In diesem Kapitel wird der theoretische Rahmen dargestellt, der die Analyse der unterschiedlichen und sich historisch verändernden Bedeutung der FMS Pädagogik und des musisch-pädagogischen Gymnasialprofils anleitet. Hierzu wird für den Institutionalisierungsprozess der FMS Pädagogik die Educational Governance-Perspektive sowie für die Untersuchung der schulischen Charakteristika der beiden untersuchten Profile der Schulkulturansatz in Betracht gezogen. Da beide Ansätze konzeptionelle Lücken und Desiderata aufweisen, wird als gemeinsame Analyseperspektive die Économie des Conventions (EC) vorgeschlagen, um den formulierten Desiderata zu begegnen.

3.1 Analyse von Institutionalisierungsprozessen in föderalistischen Systemen: Educational Governance-Forschung

Die erste Fragestellung dieser Studie beschäftigt sich damit, wie sich die FMS Pädagogik trotz wiederholter Kritik und Infragestellung, trotz des gymnasialen «Königswegs» und trotz der Einführung des musisch-pädagogischen Gymnasialprofils als funktionaler Ersatz der Lehrer*innenseminare institutionalisieren und zum bundesrechtlich anerkannten Zugangsweg in die Ausbildung von Primarlehrpersonen an PH entwickeln konnte.

Es geht bei dieser Frage um bildungspolitische Reformen (Tertiarisierung der Lehrpersonenbildung, Institutionalisierung der FMS Pädagogik als Zubringerin zur PH) und deren Konsequenzen, um eine Transformation und Veränderung im Bildungswesen, und dies im komplexen Kontext des (schweizerischen) Bildungsföderalismus. Die föderalistische Tradition der Schweiz ist speziell im Bildungswesen und ganz besonders in der Lehrpersonenbildung sehr ausgeprägt, so dass der Staat hier traditionell keine oder nur sehr begrenzte Steuerungsmacht hat (zum schweizerischen Bildungsföderalismus siehe Abschn. 5.1.1). Daher ist insbesondere im Schulwesen und in der Lehrpersonenbildung keine zentralisierte top-down-Steuerung möglich, sondern für übergreifende Regelungen und Transformationen ist eine Handlungskoordination der beteiligten Akteur*innen (so etwa der kantonalen Erziehungsdirektoren (EDK), von Leitenden der Institutionen der Lehrpersonenbildung etc.) nötig, um eine gemeinsame Lösung zu finden und diese zu institutionalisieren.

Bisher wurden solche Prozesse und Fragestellungen der bildungs(politischen) Handlungskoordination überwiegend aus der analytischen Perspektive der Educational Governance-Forschung (EG) untersucht (Altrichter 2015; Maag Merki und Altrichter 2015; Altrichter und Maag Merki 2016). Im Gegensatz zur früheren Vorstellung, wonach Reform- und Veränderungsprozesse im Bildungssystem «top down» von einer staatlichen Regelungsinstanz implementiert und gesteuert werden, untersucht dieser Forschungsansatz «das Zustandekommen, die Aufrechterhaltung und die Transformation sozialer Ordnung und sozialer Leistungen im Bildungswesen unter der Perspektive der Handlungskoordination zwischen verschiedenen Akteur*innen in komplexen Mehrebenensystemen» (Altrichter 2015, S. 35; Maag Merki und Altrichter 2015, S. 399). Der schweizerische Bildungsföderalismus als kooperatives Gebilde (Rosenmund 2011) stellt ein solches Mehrebenensystem dar. Auch hier müssen sich die beteiligten Akteur*innen auf verschiedenen Ebenen (so etwa die kantonalen Erziehungsdirektoren (EDK) auf Ebene des Staatenbunds sowie mit Akteur*innen innerhalb des Kantons und der PH als Abnehmerinstitution) koordinieren, um soziale Ordnung und Leistungen im Bildungswesen herzustellen und zu einer Übereinkunft – etwa über die Funktion der FMS Pädagogik als Zubringerin zur tertiarisierten Lehrpersonenbildung – zu kommen.

