Zusammenfassung
Kathrin Westhölter und Andreas Bock liefern in ihrem Beitrag eine konstruktivistische Betrachtung der medialen Modellierbarkeit von Krisen. Sie beschreiben Krisen als konstruierte kommunikative Szenarien und verdeutlichen durch drei Fallanalysen, wie selbst Kommunikationsprofis in Krisenfallen tappen können. Ihre brisante These lautet: Die Qualität einer Krise zeichnet sich weniger durch den Auslöser aus, als vielmehr durch den kommunikativen Umgang mit diesem Stimulus. Pragmatisch formuliert: Die Kommunikation über ein Ereignis – und eben nicht das Ereignis selbst – entscheide letztlich über das krisenhafte Ausmaß eines Ereignisses.
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Dass Krisen kommunikative Krisen sind, die nicht einmal einen Auslöser (Stimuli) im herkömmlichen Sinne brauchen, musste die Unternehmserbin Verena Bahlsen im Mai 2019 feststellen. In ihrem Vortrag auf der Online Marketing Rockstars (OMR) Konferenz in Hamburg hatte sie erklärt: „Ich bin Kapitalistin. Mir gehört ein Viertel von Bahlsen, das ist toll. Ich will mir’ne Segel-Yacht kaufen und solche Sachen.“ (Kapalschinski, 2019). Eine Aussage, die Bahlsen zunächst Kritik und den Vorwurf einbrachte, ihr Reichtum gründe sich auch auf die Ausbeutung von Zwangsarbeitern im Dritten Reich (Zörner, 2019). Mit nur einem weiteren Satz konstruierte Bahlsen dann aus dieser Kritik eine Krise: „Das war vor meiner Zeit, und wir haben die Zwangsarbeiter genauso bezahlt wie die Deutschen und sie gut behandelt.“ (Zörner, 2019) Diese Aussage löste internationale Kritik aus, der britische Telegraph und die New York Times berichteten über Bahlsen (Zeit Online, 2019). In den sozialen Medien trendete der Hashtag #bahlsenboykott, und der SPD-Politiker Christopher Lauer rief eine Petition ins Leben, die fordert, dass Verena Bahlsen ein Freiwilliges Soziales Jahr absolvieren solle (Zörner, 2019).
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Als die neue A-Klasse von Mercedes Benz beim sogenannten Elchtest während der Fahrt kippte, war dies der GAU für den Automobilhersteller (Frankfurter Rundschau, 2017). Als Hersteller von Fahrzeugen im Premiumsegment hatte sich die Daimler-Tochter als Garant für hohe Qualität und vor allem Sicherheit gesehen. Dass sich ein neues Auto im Test als nicht straßenverkehrstauglich herausstellt, schien mit dem Unternehmensimage unvereinbar. Das Echo in den Medien und der Autobranche war gewaltig. Daimler kommunizierte besonnen und einsichtig und setzte, nach anfänglicher Zurückhaltung, auf einen offenen Umgang mit dem Fehler. Die Produktion der A-Klasse wurde zunächst gestoppt, und der Konzern entschied sich für die Aufrüstung der Fahrzeuge. Das Elektronische Stabilitätsprogramm (ESP) wurde serienmäßig verbaut (Kohlert, 2009). Zudem bewies der Autohersteller Humor und gab den Fehler öffentlich zu: die Kunden bekamen Stofftier-Elche geschenkt, und in einer Werbekampagne erklärte Tennisspieler Boris Becker: „Stark ist, wer keine Fehler macht. Stärker, wer aus seinen Fehlern lernt.“ (Automobilwoche, 2017) Am Ende nutzte Daimler den Elchtest positiv, um sich als Innovator im Bereich aktiver automobiler Sicherheit darzustellen, denn seit 2011 sind in der EU alle neu zugelassenen Pkw-Modelle mit ESP ausgestattet.
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Dem gesprochen oder geschriebenen Wort (Sachebene) – und noch vielmehr dem nonverbalen und zum Teil unbewusst wahrgenommenen, aber prägenden Teil der Kommunikation (Watzlawick et al., 1967) gebührt eine Macht, die stärker sein kann, als Macht, die qua Amt, Status oder Reputation ausgeübt werden kann. Das gerät sogar hinter dem Amt des Bundespräsidenten oft in Vergessenheit: Auch das Staatsoberhaupt in Deutschland, das gemäß Urteil des Bundesverfassungsgerichts im „Krisenfall […] zu politischen Leitentscheidungen berufen“ ist (BVerfG, 2014), regiert (allein) mit der Macht des Wortes.
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Westhölter, K., Bock, A. (2022). Kommunikation – der Stoff, aus dem Krisen sind. Eine konstruktivistische Betrachtung der kommunikativen Modellierbarkeit und (De-) Konstruktion von Krisen. In: Beuthner, M., Bomnüter, U., Kantara, J.A. (eds) Risiken, Krisen, Konflikte. Springer VS, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-658-36195-2_3
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