In einer funktionalistischen Perspektive bedürfen Gesellschaft und Arbeitsmarkt Bildungsabschlüssen unterschiedlicher Bildungsstufen, die mit verschiedenen Ausbildungseigenschaften einhergehen. Diesen Ausbildungseigenschaften und den damit verbundenen Bildungsabschlüssen sprechen Akteurinnen und Akteure im gesellschaftlichen sowie bildungspolitischen Diskurs unterschiedliche Bedeutungen und Qualitäten i. S. von Wertigkeiten zu. Damit werden Fragen der Konstruktion von Qualität, ihrer zugrundeliegenden Handlungskoordination sowie möglichen daraus resultierenden Konflikten aufgeworfen (Salais et al. 2019), wie z. B.: Welche Qualitäten bieten unterschiedliche Ausbildungsprogramme und worin unterscheiden sich diese? Welche (vergangenen) Aushandlungen über diese Qualitäten sind zu beobachten? Welche Problemstellungen ergeben sich aufgrund verschiedener Bewertungen durch unterschiedliche Akteurinnen und Akteure? Wie wird kollektiv wahrgenommene Qualität erreicht? Und was macht Qualität von Bildung generell aus? Die von Luc Boltanski und Laurent Thévenot (2007) in ihrem Werk «Über die Rechtfertigung» entwickelte Soziologie der Konventionen/ Économie des Conventions (EC) (Boltanski und Thévenot 2007; Diaz-Bone 2018a) ermöglicht einen sozialwissenschaftlichen Zugang und damit ein theoretisches und methodisches Instrumentarium zur Beantwortung dieser Fragen (Diaz-Bone 2018a).Footnote 1

3.1 Qualität von Bildung

Die Qualität eines Bildungszertifikats (Bailly und Chatel 2004, 2006) oder eines Ausbildungsprogramms wird konventionensoziologisch nicht als ontologisch, objektiv feststellbar und allgemeingültig verstanden (Diaz-Bone 2018a; Eymard-Duvernay 1989; Suhr 2005), sondern als Ergebnis eines situativen und konventionenbasierten Zuschreibungsprozesses. Dieser situative Prozess der Zuschreibung von Qualität, d. h. von Wertigkeit, wurde von Eymard-Duvernay als «Valorisierung» (frz.: valorisation) (Eymard-Duvernay 2012a, S. 11) bezeichnet.Footnote 2 Für Olivier Favereau (2017) ist Qualität nicht nur Ergebnis von Valorisierungs-, sondern auch von Devalorisierungsprozessen. Insgesamt bedeutet dieses Verständnis von Qualität, dass «[d]as Urteil keinen Zustand fest[stellt], [sondern, R. E.] es konstruiert (oder de-konstruiert) Wert. Das Urteil ist die Operation, die den Wert erschafft» (Eymard-Duvernay 2012a, S. 11 übersetzt gemäß Diaz-Bone 2018a, S. 129).

In Abgrenzung zum Qualitätsverständnis im gängigen wissenschaftlichen Bildungsdiskurs (Hupka-Brunner et al. 2015) versteht die EC Qualität (z. B. eines Ausbildungsprogramms) nicht als objektiv und allgemeingültig feststellbar/messbar, normativ i. S. von gut/schlecht oder als ontologische Eigenschaft, sondern vielmehr als Ergebnis eines von Akteuren situativen und konventionenbasierten Zuschreibungsprozesses. Qualität ist aus konventionensoziologischer Perspektive folglich weder ein widerspruchsfreier noch stabiler Zustand, sondern impliziert «ein stetiges Ringen um eine angemessene Güte, die immer wieder neue Anstrengungen erfordert» (Gonon 2015, S. 102); Eine einmal situativ zugeschriebene Qualität kann von einer anderen Person jederzeit wieder mit Bezug auf eine andere Konvention infrage gestellt werden (Bailly und Chatel 2004; Boltanski und Thévenot 2007).

Dieses Qualitätsverständnis fußt auf der konventionensoziologischen Vorstellung von mit einer Handlungsfähigkeit (Agency) und mit einer reflexiven Kompetenz ausgestatteten Akteuren, die auf unterschiedliche Konventionen referieren, um ihr Handeln sowie Regeln, Institutionen und Qualitäten im Prozess der Koordination zu interpretieren und mit Bedeutung zu füllen (Barthe et al. 2016; Diaz-Bone 2009, 2018a; Wagner 2004). Dagegen distanziert sich die EC von der rein strukturalistischen Vorstellung eines Akteurs i. S. eines passiven Handlungsträgers, der über eine «a-priori-Rationalität» (Diaz-Bone 2018a, S. 371) verfügt und dessen Handeln sowie dessen Präferenzen durch Regeln und Strukturen determiniert sind (Barthe et al. 2016; Diaz-Bone 2018a; Wagner 2004). Konventionen sind folglich keine Merkmale der Akteurinnen und Akteure, sondern vielmehr in das Handeln und die Situation «‹eingelagerte› Realitäten» (Diaz-Bone 2009, S. 241). Anders als in Bourdieus strukturalistischem Ansatz werden unterschiedliche Qualitätsurteile z. B. von Schülerinnen und Schülern, Lehrpersonen und Leitungspersonen bzgl. der Ausbildungseigenschaften der beiden zu untersuchenden Ausbildungsprogramme sowie Ursachen von Disputen und Konflikten in sozialen Koordinationsprozessen demnach nicht auf die Zugehörigkeit der Akteurinnen und Akteure zu unterschiedlichen sozialen Status oder das Geschlecht reduziert, sondern auf pragmatische Prozesse des Aufeinandertreffens bzw. der Aushandlung pluraler und ggf. widersprüchlicher Konventionen. Die EC integriert demnach sowohl strukturalistische als auch pragmatische Elemente (Barthe et al. 2016; Diaz-Bone 2017b, 2018a; Knoll 2013a), indem sie danach fragt, wie sich Akteurinnen und Akteure in von Unsicherheit geprägten Situationen, z. B. der Evaluation oder der Legitimation, koordinieren.

Die grundlegende Analyseeinheit der EC ist entsprechend die mit Unsicherheit über den Verlauf und Ausgang behaftete Koordinationssituation (Diaz-Bone 2015; Dodier 2010; Wagner 2004). Der Situationsbegriff beschränkt sich in der EC nicht auf einzelne bzw. in sich geschlossene Face-to-Face-Interaktionen, sondern umfasst auch räumlich-zeitlich weit ausgedehnte soziohistorische Konstellationen (Barthe et al. 2016; Diaz-Bone 2017a, 2018a; Hedtke et al. 2019). Situationen werden konventionensoziologisch als über einzelne Interaktionen hinausgehende «komplexe Konstellationen von Objekten, kognitiven Formaten, Koordinationserfordernissen (Problemen), institutionellen Arrangements (wie Organisationen), Personen und Konzepten» (Diaz-Bone 2018a, S. 375) verstanden. Mit Blick auf den vorliegenden Forschungsgegenstand bedeutet dies, dass z. B. nicht einzelne FMS, verstanden als (Schul-) Organisationen, oder einzelne Gruppierungen von Vertreterinnen und Vertretern der beiden Ausbildungsprogramme untersucht werden, sondern dass mit der FMS Gesundheit und der BGB FaGe zwei unterschiedliche situative Ausbildungskonstellationen (im Folgenden Ausbildungssituationen genannt) im Mittelpunkt der empirischen Analyse stehen (Diaz-Bone 2011b; Hedtke et al. 2019). Diesem konventionensoziologischen Situationsverständnis folgend beinhalten die zu untersuchenden Ausbildungssituationen der beiden Ausbildungsprogramme zusätzlich zum Geschehen in der Schule z. B. auch bildungspolitische Dynamiken (Vernehmlassungen, Motionen) sowie andere (über-) kantonale Entwicklungen in Bezug auf die beiden Ausbildungsprogramme. Die EC strebt bei der Analyse von Situationen stets eine «pragmatische Innenansicht der Situation» (Diaz-Bone 2018a, S. 377) bzw. das Verstehen der Akteursperspektive an (Diaz-Bone 2018a; Hedtke et al. 2019). Der Anspruch der vorliegenden konventionensoziologisch ausgerichteten Untersuchung ist es demnach, die beiden Ausbildungssituationen FMS Gesundheit und BGB FaGe aus Sicht der involvierten Akteurinnen und Akteuren (u. a. Leitungspersonen, Lehrpersonen, FaGe-Lernende und FMS-Schüler/-innen), d. h. von innen heraus, zu verstehen (Diaz-Bone 2011b, 2018a).

