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Berufliche Identifikation und biopolitische Anforderungen in der Erwerbsarbeitslosigkeit

Anna Weidenholzers Roman Der Winter tut den Fischen gut

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Arbeit – Job – Beruf

Zusammenfassung

Das Sozialsystem Deutschlands wurde Anfang des 21. Jahrhunderts mit den vier „Hartz-Gesetzen“ (2002/2003) und der „Agenda 2010“ (2003/2005) grundlegend reformiert. Spätestens mit dieser arbeitsmarktpolitischen Umorientierung stellt die Gesellschaft in neoliberalem Geist die Eigenverantwortung von Erwerbsarbeitslosen heraus. Neuere Arbeitslosenromane führen vor, welche Auswirkungen diese Entwicklungen auf betroffene erwerbsarbeitslose Menschen haben können. Dies zeigt der vorliegende Beitrag am Beispiel der Protagonistin Maria aus Weidenholzers Roman Der Winter tut den Fischen gut (2012).

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Notes

  1. 1.

    Rückblickend wird die sozialgesetzliche wie behördliche Umstrukturierung als „Umbau des Wohlfahrtsstaates von einem welfare state in einen workfare state“ bezeichnet. Vgl. Franz Segbers: Das Menschenbild von Hartz IV. Die Pädagogisierung von Armut, die Zentralität von Erwerbsarbeit und autoritärer Sozialstaat. In: Handbuch Therapeutisierung und Soziale Arbeit. Hg. v. Marcus Balzereit und Roland Anhorn. Wiesbaden 2016, S. 687–708, hier 687. Workfare bezeichnet eine mit Arbeitspflicht verbundene Sozialfürsorge, die im Gegensatz zum Wohlfahrtsstaat steht. Das prägende Motto der deutschen Sozialpolitik lautet seitdem „Fördern und Fordern“ und kann auch als Euphemisierung des angelsächsischen Mottos „help and hassle“ gelesen werden (vgl. ebd.). Zur Forschung zu biografischen Diskontinuitäten aus der Perspektive der Arbeitswissenschaften siehe die Beiträge von Ulrike Frosch und Dana Bergmann in diesem Band.

  2. 2.

    Vgl. Jakob Hein: Herr Jensen steigt aus. Roman 2006; Robert Naumann: Ich hartz dann mal ab. Bekenntnisse eines kleinen Schmarotzers. Reinbek 2011; Anna Weidenholzer: Der Winter tut den Fischen gut. Roman. St. Pölten [u. a.] 2012, Sigle (Wei); Marc-Uwe Kling: Die Känguru-Trilogie. Berlin 2015, davon v. a. Das Känguru-Manifest. Berlin 2011. Oder auch: Joachim Zelter: Schule der Arbeitslosen. Ein Roman. Tübingen 2006.

  3. 3.

    Der vorliegende Aufsatz ist eine gekürzte Fassung eines Kapitels meiner Dissertation. Die ausführliche Analyse zu Anna Weidenholzers Roman findet sich in: Lydia Mühlbach: Von Nicht-Arbeit erzählen. Erwerbsarbeitslosigkeit in der Gegenwartsliteratur. Paderborn 2022, S. 141–201. Einige Textteile sind identisch.

  4. 4.

    In Österreich ist ‚das Arbeitsmarktservice‘ für Erwerbsarbeitslose zuständig. Als Dienstleistungsunternehmen des öffentlichen Rechts ist es vergleichbar mit der deutschen Bundesbehörde ‚Bundesagentur für Arbeit‘. Beide Institutionen übernehmen Funktionen eines öffentlich-rechtlichen Arbeitsamtes und sind der aktivierenden Arbeitsmarktpolitik verpflichtet.

  5. 5.

    Das ist eine andere Literatursparte, die ebenfalls kritisches Potential hat; vgl. z. B. Ernst-Wilhelm Händler: Wenn wir sterben. Roman. Frankfurt a. M. 2002; Kathrin Röggla: Wir schlafen nicht. Roman. Frankfurt a. M. 2004.