Die dafür notwendige Regulierung und Absprache zwischen den Kantonen wird aus der Educational Governance-Perspektive als eine «Frage der Handlungskoordination, der wechselseitigen Handlungsanpassung» (Altrichter 2015, S. 28) bzw. als «Koordinationsprozess in einem Mehrebenensystem» (Maag Merki und Altrichter 2015, S. 398) verstanden und als solcher zum zentralen Untersuchungsgegenstand. Das Hauptaugenmerk und analytische Interesse der EG-Forschung liegt folglich auf der Handlungskoordination zwischen verschiedenen Akteur*innen und Akteurskonstellationen im Kontext komplexer (bildungspolitischer) Mehrebenenprozesse. Insofern schiene sie als theoretisch-konzeptioneller Rahmen für die Analyse des Institutionalisierungsprozesses der FMS Pädagogik durchaus geeignet.

An der Perspektive der Educational Governance sind allerdings verschiedene Kritikpunkte formuliert worden. Einer davon ist, dass sie in ihrer Abgrenzung zur staatlichen top-down-Steuerung blind sei für Fragen der Macht (Blumenthal 2014, S. 101). Aber selbst im schweizerischen Bildungsföderalismus ist davon auszugehen, dass Koordinationsprozesse zwischen den kantonalen Erziehungsdirektoren (EDK) im Rahmen der interkantonalen Koordination und die Impulse aus dem Generalsekretariat der EDK nicht völlig machtfrei vonstatten gehen.Footnote 1

Ebenso fokussiere die EG-Perspektive zu stark auf reine Legitimierung eines politischen Systems durch einen wie auch immer gearteten Output im Sinne einer Problemlösung, die dem Gemeinwohl zugutekomme (Scharpf 1999, S. 16, zit. nach Blumenthal 2014, S. 102). Dass dieses Gemeinwohl jedoch unterschiedlich bewertet werde und «in pluralistischen Gesellschaften notorisch umstritten» sei (Haus 2010, S. 461, 464 f., zit. nach. Blumenthal 2014, S. 102), werde nicht berücksichtigt. Es stellt sich also die Frage nach der Art des Gemeinwohls, das in der Handlungskoordination angestrebt wird – welche aus der Perspektive der EG nicht geklärt werden kann. Jürgen Kussau und Thomas Brüsemeister (2007, S. 33) verweisen in diesem Zusammenhang darauf, dass Akteur*innen im Bildungssystem jeweils bestimmten «Sinnlogiken verpflichtet» seien, so zum Beispiel «administrative[n], pädagogische[n], wirtschaftliche[n], wissenschaftliche[n] oder professionsbezogene[n]». Ähnlich schreibt Schimank (2007), dass etwa Lehrpersonen «eben in ihrem beruflichen Handeln nach etwas völlig anderem als Ärzte oder Journalisten [streben, S.H.], weil sie in ganz anderen gesellschaftlichen Teilsystemen […] agieren» (ebd., S. 235).

Dahinter steht eine systemtheoretische Betrachtungsweise, welche bestimmten gesellschaftlichen Teilsystemen oder Berufsgruppen bestimmte Sinn- und Handlungslogiken zuordnet. Dies würde bedeuten, dass gewisse Akteur*innen bestimmten, immer gleichen Handlungsorientierungen verpflichtet wären. Dass tatsächlich aber auch innerhalb ein und desselben gesellschaftlichen Teilbereichs oder -systems verschiedene Sinn- und Handlungslogiken aufeinandertreffen können, bleibt aus der EG-Perspektive unterbeleuchtet. Dass in diesem Zusammenhang auch alternative und plurale, gleichzeitig existierende Sinnangebote denkbar wären, ist Gegenstand von Abschn. 3.3.