3.2 (Qualitäts-) Konventionen

Um diese von Unsicherheit geprägten Situationen der Koordination, Evaluation oder Legitimation zu bewältigen, stützen sich Akteurinnen und Akteure auf sogenannte Konventionen (Boltanski und Thévenot 1999; Diaz-Bone 2018a). Diese sind weder wissenschaftliche Rekonstruktionen, noch etablierte Standards, Traditionen, Bräuche oder Sitten, sondern vielmehr allgemeine Prinzipien der Rechtfertigung (Rechtfertigungsordnungen), der Evaluation (Wertigkeitsordnungen) oder der Koordination (Handlungsordnungen bzw. Koordinationslogiken), die sich sowohl historisch als auch kulturell in der sozialen Praxis herausgebildet und bewährt haben (Diaz-Bone 2018a).Footnote 3 Die EC geht also von der Annahme aus, dass Akteurinnen und Akteuren in Situationen eine begrenzte Anzahl «geteilte[r] überindividuelle[r] Logiken» (Diaz-Bone 2018a, S. 371) zur Verfügung steht, um ihre Handlungen koordinieren und z. B. Entscheidungen, andere Individuen und Objekte in Situationen evaluieren zu können (Diaz-Bone 2018a). Konventionen stehen Akteurinnen und Akteuren demnach i. S. eines «common knowledge» (Diaz-Bone 2018a, S. 375) als interpretativer Rahmen für die Handlungskoordination (Evaluation, Rechtfertigung) zur Verfügung und ermöglichen damit Orientierung und die Überwindung von Unsicherheit in per se stets mehrdeutigen Situationen (Diaz-Bone 2011a). Konventionen kommt demnach eine pragmatische Funktion für das Handeln zu, sodass sie als Instrument für die Handlungskoordination zu verstehen sind.

Jede dieser Konventionen bestätigt situativ die Angemessenheit oder Richtigkeit des Handelns (frz.: justesse) und begründet gleichzeitig eine moralische Gerechtigkeit (frz.: justice), d. h. ein Gemeinwohl im gesellschaftlichen Zusammenhalt (Boltanski und Thévenot 2007). Akteurinnen und Akteure sind kompetent darin, mit dieser in Koordinationssituationen bestehenden Pluralität unterschiedlicher Konventionen umzugehen, deren Angemessenheit situativ zu beurteilen und falls erforderlich zwischen den unterschiedlichen Logiken zu wechseln und Kompromisse zwischen diesen herzustellen, d. h. diese zu handhaben (Boltanski und Thévenot 1999; Diaz-Bone 2018a). Die zentrale Annahme der Pluralität koexistierender Konventionen impliziert eine Komplexität für das praktische Handeln der Akteurinnen und Akteure: Obwohl in einer Situation eine bestimmte Konvention als angemessener oder gerechter gilt, stehen die anderen Konventionen – i. S. einer Gleichzeitigkeit – stets als alternative Bezugslogiken zur Verfügung und könnten von den Akteurinnen und Akteuren jederzeit in die Koordinationssituation eingebracht werden (Diaz-Bone 2009, 2018a; Nadai et al. 2019). Für den Bereich der Bildung bedeutet dies, dass sich das pädagogisch und bildungspolitische Handeln unterschiedlicher Akteurinnen und Akteure in derselben Situation an verschiedenen Qualitätsansprüchen und Moralvorstellungen orientiert und damit zu Disputen und Konflikten führen kann (Abschn. 3.5).

Im Hinblick auf die für diese Studie zentrale Frage der kollektiven Konstruktion von Qualität der beiden Ausbildungsprogramme sind Konventionen i. S. von «Qualitätskonventionen» (Eymard-Duvernay 1989) zentral.Footnote 4 Damit sind kollektiv geteilte, handlungsleitende Wertigkeitsordnungen und somit kollektiv geteilte (mögliche) Arten und Weisen gemeint, wie Akteurinnen und Akteure die Qualität der FMS Gesundheit und BGB FaGe (z. B. bzgl. der Bildungsziele und Bildungsinhalte, Wissensformen sowie Modi der Wissensvermittlung und -aneignung) beurteilen und begründen (Diaz-Bone 2018a).

In «Über die Rechtfertigung» haben Boltanski und Thévenot (2007) basierend auf empirischen Untersuchungen kanonischer Texte der politischen Philosophie sowie zeitgenössischer Managementliteratur (Ratgebern und Praxishandbüchern) sechs für das Wirtschaftssystem gemeinwohlbegründende Konventionen rekonstruiert, mit denen sich die Mehrheit der alltäglich auftretenden Rechtfertigungen in westlichen Gesellschaften beschreiben lässt. Diese sind die staatsbürgerliche, die industrielle, die marktliche, die häusliche, die rufförmige und die inspirierte Rechtfertigungsordnung (Boltanski und Thévenot 2007). Später wurden eine projektförmige sowie eine ökologische Rechtfertigungsordnung von Luc Boltanski und Eve Chiapello (2003) bzw. Claudette Lafaye und Laurent Thévenot (1993) ergänzt.Footnote 5 Mithilfe von Qualitätskonventionen i. S. von Äquivalenzmaßstäben für die Beurteilung von Wertigkeit werden Objekte, Personen oder Ausbildungseigenschaften unterschiedlicher Ausbildungsprogramme vergleichbar (aber nicht gleich) gemacht, untereinander in Beziehungen gesetzt, kategorisiert und ihnen wird eine unterschiedliche Wertigkeit bzw. GrößeFootnote 6 (frz.: grandeur) beigemessen (Diaz-Bone 2018a). Jede Konvention hat dabei ein eigenes Modell der Prüfung, d. h. ein Vorgehen zur Feststellung dieser Größe (Diaz-Bone 2018a).

Jean-Louis Derouet (1989, 1992) hat diese Konventionen auf das Feld von Bildung und Schule übertragen und in politische Schulmodelle übersetztFootnote 7, die sich ebenfalls durch die Orientierung an einem bestimmten normativen Gemeinwohl auszeichnen.Footnote 8 In Anlehnung an Derouet spricht Imdorf (2011, S. 227) für den Koordinationskontext der Schule von sogenannten «Schulwelten». In der vorliegenden Studie wird davon ausgegangen, dass die von Boltanski und Thévenot (2007) für das Wirtschaftssystem rekonstruierten Konventionen auch für Akteurinnen und Akteure im Bereich der Bildung zentrale Bezugslogiken darstellen, wenn es z. B. darum geht, Ausbildungseigenschaften zu valorisieren, Kritik zu äußern und Entscheidungen zu begründen. Jede dieser Schulwelten bzw. Qualitätskonventionen erzeugt folglich als handlungsleitende Konvention in der Ausgestaltung von Bildungsangeboten eine je eigene Qualität von Bildung, was im Folgenden ausgeführt und anschließend tabellarisch zusammengefasst wird.Footnote 9

