Im folgenden Kapitel wird ausgeführt, wie die Theorieperspektive der EC in dieser Studie methodologisch und forschungspraktisch umgesetzt wurde. Erklärtes Ziel ist der «methodische Holismus», das heißt eine Abstimmung zwischen den theoretischen Annahmen über die Beschaffenheit des Sozialen (oder der «Wirklichkeit»), den entsprechenden Forschungsstrategien um dieses Soziale zu erfassen, und den konkreten Forschungsinstrumenten und dem forschungspraktischen Vorgehen im Rahmen der Datenerhebung und -analyse (Diaz-Bone 2018, S. 369, 2010, S. 184) (Abschn. 4.1).

Dazu wird die Auswahl und Beschaffenheit der empirischen Datenbasis sowie der zu untersuchenden Fälle und Erhebungseinheiten erläutert und vor dem Hintergrund der bisherigen empirischen Forschung sowie der Theorieperspektive der EC begründet (Abschn. 4.2). Es werden die zur Anwendung gekommenen methodischen Werkzeuge respektive Strategien der Datenerhebung und -analyse skizziert, begründet und ein Einblick in die konkrete Forschungspraxis gegeben (Abschn. 4.3 und 4.4).

Die konkrete Forschungs-, Erhebungs- und Auswertungsstrategie entwickelte sich in einem iterativ-zyklischen Prozess zwischen Entwicklung des Erkenntnisinteresses und der konkreten Fragestellung, Auseinandersetzung mit dem Forschungsstand und der theoretischen Perspektive der EC sowie den ersten Schritten der Datenerhebung und -analyse. Dieses iterativ-zyklische Vorgehen entspricht dem Paradigma qualitativer Sozialforschung im Allgemeinen und greift insbesondere Prämissen des amerikanischen Pragmatismus auf (siehe etwa Kruse 2016, S. 94 oder Strübing 2018). Im Weiteren liegt es darin begründet, dass in der EC bisher kein fester oder einheitlicher Kanon an Forschungs- und Auswertungsstrategien existiert (Diaz-Bone 2018, S. 389).Footnote 1

4.1 Theoretische Prämissen und methodologische Konsequenzen

Der theoretische Rahmen der EC und ihr erkenntnistheoretischer Hintergrund haben methodologische Konsequenzen. Von zentraler Bedeutung ist die Ablehnung eines Mehrebenenmodells von Gesellschaft zugunsten eines Fokus auf die Situation und die Reichweite von Konventionen in dieser Situation. Da die EC den Akteur*innen eine nur unvollständige Rationalität zuerkennt und sie auf die soziale und materielle Umwelt für ihr Handeln angewiesen sind, konzentriert sich das Forschungsinteresse darauf, wie Akteur*innen diese Situationen handlungspraktisch mit Bezugnahme auf Konventionen (sowie gestützt auf Objekte) bewältigen, bewerten und rechtfertigen.

Auch Institutionen im Sinne von Regeln sind aus Sicht der EC unvollständig, und die Akteur*innen müssen diese in der konkreten Situation konventionenbasiert interpretieren. Daher gilt das Interesse der Frage, mit Bezug auf welche Konventionen Akteur*innen diese Institutionen/Regeln wie interpretieren und handlungspraktisch umsetzen (Diaz-Bone 2018, S. 372). Als besonders geeignete Situationen der Untersuchung eignen sich sogenannte «kritische Momente», in denen Wertigkeiten von Personen, Objekten, Handlungen oder Prozessen geklärt werden müssen.

Methodologisch wird eine «pragmatische Innenansicht» dieser Situationen angestrebt (ebd., S. 377). Dabei geht es nicht darum, im Nachhinein ein externes Kriterium, einen externen Kontext oder eine externe Logik zur Interpretation der Situation heranzuziehen, sondern Forschende sollen explizit den Handlungssinn der jeweiligen Akteur*innen im jeweiligen Moment (historisch oder aktuell) «von innen heraus» nachvollziehen (ebd.). Dabei wird nicht davon ausgegangen, dass Forschende «mehr» wissen als die untersuchten Akteur*innen selbst, sondern sie versuchen die Perspektive der Akteur*innen in der jeweiligen Situation zu rekonstruieren (ebd., S. 374). Erst in einem zweiten Schritt geht es um die Erklärung der untersuchten Situation.

Mit dem Fokus auf die konkrete Handlungspraxis der Akteur*innen wird der pragmatische Aspekt der EC methodologisch umgesetzt. Das strukturalistische Element der EC wird dadurch berücksichtigt, dass nach den in der jeweiligen Situation durch die Akteur*innen mobilisierten relevanten Konventionen sowie deren Reichweite und Materialität gefragt wird. Die konkrete Handlungssituation respektive die Mikro- oder Interaktionsebene der Akteur*innen und ihrer Handlungen ist die empirisch zu beobachtende Ebene, in der die Makroebene (Konventionen) handlungspraktisch verwirklicht wird (ebd., S. 376).

Da die Mobilisierung von Konventionen in Situationen (bei der Rechtfertigung, Valorisierung oder Handlungskoordination) immer objektgestützt und gegebenenfalls im Rahmen eines ganzen «Dispositivs der Valorisierung» erfolgt, ist neben den Akteur*innen auch die Materialität einer Situation forschungspraktisch einzubeziehen. Sie umfasst die materiellen Objekte und kognitiven Formate ebenso wie Institutionen und Intermediäre. Während die diskursive Ebene einer konventionenbasierten Valorisierung durchaus über Interviews erfasst werden kann, verlangt die handlungspraktische Relevanz von Objekten und kognitiven Formen, dass auch sie in die Datenerhebung und -analyse einbezogen werden. Dies wird etwa durch Beobachtungen im Untersuchungsfeld möglich.

Im Fokus der Untersuchung und Analyse stehen historische oder gegenwärtige Situationen als situative Arrangements von Objekten, Personen, kognitiven Formaten, Koordinationserfordernissen und Institutionen (ebd., S. 375). Die Pluralität der zur Verfügung stehenden Konventionen erhöht die Komplexität dieser Arrangements.Footnote 2 Diese Pluralität muss ebenfalls in die methodologischen Überlegungen einbezogen werden. In einer Interviewsituation etwa sollte bei der Verwendung von sogenannten Containerbegriffen, welche häufig Kompromisse stützen und mehrere konventionenbasierte Interpretationen zulassen, eine entsprechende Nachfrage zur Klärung folgen. Wird beispielsweise als Begründung einer bildungspolitischen Maßnahme die «Durchlässigkeit des Bildungssystems» genannt, kann sich dahinter sowohl eine marktliche Begründung (durchlässige Bildungswege ermöglichen die Deckung von Nachfrage auf dem Arbeitsmarkt) oder eine staatsbürgerliche (gleiche Bildungsmöglichkeiten für alle) Argumentation verbergen. Deshalb sollte an dieser Stelle konkret nachgefragt oder in einem Dokument nach entsprechenden Hinweisen auf die zugrundeliegende Konvention gesucht werden.

Die Pluralität von Konventionen als «mögliche Arten und Weisen» (ebd., S. 325) der Koordination oder Bewertung verweist darauf, dass Situationen grundsätzlich kontingent sind. Dies entspricht der «Versionenhaftigkeit von Wirklichkeit» (Kruse 2014, S. 40), wie sie typisch für die rekonstruktive Sozialforschung ist (ebd., S. 145). Die Versionenhaftigkeit respektive die Kontingenz und Ko-existenz pluraler Konventionen verbietet die Frage nach der «wahren» Wirklichkeit. Wirklichkeit wird von den Akteur*innen handlungspraktisch hergestellt und es interessiert die Frage, welchen Sinn die so hergestellte Wirklichkeit für die handelnden Akteur*innen hat (ebd., S. 41).

Die Annahme der sozialen Konstruktion von Wirklichkeit bedeutet allerdings nicht, dass die beobachteten Akteur*innen völlig willkürlich, zufällig und rein subjektiv handeln, bewerten oder rechtfertigen. Sie tun dies – so der Standpunkt der EC – mit Rückgriff auf «sinnhafte[n] Regeln und Relevanzen, die rekonstruiert werden können» (ebd., S. 40). Konventionen sind solche Relevanzen, welche (moralische) Regeln hervorbringen (was etwa ein angemessenes, gerechtes oder mit Wertigkeit versehenes Vorgehen ist und was nicht), und das forschungspraktische Ziel ist die Rekonstruktion dieser Konventionen und ihrer Reichweiten sowie Dynamiken in einer Situation.

Die theoretischen und methodologischen Prämissen der EC, die bisherigen konventionentheoretischen Arbeiten im Bildungsbereich insbesondere von Derouet (1989, 1992) sowie Leemann und Imdorf (2019a) sowie für diese Studie forschungsleitenden Fragestellungen dienten als Basis für die Entwicklung einer Liste heuristischer Fragen. Diese Fragen leiteten sowohl die Datenerhebung – insbesondere die Konstruktion der Interviewleitfäden – als auch die Datenanalyse an. Sie ermöglichten einen systematischen Vergleich der Ergebnisse. Die Liste orientiert sich an den für die EC grundlegenden Fragen nach dem angestrebten Gemeinwohl, der Zuschreibung von Wertigkeit oder Größe als «Valorisierung», der Kritik und Rechtfertigung, sowie der Bezugnahme auf Objekte, kognitive Formate und weitere Elemente von Situationsarrangements:

  • Welche (Bildungs)ziele werden angestrebt und valorisiert (Gemeinwohl), welche kritisiert?

  • Welche (bildungspolitischen oder pädagogisch-didaktischen) Strategien, Maßnahmen und Praktiken werden als geeignet betrachtet und/oder handlungspraktisch angewandt, um diese Bildungsziele zu erreichen?

  • Welchen Aspekten und Spezifika der untersuchten Profile (etwa Schüler*innen oder Lehrpersonen, Wissensformen, didaktischen Strategien, Fächern/Lehrplaninhalten) wird Wertigkeit zugeschrieben?

  • Wie werden diese Wertigkeitsurteile begründet und gerechtfertigt?

  • Welche materiellen und kognitiven Formen bzw. Objekte stützen die Wertigkeitszuschreibung und auf welches Bildungsziel resp. Gemeinwohl sind sie ausgerichtet?

  • Welche Aspekte werden als Probleme, Herausforderungen oder Schwierigkeiten wahrgenommen und auf welche zugrundeliegende Konventionen verweist dies?

In Anlehnung an die konventionentheoretischen Überlegungen und Forschungsergebnisse von Derouet (1989, 1992) wurde der Fokus insbesondere für die Fragestellung nach den spezifischen Charakteristika und Spezifika der zu untersuchenden schulischen Profile auf die Dimensionen Bildungsziele, Wissensformen, Wissensvermittlung, die Beziehungen zwischen Schüler*innen und Lehrpersonen sowie die Beziehung zur «Aussenwelt» gelegt – welche im vorliegenden Fall vor allem die Beziehung zur Pädagogischen Hochschule als Abnehmerinstitution darstellt.

Ziel dieser Frageheuristik war nicht, empirische Resultate oder theoretische «Gewissheiten» vorwegzunehmen, sondern die theoretische Sensibilität zu schärfen (Diaz-Bone und Schneider 2008, S. 503) und angesichts des erheblichen Datenumfangs den Fokus aufrechtzuerhalten. Es wurde dennoch die Prämisse verfolgt, hinsichtlich möglicher erwarteter sowie auch unerwarteter Ergebnisse so viel Offenheit wie möglich zuzulassen (ebd.). Die EC als erkenntnistheoretische Hintergrundfolie diente in diesem Sinne als «empirisch nicht gehaltvolles Theoriewissen» (Kelle und Kluge 2010, S. 62), welches keine empirischen Resultate vorwegnimmt. Sie stellt jedoch Konzepte zur Verfügung, welche die theoriegeleitete Analyse empirischer Sachverhalte ermöglicht (ebd.).

Die forschungspraktischen Konsequenzen der EC gestalten sich für die drei forschungsleitenden Fragestellungen der vorliegenden Studie je unterschiedlich. Eine erste Übersicht über das Forschungsdesign ist Tab. 4.1 zu entnehmen, eine spezifische Erläuterung des jeweiligen Forschungsdesigns erfolgt getrennt nach Forschungsfragen in Abschn. 4.2.