  6. 6.

    Die Wahl der grammatischen Form bezieht sich auf Personen allen Geschlechts.

  7. 7.

    Die Länge der Kapitel variiert von drei Sätzen (z. B. Kapitel 24, Wei 138) bis zu zehn Seiten (z. B. Kapitel 33, Wei 108–118). Die Rahmen- und die Binnengeschichte sind durch die Erzählebene und das Tempus formal voneinander zu unterscheiden. Die beiden Teile der Rahmenerzählung mit den Überschriften „Wenn“ und „Jetzt“ sind als ein innerer Monolog der Protagonistin Maria Beerenberger gestaltet, die ein zukünftiges Gespräch zwischen sich und einem unbekannten Mann in dessen Büro imaginiert.

  8. 8.

    Die anonyme Erzählinstanz begleitet die Figur Maria in präsentischer Erzählweise und vornehmlich im mimetischen Modus. Der Geschehenszeitpunkt des jeweiligen erzählten Ereignisses vermittelt in den Kapiteln jeweils eine fingierte Erzählgegenwart, die das vergangene Geschehen zu vergegenwärtigen sucht. Das erzeugt stellenweise einen dokumentarischen Stil. Innerhalb der Kapitel springt die Erzählinstanz häufig auf der Zeitachse hin und her und nutzt narrative Anachronien, um Marias Verhalten biografisch zu kontextualisieren, wodurch zahlreiche Prolepsen und Analepsen unterschiedlichster Länge in den Erzähltext eingeflochten werden. Häufig genutzt wird die erlebte Rede, und zum Teil scheinen die Stimmen der heterodiegetischen Erzählinstanz und der Figur Maria zu verschmelzen. Dennoch tritt die Erzählinstanz stellenweise offen auf und präsentiert Wissen, über welches die Figur Maria ausdrücklich nicht verfügt, beispielsweise bei welcher Zahl Maria einschläft (vgl. Wei 92) oder was Figuren außerhalb von Marias Hörweite sagen (vgl. Wei 156). Oder es wird spekuliert, was die Figur Maria denken würde, wenn sie zu einem bestimmten Zeitpunkt einen besseren Informationsstand gehabt hätte (vgl. Wei 137). Mit solchen retrospektiven Vermutungen sucht die Erzählinstanz die motivationale Einstellung der Figur Maria zum erzählten Zeitpunkt zu unterstreichen. Diese Erzähltechnik könnte aber auch dazu dienen, die Erzählperspektive zu verschleiern.

  9. 9.

    Durch Anlage der Rahmenerzählung ist die Binnenerzählung in zwei Teile gegliedert. Quantitativ nimmt die erste Binnenerzählung größeren Raum ein. Der erste Erzählabschnitt erstreckt sich über 32 Kapitel (Wei 7–143), der zweite über 22 Kapitel (Wei 147–234).

  10. 10.

    Z. B. Michel Foucault: Die Geburt der Biopolitik. Geschichte der Gouvernementalität II. Vorlesung am Collège de France 1978–1979. Hg. v. Michel Sennelart. Frankfurt a. M. 2006. Das Foucaultsche Konzept der Biopolitik beschreibt die politische Steuerung von Lebensprozessen. Unter dem Begriff ‚Biopolitik‘ (auch ‚Biomacht‘) versteht er eine Form der Macht, eine spezifisch ökonomisch-politische Handlungsweise, die „Gesundheit, Hygiene, Geburtenziffer, Lebensdauer“ einer Bevölkerung, verstanden als „eine Gesamtheit von als Population konstituierten Lebewesen“ analysiert, charakterisiert und letztlich auch steuert. Ebd., S. 435. Der Begriff zielt „auf die Entwicklung, Steigerung oder Verbesserung von Lebensprozessen“ und vereint in seiner Bedeutung zwei politische Technologien: Disziplinierung des Körpers und Regulierung der Bevölkerung. Vgl. Andreas Folkers und Thomas Lemke: Einleitung. In: Biopolitik. Ein Reader. Hg. v. Andreas Folkers und Thomas Lemke. Berlin 2014, S. 7–61, hier S. 11–13. Biopolitik sucht also das Verhältnis von Leben und Politik „relational zu fassen und theoretisch zu verklammern, ohne sie aufeinander zu reduzieren oder sie einander gegenüberzustellen. […] Die Stärke des von Foucault konzipierten Begriffs der Biopolitik liegt gerade darin, dass er einen analytischen Brückenschlag erlaubt, der die Materialität von Lebensprozessen mit Formen politischen Handelns verknüpft und die Sicherung und Bewahrung des Lebens mit dessen Einschränkung und Zerstörung zusammen denkt.“ Ebd., S. 53.