3.2.1 Staatsbürgerliche Konvention

Die staatsbürgerliche KonventionFootnote 10 bzw. die «Schulwelt des Allgemeininteresses und der Chancengleichheit» (Imdorf 2011, S. 231) strebt u. a. das Gemeinwohl in Bezug auf Gleichheit, Fairness sowie eine Partizipation aller Menschen (unabhängig von ihrer sozialen Herkunft und von ihrem Geschlecht) an Bildung an. Rechtmäßigkeit und Legalität sind bedeutsame Formen dieser Konvention (Boltanski und Thévenot 2007). Das Interesse des Kollektivs, d. h. ein Allgemeininteresse und nicht ein persönliches Interesse, begründet das staatsbürgerliche Gemeinwohl (Boltanski und Thévenot 2007). Bildung soll im Interesse der Allgemeinheit zur Hervorbringung autonomer und mündiger Staatsbürger/-innen, die soziale Verantwortung übernehmen und Engagement zeigen (Boltanski und Thévenot 2007), sowie zu einer im humboldtschen Sinne allgemeinen Menschenbildung beitragen (Imdorf 2011; Leemann und Imdorf 2019a; Zichy 2010). Hierfür sollen allgemeingültige Bildungsinhalte («valorisation de ce qui est générale»Footnote 11 [Derouet 1992, S. 88]) vermittelt werden, die sich an allgemeinen, grundlegenden Prinzipien und Konzepten orientieren und ein theoretisch-abstraktes Wissen (frz.: savoir abstrait) und kanonisches Allgemeinwissen fördern (Derouet 1992). Im Sinne von «les vrais savoirs sont les savoirs construits»Footnote 12 (Derouet 1992, S. 91) erfolgt ein klarer Bruch zwischen Schule und dem Leben, sodass «[l]’école prépare à la vie en tournant le dos à la vie» (Chateau zit. nach Derouet 1992, S. 88).Footnote 13 Im Sinne eines Ortes der Ideen und nicht der Erfahrung oder der Taten sind die Schulräumlichkeiten in der staatsbürgerlichen Schulwelt, wenn überhaupt, nur mit einfachen Objekten z. B. einer Weltkarte, Maßtabellen, geometrischen Formen o. ä. instrumentiert (Derouet 1992).

3.2.2 Industrielle Konvention

Die industrielle KonventionFootnote 14 bzw. die «effiziente Schulwelt» (Imdorf 2011, S. 235) ist am Organisationsmodell einer effizienzorientierten Unternehmung mit Arbeitsteilung ausgerichtet. Von Bedeutung sind u. a. die Eigenschaften Standardisierung, Messbarkeit, Produktivität, Effizienz, Planbarkeit und Wissenschaftlichkeit. Die Schule wird metaphorisch als Fabrik gesehen, in der Schüler/-innen zu fertigen Produkten, i. S. professionell einsatzfähiger und leistungserbringender qualifizierter Fachkräfte bzw. Fachexpertinnen und -experten ausgebildet werden (Derouet 1992). Angestrebt wird in der industriellen Welt ein zielgerichtetes, zweckorientiertes und funktionales Bildungsangebot (Boltanski und Thévenot 2007; Derouet 1992). Valorisiert wird Wissen i. S. eines Know-hows (frz.: savoir-faire), das sowohl anwendbar ist als auch zur Lösung technischer oder wissenschaftlich-methodischer Probleme dient, entsprechend eine Problemlösekompetenz miteinschließt und auf den Aufbau von (Berufs-) Fachlichkeit bzw. fachlicher Expertise abzielt (Derouet 1992; Diaz-Bone 2018a). Die Wissensvermittlung lässt sich in dieser Konvention als situativ, instruiert/angeleitet (i. S. einer Best Practice) sowie problem-, aufgaben- und anwendungsorientiert beschreiben. Die pädagogische Instrumentierung der Ausbildungssituation betont zudem die fachdisziplinäre Spezifität: Relevante Objekte bzw. (kognitive) Formate sind entsprechend Fächer und Fachräumlichkeiten, aber auch Stundentafeln, wissenschaftliche Daten und Messinstrumente sowie Statistiken, (Bildungs-) Zertifikate (Leistungsausweise), Kompetenzraster oder schulische Leistungstests.

3.2.3 Häusliche Konvention

Die häusliche KonventionFootnote 15 bzw. die «gemeinschaftsförmige Schulwelt» (Imdorf 2011, S. 232) ist am Gemeinwohl des Zusammenhalts und der Gemeinschaft ausgerichtet und orientiert sich am Organisationsmodell der Familie. Entsprechend ist auch das Berufsleben nicht völlig losgelöst vom Familienleben zu sehen (Boltanski und Thévenot 2007; Derouet 1992).Footnote 16 Zwischenmenschliche Beziehungen, Autorität und Hierarchie, Vertrauen und Nähe, Traditionen sowie eine soziale Passung sind in dieser Konvention besonders bedeutsam (Boltanski und Thévenot 2007). Die in dieser Konvention ‹Kleinen›, sollen durch eine ‹größere› Person, die Verantwortung übernimmt, begleitet werden (Boltanski und Thévenot 2007), wie in der Berufsbildung, in der die Lernenden in ein hierarchisches Verhältnis zu den Berufsbildnerinnen und Berufsbildnern eingebunden sind (Diaz-Bone 2018a). Die Schulwelt zeichnet sich durch eine große Nähe zum alltäglichen Leben aus, was mit Blick auf die Wissensvermittlung daran sichtbar wird, dass sich diese an konkreten Situationen aus dem Alltagsleben orientiert. Ausgerichtet am bzw. eingebunden in den (Berufs-) Alltag sollen Jugendliche in einem Prozess des Vormachens und Nachahmens (Learning by Example and Doing) und unter Einbezug aller Sinnesorgane praktische Fertigkeiten bzw. spezifische Handgriffe lernen und sich dabei körpergebundenes Erfahrungswissen (Böhle 2015), Routinen und Gewohnheiten aneignen (Boltanski und Thévenot 2007; Diaz-Bone 2018a). Die gemeinschaftsförmige Schulwelt wurde von Derouet (1992, S. 97) als «univers très perméable à des valeurs comme l’affectivité, le corps, l’esprit d’enfance»Footnote 17 (Derouet 1992, S. 97) beschrieben. Bildung soll außerdem die Entwicklung der individuellen Persönlichkeit fördern und darüber hinaus zu einer moralischen Charakterbildung beitragen, wozu auch die Herausbildung eines sogenannten savoir être/savoir vivre, i. S. von Anstandsregeln, Umgangsformen sowie auch Sekundärtugenden gehört.

3.2.4 Marktliche Konvention

In der marktlichen KonventionFootnote 18 bzw. der «marktförmigen Schulwelt» (Imdorf 2011, S. 238) geht es für die Schule darum, sich im Wettbewerb um Schüler/-innen auf dem Bildungsmarkt, z. B. der Sekundarstufe II, durchzusetzen (Derouet 1992). Bedingt durch diese Wettbewerbsdynamiken verfolgt die marktliche Schulwelt das Gemeinwohl eines möglichst hohen Bildungsstandards (Imdorf 2011). Bei Derouet (1992, S. 111) heisst es dazu: «[c]’est à qui vendra le meilleur produit (la plus forte chance de succès)»Footnote 19 (Derouet 1992, S. 111). In diesem Sinne kommen Bildungsanbieter/-innen in dieser Konvention Händler/-innen bzw. Verkäufer/-innen gleich. Angebot-Nachfrage-Überlegungen, Jugendliche als (potenzielle) Klientel sowie Kosten-Nutzen-Abwägungen sind folglich bedeutsame Dimensionen im Verhältnis zu anderen Ausbildungsprogrammen, die als Konkurrenten angesehen werden. Bildung, in der marktlichen Konvention verstanden als Investition, orientiert sich insbesondere an den Bedürfnissen des Arbeitsmarktes, um so Beschäftigungsfähigkeit (EmployabilityFootnote 20) zu gewährleisten (Leemann und Imdorf 2019a). Bildungsindikatoren wie Erfolgs-, Abbruch- oder Umorientierungsquoten sowie Vergleichstabellen oder Rankings sind bedeutende (kognitive) Formate dieser Konvention (Derouet 1992).