Tab. 4.1 Kurzüberblick Forschungsdesign

4.2 Forschungsdesign

Der erkenntnistheoretische Hintergrund und methodologische Standpunkt der EC hat für jede der drei forschungsleitenden Fragestellungen methodologische Konsequenzen. Diese werden in den folgenden Abschnitten reflektiert und das sich daraus ergebende Forschungsdesign skizziert.

4.2.1 Rekonstruktion eines Institutionalisierungsprozesses

Die erste Fragestellung beschäftigt sich mit dem umkämpften Institutionalisierungsprozess der FMS Pädagogik angesichts der Tertiarisierungsreform in der Lehrpersonenbildung und der Wahrnehmung des Gymnasiums als «Königsweg» in die Pädagogischen Hochschulen (PH). Im Kontext der Auflösung der seminaristischen Lehrpersonenbildung und der Neuschaffung Pädagogischer Hochschulen mussten sich die kantonalen Erziehungsdirektoren (EDK) in einem interkantonalen Aushandlungs- und Koordinationsprozess auf Kriterien einigen, welche eine PH erfüllen muss, um ein gesamtschweizerisch anerkanntes Lehrdiplom abgeben zu dürfen.Footnote 3 Diese Kriterien sollten in einem entsprechenden Reglement (im Folgenden kurz «PH-Anerkennungsreglement») festgehalten werden. Dabei stand auch die Formulierung der PH-Zulassungsrichtlinien und damit die Frage zur Debatte, inwiefern auch Absolvierende der Fachmittel- bzw. ehemaligen Diplommittelschule zur tertiarisierten Lehrpersonenbildung zugelassen werden.

Damit handelt es sich um eine historische Situation, in welcher trotz verschiedener kantonaler Interessen mehr oder weniger einheitliche Zulassungsrichtlinien für die neuen PH geschaffen werden mussten. Dies erforderte eine Handlungskoordination der beteiligten kantonalen Akteur*innen. Da sich Interessen beteiligter Akteur*innen laut Thévenot (1984) besonders gut bei Prozessen der Forminvestition beobachten lassen, ist die Institutionalisierung des Profils und der Fachmaturität Pädagogik aus EC-Perspektive als Forminvestition zu deuten und damit ein geeigneter Untersuchungsgegenstand für eine historische, konventionentheoretische Analyse. Da konventionenbasierte Interessen, Rechtfertigungen und Valorisierungen insbesondere in Situationen der Unsicherheit besonders deutlich hervortreten, gilt es die empirische Forschung «auf solche Momente zu konzentrieren, in denen etwas infrage gestellt oder kritisiert wird» (Boltanski und Thévenot 2007, S. 34). Die Tertiarisierung der Lehrpersonenbildung und die damit aufkommende Notwendigkeit der Klärung der Zugänge und Funktion der Zubringer auf Sekundarstufe II war eine solche unsichere, konfliktbehaftete Situation.

Das Forschungsziel ist der Nachvollzug und die Analyse eines historischen Aushandlungs- und Koordinationsprozesses. Die übergreifende Situation ist eine historische Konstellation bzw. das Arrangement des Bildungssystems in einer bestimmten historischen Zeitspanne. Hierbei stellt sich angesichts der Forderung nach der «Innenansicht der Situation» die forschungspraktische Schwierigkeit, dass diese Prozesse nicht mehr im Moment ihres Geschehens beobachtet und die Akteur*innen höchstens retrospektiv, aber nicht mehr vor ihrem damaligen Sinnhorizont befragt werden können. Dennoch hat die EC gerade in der (wirtschafts-)historischen Forschung bereits eine längere Tradition (Diaz-Bone 2018, S. 392 f.). In einer solchen Perspektive geht es darum, «die Koevolution von Konventionen, Praktiken und institutionellen Arrangements» in ihrer historischen Konstellation zu untersuchen, sprich die Institutionalisierung der FMS Pädagogik in den weiteren bildungspolitischen Reformprozess zu dieser Zeit einzubetten. Daher ist für die Fragestellung nach dem Institutionalisierungsprozess der FMS Pädagogik auch eine präzise Betrachtung und Rekonstruktion der damaligen Verfasstheit des Bildungssystems auf Sekundarstufe II und der Lehrpersonenbildung notwendig.

Ziel ist, retrospektiv «den Handlungssinn aus Sicht der koordinierenden und interpretierenden Akteure in historischen Situationen» herauszuarbeiten (ebd., S. 393). Dabei ist zentral, den «historisch situative[n] Sinn» vor dem damaligen (bildungs-)politischen und gesellschaftlichen Kontext als Konstellation von Objekten und kognitiven Formaten zu rekonstruieren und zu interpretieren (ebd., S. 395). Genauso wie bei der empirischen Untersuchung zeitgenössischer Situationen ist bei historischen Prozessen also darauf zu achten, einen «internalistischen Standpunkt» (Diaz-Bone und Salais 2011) einzunehmen und die jeweiligen Akteur*innenperspektiven zu rekonstruieren (Diaz-Bone 2018, S. 393).

Obwohl historische Prozesse nicht mehr unmittelbar beobachtet werden können, sind auch hier die in der Situation anwesenden Objekte als Stützen von Wertigkeitszuschreibungen und Rechtfertigungen von großer Bedeutung für die Untersuchung und Analyse (ebd., S. 394). Auch eine historische Analyse muss sich «auf Artefakte stützen, um die Konventionen zu rekonstruieren, die in Situationen handlungspraktisch wirksam waren» (ebd., S. 395). Zu diesen Objekten und Artefakten gehören auch Texte, die nicht «allein als verschriftlichte Artikulationen von Sprechern» betrachtet werden, sondern in denen sich auch Konventionen oder Kompromisse niederschlagen und verfestigen (ebd., S. 394).

Vor diesem Hintergrund können für die Frage nach dem Institutionalisierungsprozess der FMS Pädagogik etwa Diskussionsprotokolle der Plenarversammlung der kantonalen Erziehungsdirektoren (EDK), PH-Anerkennungsreglemente sowie deren Entwürfe und zugehörige Erläuterungen oder auch Vernehmlassungsantworten und -berichte der Kantone (zu den entsprechenden bildungspolitischen Prozessen siehe Abschn. 5.1) als textbasierte Objekte verstanden werden.

Diskussionsprotokolle sind hierbei in doppelter Weise relevant. Denn sie zeigen nicht nur die Argumentationen, Interessen, Valorisierungen und Rechtfertigungen der Akteur*innen in der damaligen Situation, sondern halten gegebenenfalls auch Ent- oder Beschlüsse fest (Forminvestition), auf welche die Akteur*innen in späteren Diskussionen, Abstimmungen oder Disputen wiederum zurückgreifen können. Fertig ausgearbeitete Reglemente und ihre Entwürfe lassen zwar keine direkten Rückschlüsse auf die dahinterliegenden konventionenbasierten Begründungen der Akteur*innen zu, sie tragen aber «Spuren» von Konventionen, ihres «konventionenbasierten Gebrauchs und ihres Involviertseins in Sinnkonfigurationen auf» (ebd., S. 394). Auf solche Spuren gilt es im Forschungsprozess zu achten.

Vor dem Hintergrund der skizzierten Überlegungen wurden für die Untersuchung des Institutionalisierungsprozesses der FMS Pädagogik folgende Schritte vollzogen:

  1. 1.

    Nachvollzug und Aufarbeitung des gesamten historischen Institutionalisierungsprozesses der FMS Pädagogik sowie seines bildungspolitischen Kontexts zur Einordnung und Interpretation der damaligen Akteur*innenperspektiven.

  2. 2.

    Identifikation der «kritischen Momente» als Situationen für eine vertiefte Analyse.

  3. 3.

    Identifikation und Befragung von zentralen, in den Institutionalisierungsprozess involvierten Akteur*innen, welche Auskunft über damalige Geschehnisse und bildungspolitische Interessen geben können.

  4. 4.

    Nach Identifikation der relevanten Situationen: Recherche und Analyse von Akteur*innenpositionen (kantonale Erziehungsdirektoren (EDK), Institutionen der Lehrpersonenbildung, Lehrpersonenverbände), Forminvestitionen, kognitiven Schemata, Objekten etc.

Der Nachvollzug des gesamten historischen Prozesses der Institutionalisierung der FMS Pädagogik und seines bildungspolitischen Kontexts, die Identifikation kritischer Momente und zentraler Akteur*innen sowie Forminvestitionen, Objekten und Schemata erfolgte in einem iterativ-zyklischen Prozess des fortschreitenden Erkenntnisgewinns, in dessen Verlauf sich die oben genannten Schritte 1–4 jeweils gegenseitig beeinflussten.

Nachdem durch die Sichtung umfassender Sekundärliteratur ein erster Überblick über den bildungspolitischen Kontext der Tertiarisierung der Lehrpersonenbildung in den 1990-er Jahren sowie die Funktion der Gymnasien und die Diskussion um die Position der DMS/FMS gewonnen war, konnten erste Hypothesen über mögliche kritische Momente und ihre zentralen Akteur*innen formuliert werden. Mit Unterstützung einer Kontaktperson des Generalsekretariats der EDK wurde schon früh im Forschungsprozess eine in der Tertiarisierungsreform der Lehrpersonenbildung wichtige Person identifiziert. Die Befragung dieser Person ergab Hinweise auf weitere zentrale Dokumente, Rechtfertigungs- und Valorisierungslogiken der damaligen Zeit sowie weitere relevante Akteur*innen.

Schließlich konnten drei zentrale kritische Momente im Institutionalisierungsprozess der FMS Pädagogik identifiziert werden. In diesen kritischen Momenten als Situationen der Unsicherheit stand die Zulassung von Absolvierenden der FMS Pädagogik respektive der Vorgängerinstitution DMS zur tertiarisierten Lehrpersonenbildung grundsätzlich in Frage, wurde kritisiert und hätte theoretisch abgelehnt werden können. Warum dies nicht der Fall war, wird in Kap. 5 erläutert.

Nachdem die drei zentralen kritischen Momente im Institutionalisierungsprozess der FMS Pädagogik identifiziert waren, wurden diesen Momenten zugehörige, relevant erscheinende Dokumente recherchiert. Sie wurden danach ausgewählt, inwiefern sie Hinweise auf die jeweiligen Interessen der kantonalen Erziehungsdirektoren und der Institutionen der Lehrpersonenbildung, auf die Haltungen und Bestrebungen des EDK-Generalsekretariats als koordinierendes Organ der EDK sowie auf die EDK-internen Abläufe und Prozesse lieferten. Die Recherchen erfolgten über die EDK-Datenbank edudoc.ch, die EDK-Website und die dort verfügbaren Dokumente, über eine Kontaktperson im EDK-Dokumentenbestand Bern sowie mehrere Archivbesuche im Staatsarchiv Luzern. Nach Sichtung, Kontextualisierung und Analyse der Dokumente konnten die in den drei Momenten der Unsicherheit vorhandenen Akteur*innen und deren Konstellationen, Interessen, Koordinationserfordernisse, materiellen Objekte und kognitiven Schemata rekonstruiert, zueinander in Bezug gesetzt und so der Institutionalisierungsprozess der FMS Pädagogik nachvollzogen und erklärt werden. Den in Kap. 5 präsentierten Ergebnissen liegt folgendes Datenmaterial zugrunde (Tab. 4.2):

Tab. 4.2 Datengrundlage Institutionalisierungsprozess FMS Pädagogik

Aus Gründen der Lesefreundlichkeit werden die verwendeten Quellen in der Ergebnisdarstellung der vorliegenden Studie jeweils mit einer Nummerierung versehen (P1, P2, P3) und ihre genaue Bezeichnung im Literatur- und Quellenverzeichnis im Anhang aufgeführt. In der Rekonstruktion und Analyse des Institutionalisierungsprozesses der FMS Pädagogik wird jeweils anhand dieser Nummerierungen auf die jeweiligen Quellen verwiesen (siehe Abschn. 5.2, 5.3 und 5.4).

4.2.2 Quantitative Analysen zu den Übertrittsquoten in die Tertiärstufe

Die quantitativen Analysen (Forschungsfrage 2) der vorliegenden Studie basieren auf Daten des Bundesamts für Statistik (BFS). Dabei handelt es sich einerseits sich um die PH-Studierendenzahlen für den Studiengang Primarstufe im Studienjahr 2019/2020Footnote 4 nach Zulassungsausweis, welche beim BFS angefragt wurden. Sie dienen als Berechnungsgrundlage der absoluten und relativen Anteile der PH-Studierenden im Studiengang Primarstufe nach Zulassungsausweis sowohl aktuell als auch im historischen Zeitverlauf.

