ist Blutdruck messen, aber dann: ‹Kommen Sie hinein, stehen Sie auf die Waage, jetzt messen wir den Blutdruck und nehmen Blut ab›. Das ist dann Berufsbildung und damit hat das [die FMS Gesundheit, R. E.] nichts zu tun. (FMS-LP_3_A)

In den untersuchten Fällen besteht der Unterricht in den naturwissenschaftlichen Fächern des Berufsfelds Gesundheit nicht nur aus einem klassisch theoretischen Teil, sondern auch aus einem Biologie-, Chemie- und Physikpraktikum, die an der Schule selbst durchgeführt werden. In diesen praktisch ausgerichteten Ausbildungsgefäßen geht es folglich nicht darum, dass die Schüler/-innen lernen, «wie man einen Patienten irgendwie wäscht oder so was, das lernen sie natürlich nicht bei uns» (FMS-LP_4_B). Die FMS-Vertreter/-innen sind sich einig, dass die Schüler/-innen in der FMS Gesundheit im Vergleich zur Berufsbildung in Bezug auf praktische Fähigkeiten nur «das Elementare» (FMS-Leitung_1_B; FMS-LP_1_C) lernen. Das ist «das große Manko. [D]as ist einfach das, was wir nicht bieten können, wie eine Berufslehre, diese Routine in so tägliche Sachen» (FMS-Leitung_1_B; FMS-LP_1_B). Mit der immer wieder betonten Distanzierung gegenüber dem Begriff Berufspraxis weisen die FMS-Vertreter/-innen ein häuslich-betriebliches Praxisverständnis i. S. einer Konfrontation mit dem Alltag im Gesundheitswesen sowie u. a. berufsspezifische Handgriffe und Erfahrungen in Routinen des Berufsalltags – worauf das Praxisverständnis in der BGB FaGe stark beruht – in den ersten drei Ausbildungsjahren der FMS Gesundheit zurück.

Dennoch vermittelt die FMS Gesundheit aus Sicht der FMS-Vertreter/-innen «sehr viele praktische Aspekte» (FMS-Leitung_1_A), sodass die Schüler/-innen auch lernen, «praktisch zu arbeiten» (FMS-Leitung_1_A). Im Rahmen der praktisch ausgerichteten Ausbildungsgefäße der FMS Gesundheit geht es darum, «dass man mit Gegenständen hantiert und nicht nur mit Papier, Büchern und Sprache, sondern mit materiellen Gegenständen» (FMS-LP_4_B). Hierzu gehören das Durchführen von Laborarbeiten wie das Mikroskopieren oder das Hantieren mit Geräten, z. B. dem Bunsenbrenner, eine Schaltung mit Lämpchen, Widerständen und das Zusammenstecken von zwei Messinstrumenten (FMS-LP_3_A) sowie das Sezieren eines Schweineknies (FMS-Schüler_1_A). «Aber es ist eigentlich nicht etwas, das schon eine Art propädeutische Berufsausbildung ist» (FMS-Leitung_2_A), sondern es sind «Dinge, die haben [z. B., R. E.] mit Grundlagen der Physik zu tun und sind dort Praxis, aber das ist nicht direkt Gesundheitspraxis» (FMS-LP_4_B). In der FMS Gesundheit wird Praxis bzw. praktisches Wissen von den Akteurinnen und Akteuren also mit Bezug auf die industrielle Konvention als grundlegendes savoir faire i. S. fachdisziplinärer Arbeitstechniken und -methoden verstanden (z. B. für die Laborarbeit das Mikroskopieren oder das Sezieren), die Grundlage einer Vielzahl weiterführender tertiärer Berufsausbildungen in den Bereichen Gesundheit und Life Sciences sind (FMS-Leitung_1_A; FMS-Leitung_2_A).

Resümee Wissensformen FMS Gesundheit

Die FMS-Vertreter/-innen schreiben den in den berufsfeldspezifischen Fächern der FMS Gesundheit vermittelten Wissensformen zwei unterschiedliche Qualitäten zu: erstens eine staatsbürgerliche i. S. eines theoretisch-abstrakten Wissens, das sich an den allgemeinen Prinzipien und Konzepten der einzelnen Berufsfeldfächer orientiert. Zweitens eine projektförmig-industrielle Qualität in Form von Lern- und (wissenschaftlichen) Arbeitsmethoden, die die Grundlage einer jeder tertiären Ausbildung sind. Die in den ersten drei Jahren FMS Gesundheit vermittelte praktische Wissensform valorisieren FMS-Vertreter/-innen basierend auf der industriellen Konvention i. S. fachdisziplinärer Grundtechniken, wie  das Sezieren und das Mikroskopieren, während häuslich-betriebliche Aspekte (Konfrontation mit der Berufsrealität, berufsspezifische Handgriffe, Routinen des Berufsalltags) zurückgewiesen werden.

7.2.5 Wissensvermittlung und -aneignung

Die Frage, wodurch sich die Wissensvermittlung und -aneignung in der FMS Gesundheit auszeichnet, wird zuerst für berufsfeldspezifische schulisch-theoretische, dann für berufsfeldspezifische schulisch-praktisch ausgerichtete Ausbildungsgefäße und abschließend für das außerschulische Fachmaturitätspraktikums Gesundheit in unterschiedlichen Sprachregionen beantwortet.

7.2.5.1 Berufsfeldspezifischer schulisch-theoretischer Ausbildungsteil

Nach einem inhaltlich-fachlichen Input der Biologielehrperson zur klassischen Genetik sollten die Schüler/-innen während der beobachteten Biologielektion einen Arbeitsauftrag zum Thema Genkopplung bei der Fruchtfliege Drosophila melanogaster bearbeiten. Um die in diesen gestellten Aufgaben zu lösen, mussten sich die Schüler/-innen im Vorfeld selbstständig und mithilfe der entsprechenden Passagen im Biologielehrbuch das erforderliche Hintergrundwissen über Chromosomen als Träger der Gene, Genkopplung, Rekombination, Anordnung der Gene auf den Chromosomen sowie generelle Informationen zur Fruchtfliege Drosophila melanogaster als Modelltier der Genetik und entsprechende Versuche zur Kreuzung aneignen (Arbeitsauftrag FMS-Berufsfeldfach Biologie). Der nachfolgende Auszug aus dem Biologielehrmittel zeigt exemplarisch, wie darin Sachverhalte, im Folgenden das Konzept der Rekombination, erklärt werden.

In der ersten meiotischen Teilung werden, die vom Vater und die von der Mutter stammenden homologen Chromosomen nach dem Zufall auf die Tochterzellen verteilt. Dabei sind die Allele aller auf verschiedenen Chromosomen lokalisierten Gene frei kombinierbar. Ihr Erbgang entspricht der 3. mendelschen Regel. Allele, deren Genorte auf denselben Chromosomen liegen, werden in der Regel gemeinsam vererbt. Aber auch sie können entkoppelt und damit neu kombiniert werden: Während der Prophase I der Meiose können die gepaarten homologen Chromosomen Stücke ihrer Chromatiden austauschen. Befinden sich unterschiedliche Allele auf den getauschten Stücken, werden die betreffenden Merkmale später neu kombiniert. Dieser als Crossing-over bezeichnete Genaustausch beruht auf einer Überkreuzung der Chromatiden, die als Chiasma sichtbar ist. (Born et al. 2009, S. 177, Kursivsetzung i. O.)

Der Auszug macht deutlich, dass die Wissensvermittlung auf einer theoretisch-konzeptionellen Ebene mithilfe einer disziplinären Fachsprache sowie mit Bezug auf komplexe Prinzipien, Konzepte und Vorgänge der klassischen Genetik erfolgt. Ein unmittelbarer Bezug zum Ausbildungsalltag der Schüler/-innen, wie dies für die BGB FaGe mit typischen pflegespezifischen Berufssituationen als Ausgangspunkt der Wissensvermittlung charakteristisch ist, ist hier nicht erkennbar. Im Rahmen eines Arbeitsauftrages mussten die Schüler/-innen im Anschluss an das Selbststudium u. a. «die Genotypen der Keimzellen mit Hilfe der Angaben aus der F1- und F2-Generation» in dem in Abb. 7.6 dargestellten Schema beschriften, «die Genotypen in den diploiden Körperzellen» eintragen, die Vorteile des Untersuchungsgegenstands der Fruchtfliege Drosophila melanogaster aufzählen sowie verschiedene Experimente zu deren Genkopplung vergleichen und die Unterschiede herausarbeiten. Gemäß der Biologielehrperson zielte der Arbeitsauftrag insgesamt darauf ab, nicht nur nachahmen zu können, sondern auch zu verstehen.