3.2.5 Rufförmige Konvention

In der rufförmigen Konvention bzw. der «Welt der Meinung» (Boltanski und Thévenot 2007, S. 245) oder der «Schulwelt der Bekanntheit» (Leemann und Imdorf 2019a, S. 11) hängt die Größe von der Sichtbarkeit, Bekanntheit, Anerkennung und Meinung Dritter ab. Auch Berühmtheit und Prestige implizieren in dieser Konvention Größe (Boltanski und Thévenot 2007). Es geht insbesondere um ein positives Image sowie eine hohe Reputation, also darum, «die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit auf sich zu ziehen» (Boltanski und Thévenot 2007, S. 247, Kursivsetzung i. O.). Den Bekanntheitsgrad können Akteurinnen und Akteure erhöhen, indem sie «sich einen Namen oder, für Produkte, eine Marke zuleg[en], der beziehungsweise die auf einem Werbeträger […] zu lesen ist» (Boltanski und Thévenot 2007, S. 247, Kursivsetzung i. O.). In dieser Konvention sind demnach insbesondere (kognitive) Formate bedeutsam, die diese Aufmerksamkeit, Bekanntheit sowie die Anerkennung und Wertschätzung von Ausbildungsprogrammen in der Öffentlichkeit u. a. vergrößern, bewerben oder betonen wie Websites, Informationsbroschüren, -veranstaltungen oder -videos von Ausbildungsprogrammen, Ausbildungsmessen, Werbekampagnen, Berufsmeisterschaften (z. B. die SwissSkillsFootnote 21), Medienmitteilungen, Quoten und Verkaufszahlen. «In dieser Welt, in der alles, was Wert hat, unmittelbar bekannt und sichtbar ist, stellen die Personen permanent Vergleiche an» (Boltanski und Thévenot 2007, S. 250).

3.2.6 Projektförmige Konvention

In der von Boltanski und Chiapello (2003) in ihrer Monografie «Der neue Geist des Kapitalismus» vorgestellten projektförmigen Konvention bzw. «projektförmigen Schulwelt» (Leemann und Imdorf 2019a, S. 11) erlangen u. a. die Eigenschaften wie Flexibilität und Mobilität Bedeutung. Bildung soll die Anpassungsfähigkeit an sich ständig verändernde Umstände gewährleisten. Eine Person ist ‹groß›, wenn sie fähig ist, netzwerkartige Beziehungen aufzubauen, ein gesetztes Ziel zu erreichen bzw. ein Projekt erfolgreich abzuschließen (Projektfähigkeit) (Diaz-Bone 2018a), und wenn sie über überfachliche bzw. transversale Kompetenzen (Schlüsselkompetenzen, Soft Skills) sowie Transferfähigkeiten verfügt. Gefördert werden diese Wissensformen bzw. Kompetenzen über Projektunterricht, selbstständige Gruppen- oder Teamarbeiten, selbstorganisierte Lernphasen sowie Transferaufgaben.

3.2.7 Inspirierte Konvention

In der inspirierten KonventionFootnote 22 bzw. der «kreative[n] Schulwelt» (Leemann und Imdorf 2019a, S. 11) wird das Gemeinwohl der Inspiration, Innovation und Berufung angestrebt. Größe kommt Personen dadurch zu, dass sie neugierig, erfinderisch und begeistert sind und Entdeckergeist haben (Boltanski und Thévenot 2007). Das bedeutet, dass in dieser Konvention u. a. die Eigenschaften Berufung, Passion, Motivation und Leidenschaft bedeutsam sind. Bildung soll Einfallsreichtum, Hingabe und die kreativen Fähigkeiten fördern, was sich einerseits in einer Loslösung von jeglicher Zweckorientierung der Bildungsinhalte (Bedeutung musisch-künstlerischer Fächer) sowie andererseits in der Betonung entdeckenden und experimentellem Lernens zeigt. Bedeutsame Formate sind der inspirierten Konvention fremd, da der Einzigartigkeit Vorrang eingeräumt wird (Diaz-Bone 2018a).

Tab. 3.1 hält die von Boltanski und Thévenot (2007) sowie Boltanski und Chiapello (2003) rekonstruierten und für Analysen im Bildungsbereich relevanten sieben Konventionen überblickartig fest. Angelehnt an Leemann und Imdorf (2019a) sowie Imdorf (2011) weist die Tabelle für jede Konvention bzw. Schulwelt das angestrebte Gemeinwohl sowie das darauf basierende Bildungsverständnis, die jeweiligen Bildungsziele, die bedeutsamen Wissensformen sowie die Modi der Wissensvermittlung und -aneignung aus. In der letzten Spalte ist zudem aufgeführt, welche Qualitäten in der jeweiligen Konvention geprüft werden und welche Formate bedeutsam sind. Die Struktur sowie die verschiedenen Ausprägungen in Tab. 3.1 sind als Arbeitshypothesen zu erachten, die sich auf die theoretischen Grundlagen sowie bisherige konventionenbasierte empirische Untersuchungen im Bereich der Bildung abstützen. Die Tabelle ist daher nicht als abgeschlossen zu verstehen, sondern als Ausgangsbasis der folgenden empirischen Analyse sowie zur Weiterentwicklung des konventionensoziologischen Ansatzes im Bereich der Bildung.

Tab. 3.1 Systematisierung der relevanten Konventionen im Bereich der Bildung

In der vorliegenden Studie geht es nicht primär um eine deskriptive Beschreibung der von Akteurinnen und Akteuren in unterschiedlichen Situationen mobilisierten Konventionen. Das Herausarbeiten der zentralen Konventionen, auf die rekurriert wird, ist vielmehr als Grundlage bedeutsam, um ausgehend davon nach Dynamiken, Infragestellungen bzw. Kritiken, Unabgeschlossenheit, Kompromissen und Stabilisierungsversuchen in den zu untersuchenden Ausbildungssituationen zu fragen (Diaz-Bone 2018a) und damit das erklärende Potenzial der EC in Bezug auf den Forschungsgegenstand dieser Studie auszuschöpfen.

3.3 Soziomaterielle Abstützung von Konventionen

In jeder Situation, in der Akteurinnen und Akteure etwas evaluieren, begründen oder rechtfertigen, können sie auf eine Vielzahl unterschiedlicher Konventionen zurückgreifen. Dies geschieht nicht zufällig, vielmehr sind in Situationen bestimmte Konventionen als Bezugslogiken naheliegender als andere. Dies ist darin begründet, dass Konventionen auch in der soziomateriellen Ausstattung der Situation verankert sind.

3.3.1 Dispositive der Valorisierung

Die EC geht davon aus, dass Akteurinnen und Akteure kompetent sind, die Instrumentierung, d. h. die soziomaterielle Ausstattung einer Koordinationssituation (z. B. Objekte oder kognitive Formate) zu nutzen, um die Pluralität möglicher Konventionen situativ bewältigen zu können (Diaz-Bone 2018a). Das bedeutet, dass Akteurinnen und Akteure für die Kognition und Evaluation von Situationen der Unsicherheit auf die Instrumentierung der Koordinationssituation angewiesen sind (Daudigeos und Valiorgue 2018; Diaz-Bone 2017a, 2018a; Dodier 2010; Giessmann et al. 2019; Hedtke et al. 2019; Landri 2015; Potthast 2019; Röhl 2013).Footnote 24

François Eymard-Duvernay (2012b) hat in diesem Zusammenhang den Begriff Dispositiv der Valorisierung eingebracht.Footnote 25 Als «Ausstattungen, äußere Aufmachung, Apparaturen, Mechanismen oder Vorrichtungen der Größe» (Boltanski und Thévenot 2007, S. 198) objektivieren, materialisieren und stützen Dispositive die Wertigkeit einer Sache oder einer Person (Diaz-Bone 2018a) und sind in einer Koordinationssituation «bereits mehr oder weniger vorhanden, bevor die Personen die Szene betreten» (Dodier 2011, S. 91). In einer Ausbildungssituation vorzufindende schriftliche Dokumente wie Informationsbroschüren, Lehrmittel, Arbeitsaufträge usw. sind demnach als «ruhende Dispositive» (Dodier 2010, S. 12) nicht einfach Container für Wörter, Bilder oder Informationen, sondern können in Situationen z. B. der Kritik von Akteurinnen und Akteuren zur Stabilisierung ihrer Rechtfertigung oder Qualitätszuschreibung mobilisiert werden (Diaz-Bone 2018a; Prior 2008). Solche Elemente der Ausbildungssituation sind demnach als Teile eines Dispositivs der Valorisierung zu verstehen, das bestimmte Konventionen in der Situation verankert und stabilisiert (Dodier 2011). Eine Konvention stabilisiert sich also in einer Situation erst durch die Abstützung auf Objekte. Dispositive stehen den Akteurinnen und Akteuren in Koordinationssituationen als «Instrumente oder Werkzeuge zur Beurteilung der Größe» (Boltanski und Thévenot 2007, S. 183) und damit als «Stützen der Handlung» (Dodier 2010) zur Verfügung.