Die Berechnung der Übertrittsquoten von Absolvierenden der FMS Pädagogik und des musisch-pädagogischen Gymnasialprofils in die Tertiärstufe basieren auf dem Datensatz «Längsschnittanalysen im Bildungsbereich» (LABB) des BFS.Footnote 5 Der Datensatz basiert auf einer statistischen Vollerhebung aller Lernenden im Schweizer Bildungssystem seit 2011 und stellt eine Synthese verschiedener bereits bestehender Datenquellen dar. Die in Abschn. 6.2 präsentierten Analysen basieren auf einer Kohorte, die alle Personen umfasst, welche 2012 einen Erstabschluss auf Sekundarstufe IIFootnote 6 erworben haben (N = 74.867). Die Kohorte wurde über einen Zeitraum von 54 Monaten (2012–2016) beobachtet. Die Sankey-Diagramme wurden mit rPlus erstellt.

4.2.3 Charakteristika der FMS Pädagogik und des musisch-pädagogischen Gymnasialprofils: Fallstudiendesign

Die dritte Forschungsfrage der vorliegenden Studie fragt nach den Charakteristika und Spezifika der FMS Pädagogik und des musisch-pädagogischen Gymnasialprofils, um deren (unterschiedliche) Bedeutung für die Ausbildung von Primarlehrpersonen an Pädagogischen Hochschulen zu erklären. Die zu untersuchende Situation sind in diesem Fall die beiden schulischen Profile als komplexe Arrangements aus Akteur*innen, Konventionen, Koordinationserfordernissen, Objekten und kognitiven Formaten – kurz: als Dispositive der Valorisierung.

Diese Dispositive respektive die ihnen zugrundeliegenden Arrangements von Konventionen sind insbesondere im schweizerischen Bildungsföderalismus nicht ohne den jeweiligen kantonalen Kontext versteh- und erklärbar. Es handelt sich beim zu erklärenden Sachverhalt also um ein gegenwärtiges und komplexes soziales Phänomen, dessen Kontext für das Verständnis zu berücksichtigen ist. Für solche Phänomene stellen Fallstudien ein besonders geeignetes Untersuchungsdesign dar (Yin 2009, S. 18). Fallstudien ermöglichen insbesondere die Beantwortung von Fragen nach dem «Wie» und «Warum» eines sozialen Phänomens (ebd., S. 13) – wie es für das Erkenntnisinteresse dieser Studie von Bedeutung ist. Fallstudien können Forschungsfragen und Phänomene forschungspraktisch handhabbar machen, welche zwar wenige Untersuchungs- oder Analyseeinheiten aufweisen (im vorliegenden Fall zwei schulische Profile der Sekundarstufe II), aber bei denen viele verschiedene Variablen von Interesse sind (ebd., S. 18) – wie im vorliegenden Fall beispielsweise Bildungsziele, Wissensformen, pädagogisch-didaktische Strategien, Beziehungslogiken, Objekte, Personen, kognitive Formen etc.

Um der Komplexität des zu untersuchenden Phänomens gerecht zu werden, stützen sich Fallstudien auf verschiedene empirische Datenquellen (ebd.). Dies entspricht auch der methodologischen Prämisse der EC, die verschiedenen Elemente einer Situation wie Objekte, kognitive Formate, Koordinationserfordernisse, Organisationen, Personen und Konzepte (Diaz-Bone 2018, S. 328) in die Analyse einzubeziehen. Übertragen auf die vorliegende Studie bedeutet das, dass den untersuchten schulischen Profilen ein Arrangement an Konventionen zugrunde liegt, welches in verschiedenen Aspekten der materiellen und immateriellen «Instrumentierung» (Diaz-Bone 2017, S. 89) der Schulen materialisiert ist. So zum Beispiel in Unterrichtsformen, pädagogisch-didaktischen Strategien, Lehrmitteln, Unterrichtsmaterialien etc. Daher wurden bei der Untersuchung der FMS Pädagogik und des musisch-pädagogischen Gymnasialprofils neben der Befragung von schulischen Akteur*innen auch Unterrichtsbeobachtungen durchgeführt und Dokumente verschiedenster Art analysiert.

Zentral war die Befragung von Schüler*innen, Lehrpersonen und Schulleitungspersonen, da sowohl die EC als auch der Fallstudienzugang von einer sozialen Konstruktion der Wirklichkeit durch die Akteur*innen ausgeht. Der Forschenden kommt daher ebenso wie für die erste Fragestellung der vorliegenden Studie die Aufgabe zu, Prozesse und Handlungen durch die Aufarbeitung der Perspektive der Akteur*innen zu verstehen, welche diese zu untersuchende Realität konstruieren (Baxter und Jack 2008, S. 545). Der Einbezug dieser verschiedenen Datenquellen erfordert wiederum die Anwendung verschiedener Datenerhebungs- und gegebenenfalls Auswertungsmethoden (Yin 2009, S. 63), wie sie in den folgenden Kapiteln erläutert werden.

Fallstudien können beschreibend, erklärend oder explorativ ausgerichtet sein (ebd., S. 3 f.), wobei im Fall der vorliegenden Fragestellung Aspekte aller drei Orientierungen umgesetzt wurden. Angesichts der Forschungslücke bezüglich der FMS Pädagogik besteht sowohl der Anspruch einer deskriptiven Beschreibung als auch einer explorativen Erforschung insbesondere der FMS Pädagogik als Zubringerin zur Primarlehrpersonenbildung, aber ebenso einer Erklärung der (unterschiedlichen) Bedeutung der beiden untersuchten Profile bzw. der Ursachen dieser Unterschiede.

Fallstudien profitieren von theoretischen Vorannahmen (ebd., S. 35 f.), welche aus der bestehenden Forschungsliteratur und/oder theoretischen Ansätzen generiert werden können (Baxter und Jack 2008, S. 551). Dem entsprechen die in Abschn. 3.4 formulierten Arbeitshypothesen als Resultat des erkenntnistheoretischen Hintergrunds der EC und des empirischen Vorwissens zum Untersuchungsgegenstand. Die theoretischen Vorannahmen in Form von Arbeitshypothesen unterstützen die Fokussierung auf die Forschungsfragen, leiten die Datensammlung und -analyse und ermöglichen die theoriegeleitete Interpretation der Ergebnisse.

Das übergreifende Ziel von Fallstudien – so auch in der vorliegenden Studie – ist die «analytische Generalisierung» (Yin 2009, S. 38) respektive theoretische Generalisierung. Es geht dabei nicht wie bei einer statistischen Generalisierung darum, auf Basis von Ergebnissen einer Stichprobe auf die Gesamtpopulation (etwa aller FMS und Gymnasien) zu schließen und damit um eine Verallgemeinerung auf eine Grundgesamtheit. Vielmehr geht es um die Verallgemeinerung auf das vorab in Form von Arbeitshypothesen formulierte theoretische Grundgerüst im Sinne theoretischer Zusammenhänge und Erklärungsmechanismen. Das formulierte theoretische Grundgerüst wird am empirischen Fall geprüft und die theoriebasierten Zusammenhänge gegebenenfalls verifiziert oder modifiziert, so dass sie das Ergebnis des untersuchten Falls erklären können. Das so entstehende theoretische Erklärungsgerüst kann im Anschluss (und hierin besteht die Generalisierung) auch auf andere ähnliche Fälle übertragen werden – nicht aber die konkreten empirischen Ergebnisse an sich (Lamker 2014, S. 16).

Die Erklärungskraft dieser theoretischen Generalisierung steigt mit der Anzahl der Fälle und legt daher eine multiple Fallstudie nahe, deren Fälle nach der Logik der theoretischen Replikation (Yin 2009, S. 54) ausgewählt wurden. Dies bedeutet, dass auf Basis der formulierten theoretischen Vorannahmen (Arbeitshypothesen) die ausgewählten Fälle möglichst unterschiedliche Ergebnisse erwarten lassen. Aus diesen Gründen wurde die Frage nach den Charakteristika der FMS Pädagogik und des musisch-pädagogischen Gymnasialprofils anhand einer multiplen Fallstudie von drei «eingebetteten» (Yin 2009, S. 46) Fällen untersucht, welche entsprechend der Logik der theoretischen Replikation ausgewählt wurden.

Konkret bedeutet dies, dass die FMS Pädagogik und das musisch-pädagogische Gymnasialprofil in drei Fällen jeweils als «Zweierpaket» im gleichen kantonalen Kontext untersucht wurden (Abb. 4.1), der zur Erklärung der Ergebnisse und der jeweiligen Bedeutung der Schulprofile für die Primarlehrpersonenbildung beiträgt (siehe Arbeitshypothesen Abschn. 3.4). Ein «Fall» sind folglich jeweils die beiden untersuchten Profile, unabhängig davon, ob sie organisatorisch am gleichen Schulhaus angesiedelt sind oder nicht:

Abb. 4.1
figure 1

(Quelle: eigene Darstellung in Anlehnung an Yin 2009, S. 46)

Multiple Fallstudie mit eingebetteten Fällen.

4.2.3.1 Fallauswahl

Die zu untersuchenden Fälle bzw. Kantone als deren Kontext wurden auf Basis der theoretischen Arbeitshypothesen in Abschn. 3.4 ausgewählt. Sie ließen entsprechend der Logik der theoretischen Replikation maximale Variation erwarten (Tab. 4.3). Bei der Auswahl der Fälle wurden drei Kriterien berücksichtigt:

Tab. 4.3 Fallauswahl Case Study Design

Seminaristische Tradition und Zeitpunkt der Tertiarisierung der Lehrpersonenbildung: Es wurde die Arbeitshypothese formuliert, dass in Kantonen mit einer ausgeprägten und lange anhaltenden seminaristischen Tradition der Lehrpersonenbildung das Profil der FMS Pädagogik genauso wie die ehemaligen Lehrer*innenseminare stärker auf Logiken der häuslichen Konvention (berufspraktische Bezüge, Praktika, familiäres Klima, pädagogisch-soziale Interessen) basiert und – wie bereits in empirischen Studien angedeutet – als Nachfolge der ehemaligen Lehrer*innenseminare wahrgenommen wird. Im Kontrast dazu kann angenommen werden, dass in Kantonen, in denen die seminaristische Ausbildung schon früh aufgelöst wurde, die Lehrpersonenbildung heute eher wissenschaftlich orientiert ist und daher die FMS als Zubringerin stärker allgemeinbildend als häuslich (sprich «praxisnah», am Lehrberuf orientiert) ausgerichtet ist. Daher wurden Fälle ausgewählt, in denen die Tertiarisierung der Lehrpersonenbildung entweder früh (vor dem Beschluss zur Tertiarisierung mit dem PH-Anerkennungsreglement von 1999) oder eher spät (auf Zwang ebendieses PH-Anerkennungsreglements hin) erfolgte. Eine frühe Tertiarisierung der Lehrpersonenbildung wird dabei als Hinweis auf eine geringe Bedeutung der seminaristischen Tradition, eine späte Tertiarisierung als Hinweis auf eine hohe Bedeutung der seminaristischen Tradition gedeutet.

Deutschsprachige oder französischsprachige Schweiz: Bisherige empirische Forschung zeigt, dass in der französischsprachigen Schweiz der Allgemeinbildung und in der deutschsprachigen Schweiz der Berufsbildung höhere Wertigkeit zugeschrieben wird (Cortesi 2017; Cattaneo und Wolter 2016). Vor diesem Hintergrund wurde die Arbeitshypothese formuliert, dass der FMS Pädagogik in der französischsprachigen Schweiz eine eher allgemeinbildende Funktion zugesprochen wird, und auch im Gymnasium eine ggf. vorhandene berufsvorbereitende Logik eher in der deutsch- als in der französischsprachigen Schweiz zu erwarten ist. In jedem Falle sind im Anschluss an bisherige empirische Forschung sprachregionale Unterschiede bezüglich Allgemein- und Berufsbildung zu erwarten. Daher wurde ein Fall der französischsprachigen Schweiz einbezogen.