Abb. 7.6
figure 6

(Bildquelle: Jaenicke und Paul 2004, © 2004, Westermann Gruppe)

Arbeitsauftrag zum Thema Genkopplung bei der Fruchtfliege Drosophila melanogaster im Berufsfeldfach Biologie.

Auch die Wissensvermittlung im Physikunterricht knüpft, anders als im Berufskundeunterricht FaGe, thematisch bzw. inhaltlich nicht an den Ausbildungsalltag der Schüler/-innen an. So ging es in der beobachteten Physiklektion im Zusammenhang mit dem Thema Kinematik – Das Gleichheit-Geschwindigkeits-Gesetz bei der gleichmäßigen Beschleunigung z. B. um die Beschleunigung von Raumsonden, Rennwagen und Motorrädern. Die Schüler/-innen sollten in diesem Zusammenhang u. a. ein Weg-Zeit-Diagramm und ein Geschwindigkeits-Zeit-Diagramm in Bezug auf eine bestimmte Aufgabenstellung skizzieren, dabei mit physikalischen Formeln operieren und diese nach den gesuchten Variablen umformen (Abb. 7.7). Gemeinsam mit der Physiklehrperson wurden während des Unterrichts im Plenum Schritt für Schritt einige Formeln mathematisch hergeleitet. Als Repetition mussten die Schüler/-innen außerdem Fragen beantworten, wie z. B.: «Welche Bedeutung hat die Steigung einer Geraden im s-t-Diagramm?» (Antwort: Geschwindigkeit) oder «Welche Bedeutung hat die Steigung einer Geraden im v-t-Diagramm?» (Antwort: Beschleunigung). Wie das Beispiel zeigt, ist die Wissensvermittlung in den naturwissenschaftlichen Fächern des Berufsfelds Gesundheit nicht auf ein spezifisches Berufsbild und die entsprechenden Tätigkeiten ausgerichtet. Vielmehr müssen die Schüler/-innen, i. S. der staatsbürgerlichen Konvention, die eine theoretisch-abstrakte Anwendung theoretischer Konzepte und grundlegender Prinzipien vorsieht, Aufgaben bearbeiten, die in den meisten Fällen keinen unmittelbaren Bezug zu ihrem Ausbildungsalltag aufweisen.

Abb. 7.7
figure 7

(Bildquelle: persönliches Skript Physiklehrperson, © M. B. Physiklehrperson)

Arbeitsauftrag zum Thema Kinematik im Berufsfeldfach Physik.

Bisher wurde aufgezeigt, dass in den berufsfeldspezifischen Fächern der FMS Gesundheit theoretisch-abstraktes Wissen gefördert wird und, dass dieses durch die Ausrichtung an grundlegenden Prinzipien und Konzepten der jeweiligen disziplinären Fächer hervorgebracht wird. Ausgehend davon, dass sich die FMS Gesundheit in den beiden untersuchten Deutschschweizer Kantonen als «attraktive[r] Mix von Allgemeinbildung, Berufsbildung und Berufspraxis» (Bildungsdirektion Kanton Zürich 2017a, S. 3), «das Beste aus Schule und Lehre, Allgemeinbildung und Berufsbildung, Theorie und Praxis» (Bildungsdirektion Kanton Zürich 2017b, S. 3) sowie mit einem «starke[n] Praxisbezug zur Berufswelt» (Leitungskonferenz FMS Basel-Landschaft 2017, S. 4) profiliert, wird im Folgenden der Frage nachgegangen, wie in der FMS Gesundheit die Vermittlung praktischer Wissensformen erfolgt. Dies wird im ersten Schritt am Beispiel des Chemiepraktikums (als Teil des Berufsfeldfachs Chemie) für die berufsfeldspezifischen schulisch-praktischen Ausbildungsteile getan, bevor die Wissensvermittlung im außerschulisch-praktischen Ausbildungsteil des Fachmaturitätspraktikums Gesundheit betrachtet wird.

7.2.5.2 Berufsfeldspezifischer schulisch-praktischer Ausbildungsteil

Noch bevor der Unterricht beginnt, formatiert die soziomaterielle Ausstattung des Laborzimmers, in dem das Chemiepraktikum stattfindet, eine «disziplinäre […] Sicht auf die Dinge» (Röhl 2013, S. 87) und strukturiert damit das Lernsetting vor: Reagenzgläser, Pipetten, Flüssigkeiten und Messinstrumente sind im Raum vorhanden (Abb. 7.8). Diese Gegenstände materialisieren alle industrielle Qualitätseigenschaften wie Messbarkeit, Genauigkeit, Fachlichkeit und Wissenschaftlichkeit (Boltanski, Thévenot 2007).

Abb. 7.8
figure 8

(Bildquelle: eigene Fotos)

Räumliche Ausstattung des Laborzimmers an der FMS.

Das Unterrichtsthema des beobachteten Chemiepraktikums ist Lebensmittelchemie. Hierfür wird von der Chemielehrperson ein Postenlauf mit folgenden fünf chemischen Versuchen bzw. Experimenten aufgebaut: Untersuchung von Cola; Verflüssigung von Gelatine durch Proteasen in Früchten; Smarties – natürliche oder künstliche Farbstoffe?; Wieviel Natriumhydrogencarbonat enthält eine Brausetablette?; Konservierungsmittel in Tomatenpüree. Die Schüler/-innen sollen im Rahmen dieser Versuche bestimmte Inhaltsstoffe in unterschiedlichen Lebensmitteln nachweisen. Die chemischen Versuche müssen gemäß Versuchsanweisungen (Beschreibung des Versuchsablaufs inkl. teilweise Informationen zur Zusammensetzung bestimmter chemischer Stoffe) durchgeführt werden. Abb. 7.9 verdeutlicht für den Versuch Untersuchung von Cola, wie die Schüler/-innen den Versuchsaufbau, d. h. das von der Chemielehrperson im Vorfeld vorbereitete «experimentelle Arrangement» (Röhl 2013, S. 72) vorfanden: Dazu gehörten u. a. Kapillarröhrchen, verschiedene Messgefäße, Pipetten, Teststreifen zur Ermittlung des pH-Werts, Pinzetten und unterschiedliche chemische Lösungen. Es handelt sich also um ein «dingliche[s] Arrangement» (Röhl 2013, S. 67), das industrielle Qualitätseigenschaften der Wissensvermittlung (u. a. instruiert/angeleitet, problemorientiert) in der Lernsituation formatiert und materialisiert, bevor die Schüler/-innen im Chemiepraktikum aktiv werden.

Abb. 7.9
figure 9

(Bildquelle: eigenes Foto)

Versuchsaufbau «Untersuchung von Cola».

Die Schüler/-innen lernen im berufsfeldspezifischen schulisch-praktischen Ausbildungsteil unterschiedliche praktische Fähigkeiten i. S. von Arbeitstechniken, wie Flüssigkeiten mithilfe unterschiedlicher Messinstrumente exakt (z. B. ½ Mikroliter) abzumessen (Abb. 7.10), oder das Hantieren mit unterschiedlichen Laborinstrumenten, z. B. Bunsenbrenner, Pinzetten, Mikropipetten und Kapillarröhrchen (Abb. 7.11).

Abb. 7.10
figure 10

(Bildquelle: eigene Fotos)

Exaktes Abmessen und Aufziehen bestimmter Flüssigkeiten mithilfe diverser Laborinstrumente.

Abb. 7.11
figure 11

(Bildquelle: eigene Fotos)

Umgang mit diversen Laborinstrumenten.