Der pragmatische Sinn von Dispositiven ist per se als unvollständig zu betrachten. Das heisst, dass die Art und Weise, wie Dispositive in einer Situation mobilisiert bzw. gehandhabt werden, nicht vordefiniert, sondern «Resultat und Teil der kollektiven Koordination» (Diaz-Bone 2017a, S. 88 f.) ist. Da Dispositive nicht einfach zur Verfügung stehen, sondern von den Akteurinnen und Akteuren in der Situation mobilisiert und damit für die Situation als relevant definiert werden müssen, sind Dispositive als in das Handeln der Akteurinnen und Akteure eingelagert zu verstehen (Diaz-Bone 2017a; Hedtke et al. 2019).

Damit stehen sie [Dispositive, R. E.] nicht einfach ‹zur Verfügung› (und in diesem Sinne ‹zur Disposition›), sondern bringen Unsicherheit in die ökonomische Koordination ein, da sie auch anders interpretiert und gehandhabt werden könnten. Dispositive gehören keiner sozialen Gruppe oder Instanz auf Dauer, sie können durchaus unterschiedlich verwendet werden und sind wandelbar, wie die pluralistische Konstellation der Strategien, die sie mobilisieren. (Diaz-Bone 2017a, S. 89)

Die Verknüpfung der Konventionen mit diesen «Objektensembles» (Boltanski und Thévenot 2007, S. 65) wird konventionensoziologisch mit dem Begriff Welt (frz.: cité) gefasst (Boltanski und Thévenot 2007).

Die vorliegende konventionensoziologisch geleitete Studie interessiert sich entsprechend auch für die «Handlungsverstrickungen, die Abstützungen sowie die Routinisierungen, die Akteurinnen und Akteure in der Interaktion mit Objekten eingehen bzw. erstellen» (Diaz-Bone 2011a, S. 24).Footnote 26 Mit Blick auf den zu untersuchenden Forschungsgegenstand wird folglich erwartet, dass Qualitätskonventionen in der Ausbildungssituation nicht nur als diskursive Phänomene zutage treten, wenn Akteurinnen und Akteure z. B. die Qualität des berufsfeldspezifischen Unterrichts der FMS Gesundheit mit Bezug auf bestimmte Konventionen begründen, sondern auch eine «pragmatische Realität» (Diaz-Bone 2011a, S. 30) haben, die in der Soziomaterialität der Ausbildungssituation erkennbar ist. Für die konventionensoziologische Qualitätsanalyse der beiden Ausbildungsprogramme sind demnach die Sensibilisierung für und die Identifikation dieser Dispositive der Valorisierung bedeutsam (Diaz-Bone 2018a). Im Rahmen der empirischen Analyse wird entsprechend auch aufgezeigt, welche Elemente solcher Dispositive die Akteurinnen und Akteure mobilisieren, um die zu untersuchenden Ausbildungsspezifika zu valorisieren (Diaz-Bone 2018a).

3.3.2 Forminvestitionen

Die beiden zu untersuchenden Hauptfragen nach der Positionierung und Profilierung implizieren auch Aspekte wie der Wandel von Bildungsinstitutionen bzw. die Neuausrichtungen von Ausbildungsprogrammen. Dynamiken und Wandel erfolgen nicht zufällig, sondern entlang eines historisch nachvollziehbaren Entwicklungspfades (Edelstein 2016; Fischer et al. 2017; Leemann und Imdorf 2019a). Diese Vorstellung einer Pfadabhängigkeit (Beyer 2006; Mahoney 2000; Sydow et al. 2009) wird in der EC mit dem Konzept der Forminvestition, verstanden als Instrumentierung der Valorisierung und damit als Teil eines Dispositivs der Valorisierung, erfasst (Diaz-Bone 2018a; Thévenot 1986). Damit ist gemeint, dass Akteurinnen und Akteure die zeitliche, räumliche und sachlich-soziale Reichweite von Konventionen mithilfe bestimmter Investitionen in Formate vergrößern, generalisieren und stabilisieren können (Dodier 2010; Thévenot 1984, 2011). Dadurch wird der Rahmen möglicher künftiger Entwicklungen vorstrukturiert und zugleich treten Alternativen in den Hintergrund, d. h. sie werden «geopfert» (Blokker und Brighenti 2011). Jede Konvention kennt eigene Formate, wobei diese sowohl immaterieller, d. h. kognitiver, als auch materieller Natur sein können (Diaz-Bone 2018a). Beispiele für ersteres sind die Etablierung einer Berufsgattung (wie in Frankreich die Cadres) (Diaz-Bone 2018a) oder die Bezeichnungen von Berufsfeldern an der FMS. Als Beispiel für letzteres ist die räumliche Ausstattung von Schulzimmern zu nennen. In der industriellen Konvention sind z. B. Ausbildungszertifikate als Form bedeutsam, weil diese Wertigkeiten wie Standardisierung, Fachlichkeit und Expertise formatieren. In der rufförmigen Konvention hingegen sind z. B. Informationsveranstaltungen oder Werbeplakate von Ausbildungsprogrammen als Formate bedeutsam, weil diese zur Steigerung der Bekanntheit der Ausbildungsprogramme in der Öffentlichkeit beitragen und ein bestimmtes Image stabilisieren. Investition bedeutet also im vorliegenden Zusammenhang, «in die Gültigkeit (Validität im Sinne einer Anerkennung) einer bestimmten Form hinsichtlich einer bestimmten (sachlich-sozialen) Reichweite und für eine bestimmte zeitliche Dauer» (Diaz-Bone 2018a, S. 86) zu investieren. Erreicht wird damit eine bestimmte «Form von Allgemeinheit» (Boltanski und Thévenot 2007, S. 20), die jedoch einerseits sogenannte «Kosten der Detailliertheit» (Diaz-Bone 2018a, S. 87) bzw. eine Opferung von Alternativen, Varianten und Spezifika der Einzelfälle erfordert (Blokker und Brighenti 2011). Dies spezifizierte Thévenot in einem Interview folgendermaßen: «When you code or classify, you make things general. If you make things general, you lose something» (Blokker und Brighenti 2011, S. 385). Andererseits ermöglichen die aus der Forminvestition resultierenden Verallgemeinerungen bzw. Generalisierungen auch eine Vereinfachung der künftigen Koordination (Boltanski und Thévenot 2007; Diaz-Bone 2018a), da stabilisierte Formen, die «auf einer gewissen Ebene der Allgemeinheit» (Boltanski und Thévenot 2007, S. 21, Fn 3) gehalten werden, «das dauernde Problematisieren der Leistungsfähigkeit der Dinge und ihrer möglichen Unvereinbarkeit vermeiden» (Boltanski und Thévenot 2007, S. 21). Mit dem Begriff Forminvestition werden also sowohl der Prozess des «In-Form-Bringens» (Eymard-Duvernay, 1986 zit. nach Diaz-Bone 2018a, S. 97) als auch dessen Resultat bezeichnet. Bedeutsam ist das Konzept der Forminvestitionen insbesondere für die Frage, wie Akteurinnen und Akteure in einer Koordinationssituation die Zuschreibung von Wertigkeit bzw. Qualität stabilisieren und absichern.