Angebot des Schwerpunktfachs PPP im Gymnasium: Wie der Forschungsüberblick zeigte, stand die Institutionalisierung des Schwerpunktfachs PPP (Philosophie/Pädagogik/Psychologie) im Zusammenhang mit der Auflösung der seminaristischen Lehrpersonenbildung. Auch wenn aktuell eine berufspropädeutische Funktion dieses Schwerpunktfachs abgelehnt wird (siehe Abschn. 2.3.1.2), liegen seine Wurzeln in der (Auflösung der) seminaristischen Lehrpersonenbildung. Daher kann die Annahme formuliert werden, dass das Vorhandensein oder das Fehlen eines Angebots des Schwerpunktfachs PPP die Bedeutung der FMS Pädagogik beeinflusst. Die Hypothese lautet, dass der FMS Pädagogik in Kantonen, welche das Schwerpunktfach PPP nicht anbieten, ausgeprägter eine «Ersatzfunktion» der Lehrer*innenseminare zugesprochen wird als in Kantonen mit Schwerpunktfach PPP.

4.2.3.2 Fallstudien – Erhebungsdesign

Entsprechend der methodologischen Anforderung der EC und des Fallstudiendesigns, multiple und unterschiedliche Datenquellen mit einzubeziehen, wurden für die Fallstudien Daten auf der interkantonalen (EDK), kantonalen, einzelschulischen sowie der Interaktionsebene des Unterrichts erhoben. Tab. 4.4 liefert eine Übersicht über die Datenquellen und Methoden der Datenerhebung für die dritte forschungsleitende Frage nach den Spezifika und Charakteristika der FMS Pädagogik und des musisch-pädagogischen Gymnasialprofils:

Tab. 4.4 Erhebungsdesign Fallstudien

Aus Datenschutzgründen wurden die verwendeten Quellen (Interviews, Lehrpläne, Informationsbroschüren, Websites oder Literatur) jeweils mit einem Kürzel versehen und ihre genaue Bezeichnung in einem separaten Dokument aufgeführt. In der Ergebnisdarstellung zu den kantonalen Fallstudien (Kap. 7) wird jeweils anhand dieser Nummerierungen auf die entsprechenden Quellen verwiesen. Der Dokumenten- und Quellenschlüssel kann auf begründete Anfrage hin bei der Autorin eingesehen werden.

Auf der interkantonalen Ebene der kantonalen Erziehungsdirektor*innen (EDK) wurden die Rahmenlehrpläne sowie Anerkennungsreglemente der beiden Schultypen FMS und Gymnasium in die Analyse mit einbezogen, außerdem wurde ein Expert*inneninterview mit der für diese Schultypen zuständigen Person des EDK-Generalsekretariats geführt. Auf der kantonalen Ebene wurde die jeweilige Rahmenstundentafel sowie der kantonale Lehrplan der beiden untersuchten Schulprofile analysiert. Auf der Ebene der Einzelschule wurden Werbe- oder Informationsmaterial wie Broschüren und die jeweiligen Websites, Schulleitbilder, Wegleitungen und sonstige repräsentative Dokumente analysiert, welche möglicherweise Aufschluss über die Ausrichtung der untersuchten Profile und die durch sie mobilisierten Konventionen geben konnten.

Im Weiteren wurden problemzentrierte Gruppen- oder Einzelinterviews (siehe Abschn. 4.3.2) mit Akteur*innen der jeweiligen Schulen und Profile geführt – sechs mit Schulleitungspersonen, acht mit Lehrpersonen, und zehn mit Schüler*innen der FMS Pädagogik oder des musisch-pädagogischen Gymnasialprofils. Die Kontaktaufnahme und Vermittlung der Interviewpartner*innen erfolgte über die Schulleitungspersonen der jeweiligen Schulen. Die Auswahl der befragten Jugendlichen und Lehrpersonen hing weitestgehend davon ab, wer und wie viele Personen sich für die Teilnahme am Forschungsprojekt bereit erklärten.

Die Konstruktion des Interviewleitfadens für die jeweilige Gruppe von Befragten (Schulleitung, Lehrpersonen, Schüler*innen) orientierte sich an der Liste heuristischer Fragen nach Valorisierungen, Rechtfertigungen oder Kritik bezüglich der profilspezifischen Bildungsziele, Wissensformen u. ä. Aus konventionentheoretischer Perspektive lässt sich vermuten, dass Konventionen als «Welten» sowie deren Kompromisse die beiden untersuchten schulischen Profile als «Situation» im Ganzen durchdringen. Aus diesem Grund war nicht zu erwarten, dass die unterschiedlichen schulischen Akteur*innen komplett unterschiedliche Handlungs- und Bewertungslogiken mobilisieren würden. Gleichwohl musste damit gerechnet werden, dass verschiedene schulische Akteur*innen verschiedene Aspekte von Konventionen valorisieren und diese unterschiedlich gewichten. Deshalb wurden in jeder Schule jeweils alle Gruppen schulischer Akteur*innen – Schulleitungspersonen, Lehrpersonen und Schüler*innen – befragt.

Auf der konkreten Handlungs- und Interaktionsebene, in welcher sich aus konventionentheoretischer Perspektive die konkrete Mobilisierung von Konventionen durch die Akteur*innen unter Bezugnahme auf materielle Objekte (räumliche Arrangements, Lehrpläne und -bücher, Instrumente etc.) und immaterielle Formen (Überzeugungen, Klassifizierungen und ähnliches) zeigt, wurden 13 Unterrichtsbeobachtungen durchgeführt. Wo Gymnasium und FMS organisatorisch gemeinsam geführt sind, wurde wann immer möglich eine Unterrichtsbeobachtung beispielsweise im Fach Psychologie sowohl in der FMS Pädagogik als auch im Schwerpunktfach PPP bei der gleichen Lehrperson durchgeführt. So konnte beobachtet werden, ob und wie eine Lehrperson möglicherweise handlungspraktisch je nach Schultyp andere Konventionen als Handlungs- und Bewertungslogiken mobilisiert.Footnote 7

Die ausgewählten Fälle und die jeweiligen Kantone als Fallkontext unterschieden sich in der Anzahl Gymnasien und FMS mit pädagogischem Profil. Im Fall A waren im betreffenden Kanton lediglich eine FMS und zwei Gymnasien vorhanden. Dort repräsentiert die schulische Ebene der FMS auch gleichzeitig die kantonale Ebene respektive kantonale ‘Grundgesamtheit’. Im Fall C bestand das kantonale Angebot aus je zwölf Schulen. In allen Kantonen stand mehr als ein Gymnasium zur Auswahl. Wenn möglich wurden solche Gymnasien ausgewählt, welche qua historischem Hintergrund einen Bezug zur Lehrpersonenbildung aufweisen, sei es als ehemaliges Lehrer*innenseminar oder als direkte Nachfolge eines ebensolchen. Dahinter steht die Annahme, dass Unterschiede im schulischen Profil zwischen der FMS Pädagogik und einem historisch lehrerbildungsaffinen Gymnasium mit hoher Wahrscheinlichkeit relevante Unterschiede darstellen, die zwischen FMS und Gymnasien ohne diesen historischen Bezug dementsprechend ausgeprägter sein dürften.

Unabhängig von der Dichte des Angebots wurde jeweils eine FMS und ein Gymnasium für die Untersuchung ausgewählt, da nicht eine statistische, sondern eine theoretische Generalisierung das Forschungsziel war. Es wurde von der Annahme ausgegangen, dass die ausgewählte Schule jeweils die grundlegende ‘konventionenbasierte Verfasstheit’ dieser Schultypen im Kanton widerspiegelt respektive sich der kantonale Kontext (wie in den Arbeitshypothesen erläutert) im jeweiligen schulischen Dispositiv jeder kantonalen Schule niederschlägt.

Ebenso ist anzunehmen, dass die in den Daten zutage tretenden Bezugnahmen auf Konventionen, Objekte und institutionelle Arrangements nicht (je nach kantonalem Kontext, Einzelschule oder befragter Person) willkürlich und beliebig sind, sondern trotz der Pluralität von Konventionen bzw. der «Versionenhaftigkeit von Wirklichkeit» auf «sinnhaften Regeln und Relevanzen [beruhen, S.H.], die rekonstruiert werden können» (Kruse 2014, S. 41).

4.3 Methoden der Datenerhebung

Für die vorliegende Studie mussten Erhebungsformen zur Anwendung kommen, welche erlauben, die Mobilisierung von Konventionen durch Akteur*innen gestützt auf materielle Objekte und kognitive Schemata ebenso wie das gesamte «Dispositiv der Valorisierung» eines schulischen Profils zu untersuchen und zu rekonstruieren. Aus diesem Grund stützte sich die Studie auf verschiedene Methoden der Datenerhebung.

4.3.1 Archivrecherche

Für die Fragestellung nach dem umkämpften Institutionalisierungsprozess der FMS Pädagogik wurden wie in Abschn. 4.2.1 erläutert drei zentrale kritische Momente für die Institutionalisierung der FMS Pädagogik identifiziert. Sie bildeten die Grundlage für die weitere Analyse und die in Kap. 5 präsentierten Ergebnisse.

Zu diesen drei kritischen Momenten wurden im Rahmen einer Archivrecherche im Staatsarchiv Luzern zugehörige Dokumente recherchiert. Sie umfassten EDK-Dossiers, Entwürfe und Erläuterungen zu Reglementen, Vernehmlassungseinladungen, -antworten und zugehörige Auswertungsberichte, Sitzungsprotokolle, Schriftverkehr zwischen beteiligten Personen der EDK sowie Zeitungsartikel. Aus forschungsökonomischen Gründen wurde das Material nicht vor Ort bezüglich seiner Relevanz für die Forschungsfrage beurteilt, sondern in seiner Gesamtheit abfotografiert und anschließend digital in Textdokumente umgewandelt. Nach Sichtung des gesamten Materials wurden die für die eingehendere Analyse relevanten Dokumente identifiziert, welche in Tab. 4.2 aufgelistet sind.

4.3.2 Problemzentriertes Interview

Für die Beantwortung der Forschungsfrage nach den Charakteristika und Spezifika der FMS Pädagogik und des musisch-pädagogischen Gymnasialprofils für die Ausbildung von Primarlehrpersonen wurden problemzentrierte Interviews (Witzel 2000) mit Schüler*innen, Lehrpersonen und Schulleitungspersonen geführt.

Das problemzentrierte Interview kann als Interviewform bezeichnet werden, welche einerseits im strukturalistischen Sinne eine thematische (‘problemzentrierte’) Fokussierung und somit deduktive Elemente aufweist. Andererseits lässt es ebenso Raum für die Relevanzsetzungen der Befragten und ermöglicht eine Offenheit gegenüber dem Feld im Sinne der pragmatischen Forschungstradition. Dies wird dadurch gewährleistet, dass der Interviewleitfaden durch seine flexible Handhabung spontane und vertiefende Nachfragen ermöglicht und somit neben der Fokussierung auf ein bestimmtes Problem oder Thema auch ein induktives Sinnverstehen im Sinne der pragmatischen Theorie- und Forschungstradition ermöglicht.

Dieser der EC entsprechenden Positionierung zwischen induktiver und deduktiver Herangehensweise entspricht das problemzentrierte Interview auch durch seine Anlehnung an die theoriegenerierende Logik der Grounded Theory (ebd., S. 3). Diese propagiert einerseits eine Abgrenzung von einer «hypothetico-deduktiven Vorgehensweise […], derzufolge man die Daten nur durch ex ante festgelegte Operationalisierungsschritte erfassen und überprüfen kann» (ebd.). Andererseits wendet sich die Grounded Theory – entgegen der landläufigen Meinung – auch gegen die Prämisse, dass die Grundhaltung der/des Forschenden totaler Offenheit gegenüber der Empirie entsprechen müsse und so «unter Ausklammerung des theoretischen Vorwissens als tabula rasa konzeptioniert wird» (ebd.).