Die verantwortliche Chemielehrperson hebt im anschließenden Gespräch wiederholt hervor, dass die Schüler/-innen im Rahmen dieser schulisch-praktischen Ausbildungsgefäße im Gegensatz zum betrieblichen Lernsetting in der Berufspraxis (grundsätzlich) nicht mit unvorhersehbaren Zwischenfällen rechnen müssen, sondern das Befolgen der Versuchsanweisung zum gewünschten Ergebnis führe. Schliesslich handle es sich um

von uns [den Chemielehrpersonen, R. E.] ja sehr gut ausprobierte Versuche. Während, wenn man eben dort [in der Berufspraxis, R. E.] in den Laboralltag geht, dann funktioniert ja vieles gar nicht und dann muss man ja das immer wieder machen, bis es dann halt nachher das Ergebnis liefert, was man tatsächlich präsentieren kann. (FMS-LP_1_B)

Die Wissensvermittlung findet in den schulisch-praktischen Ausbildungsgefäßen der FMS Gesundheit also in einem geschützten Rahmen statt, der didaktisch aufbereitet, durchgeplant, «hochgradig standardisiert und choreografiert» (Röhl 2013, S. 91) ist und dessen reibungsloses Funktionieren von der Chemielehrperson als Teil der Unterrichtsvorbereitung sichergestellt wurde (Röhl 2013). Die Wissensvermittlung im Chemiepraktikum liefert demnach «keine Realität» (FMS-LP_1_B), i. S. von praktischer Berufserfahrung, denn

wir simulieren hier ja alles nur (lacht). Also dieser Druck fehlt, dass das Ergebnis dann nachher eben auch etwas zählt und eben vielleicht für die Gesundheit relevant ist. Das fehlt auf jeden Fall. Also gegenüber einer medizinischen Praxisassistentin oder so, die ja jeden Tag mit ganz vielen Fällen zu tun hat, bei denen es dann, ja, um reale Probleme geht, sind wir hier [im Chemiepraktikum, R. E.] natürlich am Simulieren. […] Also diese Relevanz der Arbeit an sich, die ist hier natürlich noch nicht gegeben. […] Also, das ist in der Berufslehre ganz sicher anders. (FMS-LP_1_B)

Die FMS-Vertreter/-innen valorisieren die Wissensvermittlung in den schulisch-praktischen Ausbildungsgefäßen der FMS Gesundheit sowohl mit Bezug auf die industrielle Konvention (u. a. Anleitung/Instruktionen), die in Form eines Dispositivs aus Objekten und Forminvestitionen in der Ausbildungssituation der FMS Gesundheit verankert ist, als auch mit Bezug auf die häusliche Konvention, wobei insbesondere deren schulische Aspekte betont werden: didaktisch vorbereitete und erprobte Versuche zum Erlernen praktischer Fähigkeiten sowie Konsequenzen, die sich ausschließlich auf die Schulnote der Schüler/-innen auswirken, nicht aber auf Drittpersonen wie Patientinnen und Patienten (FMS-LP_3_C; FMS-LP_1_B). Mit Bezug darauf weisen die FMS-Vertreter/-innen die häuslich-betriebliche Rationalität i. S. eines Lernens anhand «reale[r] Probleme» (FMS-LP_1_B) und unmittelbarer Konsequenzen z. B. für den Gesundheitszustand eines Patienten bzw. einer Patientin, für die Valorisierung der Wissensvermittlung in den schulisch-praktischen Ausbildungsteilen zurück. Die Vermittlung praktischen Wissens findet anders als in der BGB FaGe nicht am betrieblichen Lernort und damit der Berufspraxis statt, in der ein «sense pratique des choses»Footnote 49 (FMS-Leitung_2_C) vorherrscht, sondern im Laborzimmer, in dem gilt: «[T]out est monté, tout est réparé, tout fonctionne»Footnote 50 (FMS-Leitung_2_C). Eine FMS-Lehrperson fasst die Wissensvermittlung in den schulisch-praktischen Ausbildungsteilen an der FMS Gesundheit zusammen als «des COURS où en remplace (riant) le stylo par une balance, voilà»Footnote 51 (FMS-Leitung_2_C). Die Schüler/-innen begrüßen diese praktisch ausgerichteten Ausbildungsgefäße, denn «dadurch lernt man etwas mehr» (FMS-Schüler_2_A) und man kann «sehen, was dann überhaupt passiert, anstatt nur auf dem Blatt» (FMS-Schüler_2_A).

Der dritte Teil zur Analyse der Wissensvermittlung und -aneignung in der FMS Gesundheit fokussiert den außerschulischen-praktischen Ausbildungsteil, das Fachmaturitätspraktikum Gesundheit, und zeigt auf, dass in den untersuchten Kantonen unterschiedliche Konventionen in den jeweiligen Ausbildungssituationen der FMS Gesundheit formatiert, verankert und mächtig sind.

7.2.5.3 Berufsfeldspezifischer außerschulisch-praktischer Ausbildungsteil – Fachmaturität Gesundheit

Zur Erlangung der Fachmaturität Gesundheit, dem zweiten FMS-Abschluss, müssen die Schüler/-innen u. a. eine mindestens 24-wöchige praktische Erfahrung in einer Institution des Gesundheitswesens absolvieren. Dabei geht es gemäß Reglement über die Anerkennung von Abschlüssen der FMS darum,

  1. a.

    eine vertiefte Vorstellung von der Arbeitswelt des gewählten Berufsfelds zu erhalten,

  2. b.

    grundlegende Kenntnisse und praktische Erfahrungen im Umgang mit Menschen und Themen zu erwerben,

  3. c.

    Erfahrungen mit alltäglichen, fächerübergreifenden Fragestellungen bezüglich Organisation, Administration und Teamarbeit zu sammeln,

  4. d.

    im Umgang mit anspruchsvollen und komplexen Situationen zu wachsen und sich selbst in solchen Situationen kennen zu lernen sowie

  5. e.

    Verbindungen zwischen den erlangten theoretischen Kenntnissen und in der Praxis beobachteten Situationen herzustellen. (EDK 2018c)

Die Schüler/-innen sollen während des Fachmaturitätsjahres «wirklich raus in die Praxis, Praxiserfahrung [sammeln, R. E.] und anpacken und arbeiten» (FMS-Leitung_1_B), «einfach mal in die Arbeitswelt hineinschauen» (FMS-Schüler_2_A), «schauen, einfach, ja, wie das läuft [die Praxis, R. E.] und so, weil wir eben jetzt [im Berufsfeldunterricht, R. E.] noch überhaupt nichts sehen» (FMS-Schülerin_5_A). Die Fachmaturandinnen und -maturanden sollen eigene Erfahrungen machen und erfahren: «[H]alte ich die Nähe aus, kann ich auch mit z. B. alten Menschen umgehen, […] wie mache ich das in einem Altersheim, gruseltFootnote 52 es mich nicht, wenn ich einem alten Menschen zum Beispiel Intimpflege machen muss? Halte ich das aus?» (Vertretung Studiengang Pflege FH).

Im Fachmaturitätspraktikum Gesundheit sind die Fachmaturandinnen und -maturanden als Praktikantinnen und Praktikanten in die betriebliche Hierarchie einer Institution des Gesundheitswesens eingebunden und sind dort (oftmals zum ersten Mal) Teil der Arbeits- und Berufswelt.Footnote 53 Die Schüler/-innen wechseln während dieser Zeit aus ihrem gewohnten Schulalltag in den Berufsalltag in einem Betrieb. Zu den neuen Erfahrungen in einem Betrieb gehören z. B. das Chef-Praktikanten-Arbeitsverhältnis (FMS-LP_1_A) oder die Tatsache, dass die Schüler/-innen oftmals als Erwachsene mit «Herr sowieso, Frau sowieso» (FMS-LP_1_A) angesprochen werden und «nicht mehr die Anna oder Julia» (FMS-LP_1_A) sind. Außerdem müssen die Fachmaturandinnen und -maturanden im Praktikum oftmals einen «weißen Kittel» (FMS-LP_1_A), also offizielle Berufskleidung, tragen. Die befragten Akteurinnen und Akteure stützen sich also auf ein Dispositiv aus Objekten und kognitiven Formaten (Berufskleidung, Berufshierarchie, berufliche Rolle, Konfrontation mit Patientinnen und Patienten), um das Fachmaturitätspraktikum als häusliches Lernsetting zu valorisieren, in dem betriebliche Eigenschaften mächtig sind.

Obwohl FMS-Vertreter/-innen in allen Kantonen dem Fachmaturitätspraktikum Gesundheit eine wie oben beschriebene häuslich-betriebliche Qualität beigemessen haben, unterscheiden sich Reichweite und Verankerung dieser betrieblichen Artikulation der häuslichen Konvention zwischen den untersuchten Ausbildungssituationen der FMS Gesundheit. Um diese Unterschiede zu verdeutlichen, wird im Folgenden am Beispiel der Kantone Zürich, Waadt und Tessin die Frage reflektiert, was als legitime Praxiserfahrung anerkannt wird. Die genannten Kantone wurden in diesem Zusammenhang ausgewählt, weil sie für einen berufsbildungsstarken Deutschschweizer Kanton (Fall A) sowie zwei allgemeinbildungsstarke Kantone der lateinischen Schweiz stehen (Fälle C und D). Mit der Auswahl dieser Fälle ist ein sprachregionaler Vergleich hinsichtlich des Verständnisses von Praxis möglich. Folgende Fragen sind von Interesse: Basierend auf welchen Konventionen wird die im Rahmen der Fachmaturität Gesundheit stattfindende Vermittlung praktischer Erfahrungen in den unterschiedlichen Kantonen und Sprachregionen valorisiert? Über welche Formate und Qualitätsdispositive wird die Mächtigkeit der in diesem Zusammenhang dominanten Konventionen in der Ausbildungssituation stabilisiert?