Zwei spezifische Formattypen bedürfen mit Blick auf die Hauptfragen der Positionierung und Profilierung der FMS Gesundheit und der BGB FaGe besonderer Aufmerksamkeit: Die erste Form ist die sogenannte Staatsvariable (frz.: variable d’état) (Thévenot 1992). Damit werden national gültige und einheitliche Formen bezeichnet, für deren Gültigkeit der Staat «unmittelbarer Garant» (Diaz-Bone 2018a, S. 87) ist. Staatsvariablen haben aufgrund dieser staatlichen Qualitätsgarantie eine besonders stabilisierende Wirkung (Thévenot 1984). Joëlle Affichard (1986) hat das Konzept der Staatsvariablen auf (Berufs-) Bildungsabschlüsse bezogen und in diesem Zusammenhang den Begriff der Vereinheitlichung von Abschlüssen (frz. homologisation des titres) eingeführt. Die zweite für diese Studie bedeutsame Form sind Standards (Thévenot 2009), verstanden als Formen mit einer besonders hohen Reichweite, die in der Koordinationssituation unhinterfragt akzeptiert werden. Indem Standards ein Verschließen der Augen (Thévenot 2009) gegenüber alternativen Formen, die für die Koordination hätten herangezogen werden können, fördern und damit ein «Vertrauen in das Etablierte» (Diaz-Bone 2018a, S. 338) resp. ein «blinde[s] Vertrauen» (Thévenot 2009, S. 795) vermitteln, ermöglichen sie, «die Unsicherheit über das Gelingen und über die Richtigkeit der Koordination erfolgreich aus[zu]blenden» (Diaz-Bone 2018a, S. 338). Kommt es zu einer Infragestellung eines Standards, wird von einem Moment des «Augenöffnen[s]» (Blokker und Brighenti 2011, S. 388; Thévenot 2009, S. 797) gesprochen.

3.4 Situative Verteilung von Macht

Die Frage, wem es in der Koordinationssituation gelingt, die Reichweite einer Konvention und der darauf basierenden Argumente auszuweiten, hängt wesentlich damit zusammen, wie Macht in einem Koordinationsprozess verteilt ist. Forminvestitionen, verstanden als Instrumentierungen der Valorisierung, die Akteurinnen und Akteure heranziehen, um Äquivalenzen, Wertigkeiten und Generalisierungen in Situationen herzustellen, spielen hierbei eine entscheidende Rolle. Denn «[d]ie Frage, wem diese Instrumentierungen gehören, ist wesentlich für die Verteilung der Macht» (Diaz-Bone 2017a, S. 91) in einer bestimmten Situation. Die EC versteht Macht als «distribuiert» (Diaz-Bone 2017a, S. 85) und nicht als substanzielle Ressource oder eine naturgegebene Eigenschaft der Akteurinnen und Akteure (Diaz-Bone 2017a, 2018b). Entsprechend kommt es in Aushandlungssituationen teilweise zu einer Konkurrenz um diese situative Machtverteilung (Favereau 2017). Macht kommt in Koordinations- und Aushandlungssituationen denjenigen Akteurinnen und Akteuren zu, die basierend auf ihnen zur Verfügung stehenden Dispositiven der Valorisierung «die Reichweite solcher Machteffekte (zeitlich und räumlich) ausdehnen, stabilisieren sowie auch intensivieren können» (Diaz-Bone 2017a, S. 92). Mit dem Konzept der Forminvestitionen stellt die EC ein Werkzeug zur Verfügung, das nicht nur erlaubt, zu untersuchen, «wie Akteure zeitliche, soziale und räumliche Stabilisierungen und Generalisierungen von Wertigkeiten und Koordinationsformen herstellen können» (Diaz-Bone 2018a, S. 96), sondern auch wie die Reichweite von Machteffekten in Situationen ausgedehnt, stabilisiert und intensiviert wird (Diaz-Bone 2017a). Entsprechend eignet sich das konventionensoziologische Machtverständnis für die Analyse von Dynamiken und allfälligen Machtkämpfen im Zusammenhang mit der Positionierung und Profilierung der beiden funktional anschlussäquivalenten und parallelen Ausbildungsprogramme im Bereich Gesundheit auf der Sekundarstufe II.

3.5 Prüfung, Kritik und Kompromiss

Akteurinnen und Akteuren steht in sozialen Situationen meist eine plurale Konstellation von Konventionen zur Verfügung, was bedeutet, dass darin unterschiedliche Wertigkeiten Geltung beanspruchen können (Diaz-Bone 2018a; Leemann und Imdorf 2019b; Wagner 2004). Handlungskoordination bedeutet daher «plurale, konkurrierende und sich widersprechende Konventionen situativ zu vermitteln, Kritik und Dispute zu handhaben und Lösungen in Form von Kompromissen zu finden» (Leemann und Imdorf 2019b, S. 436). Dies wirft u. a. folgende Fragen auf: Wie gehen Akteurinnen und Akteure mit der daraus resultierenden Unsicherheit um? Wie stellen Akteurinnen und Akteure in der mehrdeutigen Situation Einigkeit her? Welche Konvention vermag in der Situation Gültigkeit zu beanspruchen und Mächtigkeit zu entwickeln (Boltanski und Thévenot 2007; Diaz-Bone 2009; Nadai et al. 2019)? Zentrale konventionensoziologische Konzepte zur Analyse von Situationen der Uneindeutigkeit sind diejenigen der Prüfung, der Kritik und des Kompromisses. Diese werden im Folgenden einzeln erläutert.

3.5.1 Prüfung

Da in sozialen Situationen meist unterschiedliche Bezugslogiken zur Verfügung stehen, die sich teilweise widersprüchlich gegenüberstehen, treffen situativ unterschiedliche Bewertungen und Interpretationen aufeinander. Soziale Situationen sind demnach nie völlig klar (Boltanski und Thévenot 2007), sondern enthalten stets Spannungen, die in Form von Konflikten bzw. Disputen immer wieder aufbrechen können und eine Qualitätszuschreibung von Neuem in Frage stellen (Diaz-Bone 2009). Diese sogenannten «Critical Moments» (Boltanski und Thévenot 1999, S. 359) bedürfen der Klärung bzw. einer «Neuanpassung des ganzen Arrangements» (Boltanski und Thévenot 2007, S. 187) mittels einer Prüfung, in der sich Konventionen bewähren müssen und ihre Mächtigkeit ausgeweitet oder eingeschränkt werden kann (Leemann und Imdorf 2019a). Jede Konvention kennt eigene Formate der Prüfung (Tab. 3.1), die die Uneinigkeit bzw. die Auseinandersetzung vorübergehend beenden (Boltanski und Thévenot 1999, 2011). Prüfungen sind demnach ein möglicher Weg, «which can be followed in order to leave the critical moment and come back to the ordinary course of action» (Boltanski und Thévenot 1999, S. 375). Die Prüfung der Größe lässt sich «nicht auf eine theoretische Debatte reduzieren» (Boltanski und Thévenot 2007, S. 184), sondern bezieht auch die soziomaterielle Umwelt der Situation mit ein, wodurch die Auseinandersetzung um die Verteilung der Größe eine materielle Grundlage erhält (Boltanski und Thévenot 1999, 2011). Eine Situation der Prüfung wird demnach auch als «Realitätstest» (Boltanski und Thévenot 1999, S. 367) bezeichnet.