Entsprechend dieser Position konzipiert das problemzentrierte Interviews sowohl Datenerhebung als auch -auswertung als «induktiv-deduktives Wechselverhältnis», wobei das theoretische und empirische Vorwissen als «heuristisch-analytischer Rahmen für Frageideen» dient, gleichzeitig aber auch «spezifische Relevanzsetzungen» der Befragten erlaubt oder diese gar angeregt werden (ebd.). Damit ermöglicht das problemzentrierte Interview einerseits, die für die Forschungsfrage/n und theoretische Generalisierung relevanten Arbeitshypothesen in die Interviewsituation einzubringen, andererseits bietet es genug Offenheit und Flexibilität für die Relevanzsetzungen der Befragten. Damit erlaubt es die forschungsmethodische Umsetzung der erkenntnistheoretischen Position der EC zwischen Strukturalismus und Pragmatismus als forschungsmethodisches Vorgehen zwischen Induktion und Deduktion.

Entsprechend dieser Logik wurde in der vorliegenden Studie das theoretisch vorinformierte Wissen (bestehend aus dem Stand der empirischen Forschung zum Untersuchungsgegenstand sowie der Theorieperspektive der EC und deren Übertragung in den Bildungsbereich insbesondere durch Derouet (1989, 1992)) qua Gesprächsleitfaden in das Interview eingebracht (Kruse 2014, S. 153), in der Interviewsituation jedoch auch offen auf Relevanzsetzungen der Befragten reagiert.

Um diese Relevanzen nicht zu stark zu beeinflussen, wurden die Befragten zu Beginn des Interviews nach der Anonymitätszusicherung und Einverständniserklärung zur Audioaufnahme gerade so ausführlich wie nötig über das konkrete Forschungsinteresse informiert und die Bedeutung ihrer eigenen Perspektive entgegen eines normativen «Richtig» oder «Falsch» im Sinne der sozialen Erwünschtheit – insbesondere angesichts des von Evaluationen geprägten schulischen Felds – betont.

Um der unterschiedlich ausgeprägten Reflexivität und Eloquenz der Befragten Schulleitungspersonen, Lehrpersonen und Schüler*innen gerecht zu werden, wurde die Gesprächstechnik und Ausdrucksweise dem jeweiligen Gegenüber angepasst (Witzel 2000, S. 3). Auch der Interviewleitfaden (siehe Musterleitfaden im Anhang) wurde nach gründlicher vorgängiger Recherche der jeweiligen Zielgruppe, den Spezifika der jeweiligen Schule und dem bildungspolitischen Kontext des Kantons angepasst.

Unabhängig von diesen kontext- und zielgruppenspezifischen Anpassungen wurde bei der Konstruktion des Interviewleitfadens auf Wertigkeitszuschreibungen, Bewertungen, Kritik und Begründungen fokussiert, um die den schulischen Profilen zugrundeliegenden und durch die Akteur*innen mobilisierten Konventionen und deren Konstellationen zu erfassen. Die Interviewleitfäden orientierten sich dafür wie auch die anderen Erhebungsmethoden an den heuristischen Fragen (siehe Abschn. 4.1). Mit dem Fokus auf Valorisierungen, Begründungen und Kritik konnte aus einer konventionentheoretischen Perspektive davon ausgegangen werden, dass sich die zugrundeliegenden Konventionen unabhängig von kantons-, schul- oder zielgruppenspezifischen Themen oder der konkreten Frageformulierung in den Ausführungen der Befragten zeigen und sich so rekonstruieren lassen.

Da Gruppensettings das Potenzial haben, aufgrund der individuell unterschiedlichen Perspektiven der Teilnehmenden Begründungen und Rechtfertigungen stärker zu befördern als Einzelinterviews, wurden die Interviews wann immer möglich mit Gruppen von zwei bis vier Lehrpersonen oder Schüler*innen geführt. In manchen Fällen gestaltete sich die Terminfindung allerdings derart schwierig, dass Einzelinterviews geführt werden mussten. Auch diese konnten mit Hilfe von offenen «Warum»- und «Wie»-Fragen so geführt werden, dass die Befragten dazu angeregt wurden, Begründungen, Rechtfertigungen und Valorisierungen offenzulegen.

4.3.3 Expert*inneninterview

Sowohl für die Fragestellung nach dem Institutionalisierungsprozess der FMS Pädagogik als auch für die kantonalen Fallstudien wurden Expert*inneninterviews geführt. Sie stellen eine Sonderform des Leitfadeninterviews dar (Helfferich 2014, S. 571). In der Methodenliteratur herrscht bisher kein Konsens darüber, was genau den Expert*innenstatus ausmacht bzw. worin genau «Expertise» besteht (ebd. 2011, S. 163; Meuser und Nagel 2009, S. 466 f.; Bogner et al. 2014, S. 10 f.). Beispielsweise kann die Expert*innenrolle von den Forschenden zugeschrieben werden oder faktisch aus der beruflichen Position oder der Berufsrolle der Befragten resultieren, ebenso wie sie an der Person selbst (Experte des eigenen Lebens) oder an ihrem spezifischen Wissen festgemacht werden kann (Helfferich 2011, S. 163).

Das spezifische Wissen war auch in der vorliegenden Studie das relevante Kriterium zur Identifikation von relevanten Expert*innen. Dabei wurde auf die von Michael Meuser und Ulrike Nagel (2009, S. 470) getroffene Unterscheidung zwischen Betriebswissen und Kontextwissen zurückgegriffen. Betriebswissen meint Wissen, welches das eigene Handeln der Expert*innen beispielsweise als «Entwickler und Implementeure» oder als Verantwortliche für einen bestimmten Bereich betrifft (ebd., S. 470 f.) und sie im Kontext dieser Studie somit als Akteur*innen oder Intermediäre konzipiert.

Das Betriebswissen umfasst «Maximen, Regeln und Logiken» des Handelns des befragten Experten (Helfferich 2014, S. 571; Meuser und Nagel 2009, S. 470) ebenso wie «Sichtweisen, Interpretationen, Deutungen, […] Erklärungsmuster» (Bogner et al. 2014, S. 18) und normative Aspekte wie Zielsetzungen und Bewertungen (ebd., S. 19). Solches Wissen ist für die Fragestellung nach dem Institutionalisierungsprozess der FMS Pädagogik relevant, da zum Zeitpunkt der Tertiarisierungsreform in der Lehrpersonenbildung und der Aushandlung der Zulassungsrichtlinien für die PH-Anerkennungsreglemente aktiv involvierte EDK-Akteur*innen Auskunft über damalige interne Diskussionen, Probleme, Kritiken, Koordinationserfordernisse und ihr eigenes Handeln und dessen Begründung geben können.

Gleichzeitig sind Expert*innen auch als Besitzende von Kontextwissen (Meuser und Nagel 2009, S. 471) im Sinne von «technischem» oder fachlichem Wissen (Helfferich 2011, S. 164; Bogner et al. 2014, S. 17 f.) für die vorliegende Studie von Bedeutung. Das Kontextwissen umfasst nicht das eigene Handeln der Expert*innen, sondern das Handeln und Erleben anderer, über welches die Expert*innen ein «Sonderwissen» besitzen (Meuser und Nagel 2009, S. 471). Expert*innen werden hier als Fachpersonen wahrgenommen, die besonders viel Wissen über den von ihnen abgedeckten Lebens- oder Berufsbereich haben.

Für die Fragestellung nach dem Institutionalisierungsprozess der FMS Pädagogik wäre dies beispielsweise Wissen über die historischen, gesellschaftlichen und bildungspolitischen Kontexte im Beobachtungszeitraum oder Fach- und Sachinformationen über institutionelle Abläufe und Regelungen innerhalb der EDK. Dieses Expert*innenwissen ist auch deshalb wertvoll, weil «primäre Daten nicht verfügbar sind bzw. nicht erhoben werden können» (Meuser und Nagel 2009, S. 471; Bogner et al. 2014, S. 22). Dies ist für die vorliegende Studie insbesondere darum von Bedeutung, da die Untersuchungssituation des Institutionalisierungsprozesses der FMS Pädagogik in der Vergangenheit liegt und die interessierenden bildungspolitischen Prozesse im damaligen Zeitraum nur spärlich dokumentiert sind. Für die Forschungsfrage nach dem heutigen Profil der beiden untersuchten Schultypen umfasst Kontextwissen Auskünfte über kantonale Unterschiede, institutionelle Abläufe in der interkantonalen Koordination und diesbezügliche Herausforderungen und Probleme.

In der vorliegenden Studie waren die interviewten EDK-Akteur*innen als handelnde «Akteur*innen» mit Betriebswissen und gleichzeitig auch Träger*innen von Kontextwissen von Bedeutung, und wurden daher wie von Meuser und Nagel vorgeschlagen (2009, S. 471) unter beiden Gesichtspunkten befragt. Diese Doppelrolle resultiert in besonderen methodologischen Herausforderungen.

  1. 1.

    Während Kontextwissen den Expert*innen meist explizit bewusst und damit einfach kommunizierbar ist, umfasst Betriebswissen auch erhebliche Anteile von «vortheoretischem Erfahrungswissen» als «habitualisierte[n] Formen des Problemmanagements», welche nicht einfach expliziert und «abgefragt» oder kommunikativ «abgespult» werden können (ebd., S. 472). Die Expert*innen können hier wohl etwa über Dispute und Entscheidungen berichten oder Prinzipien benennen, an denen sie sich bei der Handlung ausgerichtet haben – «die überindividuellen, handlungs- bzw. funktionsbereichspezifischen Muster des Expert*innenwissens müssen jedoch auf der Basis dieser Daten rekonstruiert werden» (ebd.).

    So gesehen sind Expert*inneninterviews mit Fokus auf Betriebswissen aus einer historischen EC-Perspektive wertvolle Quellen für die Rekonstruktion von Handlungs- und Bewertungslogiken einer vergangenen und zu rekonstruierenden Situation – die Aussagen der Expert*innen sind aber nicht als objektive Fakten oder «Sachwissen» zu betrachten wie im Falle des Kontextwissens, sondern die dahinterliegenden Koordinations- und Bewertungsprinzipien (Konventionen) sind zu rekonstruieren.

  2. 2.

    Da sich dieses Betriebswissen insbesondere dann zeigt, «wenn sie [die Expert*innen; S.H.] fortfahren und erläutern, extemporieren, Beispiele geben oder andere Formen der Exploration verwenden», muss auch in Expert*inneninterviews der Gesprächsleitfaden offen konzipiert und flexibel gehandhabt werden, um solche Relevanzsetzungen der Expert*innen zu erlauben (ebd., S. 471).

Im Rahmen der Expert*inneninterviews mit EDK-Akteur*innen war das Ziel, sowohl Kontextwissen über (historische) Abläufe und Prozesse oder aktuelle Entwicklungen als auch eigene Deutungen, Handlungsorientierungen und Begründungen zu erheben. Deshalb wurde darauf geachtet, einerseits beide Aspekte einzubeziehen, andererseits nicht zwischen beiden Wissensformen hin- und herzuspringen. So wurde zu Gesprächsbeginn vor allem auf Kontextwissen abgezielt, und anschließend im Gesprächsverlauf mittels offener Nachfragen und der Anregung von Narrationen stärker der Zugang zum Betriebswissen und den je eigenen Deutungen und Handlungsorientierungen der Akteur*innen angestrebt.

4.3.4 Unterrichtsbeobachtungen

Ergänzt wurden die problemzentrierten Interviews durch 13 Unterrichtsbeobachtungen in der FMS Pädagogik und im musisch-pädagogischen Gymnasialprofil. Die Unterrichtsbeobachtungen ermöglichten insbesondere die Erhebung der Materialität sowie der Handlungspraxis der Akteur*innen in der beobachteten Situation. Das Erkenntnisinteresse richtete sich bei den Beobachtungen auf die «sozialen Interaktionen zwischen Handelnden in ihrer jeweiligen Lebenswelt, die hinsichtlich ihrer Muster und Bedeutungen rekonstruiert werden sollen» (Döring und Bortz 2016, S. 333). Mit Blick auf die theoretischen Grundlagen der EC ist hierbei nicht nur die Interaktion zwischen Handelnden in ihrer Lebenswelt, sondern auch die Interaktion mit ihrer Lebenswelt (Objekte, kognitive Formen) von Interesse.