7.2.5.3.1 Kanton Zürich: Ausrichtung an basalen Handlungskompetenzen der BGB FaGe

Eine Besonderheit der Ausgestaltung der Fachmaturität Gesundheit im Kanton Zürich (Fall A) ist, dass Inhalt, Organisation und Zuweisung der Praktikumsplätze durch die kantonale Organisation der Arbeitswelt Gesundheit, eine Akteurin der Berufsbildung, erfolgt (FMS-Leitung_1_A; FMS-LP_1_A). Das Fachmaturitätspraktikum ist als strukturiertes Praktikum ausgestaltet, d. h., dass inhaltlich ein Katalog mit basalen Kompetenzen festgelegt wurde, die Fachmaturandinnen und -maturanden Gesundheit während des Praktikums erwerben müssen. Leitend waren dabei die beruflichen Kompetenzen und -ziele der BGB FaGe aus dem Handlungskompetenzbereich Pflege und Betreuung (OdA Gesundheit Zürich o. J.). Tab. 7.2 verdeutlicht exemplarisch die Nähe zwischen den Handlungskompetenzen der BGB FaGe und denjenigen der Fachmaturität Gesundheit. Bis auf die Handlungskompetenz Sie/er unterstützt Klientinnen und Klienten beim Umgang mit ihrer Sexualität wurden alle beruflichen Handlungskompetenzen aus dem Bereich Pflege und Betreuung der BGB FaGe für das strukturierte Fachmaturitätspraktikum in Gesundheit übernommen. Die teilweise identischen Formulierengen heben diese Parallelen hervor.Footnote 54

Tab. 7.2 Bildungsinhalte im Kompetenzbereich Pflege und Betreuung.

Der Vergleich zeigt, dass die Handlungskompetenzen und Ziele für die Fachmaturität Gesundheit eine geringere Verantwortungsübernahme vorsehen. Dies wird z. B. durch ergänzte Formulierungen wie unter Anleitung (siehe erste Handlungskompetenz) betont oder dadurch, dass Fachmaturandinnen und -maturanden z. B. ausschließlich kapillare, aber keine venösen Blutentnahmen durchführen müssen (OdA Gesundheit Zürich o. J.). Für den berufsbildungsstarken Kanton Zürich zeigt sich also insgesamt, dass Praxiserfahrung im Rahmen der Fachmaturität Gesundheit als Erlernen berufspraktischer Handlungskompetenzen mit Blick auf konkrete Tätigkeiten und Aufgaben einer FaGe verstanden wird, die sich die Fachmaturandinnen und -maturanden eingebettet in tatsächliche Pflegeprozesse und damit in Interaktion mit Patientinnen und Patienten aneignen sollen. Die kantonale OdA Gesundheit sowie die Wegleitung zur Fachmaturität Gesundheit sind damit relevante Bestandteile eines Qualitätsdispositivs, das die Mächtigkeit der betrieblichen Auslegung der häuslichen Konvention für die Valorisierung und Legitimation von Praxiserfahrung im Rahmen der Fachmaturität Gesundheit stabilisiert.

7.2.5.3.2 Kantone Waadt und Tessin: Sprachregionsspezifisches Ausbildungsmodell der Fachmaturität Gesundheit

In der Westschweiz konnten Schüler/-innen bis ins Jahr 2012 ohne Erfordernis der Fachmaturität, d. h. nur mit dem FMS-Ausweis Gesundheit, an die Westschweizer FH Gesundheit (HES-SO) übertreten. Voraussetzung war jedoch das Absolvieren eines fachbereichsspezifischen vorbereitenden Jahres als integrierter Bestandteil des Fachhochschulstudiums, analog zu demjenigen, welches auch Abgänger/-innen einer gymnasialen Maturität für die Zulassung zu den FH absolvieren müssen. 2012 entschied das Bundesamt für Berufsbildung und Technologie (BBT), nur noch Maturitäten als Zulassungsausweise zu den FH zu akzeptieren, um die damals bestehende bildungssystemische Ungleichbehandlung von Inhaberinnen und Inhabern eines EFZ aufzuheben, die für den Fachhochschulzugang eine Berufsmaturität benötigten (Sottas 2011). Um die Zubringerfunktion der FMS zu den FH im Bereich Gesundheit formal abzusichern, wurde folglich (deutlich später als in anderen Sprachregionen), auch in der Westschweiz die Fachmaturität eingeführt. Die Ausgestaltung dieses «titre au milieu»Footnote 55 (Vertretung_3 EDK) erforderte im Bereich Gesundheit die Berücksichtigung sprachregionaler Besonderheiten. Deshalb und ausgehend davon erarbeiteten FMS-Vertreter/-innen der Westschweiz zusammen mit denjenigen des Kantons Tessin ein eigenes sprachregionsspezifisches Modell zur Ausgestaltung der Fachmaturität Gesundheit, das sogenannte Modèle romand, sowie einen darauf basierenden entsprechenden sprachregionsspezifischen Rahmenlehrplan (CIIP 2011). Dieses zeichnet sich im Vergleich zum üblichen Modell durch einige Besonderheiten aus, die in Tab. 7.3 zusammengefasst und anschließend erläutert sind.

Tab. 7.3 Fachmaturität Gesundheit gemäß Westschweizer Modell.

Die ersten 14 Wochen absolvieren die Fachmaturandinnen und -maturanden Gesundheit zusammen mit Gymnasiastinnen und Gymnasiasten in einer Klasse an der FH, in der sie vier Wochen in theoretische Grundlagen («bases théoriques» [CIIP 2011]) eingeführt werden. Die restlichen zehn Wochen nehmen sie an praktischen Kursen («cours pratiques» [CIIP 2011]) teil und werden in sogenannten Skill-Labs unterrichtet (CIIP 2011).Footnote 56 Erste praktische Grundfertigkeiten werden im Westschweizer Modell demnach in einem geschützten Rahmen mit Simulationspatienten oder Patientenpuppen erlernt, bevor die Fachmaturandinnen und -maturanden in die berufliche Praxis in einer Institution des Gesundheits- oder Sozialwesens einsteigen und dort mit Patientinnen und Patienten arbeiten. Die Vermittlung von Praxis in den ersten 14 Wochen betont im Westschweizer Modell insbesondere häuslich-schulische Eigenschaften, wie die Vorbereitung und das Üben praktischer Handgriffe im noch geschützten Rahmen der Skill-Labs.

Ein weiterer Unterschied zum üblichen Modell der Fachmaturität Gesundheit sind die zwei verschiedenen Formen von Praktika, die das Westschweizer Modell als Teil der Praxiserfahrung vorsieht: ein spezifisches Praktikum («stage spécifique» [CIIP 2011]) sowie ein freies Praktikum («stage libre» [CIIP 2011]) bzw. Praktikum in der Arbeitswelt i. w. S. («stage dans le monde du travail au sense large») (Canton de Vaud 2016b; CIIP 2011). Während das spezifische Praktikum einen mindestens achtwöchigen praktischen Einsatz in einer Institution des Gesundheits- oder Sozialwesens vorsieht, braucht das freie Praktikum keinen Bezug zum Gesundheitswesen resp. zu einem Gesundheitsberuf aufzuweisen. Letzteres kann folglich auch an einer Tankstelle, in einem Bekleidungsgeschäft oder einer Bäckerei absolviert werden, da das primäre Ziel das Sammeln von Lebenserfahrung ist und

dass man einmal gearbeitet hat, Arbeitswelterfahrung hat, Vorgesetzte erfahren hat, das ganze Zeug, welches man in der Schule nicht hat. Eben, dass halt Termine gelten, im Sinne von ‹bis dann ist es gemacht› und so weiter und das kann man ja egal wo erwerben. (Vertretung_2 EDK)

Als zweites Zwischenfazit wird demnach mit Blick auf die Vermittlung von Praxis für das Westschweizer Modell der Fachmaturität Gesundheit festgehalten, dass es, wie auch im üblichen Modell, darum geht, dass die Schüler/-innen in einen gesundheitsspezifischen Arbeitsprozess integriert sind und spüren, was es bedeutet, einen gesundheitsspezifischen Berufsalltag zu haben, also häuslich-betriebliche Ausbildungseigenschaften.