  11. 11.

    Foucault: Geburt der Biopolitik (wie Anm. 10), S. 261. Diese Theoretisierung öffnet die Analyse von Macht, um die Beziehungen zwischen den verschiedenen Machtmechanismen zu untersuchen. Die differenzierte Betrachtung von Macht und Herrschaft ermöglicht es einerseits, die Regierung als verbindendes Glied zwischen Macht und Herrschaft zu verorten. Andererseits tritt die vermittelnde Funktion zwischen Macht und Subjektivität hervor, wodurch Regierungs- und Selbstregierungstechnologien gemeinsam in den Fokus der Untersuchung geraten. Vgl. Thomas Lemke, Ulrich Bröckling und Susanne Krasmann: Gouvernementalität, Neoliberalismus und Selbsttechnologien. Eine Einleitung. In: Ulrich Bröckling, Susanne Krasmann und Thomas Lemke: Gouvernementalität der Gegenwart. Studien zur Ökonomisierung des Sozialen. Frankfurt a. M. 2000, S. 7–40.

  12. 12.

    Vgl. Foucault: Geburt der Biopolitik (wie Anm. 10), S. 106. Während sich der Diskurs auf das Sagbare bezieht, bringt das Dispositiv Sagbares und Sichtbares zusammen. „Bei einem Dispositiv handelt es sich erstens um ein heterogenes Ensemble aus unterschiedlichsten Elementen, die zweitens auf ein Gesamtziel hin organisiert sind und zusammenwirken.“ Entscheidend ist hierbei, dass das Zusammenwirken der verschiedenen Elemente und Strategien nicht strategisch intendiert ist. Vgl. Keller: Michel Foucault. Konstanz 2008, S. 93 f.

  13. 13.

    Sennelart: Situierung der Vorlesungen. In: Foucault: Geburt der Biopolitik (wie Anm. 10), S. 445–489, hier S. 484.

  14. 14.

    Die Regierung ist als Regierungspraxis der Gouvernementalität zu verstehen, wobei Gouvernementalität stets als übergeordnete Regierungsform fungiert. Zur ausführlichen Darstellung und Diskussion des Foucault’schen Begriffs der Regierung siehe Thomas Lemke: Eine Kritik der politischen Vernunft. Foucaults Analysen der modernen Gouvernementalität [1997]. Neuausgabe. Hamburg 2014.

  15. 15.

    Ihr genügt oftmals das Beobachten von Dingen, Tieren, Menschen etc., z. B. auf dem Jahrmarkt (vgl. Wei 102) sowie auf dem Wochenmarkt ‚schaut sie nur‘ (vgl. Wei 16). Ihre Genügsamkeit zeigt sich auch in ihrem Ernährungsverhalten (vgl. Wei 95 f., s. u.).

  16. 16.

    Beispielsweise gewinnen banale Sätze wie „Ein Schneckenhaus hält länger als die Schnecke darin.“ (Wei 166) ihre Bedeutung erst durch das Vorwissen der Leser*innen um die Entlassung.

  17. 17.