Die konkrete Beobachtungssituation ist dabei nicht zu verwechseln mit der «Situation» FMS oder Gymnasium als Untersuchungsgegenstand. Die Beobachtungssituation repräsentiert dennoch einen kleinen Ausschnitt daraus und macht empirisch zugänglich, wie die involvierten Akteur*innen gestützt auf die materielle Umwelt plurale Konventionen mobilisieren und Wertigkeiten konstruieren – wie also auf der Mikroebene die Makroebene handlungspraktisch verwirklicht wird (Diaz-Bone 2018, S. 376). Lehrpersonen müssen beispielsweise den Lehrplan situativ interpretieren und umsetzen, ebenso wie sie sich mit Schüler*innen in einer permanenten Aushandlungssituation befinden, die theoretisch jederzeit in Kritik umschlagen kann (Boltanski und Thévenot 2007, S. 192).

Aufgrund des explorativen Charakters der Studie wurde für die Beobachtungen ein relativ offenes Vorgehen gewählt und darauf verzichtet, vorab ein fixes Beobachtungsraster festzulegen. Um in der Komplexität der Beobachtungssituation dennoch nicht in Beliebigkeit zu versinken und die Aufmerksamkeit auf die konventionentheoretisch relevanten Aspekte zu richten, wurde die in Abschn. 4.1 erläuterte EC-Frageheuristik in Form einer stichwortartigen Beobachtungshilfe mitgeführt.

Beobachtungsfokusse waren dabei u. a. Wissensformen, Praktiken und Formen der Wissensvermittlung, schulische Beziehungen (Lehrpersonen und Schüler*innen, Schüler*innen untereinander), verwendete Objekte und die räumliche Ausstattung. Das Beobachtungsraster diente als theoretisch informiertes, sensibilisierendes Konzept – sollte jedoch keineswegs die Offenheit für neue oder bisher nicht bedachte Aspekte der Beobachtungssituation verhindern.

Die für die vorliegende Studie umgesetzte Form der Beobachtung lässt sich als direkte (Anwesenheit), teil-strukturierte Fremdbeobachtung im Feld beschreiben, welche vom Strukturierungsgrad her dem Leitfadeninterview ähnelt (Döring und Bortz 2016, S. 328). Sie fand nicht-teilnehmend und offen resp. nicht verdeckt (ebd., S. 329) statt. Aufgrund des Anspruchs der Offenheit gegenüber neuen Aspekten und Dimensionen der Beobachtung bestand das Ziel in einem ersten Schritt darin, möglichst viele Eindrücke, Geschehnisse und Aussagen direkt in der Situation schriftlich festzuhalten und offen zu bleiben für neu auftauchende Beobachtungsdimensionen. Der Detaillierungsgrad der schriftlichen Protokollierung wurde dabei so hoch wie möglich gehalten, damit im ersten Moment nicht direkt ersichtliche oder theoretisch auf den ersten Blick (noch) nicht relevant erscheinende Beobachtungen auch später noch in die Analyse einbezogen werden konnten. Ziel war, in der Protokollierung noch so wenig wie möglich auf theoretische Interpretationen und Abstraktionen zurückzugreifen (Przyborski und Wohlrab-Sahr 2014, S. 51).

Die Protokollierung der Beobachtungssituation erfolgte chronologisch entlang des Ablaufs der Unterrichtseinheit sowie möglichst deskriptiv und detailliert. In der Beobachtungssituation oder im Anschluss auftauchende analytische Ideen und Gedanken wurden ebenfalls festgehalten – sodass das Protokoll am Ende sowohl aus Beschreibungen als auch theoretischen Reflexionen (ebd., S. 50) bestand. Die unmittelbare und ausführliche Protokollierung im Feld sowie die direkt im Anschluss durchgeführte Ausformulierung dienten als Maßnahme nicht nur dazu, möglichst ausführliche und für die Analyse fruchtbare Daten zu gewinnen, sondern auch dem «Erinnerungsfehler» entgegenzuwirken (ebd., S. 53; Döring und Bortz 2016, S. 331).

Dass keine Vorab-Definition eines fixen Beobachtungsrasters erstellt wurde, erwies sich als fruchtbares Vorgehen. Denn es zeigte sich beispielsweise, dass Beobachtungsdimensionen wie die körperliche Involviertheit der Akteur*innen, die Wissensvermittlung durch Demonstration «am Beispiel» (vs. abstrakt-theoretische Erklärungsmuster) oder Interaktionen in den Unterrichtspausen zu relevanten Beobachtungsdimensionen wurden, die zu Beginn der Untersuchung noch nicht vorgesehen waren.

Solche im Verlauf der Beobachtung neu auftauchenden Aspekte wurden in das jeweils mitgeführte Beobachtungsraster aufgenommen und in den nächsten Beobachtungen geprüft – ohne dort wiederum den Blick für neue relevante Dimensionen zu verlieren. So entwickelten sich auch die Beobachtungsdimensionen in einem iterativ-zyklischen Verfahren zwischen Datenerhebung und -analyse.

Vor der beobachteten Unterrichtseinheit, während den Pausen und nach dem Unterricht wurden je nach Kapazität der entsprechenden Lehrpersonen und Schüler*innen «Feldgespräche» als Variante des unstrukturierten Interviews (Döring und Bortz 2016, S. 339) geführt, die Gelegenheit zu weiteren Beobachtungen genutzt oder erste analytische Gedanken notiert. Zudem wurden wo immer möglich die Unterrichtsräume, die verwendeten Unterrichtsmaterialien sowie die räumlichen Begebenheiten fotografisch festgehalten.

4.3.5 Datenaufbereitung und -management

Die verschiedenen Methoden der Datenerhebung resultierten in unterschiedlichen Datenformaten. Die relevanten Dokumente für die Untersuchung des Institutionalisierungsprozesses der FMS Pädagogik (siehe Tab. 4.2, Seite 93) wurden ausgedruckt und für jeden der drei «kritischen Momente» händisch auf Papier nach den im nächsten Abschn. (4.4) erläuterten Prinzipien der Datenanalyse ausgewertet.

Die problemzentrierten Gruppen- oder Einzelinterviews wurden mit einem Audioaufnahmegerät aufgezeichnet und anschließend teilweise selbst, teilweise von im Rahmen des übergreifenden SNF-Projekts finanzierten studentischen Hilfskräften mit der Transkriptionssoftware f4 transkribiert.Footnote 8 Das Material wurde vollständig und in Anlehnung an die Transkriptionsregeln von Dresing und Pehl (2015) transkribiert. Das während der Unterrichtsbeobachtungen angefertigte schriftliche Beobachtungsprotokoll wurde unmittelbar nach Beendigung der Beobachtung in einem Textverarbeitungsprogramm ausformuliert und mit ersten oder weiteren analytischen Gedanken und Ideen ergänzt.

Das anschließende Datenmanagement sowie ein großer Teil der Datenanalyse erfolgte mit der Software atlas.ti. Das konkrete Vorgehen bei der Datenanalyse ist Gegenstand des folgenden Kapitels.

4.4 Methoden der Datenanalyse

4.4.1 Methodologische Vorüberlegungen

Um der methodologischen Position der EC zwischen Pragmatismus und Strukturalismus nicht nur in der Datenerhebung, sondern auch in der Datenanalyse gerecht zu werden, wurde auch hier ein entsprechendes methodisches Vorgehen verfolgt. Obwohl die EC gewisse Prämissen des Pragmatismus aufgreift, konzipiert sie Individuen als Akteur*innen in ihrem Handeln keinesfalls völlig frei, beliebig und unstrukturiert. Aus konventionentheoretischer Perspektive stützen sich Akteur*innen in ihrem Handeln, in der Koordination, Rechtfertigung und Bewertung auf überindividuelle, historisch etablierte kulturelle Bewertungs- und Koordinationslogiken (Konventionen), welche in der materiellen Umwelt objektiviert sind. Diese Prozesse der Koordination, Bewertung und Rechtfertigung und die durch die Akteur*innen mobilisierten Konventionen gilt es in der Datenanalyse zu rekonstruieren.

Diese Herangehensweise entspricht derjenigen der rekonstruktiven Sozialforschung. Rekonstruktive Analyseverfahren fragen «nach den Grundlagen jener Interakte […], nach Strukturen, die Bestand haben, ohne dass dies der Zustimmung durch die Subjekte der Forschung bedürfte» (Garz 2007, S. 225). Sie gehen «den Fundamenten im Sinne von tragenden Gerüsten […] nach. Was strukturiert diese Umgangsweisen, was deren Niederschlag als Objektivationen, und zwar auch unabhängig von den Absichten und Zwecken der Beteiligten?» (ebd.). Das Ziel eines solchen Vorgehens ist das Herausarbeiten bzw. Rekonstruieren von «Sinnstrukturen hinter Sinnstrukturen» (Kruse 2014, S. 25) – bzw. von Konventionen, die den Akteur*innen in der Situation sinnhaftes und koordiniertes Handeln ermöglich(t)en. Dies entspricht der methodologischen Position der EC und der entsprechenden Forderung nach einer «Innenansicht» (Diaz-Bone 2018, S. 377) der Situation bzw. der Rekonstruktion des situativen Handlungssinns aus Sicht der beteiligten Akteur*innen.

Klassische Forschungsperspektiven der qualitativen Sozialforschung beschäftigen sich u. a. mit der «Frage nach den subjektiven Sinnwelten von Handlungen» (Biografieforschung, subjektive Innensicht des Subjekts), der «Deskription sozialen Handelns und sozialer Milieus» (Lebensweltanalysen, Milieubeschreibungen) und der «Rekonstruktion deutungs- und handlungsgenerierender Strukturen» (Objektive Hermeneutik nach Ulrich Oevermann, Tiefenstruktur als eigene autonome Wirklichkeitsebene) (Reichertz 2007, S. 198). Die in dieser Studie verfolgte Zielsetzung der Rekonstruktion von Konventionen als Handlungsstützen entspricht der «(Re)Konstruktion historisch und sozial vortypisierter Deutungsarbeit» (ebd.):

Diese Forschungsrichtung bemüht sich um eine Verbindung von Deskription und Rekonstruktion. Ziel ist es zu (re)konstruieren, aufgrund welcher Sinnbezüge Menschen handeln, wie sie handeln. Gefragt wird, wie Subjekte, hineingeboren in eine historisch und sozial vorgedeutete Welt, diese Welt permanent deuten und somit auch verändern. Pointiert: es geht um die (Re)konstruktion der Prozesse, wie handelnde Subjekte sich in einer historisch vorgegebenen, sozialen Welt immer wieder neu ,finden‘, d.h. auch: zurechtfinden und wie sie dadurch zugleich auch diese Welt stets aufs Neue erschaffen und verändern. (Reichertz 2007, S. 198 f.)

Diese Ausrichtung entspricht dem konventionentheoretischen Erkenntnisinteresse und wird laut Jo Reichertz (ebd., S. 199) unter anderem von der Forschungsperspektive der Grounded Theory (Strauss und Corbin 1996) geleistet. Diese gehört zu einem der prominentesten Forschungsparadigmas in der qualitativen (Sozial-)forschung. Sie bezeichnet einerseits einen ganzen Forschungsstil im Sinne eines methodischen Holismus, der den Forschungsprozess von A-Z prägt. Sie hält andererseits auch ein Set an methodischen Werkzeugen für die Datenanalyse bereit – so etwa das offene, axiale und selektive Kodieren (Mey und Berli 2019; Mey und Mruck 2011b).Footnote 9

Das Ziel der Grounded Theory-Methodologie (GTM) ist, eine «in den Daten/im empirischen Material verankerte» (daher «grounded») respektive auf empirischem Material fundierende Theorie über das beobachtete Phänomen zu entwickeln (Mey und Berli 2019, S. 244; Mey und Mruck 2011b). Sie nimmt daher Abstand von (insbesondere quantitativen) Verfahren, die vorab formulierte Hypothesen am Datenmaterial prüfen. Vielmehr ist das Ziel, in Abhängigkeit von Erkenntnisinteresse, Forschungsfrage und theoretischem Rahmen Hypothesen erst aus dem empirischen Material zu generieren und diese im weiteren Forschungsprozess wiederum an weiterem Material zu prüfen, bis eine in den Daten verankerte Theorie (Grounded Theory) über das beobachtete Phänomen entsteht. Im Gegensatz zu einer auf eine Grundgesamtheit bezogene statistische Untersuchung wird man mithilfe der GTM «etwas über das Spektrum von Ausprägungen in einem Forschungsfeld, über deren Funktionsweise und wechselseitige Beziehungen sagen können» (Bischof und Wohlrab-Sahr 2018, S. 75 f.). Dies entspricht dem Ziel der analytischen respektive theoretischen Generalisierung (Yin 2009), welches in Abschn. 4.2.3 bei der Erläuterung des Fallstudiendesigns erläutert wurde.