Es waren die Modalitäten dieser Praktika, die sich in der Genehmigungsphase des Westschweizer Modells als sensible Punkte («point sensible» [Sottas 2011, S. 12]), Unsicherheit («incertitude» [Sottas 2011, S. 12]) sowie Schlüsselfrage («question-clé» [CIIP 07.022011, S. 4]) herausgestellt haben. Disputiert wurde insbesondere darüber, ob ein Praktikum auch dann als legitime Praxiserfahrung anerkannt werden kann, wenn es der schulischen Logik der häuslichen Konvention folgt und eine Simulation der Berufsrealität in Skill-Labs mit Patientenpuppen vorsieht und damit in einem geschützten Rahmen stattfindet. Als Ergebnis dieses – auch sprachregionalübergreifenden – Disputs haben FMS-Vertreter/-innen der lateinischen Schweiz nach Genehmigung des Modells durch die EDK in einen eigenen sprachregionsspezifischen Rahmenlehrplan zur Ausgestaltung der Fachmaturität Gesundheit investiert. Dieser kann als zentrale Forminvestition interpretiert werden, mit der die FMS-Vertreter/-innen der lateinischen Schweiz die Reichweite der schulischen Artikulation der häuslichen Konvention in zeitlicher (eine Änderung des Rahmenlehrplans ist nur langfristig möglich) sowie räumlicher Hinsicht (für die ganze lateinische Schweiz geltend) ausweiten und verankern konnten. Mit Blick auf die Vermittlung von praktischen Erfahrungen konnte damit in den lateinischen Kantonen in einem für die Fachmaturität Gesundheit grundlegenden Dokument mit nationaler Reichweite die schulische Artikulation der häuslichen Konvention als gleichsam legitim zu deren betrieblichen Artikulation formatiert, verankert und für die Valorisierung von Praxis stabilisiert werden. Diese Forminvestition steht den FMS-Akteurinnen und -Akteuren der lateinischen Schweiz heute in den Aushandlungssituationen als Instrument der Valorisierung zur Verfügung, um die schulische Artikulation der häuslichen Konvention zusätzlich zu deren betrieblichen Artikulation als gleichermaßen legitimer Äquivalenzmaßstab zur Valorisierung von Praxis und Praxiserfahrungen im Rahmen einer Ausbildung auf Sekundarstufe II zu stabilisieren, abzusichern und in diesem Zusammenhang der schulischen Artikulation der häuslichen Konvention Mächtigkeit zu verleihen (Diaz-Bone 2017a). In den beiden untersuchten Kantonen der lateinischen Schweiz wird Praxis bzw. praktische Erfahrungen im Rahmen der Fachmaturität Gesundheit also – anders als im berufsbildungsstarken Kanton Zürich – sowohl mit Bezug auf betriebliche wie auch auf schulische Eigenschaften der häuslichen Konvention valorisiert.

Die Tatsache, dass die Hochschullandschaft in der Westschweiz kaum HF, sondern fast ausschließlich FH kennt, beeinflusst die Attraktivität und Bedeutung des FMS-Ausweises in der Westschweiz. So sind einige befragte Schüler/-innen sowie eine FMS-Leitung der Westschweiz der Meinung, mit dem FMS-Ausweis könne man nicht viel anfangen, sodass die Fachmaturität erforderlich sei, um anschließend etwas Spannendes machen zu können (FMS-Leitung_1_C; FMS-S_C). Entsprechend ist die Fachmaturität Gesundheit heute ein etablierter Bestandteil der Westschweizer Sekundarstufe II (Froidevaux und Mougin 2012, S. 12) und der bevorzugte Weg ins Pflegestudium an der FH (Vertretung_3 EDK). Vor dem Hintergrund der Westschweizer Bildungslandschaft und Gesellschaftsstruktur schreiben die FMS-Vertreter/-innen des Kantons Waadt der Fachmaturität (generell, nicht nur Gesundheit) heute zudem insbesondere eine staatsbürgerliche Funktion und Qualität zu, da die Fachmaturität eine Ausbildung ist «où intégration et ascenseur social opèrent avec succès»Footnote 57 (Froidevaux und Mougin 2012), was zur Erhöhung der Chancengleichheit beigeträgt (Froidevaux und Mougin 2012). Die Fachmaturität Gesundheit «à l’échelle romande»Footnote 58 (Froidevaux und Mougin 2012, S. 14) ist außerdem auch ein Beispiel dafür, wie sich die FMS Gesundheit immer wieder an die jeweiligen, auch sprachregionalen Gegebenheiten angepasst hat.

Resümee Wissensvermittlung und -aneignung FMS Gesundheit

Im berufsfeldspezifischen schulisch-theoretischen Ausbildungsteil der FMS Gesundheit knüpft die Wissensvermittlung und -aneignung nicht unmittelbar an die Ausbildungsrealität der Schüler/-innen an, sondern stellt im staatsbürgerlichen Sinne die Ausrichtung am Allgemeinen, an grundlegenden Prinzipien der jeweiligen disziplinären Fächer, ins Zentrum (Röhl 2013). So werden z. B. physikalische Grundlagen anhand von Geschwindigkeits-Zeit-Diagrammen und dahinterliegenden mathematischen Herleitungen vermittelt oder biologische Grundkenntnisse der klassischen Genetik über das Durchführen einer Stammbaumanalyse.

Die Wissensvermittlung und -aneignung im berufsfeldspezifischen schulisch-praktischen Ausbildungsteil der FMS Gesundheit, die am Beispiel des Chemiepraktikums ausgeführt wurde, findet nicht im Kontakt mit Patientinnen und Patienten oder eingebunden in Arbeitsprozesse in einem betrieblichen Laboralltag statt, sondern mithilfe der  von der Chemielehrperson durchgeplanten und «choreografiert[en]» (Röhl 2013, S. 91) chemischen Versuchen. Die Vermittlung der praktischen Fertigkeiten erfolgt damit im geschützten Rahmen mit Konsequenzen, die sich (wenn überhaupt) nur auf die Schulnote, nicht aber auf Drittpersonen auswirken. Die Wissensvermittlung und -aneignung in den schulisch-praktischen Ausbildungsteilen der FMS Gesundheit, lässt sich damit also insbesondere über häuslich-schulische Eigenschaften charakterisieren, während betriebliche Aspekte zurückgewiesen werden. Zudem ist im untersuchten Chemiepraktikum die industrielle Konvention (Versuchsanweisungen sowie Objekte, die u. a. Wissenschaftlichkeit, Messbarkeit oder Genauigkeit verkörpern) in der Ausbildungssituation «bereits mehr oder weniger vorhanden, bevor die Personen die Szene betreten» (Dodier 2011, S. 91).

Im berufsfeldspezifischen außerschulisch-praktischen Ausbildungsteil der FMS Gesundheit, dem Fachmaturitätspraktikum, dominieren mit Blick auf die Aneignung und Vermittlung von Wissen häuslich-betriebliche Ausbildungseigenschaften: Die Fachmaturandinnen und -maturanden lernen eingebunden in die Berufspraxis und damit in Konfrontation mit Patientinnen und Patienten sowie eingebunden in einen konkreten Arbeitsprozess. Es wurde gezeigt, dass für die Valorisierung von Praxiserfahrung in den Kantonen der lateinischen Schweiz anders als im berufsbildungsstarken Deutschschweizer Kanton zudem auch häuslich-schulische Eigenschaften als legitime Rationalitäten des Erwerbs von Praxiserfahrung erachtet werden.

7.2.6 Sprachregional vergleichende Analyse des Ausbildungsprofils FMS Gesundheit

Im vorliegenden Kapitel wird die Teilfrage zu den sprachregionalen Unterschieden in der Profilierung der FMS Gesundheit beantwortet. Es geht im Folgenden nicht wie bisher um einen Vergleich zwischen den beiden Ausbildungsprogrammen FMS Gesundheit und BGB FaGe (dieser folgt in Abschn. 7.3), sondern um eine sprachregional vergleichende Analyse, in der ausschließlich die Ausbildungsprofile FMS Gesundheit betrachtet werden.

7.2.6.1 Funktion der FMS auf der Sekundarstufe II

Die FMS-Vertreter/-innen der untersuchten Deutschschweizer Kantone Zürich und Basel-Landschaft (Fälle A und B) profilieren die FMS auf der Sekundarstufe II im Bereich Gesundheit über ihren spezifischen Bildungsauftrag zwischen Allgemein- und Berufsbildung, d. h. sowohl über die Vermittlung einer vertieften Allgemeinbildung (staatsbürgerliche Qualitätseigenschaft) als auch über die berufsfeldspezifische Vorbereitung auf weiterführende Tertiärausbildungen (industrielle Qualitätseigenschaft). Dieses Ergebnis geht mit den im Forschungsstand skizzierten sprachregional unterschiedlichen Bildungstraditionen einher, die sich auch darin zeigen, dass sich Bildungsangebote in der Deutschschweiz deutlich stärker als in der Westschweiz über die Spezifität der Ausbildung profilieren. Im Fall der FMS ist dies entsprechend ihr berufsfeldspezifischer Bildungsauftrag – i. S. einer gezielten berufsfeldspezifischen Tertiärvorbereitung –, der sowohl in Fall A als auch B in der Profilierung der FMS Gesundheit deutlich sichtbar ist. Ausgehend davon ist es folgerichtig, dass insbesondere für leitende und unterrichtende FMS-Vertreter/-innen der beiden Kantone die «richtigen Schülerinnen und Schüler» (FMS-Leitung_2_B) jene sind, die bereits eine Vorstellung von der Fachrichtung ihrer Bildungs- und Berufslaufbahn haben. Mit der Betonung, eine Wahlschule zu sein, weisen die FMS-Vertreter/-innen der genannten Fälle eine ‹Auffangbeckenfunktion› der FMS Gesundheit für Schüler/-innen, deren Noten für das Gymnasium nicht ausreichen, deutlich zurück (auch wenn es viele Schüler/-innen gibt, die die FMS aus diesem Grund besuchen).