    Ebenso stehen die Träume und Ziele anderer Figuren ihrer jeweiligen Lebensrealität entgegen, beispielsweise verreist Nachbarin Isolde nicht mehr und Ehemann Walter scheitert als Elvis-Imitator kläglich.

  18. 18.

    Ein eingängiges Beispiel bildet die Textstelle, in der vom Zeitvertreib durch Dimmen des Lichts erzählt wird (vgl. Wei 51 f. und 55).

  19. 19.

    „Weiß passt zu Blau und Blau nicht zu Schwarz. Achten Sie auf die Farben, sagte Herr Willert. Herr Willert trug Grau und manchmal auch Dunkelblau; gedeckte Farben, wie er sagte, Männer und Frauen wirken in gedeckten Farben seriös, Frauen auch in Pastell.“ (Wei 11).

  20. 20.

    Menschen, die innerhalb von vier Monaten keine neue Arbeitsstelle finden, kommen in die Beratungszone (vgl. Wei 137).

  21. 21.

    Als noch inoffizieller Juniorchef steht der junge Willert im Kündigungsgespräch für eine neoliberale Lebenseinstellung. Die Entlassung wird – hier einseitig aus der Unternehmerperspektive geschildert – als Befreiung verstanden, der ein neoliberaler Freiheitsbegriff zugrunde liegt. „Mit Zeitausgleich und vier Wochen Resturlaub müssten Sie noch eine Woche kommen, wir meinen es gut mit Ihnen, wir stellen Sie ab morgen frei, das ist ein tolles Angebot, sagt der Sohn“ (Wei 141). Diese Beschönigung der Entlassungssituation übersieht beziehungsweise verdrängt die Konsequenz, welche gerade aus dieser Wettbewerbsperspektive heraus Marias Alter zum Wettbewerbsnachteil werden lässt. Maria wird auf diese Freiheit, sich wieder neu in Gesellschaft und Wettbewerb situieren zu müssen, verpflichtet: „Sehen Sie, Frau Maria, das ist Ihr Leben. Da ist noch viel Platz bis zum Ende, wie alt sind Sie, siebenundvierzig, sehen Sie, Sie stehen hier, sagt er und zieht einen senkrechten Strich. Sie haben noch viele Jahre vor sich, freuen Sie sich, es ist nicht selbstverständlich, in diesem Alter noch die Möglichkeit zu bekommen, sein Leben neu zu gestalten. Sehen Sie es positiv, sagt Herr Willerts Sohn, Sie haben jetzt die Freiheit, von vorn zu beginnen.“ (Wei 142).

  22. 22.

    Dieser Umstand wirkt umso paradoxer, da gerade angesichts einer zunehmend alternden Gesellschaft (auch in Österreich) und vor dem Hintergrund der Anhebung des Rentenalters, das die sogenannte Lebensarbeitszeit verlängert, 47 Jahre (so alt ist Maria bei ihrer Entlassung) nicht als ein Alter gelten sollte, das zu einer benachteiligten (Konkurrenz-)Situation auf oder gar zu einem Ausschluss aus dem ersten Arbeitsmarkt führt; für diesen Hinweis danke ich Stephan Freund.

  23. 23.

    Dass die Kündigung der Willerts kein „tolles Angebot“ für Maria darstellt, sondern eher für das Modegeschäft Willert, wissen die Leser*innen. So verfügen die Rezipient*innen an dieser Stelle bereits über das Wissen, dass die Protagonistin bei viermonatiger Weiterbeschäftigung eine höhere Abfindung erhalten hätte und dass die vermeintliche Einvernehmlichkeit der Kündigung ebenfalls finanzielle Nachteile im Arbeitsmarktservice für Maria mit sich bringt, wodurch die Scheinheiligkeit des Chefs besonders deutlich vorgeführt wird.

  24. 24.