In der Logik der Generierung von theoretischen Generalisierungen aus dem Datenmaterial liegt auch das für die Grounded Theory typische, iterativ-zyklische Vorgehen begründet, bei welchem Datenerhebung, -analyse und Theoriebildung «parallel betriebene Modi des Forschens sind, die sich gegenseitig produktiv beeinflussen sollen» (Strübing 2010, S. 12). Bereits früh im Forschungsprozess werden analytische Ideen formuliert, die nicht nur in das «Endprodukt» der gegenstandsbezogenen Theorie eingehen, sondern ihrerseits auch den weiteren Prozess der Datenerhebung beeinflussen – sei es in Form zusätzlicher Erhebungsmethoden oder Datenformate, in der Variation und Anpassung der Interviewleitfäden oder der Auswahl der Untersuchungs- und Analyseeinheiten (ebd., S. 12).

Weitere Prämissen der GTM sind die früh erfolgende Interpretation und Abstraktion statt bloßer Deskription der Daten, die Entwicklung der in den Daten begründeten Theorie durch die Verschriftlichung analytischer Gedanken (Memos), die Logik des konstanten Vergleichs bei der Datenanalyse sowie der Grundsatz «all is data» (Mey und Berli 2019, S. 249). Diese Prämissen wurden im Rahmen der vorliegenden Studie nicht dogmatisch verfolgt, aber als Anregung zur Handhabung des umfangreichen Datenmaterials und dessen Analyse verstanden.

Insbesondere das iterativ-zyklische Vorgehen zwischen Datenerhebung, -analyse und Theoriebildung sowie das dafür notwendige Notieren und Festhalten von analytischen Gedanken und die fortlaufende Anpassung von Datenquellen, Beobachtungsdimensionen und Interviewleitfäden waren kennzeichnend für den Forschungsprozess im Rahmen der vorliegenden Studie. Ebenso wurde entsprechend der Prämisse «all is data» in der Datenanalyse nicht nach Datenformaten (Interviewtranskripte, Schulleitbilder, Lehrpläne, Beobachtungsprotokolle) unterschieden, und das entwickelte Kategoriensystem auf das gesamte Datenmaterial angewandt. Dem lag die konventionentheoretische Annahme zugrunde, dass Konventionen als überindividuelle Logiken weder einzelnen gesellschaftlichen Ebenen (Mikro-, Meso- und Makroebene) noch Akteur*innengruppen zugeordnet werden können und sich Valorisierung auch auf materielle und kognitive Formate stützt (Diaz-Bone 2018).

Wie in Abschn. 4.3.2 erläutert, nimmt die GTM (Strauss und Corbin 1996) eine methodologische Position zwischen Pragmatismus und Strukturalismus ein. Sie wendet sich einerseits gegen den Gedanken, dass Daten nur durch im Voraus definierte Operationalisierungen erfasst werden können – aber auch gegen die Vorstellung, dass theoretisches und empirisches Vorwissen im Forschungsprozess komplett ausgeklammert werden kann (Witzel 2000, S. 3). Andreas Bischof und Monika Wohlrab-Sahr (2018, S. 75) bezeichnen es als weit verbreitetes Vorurteil gegenüber dem Forschungsparadigma der Grounded Theory, dass diese als «naiver Induktivismus» (Kelle 2007, S. 34) gänzlich ohne Vorwissen der forschenden Person stattfinden würde. Denn tatsächlich ist Vorwissen – theoretischer oder empirischer Art – in der Forschungsperspektive der GTM von zentraler Bedeutung und nimmt eine strukturierende Funktion in der Datenanalyse ein (Bischof und Wohlrab-Sahr 2018, S. 75; Mey und Berli 2019, S. 254).

Vorwissen theoretischer und/oder empirischer Art dient als heuristischer Rahmen für die Untersuchung, welcher jedoch stets offen ist für die jeweiligen Relevanzsetzungen des Untersuchungsfelds (Akteur*innen, Dokumente) und so eine in den Daten begründete Theorie (Witzel 2000, S. 3) bzw. eine analytisch-theoretische Generalisierung (Yin 2009) ermöglicht. Das Vorwissen zur FMS Pädagogik, zum musisch-pädagogischen Gymnasialprofil und insbesondere zur Theorieperspektive der EC – kondensiert in den Forschungsfragen und Arbeitshypothesen (Abschn. 3.4) – bestimmt, «wonach sie [die Forschenden, S.H.] eigentlich suchen und wie sie Material erheben, das dieser Frage dienlich ist», ebenso «wonach und wie kodiert wird» (Bischof und Wohlrab-Sahr 2018, S. 75 f.).

Je nach theoretischem Rahmen, der für die Forschung gewählt wird, gestaltet sich das «theorieorientierte Kodieren» (ebd.) bzw. «theoretische Kodieren» (Flick 2002, S. 258; Müller 2018) in der Datenanalyse unterschiedlich. Zudem stellt das Heranziehen einer theoretischen Perspektive – wie derjenigen der EC – bereits ein erstes vergleichendes Moment dar, durch welches der Untersuchungsgegenstand entlang gewisser theoretisch relevanter Dimensionen und Konzept verglichen werden kann (Bischof und Wohlrab-Sahr 2018, S. 75).

Das theoretische Vorwissen bzw. der theoretische Rahmen der Untersuchung wird in der GTM durch ein sogenanntes Kodiermodell, «Kodierparadigma» oder das «paradigmatische Modell» (Strauss und Corbin 1996, S. 78) repräsentiert, welches die Analyse anleitet. Es hat die Funktion, «die Vortheorie in vereinfachter, schematischer Form für die Kodierung des Textkorpus präsent zu halten und die Ausarbeitung des Kodesystems anzuleiten», und «gibt vor, was relevante Textelemente und zu identifizierende Dimensionen sind» (Diaz-Bone 2010, S. 200).

Das Kodierparadigma lenkt den Fokus bei der Kodierung und Analyse der Daten auf ganz bestimmte relevante Textelemente und zu identifizierende Dimensionen, welche im Falle der «ursprünglichen» Grounded Theory die erkenntnistheoretischen Grundlagen des amerikanischen Pragmatismus und des Symbolischen Interaktionismus repräsentieren (ebd., S. 199). Das ursprünglich von Anselm Strauss und Juliet Corbin (1996) ausgearbeitete Kodierparadigma ist damit (sozial-)theoretisch nicht neutral. Die Begründer*innen der GTM haben sich im Anschluss an den symbolischen Interaktionismus dezidiert auf individuelle Handlungsprobleme konzentriert und das Kodierparadigma bestehend aus den Dimensionen ursächliche Bedingungen, Phänomen, Kontext, intervenierende Bedingungen, Handlungs- und interaktionale Strategien sowie Konsequenzen dieser Handlungsprobleme konzipiert (ebd., S. 78).

Mit dieser stark handlungstheoretischen Ausrichtung ist das Kodierparadigma der GTM jedoch nicht für die in dieser Studie angestrebte konventionentheoretische Perspektive geeignet, die eine Position zwischen Pragmatismus und Strukturalismus einnimmt. Das Erkenntnisinteresse nimmt zwar einerseits Akteur*innen und ihre Handlungen in den Blick. Es fragt andererseits aber auch nach der situativen Bewältigung von Handlungsproblemen mit Bezugnahme auf überindividuell existierende Koordinationsprinzipien (Konventionen) und deren materieller und immaterieller Repräsentationen. Somit kann nicht eine dem symbolischen Interaktionismus entspringende und lediglich auf individuelle Handlungsprobleme fokussierende Heuristik als Ausgangspunkt der Datenanalyse dienen.

Eine an der Logik der GTM orientierte Datenanalyse «zwingt» die Forschenden allerdings nicht zum Einsatz des ursprünglich von Corbin und Strauss konzipierten, dem symbolischen Interaktionismus entsprungenen Kodierparadigmas (2015, zit. nach Mey und Berli 2019, S. 250). So hat beispielsweise Diaz-Bone (2010) ein eigenes Kodiermodell für diskursanalytische Verfahren entwickelt, ebenso wie bereits der Bourdieuschen Perspektive entsprechende, praxistheoretische Kodiermodelle existieren (Mey und Berli 2019, S. 250). Mit dem Ziel des methodischen Holismus geht es also auch bei der Anwendung eines Kodierparadigmas um die «sozialtheoretische Passung» (ebd.), welche durch die Anwendung eines zum Erkenntnisinteresse, dem Untersuchungsgegenstand und dem verwendeten theoretischen Rahmen passenden Kodiermodell geleistet werden kann.

Für die vorliegende Studie wurde deshalb ein ‘konventionentheoretisches Kodiermodell’ angewandt. Es beruht auf den in Abschn. 4.1 vorgestellten heuristischen Fragen, die das Erkenntnisinteresse der EC repräsentieren und den Blick bei der Datenanalyse auf theoretisch relevante Dimensionen lenken sollten. Entsprechend der zentralen Prämissen der EC fokussiert das Kodiermodell auf das angestrebte Gemeinwohl (Bildungsziele), Wertigkeitsurteile und -zuschreibungen, Objekte und kognitive Formate, Prüfungen/Tests etc., welche die Datenanalyse anleiteten. Es lenkte im Prozess der Datenanalyse bzw. beim Kodieren den Fokus auf die entsprechenden theoretisch relevanten Elemente und Zusammenhänge, ohne dabei empirische Ergebnisse vorwegzunehmen.

Zur forschungspraktischen Anwendung des Kodiermodells bietet die GTM methodische «Werkzeuge» an, welche einerseits Offenheit gegenüber dem Untersuchungsgegenstand ermöglichen, gleichzeitig aber auch intersubjektiv nachvollziehbare, systematische, kontrollierte und regelgeleitete Arbeitsschritte vorschlagen (Mey und Berli 2019, S. 244; Mey und Mruck 2011b, S. 12). Die konkrete Analyse des Datenmaterials wird durch das «theoretische Kodieren» ermöglicht, dessen einzelne Schritte und konkrete Umsetzung im Folgenden skizziert werden.

4.4.2 Theoretisches Kodieren

Das Ziel der theoretischen Generalisierung (Yin 2009) bzw. der Generierung einer empirisch gesättigten Theorie geschieht in der GTM mit Hilfe von theorieorientiertem bzw. theoretischem Kodieren (Bischof und Wohlrab-Sahr 2018, S. 74; Müller 2018; Flick 2002). Das Datenmaterial wird kodiert, um «die Vielfalt unterschiedlicher Aussagen […] auf ihren allgemeinen Kern zu reduzieren, zusammenzufassen und zu verdichten» (Krotz 2005, S. 179). Angestrebt wird eine «theoretische Sättigung» (Strauss und Corbin 1996, S. 159), welche dann erreicht ist, wenn sich aus den empirischen Daten keine neuen Erkenntnisse mehr ziehen lassen und sich die bisherigen und gegebenenfalls neue Daten ohne Widersprüche in die gebildete Theorie einordnen lassen (Müller 2018, S. 154). Dabei ist es nicht nötig, das gesamte Datenmaterial systematisch zu kodieren. Beim theoretischen Kodieren werden empirische Beobachtungen schrittweise in abstrakte Konzepte und Kategorien überführt und deren theoretische Zusammenhänge herausgearbeitet (Bischof und Wohlrab-Sahr 2018, S. 74 f.). Die Grounded Theory schlägt hier das dreischrittige Verfahren des offenen, axialen und selektiven Kodierens vor, welche entsprechend dem iterativ-zyklischen Vorgehen bei der Datenerhebung und -analyse ebenfalls nicht streng getrennt nacheinander ablaufen, sondern sich gegenseitig abwechseln oder gleichzeitig ablaufen.

4.4.2.1 Kodierschritte

Der Kodierprozess – der in der GTM gleichzeitig und von Beginn an immer auch bereits Interpretations- und Analyseprozess ist (Strauss und Corbin 1996, S. 43 f.) – beginnt mit dem offenen Kodieren. Ziel ist, empirisches Rohmaterial möglichst zügig in «Konzepte» zu überführen: «Ähnliche Daten werden zusammengefasst und mit einer konzeptuellen Bezeichnung versehen» (ebd., S. 13). Strauss und Corbin (1996) sprechen hier auch von einem «Aufbrechen» der Daten. Dabei geht es darum, eine Aussage nicht lediglich beschreibend wiederzugeben, sondern «das Gesagte oder das Beobachtete auf seine inneren Zusammenhänge zu befragen» (Bischof und Wohlrab-Sahr 2018, S. 79).