Die starke Priorisierung allgemeinbildender Ausbildungen in der Westschweiz zeigt sich im Kanton Waadt (Fall C) u. a. darin, dass FMS-Schüler/-innen von einem «Zwang» (FMS-LP_2_C, Übersetzung R. E.) sprechen, nach Ende der obligatorischen Schulzeit weiterhin in die Schule zu gehen, da eine berufliche Grundbildung vonseiten der Eltern keine akzeptable Ausbildungsoption ist (Delay 2018). Die leitenden und unterrichtenden FMS-Vertreter/-innen sehen die Zielgruppe der FMS entsprechend auch in Jugendlichen, deren schulische Leistungen für das Gymnasium nicht ausreichen, aber mit der FMS eine Möglichkeit haben, eine allgemeinbildende Ausbildung zu absolvieren. Die stark zugunsten der Allgemeinbildung hierarchisierte Sekundarstufe II schlägt sich entsprechend auch in der Profilierung der FMS Gesundheit nieder. Die FMS fungiert im Fall C als Umweg zur Erlangung der gymnasialen Maturität und wird deutlich weniger als in den Deutschschweizer Fällen A und B über die industrielle Qualität eines gezielten berufsfeldspezifischen Zubringers zu den tertiären Gesundheitsausbildungen profiliert. Diese ‹Umwegfunktion› der FMS deckt sich mit der im Forschungsstand für Westschweizer Kantone diskutierten Re-Orientierungsfunktion der FMS aus der Sekundarstufe II (Bachmann Hunziker et al. 2014, 2017; Mouad und Brüderlin 2020). Im Westschweizer Fall C valorisieren FMS-Vertreter/-innen ihr Bildungsangebot folglich nicht als Wahlschule, sondern schreiben der FMS vielmehr die Funktion eines «Ventil[s]» (Vertretung_3 EDK) und damit eine sozial integrative Funktion auf der Sekundarstufe II zu (FMS-Leitung_1_D; Vertretung_3 EDK). Für Fall C kann die gegenwärtige Profilierung der FMS als «sozialer Puffer» (FMS-Leitung_1_D) resümiert werden, was noch immer mit der ursprünglichen grundlegenden bildungspolitischen Absicht in der Westschweiz einhergeht, mit der FMS ein Angebot für Schüler/-innen zu schaffen, die weder bereit sind zu arbeiten bzw. nicht arbeiten gehen wollen, noch die Möglichkeit haben, das Gymnasium zu besuchen (Vertretung_3 EDK). Anders als bei den Deutschschweizer Fällen A und B wird die Profilierung der FMS im Westschweizer Fall C hauptsächlich mit Bezug auf staatsbürgerliche Qualitäten wie Partizipation aller an Bildung, Gleichheit, Chancengerechtigkeit sowie der Ausrichtung der Bildungsinhalte am Allgemeinen valorisiert.

Im Gegensatz zum Westschweizer Kanton Waadt (Fall C) konnte im italienischsprachigen Kanton Tessin (Fall D), ein Wandel von der ursprünglichen Funktion zur heutigen Profilierung der FMS festgestellt werden: Die FMS hat sich aus ihrer Funktion Anfang der 2000er Jahren als «Parkhaus für Junge, die nicht wussten, was sie wollten» (FMS-Leitung_1_D) und damit einer «Schule der Nichtwahl» (FMS-Leitung_2_D, Übersetzung R. E.) zu einer «Schule der Wahl» (FMS-Leitung_2_D, Übersetzung R. E.) entwickelt und profiliert sich heute auch als solche (FMS-Leitung_2_D).

Diese sprachregional unterschiedlichen Profilierungen der FMS Gesundheit schlagen sich auch in den verschiedenen untersuchten Qualitätsdimensionen nieder, wie die folgenden Kapitel exemplarisch verdeutlichen. Die folgenden Ausführungen enthalten keine Aussagen zum Kanton Tessin (Fall D), da in diesem, wie im methodischen Teil erwähnt, keine Analyse der Qualitätsdimensionen durchgeführt wurde.

7.2.6.2 Bildungsziele

Berufsfeldwahl

Gemäß den Aussagen der FMS-Vertreter/-innen des Falls C wird die FMS in der Westschweiz im Vergleich zur Deutschschweiz stärker als zweite Wahl zum Gymnasium betrachtet. Dies spiegelt sich auch darin wider, dass im Fall C viele Schüler/-innen i. S. der industriellen Konvention keine gezielte und geplante Berufsfeldwahl i. S. eines berufsfeldspezifischen Einspurens in die gewünschte Berufsrichtung treffen (FMS-Leitung_2_C). Um diese oftmals unklare oder indifferente Berufsfeldwahl der Schüler/-innen zukünftig bewusster zu gestalten, sind Vertreter/-innen von Fall C bestrebt, künftig analog zu den Fällen A und B zusätzliche Ausbildungsgefäße wie die Berufsfeldwahltage einzuführen, die eine Auseinandersetzung der Schüler/-innen u. a. mit ihren Berufswünschen und ihrer Berufsmotivation unterstützen und damit auch Qualitäten der inspirierten Konvention in die Ausbildungssituation der FMS einbringen. Diese Maßnahmen zielen u. a. darauf ab, die FMS in der Bevölkerung künftig nicht mehr ausschließlich als weniger anspruchsvolles ‹Gymnasium› zu profilieren, sondern zusätzlich auch auf den berufsfeldspezifischen Bildungsauftrag der FMS hinzuweisen. Damit soll die Profilierung der FMS als eigenständiger Ausbildungstyp auf der Sekundarstufe II auch im Bewusstsein der Westschweizer Bevölkerung verstärkt verankert werden (FMS-Leitungen_1 & 2_C).

Die sprachregional unterschiedliche Bedeutung von Allgemein- und Berufsbildung für die Legitimation der FMS ist eine mögliche Erklärung dafür, dass die Fälle A und B bereits heute deutlich stärkere Bestrebungen zeigen, die Berufsfeldwahl der Jugendlichen zu fördern und zu unterstützen, als dies in Fall C institutionalisiert ist. Denn wie Cortesi (2017) gezeigt hat, profiliert sich die FMS in der Deutschschweiz als Fachmittelschule, d. h. insbesondere auch über die berufsfeldspezifische Ausrichtung, während in der Westschweiz die Legitimation von Bildungsangeboten von ihrer Ausrichtung am Allgemeinen abhängt und sich insbesondere in einer Profilierung der FMS als École de Culture Générale niederschlägt.

Vorbereitung auf Tertiärausbildungen

Im Hinblick auf das Bildungsziel der Vorbereitung auf nichtuniversitäre Tertiärausbildungen lässt sich zwischen den untersuchten Fällen eine Gemeinsamkeit herausstellen: Die FMS Gesundheit profiliert sich ihrem Selbstverständnis nach in allen untersuchten Fällen primär als Zubringer zu den FH und nicht zu den HF. Im Westschweizer Kanton (Fall C) lässt sich dies insbesondere über die Ausgestaltung der Hochschullandschaft in der Westschweiz erklären, die hauptsächlich FH und kaum HF vorsieht. Die Hypothese, wonach sich das tertiäre Ausbildungsangebot auf die Profilierung der FMS auswirkt, bestätigt sich auch in den Deutschschweizer Kantonen (Fälle A und B), die auf der Tertiärstufe Gesundheitsausbildungen sowohl an der HF als auch an der FH kennen (Tab. 2.2). Denn trotz ihres klaren Selbstverständnisses als FH-Zubringer wird die FMS Gesundheit in den Fällen A und B – im Vergleich zu Fall C – als auf ein breiteres Spektrum tertiärer Gesundheitsausbildungen vorbereitendes Ausbildungsangebot und damit im Bereich Gesundheit als breiterer Tertiärzubringer wahrgenommen.