    Soziologisch betrachtet wird hier von der Literatur her vorgeführt, wie der Trainer primär Hilfsbedürftigkeit konstituiert und folglich auch weitere Beratungstätigkeit, wodurch die Beratung als Technik der Optionalisierung hervortritt: „Evaluation stellt Beratungsbedarf her“. Boris Traue: Das Optionalisierungsdispositiv. Diskurse und Techniken der Beratung. In: Diskursanalyse meets Gouvernementalitätsforschung. Perspektiven auf das Verhältnis von Subjekt, Sprache, Macht und Wissen. Hg. v. Johannes Angermüller und Silke van Dyk. Frankfurt a. M. [u. a.] 2010, S. 237–260, hier S. 254.

  25. 25.

    „Ein Rucksack wäre gesünder, aber eine Frau trägt keinen Rucksack. Eine Frau trägt immer eine passende Handtasche, eine Frau kann niemals genügend Handtaschen besitzen, sagte Herr Willert“ (Wei 49).

  26. 26.

    Maria achtet auch auf die Nägel anderer, z. B. auf die von Stefan Willert (vgl. Wei 140).

  27. 27.

    Der Geschäftsinhaber Herr Willert begründet die Kündigung eingangs folgendermaßen: „Frau Maria, ich habe schlechte Nachrichten. Der Boutique geht es nicht gut, die Zeiten, Sie wissen bestimmt, Sie wissen, wie die Zeiten sind. Ich komme gleich zum Punkt […]. Herr Willert reibt seine Augen, er sagt: Maria, wir werden uns von Ihnen trennen, es tut mir leid, wir können Sie nicht mehr halten. […] Herr Willert sagt, wir sehen keine andere Möglichkeit. Sie lesen doch Zeitung, Sie wissen doch.“ (Wei 140). Neben der banalen Begründung der unguten Geschäftslage und einer sehr abstrakten Argumentation mit den ‚schlechten Zeiten‘, womit Geschäftsleiter Willert bruchstückhaft auf die ökonomischen Umstände hinzuweisen versucht, deutet seine Wortwahl darauf hin, dass er die langjährige Mitarbeiterin Maria derzeit als (ökonomische) Belastung für die Boutique einschätzt.

  28. 28.

    Die Aussage des Beraters stellt Marias Situation einerseits in eine Relation zu anderen Erwerbsarbeitslosen, denn ein Branchenwechsel in den Lebensmittelbereich sage vielen Verkäufer*innen nicht zu. In diesem Bereich bestehen andere fachliche Anforderungen. Andererseits stellt die Aussage eine Drohung dar, wenn er im Gegenzug suggestiv einen möglichen Einsatz als Reinigungskraft erwähnt. Es handelt sich zwar auch um eine Erwerbsarbeit im Dienstleistungssektor, hier könnte Maria aber lediglich im Bereich von Hilfsarbeiten tätig werden (Maria ist keine ausgebildete Gebäudereinigerin). Der Berater spielt an dieser Stelle mit dem Abhängigkeitsverhältnis seiner Klientin, schließlich schafft er mit seinen Stellenvorschlägen die Rahmenbedingungen für Marias Bewerbungsverpflichtungen und trifft daher auch Entscheidungen, die Marias zukünftiges Leben betreffen.

  29. 29.

    Neben der Forderung „sollten Sie mit ihr die Möglichkeit einer Umschulung besprechen“ (Wei 82) erzeugt er auch Druck mit folgendem Nachsatz „je länger Sie weg vom Markt sind, desto schwieriger wird es.“ (Wei 82).

  30. 30.

    „Weil ich ein einziges Mal Nein gesagt habe, hat er mich gesperrt.“ (Wei 56 f.).

  31. 31.