3.5.2 Kritik

Die Pluralität unterschiedlicher, einander ggf. widersprechender Konventionen kann zu einer Situation der Kritik führen. Kritik ist aus Sicht der EC keine auf individuelle Dispositionen zurückzuführende Unzufriedenheit der Akteurinnen und Akteure, sondern wird stets konventionenbasiert formuliert. Die Absicht der Kritik kann dabei in unterschiedlichem Maße radikal sein (Boltanski und Thévenot 2011). Im Falle der radikalen Kritik (Boltanski und Thévenot 1999) wird das die Valorisierung, die Begründung oder die Rechtfertigung fundierende Ordnungsprinzip als situativ unangemessen erachtet und grundlegend infrage gestellt. Stattdessen wird ein anderes vorgeschlagen (Boltanski und Thévenot 1999, 2011). Eine Vertretung der dualen Berufsbildung fordert z. B. basierend auf der marktlichen Konvention eine Einschränkung des Freifachangebots an der FMS Gesundheit aufgrund zu hoher kantonaler Bildungsausgaben. Eine Vertretung der FMS Gesundheit kritisiert diese Forderung radikal, indem sie das Kostenargument und damit die marktliche Konvention zur Valorisierung und Rechtfertigung des Fächerangebotes als unangemessen zurückweist und stattdessen die Bedeutung einer zweckfreien und allgemeinen Menschenbildung mit Bezug auf die staatsbürgerliche Konvention betont. Bei der radikalen Kritik geht es entsprechend um einen situativen Disput zwischen Konventionen und damit um die Frage nach der situativen Gerechtigkeit (justice) (Thévenot 2011). Die Kritik kann aber auch weniger radikal ausfallen, indem nicht das fundierende Ordnungsprinzip infrage gestellt wird, sondern kritisiert wird, dass im situativen Prüfungsarrangement Elemente enthalten sind, die nicht zum fundierenden Prinzip der Prüfung gehören (Boltanski und Thévenot 2011). Bei der weniger radikalen Kritik geht es folglich um einen situativen Disput über die Richtigkeit bzw. Angemessenheit (justesse) der Prüfungssituation und deren allfällige Bereinigung von ‹fremden› Elementen (Boltanski und Thévenot 2007; Thévenot 2011). Dazu folgendes Beispiel:Beim Schnupperpraktikum für eine FaGe-Lehrstelle (ein Prüfungsformat der häuslichen Konvention) will der Ausbildungsbetrieb die praktische Begabung der Bewerber/-innen im Pflegealltag prüfen. Für die Bewertung des Praktikums werden jedoch auch die schulischen Leistungen im Fach Französisch mitberücksichtigt (Element der industriellen Welt). Ein junger Bewerber kritisiert dieses Vorgehen dahingehend, dass die Französischnote für die Ermittlung der praktischen Begabung in Form eines Praktikums keine Rolle spiele, und fordert, die Prüfungssituation (Bewertung des Praktikums) um das industrielle Element der Französischnote zu bereinigen und ausschließlich die praktischen Fähigkeiten zu beachten.

3.5.3 Kompromiss

Eine unstimmige Situation, aus der ein Disput über die Frage nach der tatsächlichen Größe einer Sache oder einer Person hervorgeht, muss nicht zwingend zu Kritik führen, sondern kann auch durch das Eingehen eines Kompromisses zwischen den verschiedenen Ordnungsprinzipien überwunden oder zumindest zwischenzeitlich aufgeschoben und ausgesetzt werden (Boltanski und Thévenot 2007, 2011), «indem so getan wird, als gäbe es keinen Konflikt und als gäbe es nichts zu klären» (Knoll 2015, S. 13). Kompromisse stellen damit einen «Brückenschlag zwischen Konventionen» (Vogel 2019, S. 98) dar und ermöglichen den Akteurinnen und Akteuren in der Koordinationssituation, einen «Mittelweg» (Vogel 2019, S. 98) zu gehen. Indem «unterschiedliche Wertigkeiten ineinander gewoben [sic] [werden], ohne dass ihre Unterschiedlichkeit problematisiert wird» (Knoll 2015, S. 14), wird mit Kompromissen «ein hybrides Setting produzier[t], welches nicht eindeutig einer Konvention zuweisbar ist» (Vogel 2019, S. 97).

Das Einschließen unterschiedlicher Konventionen bedeutet auch, dass Kompromisse Widersprüche zwischen Konventionen weiterhin in sich präsent haben (Diaz-Bone 2018a) und sie als «Amalgam» (Boltanski und Thévenot 2007, S. 369) bzw. «fragile Arrangements» (Leemann und Imdorf 2015, S. 141) daher «notorisch instabil» (Knoll 2017, S. 439) und kritikanfällig sind (Boltanski und Thévenot 1999, 2011). Kompromisse bedürfen daher der Mechanismen der Stabilisierung (Boltanski und Thévenot 2007, 2011; Dodier 2011), wie der Schaffung von «Kompromissobjekte[n]» (Boltanski und Thévenot 2007, S. 373; Knoll 2015, S. 14), in denen «Elemente, Wesen und Objekte unterschiedlicher Welten dauerhaft ineinander verwoben werden, bis sie schließlich nur noch schwer auseinanderzuhalten sind» (Knoll 2015, S. 14). Auf semantischer Ebene können Kompromisse und Kompromissobjekte u. a. mithilfe von «verschwommene[n] Begriffe[n]» (Dodier 2011, S. 96) bzw. «Containerbegriffe[n]» (Knoll 2015, S. 15) stabilisiert werden, bei denen die konventionelle Wertigkeit offengelassen wird und durch unterschiedliche Konventionen mobilisiert werden kann (Knoll 2015).

Kompromisse sind jedoch nicht nur als Lösung eines Disputs zu verstehen, sondern können auch eingegangen werden, um als Stütze zur Durchsetzung von Konventionen zu dienen, indem diese positiv aufeinander bezogen werden (Diaz-Bone 2009, 2015a). Lisa Knoll (2013a, 2013b) nimmt diese unterschiedlichen Kompromissformen auf und schlägt eine entsprechende Differenzierung vor. Für die vorliegende Studie sind folgende drei Kompromissformen bedeutsam: eine Konvention stützt die andere; eine Konvention ordnet sich der anderen unter, sodass ein hierarchisches Verhältnis zwischen mehreren Konventionen entsteht; mehrere Konventionen bleiben nebeneinander bestehen, während deren Unterschiedlichkeit und Gleichwertigkeit betont werden.

Die Ausführungen zu den theoretischen Konzepten der Prüfung, der Kritik und des Kompromisses verdeutlichen, dass die Überwindung von situativen Disputen und Konflikten stets nur vorläufig ist. Diese können jederzeit wieder aufbrechen und zu neuen Konflikten führen. Damit verspricht die EC mit ihrem Instrumentarium auch gewinnbringende Erkenntnisse in Bezug auf Beharrlichkeit, Stabilität, aber auch Widerstand und Wandel bezüglich der Positionierung und Profilierung von Ausbildungsprogrammen sowie deren Verhältnis zueinander. Entsprechend eignet sich der gewählte konventionensoziologische Rahmen zur Analyse und zur Erklärung sowohl gegenwärtiger als auch vergangener bzw. historischer Dynamiken (Barthe et al. 2016; Diaz-Bone 2018a).Footnote 27

3.6 Regimes d’engagement

Die EC wurde bisher mit Blick auf die von Boltanski und Thévenot (2007) rekonstruierten Konventionen dargestellt, die mit einem kollektiven Rechtfertigungsimperativ ausgestattet sind und stets einem spezifischen Gemeinwohl dienen. Dieses Handlungsregime der Rechtfertigung wird immer dann mobilisiert, wenn es um öffentliche Fragen der Rechtfertigung und Wertigkeit geht. Nicht jedes Handeln der Akteurinnen und Akteure unterliegt jedoch einem öffentlichen Rechtfertigungsdruck und strebt ein Gemeinwohl an (Barthe et al. 2016; Diaz-Bone 2018a; Eranti 2018; Thévenot 2010, 2014). Dies ist z. B. nicht der Fall, wenn es um die Verfolgung individueller Interessen, Ziele oder persönlicher Nahbeziehungen geht. Thévenot (2010, 2014) hat daher zusätzlich zum Handlungsregime der Rechtfertigung zwei weitere Handlungsmodi, sogenannte «Regimes d’engagement» (Thévenot 2010), differenziert, die je unterschiedliche zu erzielende Güter anstreben (Diaz-Bone 2018a; Eranti 2018; Thévenot 2010, 2011, 2014).Footnote 28