Der Einfluss dieser vertikalen Dimension des Tertiärangebots auf die Profilierung der FMS Gesundheit kann auch eine weitere Gemeinsamkeit und einen Unterschied zwischen den Fällen erklären: In den Kantonen Zürich und Basel-Landschaft (Fälle A und B), die beide über ein vielfältiges Tertiärangebot im Bereich der Life Sciences an der kantonalen FH verfügen, profiliert sich die FMS Gesundheit nicht nur als Vorbereitung auf tertiäre Gesundheitsausbildungen, sondern auch als Zubringer zu FH-Studiengängen im naturwissenschaftlichen Bereich der Life Sciences. Dies zeigt auch Auswirkungen auf der Ebene der Berufsfeldbezeichnung der FMS Gesundheit: In Fall A wird seit Längerem das kombinierte Berufsfeld Gesundheit/Naturwissenschaften angeboten und in Fall B besteht der Wunsch, das Berufsfeld Gesundheit auch unter der kombinierten Bezeichnung zu führen, allerdings verhindern dies zurzeit innerkantonale Dynamiken (FMS-Leitung_2_B) (mehr dazu siehe Abschn. 8.1). In den Kantonen Waadt und Tessin (Fälle C und D), die über ein deutlich schmaleres bzw. kein solches Tertiärangebot verfügen, konnte hingegen ausschließlich eine Profilierung als Zubringer zu den tertiären Gesundheitsausbildungen ausgemacht werden.

Als Fazit kann entsprechend festgehalten werden, dass die fallspezifischen Unterschiede und Gemeinsamkeiten in der Profilierung der FMS Gesundheit als Tertiärzubringer wesentlich durch die (sprachregional) unterschiedliche Ausgestaltung der Hochschullandschaft und deren Angebot beeinflusst werden.

7.2.6.3 Bildungsinhalte

Mit Blick auf die Bildungsinhalte konnte insbesondere folgender Unterschied zwischen den Kantonen ausgemacht werden: Im Gegensatz zu den Deutschschweizer Fällen A und B ergänzen in den untersuchten Fällen C und D der lateinischen Schweiz Fächer wie Philosophie und Ethik bzw. Psychologie die stark naturwissenschaftliche Ausrichtung des Berufsfelds Gesundheit. Die in diesen Fächern vermittelten Bildungsinhalte zielen darauf ab, Schüler/-innen der FMS Gesundheit für den Umgang mit ethischen Fragen in Bezug auf das Gesundheitswesen zu sensibilisieren (Canton de Vaud 2016a). Eine erste mögliche Erklärung dieser fallspezifisch unterschiedlichen curricularen Gewichtung von Fächern wie Philosophie und Ethik kann, wie zuvor ausgeführt, als Auswirkung der vertikalen Dimension und damit verbunden der unterschiedlichen Profilierung der FMS Gesundheit als Tertiärzubringer gesehen werden: Die FMS Gesundheit profiliert sich in den Fällen A und B nicht nur als Zubringer zum Bereich Gesundheit, sondern auch zu dem der Life Sciences. Angesichts der begrenzten Anzahl an Lektionen wurde in diesen Fällen entsprechend entschieden, ausschließlich eine fundierte Grundlagenausbildung in den naturwissenschaftlichen Fächern anzubieten, die für beide Bereiche grundlegend sind, und dabei auf die Fächer Ethik oder Philosophie zu verzichten. In den Fällen C und D hingegen versteht sich die FMS Gesundheit (bislang) ausschließlich als Zugangsweg zu den tertiären Gesundheitsausbildungen, für die u. a. auch die Fächer Ethik, Philosophie und Psychologie im Curriculum der FMS Gesundheit verankert wurden. Eine weitere Erklärung dieser fallspezifischen unterschiedlichen Gewichtung dieser Fächer im Curriculum der FMS Gesundheit kann auch sein, dass die beiden Fälle C und D die lateinische Schweiz repräsentieren, in der allgemeinbildende Bildungsinhalte und damit verbunden das staatsbürgerliche Bildungsziel einer «ouverture d’esprit» (FMS-Leitung_1_C) deutlich stärker ausgeprägt ist als in der Deutschschweiz (Fälle A und B).

7.2.6.4 Wissensformen, -vermittlung und -aneignung

Verständnis von Allgemeinbildung

Das Verständnis von Allgemeinbildung orientiert sich in allen untersuchten Fällen primär an der staatsbürgerlichen Konvention. Valorisiert wird von leitenden und unterrichtenden FMS-Vertreterinnen und -Vertretern ein breites Angebot unterschiedlicher Fächer, die zu einer allgemeinen Menschenbildung beitragen. Die in der FMS Gesundheit angestrebte vertiefte Allgemeinbildung wird jedoch fallspezifisch unterschiedlich legitimiert. In den Deutschschweizer Fällen A und B wird diese staatsbürgerliche Qualität der Allgemeinbildung mit Argumenten der industriellen Konvention gestärkt: Die unter Allgemeinbildung verstandene staatsbürgerliche Wissensform – theoretisch, abstrakt und auf das Verständnis grundlegender Prinzipien und Konzepte ausgerichtet – soll nicht nur einer allgemeinen Menschenbildung, sondern auch hinsichtlich der Studierfähigkeit zweckdienlich sein. Während FMS-Vertreter/-innen in den Deutschschweizer Fällen A und B also einen Kompromiss zwischen staatsbürgerlicher und industrieller Qualität für die Valorisierung der Allgemeinbildung betonen, zeigt sich im Westschweizer Fall C insbesondere ein primär staatsbürgerliches Verständnis von Allgemeinbildung, das durch kognitive Formate wie die «ouverture d’esprit» (FMS-Leitung_1_C) stabilisiert wird. Erklärt wird dies insbesondere mit den in den beiden Sprachregionen vorherrschenden Bildungstraditionen, die sich in der Westschweiz stärker an Allgemeinem als an Spezifischem ausrichten.

Verständnis von Praxis

Kernstück des Erwerbs praktischer Erfahrungen und Fertigkeiten in der FMS Gesundheit ist das mehrwöchige außerschulische Praktikum als Teil der Fachmaturität Gesundheit.Footnote 59 Diesem praktischen Ausbildungsteil wird von Vertreterinnen und Vertretern aller untersuchten Fälle eine häusliche Qualität zugeschrieben. Allerdings wird die häusliche Konvention in den Kantonen C und D anders akzentuiert als in den Deutschschweizer Kantonen A und B. In Letzteren orientiert sich das Praxisverständnis der FMS-Vertreter/-innen erheblich am Konzept der Berufspraxis, der in der Berufsbildung ein zentraler Stellenwert zukommt. Dies zeigt sich daran, dass die FMS-Vertreter/-innen zur Valorisierung des Fachmaturitätspraktikums insbesondere betriebliche Aspekte der häuslichen Konvention, wie das Eingebundensein in betriebliche Arbeitsprozesse oder das Sammeln von Erfahrungen in der Berufswelt, betont haben. Im berufsbildungsstarken Fall A ist diese, das Praxisverständnis fundierende, häuslich-betriebliche Konvention in der Ausbildungssituation formatiert und kommt deutlich zum Ausdruck: Die Inhalte des Fachmaturitätspraktikums Gesundheit sind an den in der BGB FaGe zu erwerbenden beruflichen Handlungskompetenzen orientiert.

Für FMS-Vertreter/-innen der allgemeinbildungsstarken Kantone der lateinischen Schweiz sind hingegen zusätzlich zu diesen betrieblichen Aspekten der häuslichen Konvention, schulische bedeutsam, um Praxiserfahrung im Rahmen der Fachmaturität Gesundheit zu valorisieren. In den Fällen C und D ist damit also auch die schulische Artikulation der häuslichen Konvention (z. B. auf die Berufsrealität vorbereitende Kurse im Setting von Skill-Labs und in Interaktion mit Patientenpuppen) als eine das Praxisverständnis fundierende Bezugslogik in der Ausbildungssituation FMS Gesundheit formatiert: das für die lateinische Schweiz eigene Ausbildungsmodell der Fachmaturität Gesundheit.

Die Tatsache, dass in den untersuchten Kantonen nur die häuslich-betriebliche bzw. sowohl die betriebliche als auch die schulische Artikulation der häuslichen Konvention als legitim erachtet wird, um Praxis zu valorisieren, wird mit der Zugehörigkeit der Fälle zu den unterschiedlichen Sprachregionen erklärt. Denn in der Westschweiz werden die Berufsbildung und damit häuslich-betriebliche Ausbildungsqualitäten im Vergleich zu einem schulischen Ausbildungssetting devalorisiert. In der Deutschschweiz hingegen genießt die Berufsbildung, in der die häuslich-betriebliche Ausbildungslogik mächtig ist, ein hohes Ansehen. Dies wirkt sich in der Deutschschweiz auf die Legitimation der in der FMS Gesundheit vermittelten Praxiserfahrung aus: Vonseiten der Berufsbildung wird der FMS Gesundheit immer wieder ein Praxisdefizit vorgeworfen.