    Durch Kursivierung hervorgehobene Sätze wie „Machen Sie konsequent, systematisch, parallel, schnell und viel.“ (Wei 9) können aus der Geschichte heraus als zitierte Textstellen eines Motivationsratgebers gedeutet und mit Äußerungen neoliberal eingestellter Figuren (Chef oder Arbeitsmarktservice) parallelisiert werden. In der Erzählung werden diese als branchenunabhängige und vor allem allgemeingültige Diskurse ausgewiesen, die auch die Gruppe der Erwerbsarbeitslosen einbeziehen. Die meisten Aussagen der Ratgeberliteratur beziehen sich auf die eigene Persönlichkeit und damit auf die Verantwortung des Individuums: „Haben Sie an irgendeiner Stelle einen Fehler gemacht? Behalten Sie stets die Macht über die Situation, indem Sie machen.“ (Wei 118). Strukturelle und sozialpolitische Hintergründe haben keinerlei Relevanz, vielmehr wird von einer ahistorischen und universellen Gültigkeit ausgegangen. „Jeder Tag Arbeitslosigkeit kostet Sie Geld. Mit jedem Tag Arbeitslosigkeit verlieren sie an Marktwert. […] Wenn die 90 Tage zu Ende gehen und Sie noch keine neue Arbeit haben, dann lesen Sie das Kapitel 91: Endzeit.“ (Wei 55 f.). Der erzählte Umstand, dass Maria diese Worte gelesen hat, als sie seit 16 Monaten „ohne Arbeit“ (Wei 56) ist, pointiert die Divergenz zwischen den Ratgebern und der Realität der Erwerbsarbeitslosen.

  32. 32.

    Siehe dazu Ulrich Bröckling: Das unternehmerische Selbst. Soziologie einer Subjektivierungsform. Frankfurt a. M. 2007.

  33. 33.

    Zur Deutung als sozial isoliert, vgl. z. B. Sigrid Löffler: Anna Weidenholzer: „Der Winter tut den Fischen gut“, Rezension für Deutschlandradio Kultur. Berlin 2013.

  34. 34.

    Im Text wird angedeutet, dass der Suizid des Onkels mit dessen Erwerbsarbeitslosigkeit in Zusammenhang steht (vgl. Wei 14, 231 f.).

  35. 35.

    Für die anregende Idee zum Vergleich von Erzählliteratur mit biografischen Interviews von Erwerbsarbeitslosen aus der gesellschaftswissenschaftlichen Arbeitsforschung danke ich Michael Dick. Interessanterweise führte Autorin Weidenholzer vor der Niederschrift des Romans selbst Interviews mit langzeitarbeitslosen Frauen durch. Vgl. Interview mit Anna Weidenholzer. Gespräch mit Günter Eisenhuber. In: [Pressedossier] Anna Weidenholzer. Residenz-Verlag 2013, S. 6–8, hier S. 7. Diese Interviews regten Weidenholzer auch zur Anlage des Romans als Rückwärtserzählung an (vgl. ebd.). Zudem nutzte sie zur Vorbereitung und Recherche für das Buch u. a. die Studie von Marie Jahoda, Paul F. Lazarsfeld und Hans Zeisel: Die Arbeitslosen von Marienthal. Ein soziographischer Versuch über die Wirkungen von langandauernder Arbeitslosigkeit. Leipzig 1933. Als Material gibt sie außerdem die österreichische Dokumentation von Angela Summereder „Jobcenter“ von 2009, an. Diese Umstände unterstreichen die enge Verwobenheit von realen gesellschaftlichen Gegebenheiten und literarischen Erzählungen in den Bereichen der Textgenese und Rezeption.

  36. 36.

    Die Verkäuferinnen treten mehrheitlich in der Textsequenz auf, die Maria im Kurs für Erwerbsarbeitslose beschreibt.

  37. 37.

    Vgl. dazu den Beitrag von Heike Ohlbrecht in diesem Band.

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Mühlbach, L. (2022). Berufliche Identifikation und biopolitische Anforderungen in der Erwerbsarbeitslosigkeit. In: Dick, M., Freund, S., Ohlbrecht, H., Unger, T. (eds) Arbeit – Job – Beruf. Magdeburger Forschungen zu Bildungs-, Kultur- und Sozialwissenschaften. Springer VS, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-658-36320-8_6

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