Im Regime des planenden Handelns strebt der Akteur das (planmäßige und auch zukunftsgerichtete) Vollziehen von Handlungen sowie das Erreichen und Umsetzen individueller Ziele und Pläne an. Ein funktionales Verhältnis zur Umgebung steht hierbei im Vordergrund (Thévenot 2011). Begründungen und Argumente, die im Regime des planenden Handelns geäußert werden, sind nicht an einem kollektiven Gemeinwohl ausgerichtet, sondern werden i. S. einer «liberal grammar of a plurality of individual choices» (Thévenot 2014, S. 18) bzw. «grammar of individual interests» (Eranti 2018, S. 45) als individuelle Präferenz bzw. Wahl zwischen öffentlich verfügbaren zugänglichen Optionen formatiert (Thévenot 2014). Jugendliche beispielsweise, die im Gespräch begründen, weshalb sie sich für die FMS Gesundheit oder die BGB FaGe entschieden haben, unterstehen keinem öffentlichen Rechtfertigungsdruck und streben kein öffentliches Gemeinwohl an, sondern legen ihre persönlichen Interessen und Präferenzen dar. Die Einführung dieser Liberal Grammar erlaubt es also auch, Argumente, die kein kollektives Gemeinwohl bedienen, sondern nur ein persönliches Interesse, individuelle Präferenzen ausdrücken, zu theoretisieren und konzeptionell zu fassen (Eranti 2018).

Im Regime des Handelns im Vertrauten interagiert das Individuum im Bereich der Privatheit und der Intimität, wobei es um ein personalisiertes und lokal zu erzielendes Gut geht (Thévenot 2011). Die Kommunikationsform geht größtenteils über die verbale Sprache hinaus und wird oftmals durch «[d]ie Sprache des Körpers als ganzen» (Thévenot 2010, S. 7) ersetzt. Es wird davon ausgegangen, dass dieses Handlungsregime insbesondere für Lernende der BGB FaGe bedeutsam ist, da sie im Ausbildungsbetrieb (Spital, Pflegeheim, usw.) mit einem unmittelbaren (Körper-) Kontakt mit Patientinnen und Patienten konfrontiert sind und dabei qua Durchführung von Pflegemaßnahmen in die Intimsphäre der Patientinnen und Patienten eindringen.

Abschließend wird darauf verwiesen, dass Handlungsregime keine inkorporierten Dispositionen von Akteurinnen und Akteure sind. Vielmehr müssen Akteurinnen und Akteure i. S. einer «bricolage» (Thévenot 2013 zit. nach Vogel 2019, S. 76) situativ und basierend auf der Ausstattung der jeweiligen Koordinationssituation entscheiden, welches Handlungsregime angemessen ist und ggf. zwischen Handlungsregimes wechseln (Diaz-Bone 2018a; Vogel 2019). Akteurinnen und Akteure verfügen also über die Fähigkeit, solche Wechsel zu handhaben. Stephan Dahmen (2019) analysierte und rekonstruierte diese sogenannte «skill in the ‹art of composition›» (Dahmen 2019; Thévenot 2014) für Berufe im Bereich der Sozialen Arbeit und Luca Pattaroni (2006) für den Pflegebereich. Raphael Vogel (2019) hat diese Wechsel zwischen den Handlungsregimes systematisiert und konzeptualisiert sowie deren Verhältnis zu den Konventionen aufgegriffen und diskutiert.

Als Zusammenfassung dieser Ausführung zum theoretischen Rahmen der EC kann festgehalten werden, dass die EC davon ausgeht, dass Menschen ihr Handeln in von Unsicherheit geprägten Situationen der Evaluation, der Rechtfertigung sowie der Koordination an sogenannten Konventionen ausrichten. Konventionen sind überindividuelle und historisch herausgebildete allgemeine Prinzipien der Rechtfertigung (Rechtfertigungsordnungen), der Evaluation (Wertigkeitsordnungen) oder der Koordination (Handlungsordnungen bzw. Koordinationslogiken). Für den Bereich der Bildung haben sich bisher die staatsbürgerliche, die industrielle, die häusliche, die marktliche, die rufförmige, die projektförmige sowie die inspirierte Konvention als bedeutsam erwiesen. Akteurinnen und Akteure können die Reichweite von Konventionen durch Investitionen in Form vergrößern, was u. a. bedeutsam dafür ist, wie Macht in einer sozialen Aushandlungssituation distribuiert ist. Entsprechend treten Konventionen nicht nur auf diskursiver Ebene zutage, sondern sind auch in der soziomateriellen Ausstattung der Situationen, in denen Akteurinnen und Akteure handeln, formatiert, verankert und ggf. sogar objektiviert. Den mit einer reflexiven Kompetenz ausgestatteten Akteurinnen und Akteuren steht dabei in jeder Situation eine Vielzahl möglicher Konventionen als Bezugslogiken zur Verfügung, um u. a. ihre Evaluation und Begründung darauf zu referenzieren. Entsprechend können diese unterschiedlichen Konventionen situativ im Widerspruch zueinanderstehen, was zu Kritik und Konflikten und/oder zu einem Kompromiss zwischen Konventionen führen kann. Solche Momente des Disputs oder der Kritik bedürfen der Klärung mittels einer Prüfung, in der sich Konventionen bewähren müssen. Zusätzlich zu diesem Handlungsmodus, der einem öffentlichen Rechtfertigungsdruck unterliegt, kennt und differenziert die EC weitere Handlungsmodi, die nicht der öffentlichen Rechtfertigung bedürfen: das Handeln im Vertrauten sowie das planende Handeln.

3.7 Theoriegeleitete Spezifizierung der Forschungsfragen

Für die Untersuchung der ersten Hauptfrage nach der Positionierung der FMS Gesundheit neben der BGB FaGe wurden folgende forschungsleitenden Fragen formuliert:

  1. 1.

    Wie positioniert(e) sich die allgemeinbildende FMS Gesundheit neben der BGB FaGe als Gesundheitsausbildung auf der Sekundarstufe II des Schweizer Bildungssystems?

    • Welche Ausbildungsqualitäten erachten unterschiedliche Akteurinnen und Akteure als bedeutend bzw. legitim für ein Ausbildungsprogramm auf der Sekundarstufe II im Bereich Gesundheit? Auf welche Konventionen beziehen sich die Akteurinnen und Akteure in ihren Evaluationen und Begründungen? Welche Konventionen haben sich durchgesetzt und Mächtigkeit erlangt, welche wurden hingegen zurückgedrängt?

    • Inwiefern führte die Referenz der Akteurinnen und Akteure auf unterschiedliche Konventionen zu Disputen und Kritik? Welche Critical Moments lassen sich ausmachen? Welche Kompromisse waren die Akteurinnen und Akteure bereit einzugehen?

    • In welche Formen haben die Akteurinnen und Akteure investiert, um die bildungssystemische Positionierung ihres Ausbildungsprogramms auf der Sekundarstufe II abzusichern? Welche Kosten, i. S. von Opfern, waren damit verbunden und welcher Nutzen ging damit einher?

Für die Untersuchung der zweiten Hauptfrage nach der Profilierung der beiden Ausbildungsprogramme wurden folgende forschungsleitende Fragen formuliert:

  1. 2.

    Wie bzw. über welche Ausbildungsqualitäten/-spezifika profiliert sich die FMS Gesundheit heute als Ausbildungsprogramm auf der Sekundarstufe II im Vergleich zur BGB FaGe?

    • Basierend auf welchen Konventionen valorisieren die Akteurinnen und Akteure die Ausbildungseigenschaften der beiden Ausbildungsprogramme? Welche Konflikte und Kompromisse sind dabei erkennbar?

    • Inwiefern sind diese Konventionen in der Soziomaterialität der Ausbildungssituation (z. B. Unterrichtsmaterialien und Schulräumlichkeiten) verankert?

    • In welche Formen investieren Akteurinnen und Akteure, um die Mächtigkeit einer Konvention in Bezug auf die Profilierung des jeweiligen Ausbildungsprogramms auszuweiten und zu stabilisieren?

    • Welche Dispositive der Valorisierung lassen sich in den beiden Ausbildungssituationen FMS Gesundheit und BGB FaGe identifizieren?