In der vorliegenden Studie bedeutete dies, nach den Bildungszielen (Gemeinwohl), nach Valorisierungen und Devalorisierungen (von Wissensinhalten, Praktiken der Wissensvermittlung, Schüler*innen und Lehrpersonen etc.), nach Kritik und Rechtfertigungen, oder nach relevanten Objekten und kognitiven Formaten (etwa schulischen Gefäßen, Typisierungen und Klassifizierungen, Unterrichtsmaterialien u. ä.) zu fragen, und die analysierte Datensequenz zum Erkenntnisinteresse und den Arbeitshypothesen in Beziehung zu setzen. Letztendlich geht es beim ersten Schritt des offenen Kodierens darum zu fragen, was die interessierende Stelle im Datenmaterial für die Forschungsfrage bedeuten könnte und in diesem Kontext erste, noch vorläufige Konzepte zu entwickeln (ebd., S. 79; Müller 2018, S. 156 f.). Es geht folglich immer bereits um eine Interpretation der Daten im Gegensatz zu bloßer Deskription und Sammlung von deskriptiven Begriffen (Friese 2018, S. 279).

Dabei sollte das formulierte Konzept konkret genug sein, um die Spezifik und den Gehalt der kodierten Passage zu erhalten, gleichzeitig abstrakt genug, um möglicherweise auch auf andere Passagen und Datenquellen anwendbar zu sein (Müller 2018, S. 156 f.). Das übergeordnete Ziel des offenen Kodierens als erstem Schritt ist folglich, «inhaltliche Umschreibungen für Passagen zu finden, die ebenfalls auf potenzielle weitere Fundstellen passen (können)» (ebd.). Dabei können einzelne Konzepte bereits untereinander verglichen und unter einem Konzept höherer Ordnung – einer Kategorie – zusammengefasst werden, wenn sie sich beispielsweise auf ein ähnliches Phänomen beziehen (Strauss und Corbin 1996, S. 43). Dies bildet bereits den ersten Schritt des axialen Kodierens.

Beim offenen Kodieren entsteht – insbesondere bei umfangreichem und dichtem Datenmaterial – eine relativ große Anzahl von Konzepten. Die Herausforderung hierbei ist, diese nicht bloß anzuhäufen, «sondern sie im Hinblick auf die Entwicklung einer Theorie auch zu integrieren» (Bischof und Wohlrab-Sahr 2018, S. 87 f.). Als zweiter Analyseschritt hat das axiale Kodieren deshalb zum Ziel, die gebildeten Konzepte darauf zu prüfen, ob sie sich auf ein gemeinsames Phänomen beziehen, und daraus Kategorien als «höherwertige, abstraktere Konzepte» zu entwickeln, welche bereits «Ecksteine der sich herausbildenden Theorie» darstellen können (ebd.).

Das Bilden und Benennen von Kategorien ist allerdings nicht mit einer bloßen Zuordnung von Konzepten zu einer Kategorie zu verwechseln. Die Kategorienbildung erfordert Prozesse des Interpretierens und Abstrahierens und «erfassen bereits Zusammenhänge zwischen Konzepten» (ebd.). Eine Hilfestellung hierbei bietet die Technik des «Dimensionalisierens», also die Frage danach, welche der gefundenen Konzepte beispielsweise eine übergeordnete Kategorie darstellen und welche anderen Konzepte diese Kategorie in verschiedenen Dimensionen als Eigenschaften oder Aspekte «entfalten» (ebd., S. 88; Müller 2018, S. 158).

In der vorliegenden Studie wurden zur Bildung übergeordneter Kategorien die bereits für die konventionentheoretische Forschung im Bildungsbereich (Derouet 1989, 1992; Leemann und Imdorf 2019a) als bedeutsam herausgearbeiteten Kategorien wie Bildungsziele, Wissensformen, Praktiken der Wissensvermittlung, schulische Beziehungen und weitere herangezogen (siehe Anhang). Da sie bereits als heuristische Dimensionen bei der Datenerhebung leitend waren, eigneten sie sich auch bei der Datenanalyse als fruchtbare Hilfe für die Bildung von Kategorien.

Die untergeordneten Konzepte und empirisch beobachteten Phänomene jedoch wurden in einem ersten Schritt induktiv am Datenmaterial gebildet und umfassten viele nicht vorhergesehene Aspekte. Die oben genannten Kategorien dienten anschließend als wertvolle Strukturierungshilfe für die Bildung übergeordneter Kategorien. Forschungspraktisch wurde dies dergestalt umgesetzt, dass nach dem offenen Kodieren (was immer auch Analysieren und Interpretieren meint) der ersten Interviews mit Hilfe von atlas.ti eine Liste aller gebildeten Konzepte ausgegeben wurde. Zu Beginn umfasste sie circa 250 Konzepte. Anschließend wurden in mehreren Arbeitsschlaufen mit visuellen Hilfsmitteln (Farben, Symbole) ähnliche Konzepte gruppiert, inhaltliche Redundanzen beseitigt und mit Unterstützung der von Derouet (1989, 1992) inspirierten Dimensionen sowie den in Abschn. 3.4 formulierten Forschungsfragen und Arbeitshypothesen strukturiert und zusammengefasst. Dafür wurden ggf. sämtliche einem Konzept zugeordnete Textstellen noch einmal gelesen und auf ihre Passung zu neuformulierten oder zusammengefassten Konzepten oder Kategorien geprüft.

So ergab sich eine vorläufige Liste von übergeordneten Kategorien (wie etwa Bildungszielen), untergeordneten Konzepten als Eigenschaften oder Dimensionen (wie etwa Vorbereitung auf die hochschulische Ausbildung oder die zukünftige gesellschaftliche Funktion) sowie verschiedenen Konzepten, die vorläufig noch ohne theoretische Bedeutung oder Zuordnung zu einer Kategorie blieben. Dieses vorläufige System wurde dann auf weitere Datenquellen angewandt und an ihnen geprüft, wodurch sich gewisse Zuordnungen bestätigten oder andere wieder aufgelöst und neu sortiert werden mussten. So stellte sich zunehmend eine theoretische Sättigung ein, und mit fortschreitender Analyse erwies sich das Kodiersystem als immer robuster bzw. es mussten immer weniger Um- und Neuordnungen vorgenommen werden.Footnote 10

Die Kategorienbildung geht stets mit dem Entwickeln und Formulieren von Hypothesen einher, welche die Datenanalyse voranbringen (Bischof und Wohlrab-Sahr 2018, S. 89). Der Begriff des «axialen» Kodierens impliziert zudem, dass die gebildeten übergeordneten Kategorien gegebenenfalls zueinander in Beziehung gesetzt und auch hier entsprechende Hypothesen entwickelt werden. Das Ziel in der GTM ist das Herausarbeiten einer oder mehrerer «Kernkategorie/n» im Rahmen des dritten Kodierschritts des selektiven Codierens (Strauss und Corbin 1996, S. 94), welches Hinweise auf die Beantwortung der Forschungsfrage gibt und die Theoriegenerierung vorantreibt (Müller 2018, S. 160). Das Ziel der vorliegenden Studie lag allerdings nicht auf der Bildung einer Kernkategorie, weswegen das diesbezügliche Vorgehen an dieser Stelle nicht weiter ausgeführt wird.

Im Prozess des offenen und axialen Kodierens entstanden rund 13 Kategorien, indem Unterkategorien und -Konzepte zusammengefasst und ggf. zueinander in Beziehung gesetzt wurden. Dabei wurde teilweise unterstützend mit der Netzwerkansicht in atlas.ti gearbeitet, die das In-Beziehung-Setzen von Konzepten und Kategorien visuell unterstützt. Diese Kategorien wurden im Rahmen der Ergebnisdarstellung weiter zusammengefasst, kondensiert und auf die Forschungsfrage hin zugespitzt. Das Verfassen von Memos und Notizen in atlas.ti unterstützte diesen Prozess:Footnote 11

  • Kodekommentare zu den Bezeichnungen einzelner Konzepte und Kategorien: Welche Art von Aussagen sind mit dem Konzept gemeint, welche nicht? Welche Konzepte bilden warum welche Kategorie, welche möglichen anderen Ausprägungen sind vorstellbar?

  • Zitatkommentare zu den kodierten Textpassagen: Welche analytischen Gedanken kommen hier auf? Worauf verweisen die Aussagen? Auch Ideen und Gedanken zu inhaltlich ähnlichen Passagen anderer Transkripte oder Beobachtungsprotokolle wurden festgehalten.

  • Analytische Notizen: Ergaben sich aus den Kode- und Zitatkommentaren weitere analytische Gedanken, wurden diese mit der Memo-Funktion in atlas.ti oder in separaten Textverarbeitungsprogrammen festgehalten.

Diese Notizen trugen wesentlich zum Prozess der konstanten Analysearbeit, Hypothesenbildung und deren erneuter Prüfung am Datenmaterial bei. Auch das Verfassen von Publikationen im Verlauf der Datenanalyse (Hafner 2019a, b, c; Hafner et al. 2019) unterstützte den Prozess der Hypothesenbildung und Theoriegenerierung wesentlich.

Für die abschließende Analyse und Ergebnisdarstellung wurden sämtliche einer Hauptkategorie (wie etwa Bildungsziele) zugehörigen Subkategorien und Konzepte aus atlas.ti in das Textverarbeitungsprogramm Word übertragen, dort noch einmal gesichtet und deren Ordnung mit Blick auf die Forschungsfrage(n) gegebenenfalls angepasst, so dass eine strukturierte Zusammenstellung aller Textstellen (Interviews, Beobachtungen, LehrplaninhalteFootnote 12) pro Hauptkategorie als Grundlage für die Verschriftlichung der Ergebnisse entstand.

In Kap. 5 bis 7 werden die Ergebnisse der vorliegenden Studie entlang der drei forschungsleitenden Fragestellungen präsentiert. Sie alle tragen Teilaspekte zur Erklärung der übergeordneten Forschungsfrage nach der unterschiedlichen und sich historisch verändernden Bedeutung der FMS Pädagogik und des musisch-pädagogischen Gymnasialprofils für die Ausbildung von Primarlehrpersonen bei.

Kap. 5 beschäftigt sich mit der in historischer Veränderung begriffenen Bedeutung der FMS Pädagogik. Es wird der umkämpfte Institutionalisierungsprozess der FMS Pädagogik dargestellt und erklärt, wie sich die Fachmittelschule mit Profil und Fachmaturität Pädagogik trotz wiederholter Kritik und in Anbetracht des gymnasialen «Königswegs» als Zugangsweg in die Ausbildung von Primarlehrpersonen an PH institutionalisieren und etablieren konnte.

In Kap. 6 erfolgt eine deskriptive Übersicht über Erkenntnisse zur aktuellen quantitativen Bedeutung der FMS Pädagogik und des musisch-pädagogischen Gymnasialprofils für die Ausbildung von Primarlehrpersonen. Dazu werden die Anteile Studierender im Studiengang Primarstufe mit verschiedenen Zulassungsausweisen präsentiert sowie Übertrittsquoten in die Tertiärstufe bzw. in Studiengänge von Universitäten, Fachhochschulen und Pädagogischen Hochschulen von Absolvierenden der beiden untersuchten Profile dargestellt.

Eine Erklärung der gegenwärtig unterschiedlichen Bedeutung aus qualitativer Perspektive und damit die Beantwortung der dritten Forschungsfrage erfolgt im Kap. 7, das eine Synthese drei vertiefter Fallstudien zu den Charakteristika und Spezifika der schulischen Profile der FMS Pädagogik und des musisch-pädagogischen Gymnasialprofils darstellt. Die Ergebnisse werden entlang zentraler Dimensionen jeweils für die FMS Pädagogik und anschließend für das musisch-pädagogische Gymnasialprofil präsentiert und dabei jeweils einzelfallspezifische Besonderheiten hervorgehoben. Das Kapitel schließt mit einer fallübergreifenden Analyse und Interpretation der Ergebnisse.