7.3 Vergleichende Analyse der Ausbildungsprofile FMS Gesundheit und BGB FaGe

Die Ausführungen dieses Kapitels beantworten die fünf Teilfragen zur Frage nach der Profilierung der FMS Gesundheit im Vergleich zur BGB FaGe zusammenfassend. Für diese Gegenüberstellung der zentralen Ausbildungseigenschaften wurde eine tabellarische Form gewählt, die je untersuchter Qualitätsdimension einen unmittelbaren Vergleich zwischen den beiden Ausbildungsprogrammen ermöglicht. Vermerkt sind in den Tabellen zudem die dominanten Konventionen, auf die die Befragten Bezug genommen haben, um die entsprechenden Ausbildungseigenschaften zu valorisieren. Textteile, die sich über beide Ausbildungsprogrammspalten erstrecken, thematisieren Gemeinsamkeiten, greifen einen übergeordneten Aspekt auf oder enthalten Schlussfolgerungen aus der vergleichenden Analyse.

7.3.1 Vergleichende Analyse: Zielgruppe

Tab. 7.4 beantwortet die Teilfrage 2.1, welche Zielgruppen (Schüler/-innen, Lernende) die beiden Ausbildungsprogramme anvisieren.

Tab. 7.4 Vergleich der Zielgruppe; eigene Darstellung

7.3.2 Vergleichende Analyse: Bildungsziele

Tab. 7.5 beantwortet in der Gegenüberstellung die Teilfrage 2.2, welche Bildungsziele in den beiden Ausbildungsprogrammen angestrebt werden und welche Bezugspunkte dabei leitend sind. Die Ausführungen sind dabei nach den drei Bildungszielen Allgemeinbildung, Berufs(feld)vorbereitung und Persönlichkeitsentwicklung gegliedert.

Tab. 7.5 Vergleich der Bildungsziele; eigene Darstellung

7.3.3 Vergleichende Analyse: Bildungsinhalte

Tab. 7.6 verdeutlicht zusammenfassend, worin sich die in den beiden Ausbildungsprogrammen vermittelten Bildungsinhalte unterscheiden, und beantwortet damit die Teilfrage 2.3.

Tab. 7.6 Vergleich der Bildungsinhalte; eigene Darstellung

7.3.4 Vergleichende Analyse: Wissensformen

Indem vergleichend ausgewiesen wird, welche zentralen Wissensformen in den beiden Ausbildungsprogrammen herausgebildet werden, beantwortet Tab. 7.7 die Teilfrage 2.4.

Tab. 7.7 Vergleich der Wissensformen; eigene Darstellung

7.3.5 Vergleichende Analyse: Wissensvermittlung und -aneignung

Die Teilfrage 2.5 nach den in den beiden Ausbildungsprogrammen favorisierten Modi der Wissensvermittlung und -aneignung wird in Tab. 7.8 entlang der unterschiedlichen berufs(feld)spezifischen Ausbildungsteile (schulisch-theoretisch, schulisch-praktisch, betrieblich bzw. außerschulisch-praktisch) beantwortet.

Tab. 7.8 Vergleich der Wissensvermittlung und -aneignung; eigene Darstellung

7.4 Weiterentwicklung des konventionensoziologischen Rahmens für Analysen im Bereich der (Berufs-) Bildungsforschung: feldspezifische Artikulation der häuslichen Konvention (Teil 2)

Ausgehend von der in den vorangehenden Kapiteln detailliert ausgeführten konventionensoziologisch angeleiteten Analyse der Ausbildungsprofile der untersuchten Ausbildungsprogramme, wird im Folgenden das in Abschn. 5.3 formulierte Versprechen eingelöst, die bislang erst konzeptionell eingeführte feldspezifisch unterschiedliche Artikulation der häuslichen Konvention (häuslich-schulisch und häuslich-betrieblich) basierend auf den gewonnenen empirischen Erkenntnissen auszudifferenzieren und zu untermauern.

Die eingeführte schulische und betriebliche Artikulation der häuslichen Konvention ist als theoretische Weiterentwicklung des konventionensoziologischen Rahmens für Analysen im Bereich der (Berufs-) Bildung vorgesehen und hat sich für die empirische Qualitätsanalyse der beiden Ausbildungsprogramme FMS Gesundheit und BGB FaGe als hilfreich erwiesen: einerseits um die unterschiedlichen Ausbildungsqualitäten zwischen den beiden Ausbildungsprogrammen theoretisch-konzeptionell differenzierter erfassen und besser veranschaulichen zu können; andererseits um erklärbar zu machen, worin z. B. eine zentrale Konfliktlinie zwischen Vertreterinnen und Vertretern der beiden Ausbildungsprogramme gründet. Die eingeführten unterschiedlichen Artikulationen der häuslichen Konvention sind ein erster Beitrag, um das Erklärungspotenzial des konventionensoziologischen Analyserahmens für künftige Forschungsarbeiten im Bereich der Bildung besser ausschöpfen zu können. Im Sinne eines theoretischen Forschungsdesiderats ist es wünschenswert, wenn sich künftige konventionensoziologische Forschungsarbeiten im Bereich der Bildung kritisch mit dieser feldspezifischen Artikulation der häuslichen Konvention auseinandersetzen und diese weiterentwickeln.

Die beiden feldspezifischen Artikulationen der häuslichen Konvention werden im Folgenden ausgeführt und anschließend in Tab. 7.9 im Überblick dargestellt.

Tab. 7.9 Feldspezifische Artikulation der häuslichen Konvention; eigene Darstellung

Betriebliche Artikulation der häuslichen Konvention

Als Kontext des Lernens betont die betriebliche Artikulation der häuslichen Konvention die berufliche Handlungspraxis bzw. den Berufsalltag. Valorisiert wird entsprechend ein im Berufsalltag stattfindendes, erfahrungsbasiertes betrieblich-berufliches Lernen, d. h. eine Wissensvermittlung und -aneignung, die in Konfrontation und Interaktion mit Drittpersonen stattfindet. Es ist also der «Ernstfall» (Scharnhorst und Kaiser 2018, S. 27), in dem praktische Fertigkeiten (Handling), routinierte Arbeitsprozesse und Betriebswissen u. a. über einen arbeitsintegrierten und körpergebundenen (mit Einbezug der Sinnesorgane) Prozess des Vormachens und Nachahmens erworben werden. Die berufliche Handlungspraxis wird in der häuslich-betrieblichen Konvention stark betont. Begleitet werden die Jugendlichen in ihrem Lernprozess von einer in der häuslichen Rationalität größeren Person z. B. einem Berufsbildner bzw. einer Berufsbildnerin. Die soziale Passung in die Arbeitsgemeinschaft i. S. einer Eingliederung in die Berufs- und Erwachsenenwelt, in deren Rahmen Jugendliche ihre (Berufs-) Persönlichkeit entwickeln und als Erwachsene heranreifen können, erlangt Größe.

Schulische Artikulation der häuslichen Konvention

In der schulischen Artikulation der häuslichen Konvention wird die Berufspraxis als Bezugspunkt des Lernens ins schulische Setting übersetzt, indem typische berufliche Handlungssituationen, z. B. in Lehrmitteln oder Arbeitsaufträgen, über Bild und Schrift didaktisch konstruiert und nachgestellt werden. Das Lernen praktischer Fertigkeiten sowie Routinen erfolgt nicht unter Ernstfallbedingungen, sondern in Form eines die Berufspraxis inszenierenden Lernsettings, wozu z. B. Simulationspatienten und Rollenspielen eingesetzt werden. Das Lernen findet im geschützten Rahmen, also ohne Interaktion mit und Konsequenzen für Drittpersonen wie Kundinnen und Kunden oder Patientinnen und Patienten, statt. Das Handeln der Schüler/-innen wirkt sich in der schulischen Artikulation der häuslichen Konvention ausschließlich auf die Schulnote im jeweiligen Fach aus. Begleitet werden die Jugendlichen in ihrem Lernprozess durch Lehrpersonen. Insgesamt wird die soziale Passung in die Schulgemeinschaft i. S. einer Eingliederung in den Klassenverband und die Peergroup betont, in denen die Jugendlichen Zeit erhalten, ihre individuelle Persönlichkeit ganzheitlich herauszubilden.