Mit dem Fokus der EG-Perspektive auf «intentionale Gestaltung» sozialer Ordnung (ebd., S. 232) geraten im Weiteren unintendierte Folgen von Reform- und Transformationsprozessen aus dem Blick. Herbert Altrichter und Katharina Maag Merki (2016, S. 6) betonen zwar die Bedeutung der Betrachtung unintendierter Konsequenzen im Rahmen eines erweiterten Steuerungskonzeptes. Sie verstehen diese unintendierten Konsequenzen aber mehr im Sinne von zusätzlichen Handlungsanforderungen für die Akteur*innen denn als zu erklärender Sachverhalt. Im Rahmen der vorliegenden Fragestellung zum Institutionalisierungsprozess der FMS Pädagogik ist gerade angesichts der Kritik und Infragestellung dieses Schultyps die Möglichkeit mitzudenken, dass hierbei auch unintendierte Konsequenzen und Prozesse eine Rolle spielten. Insofern ist in der vorliegenden Studie nicht zuletzt auch das Zustandekommen unintendierter Prozesse und deren Wirkung von Interesse.

Des Weiteren geht die EG-Perspektive davon aus, dass sich Akteur*innen in ihrem Handeln auf Institutionen und «institutionalisierte Regelsysteme» stützen, welche ihnen «Erwartungs- und Entscheidungssicherheit» bieten (Maag Merki und Altrichter 2015, S. 400; Altrichter 2015, S. 28 f.). Wie aber bisherige Forschung zur Governance in der Lehrpersonenbildung zeigt (Lehmann 2013), können Institutionen im Sinne von Regeln und Reglementen im schweizerischen Bildungsföderalismus durchaus unterschiedlich ausgelegt und umgesetzt werden, so dass in theoretisch-konzeptioneller Hinsicht der Fokus stärker auf die Art und Weise der Interpretation von Institutionen gelegt werden muss, als deren Existenz lediglich «als Handlungskontext» (Maag Merki und Altrichter 2015, S. 400) zu konzeptualisieren.

Aufgrund dieser Kritikpunkte ist es naheliegend, zur Erklärung der bildungspolitischen Dynamiken und Prozesse, welche zur Institutionalisierung der FMS mit Fachmaturität Pädagogik als Zugangsweg in die Lehrpersonenbildung geführt haben, eine alternative oder ergänzende theoretische Perspektive einzunehmen, welche die genannten Desiderata der Educational Governance-Perspektive erfüllt. Dies würde auch der Kritik der Vertreter der EG selbst gerecht (Schimank 2007), dass diese «mehr theoretische Untermauerung und theoretischen Bezug» benötige und «im Zusammenhang mit anderen Theorieansätzen» reflektiert werden solle (Langer und Brüsemeister 2019, S. 1). So sollen Studien, die sich mit Fragen von Governance beschäftigen, etwa Akteurs- und Handlungstheorien einbeziehen, um «die Koordinationsleistungen der verschiedenen Akteurinnen und Akteure im Mehrebenensystem zu untersuchen» (Maag Merki und Altrichter 2015, S. 403).

In der vorliegenden Studie wird als theoretischer Rahmen deshalb auf die Économie des Conventions (EC) zurückgegriffen, welche den formulierten Desiderata begegnet und deren Eignung für Fragen der Bildungsgovernance (Leemann und Imdorf 2019a, S. 28) unter anderem bereits von Doris Graß und Matthias Alke (2019), Leemann (2019) sowie Thorsten Peetz und Moritz G. Sowada (2019) aufgezeigt wurden.

3.2 Analyse von schulischen Charakteristika: Schulkulturforschung

Die dritte Fragestellung der vorliegenden Studie widmet sich den Charakteristika und Spezifika, welche das schulische Profil der FMS Pädagogik und des musisch-pädagogischen Gymnasialprofils konstituieren. Darauf basierend soll die Frage beantwortet werden, wie durch diese unterschiedlichen schulischen Charakteristika die unterschiedliche Bedeutung der beiden Profile für die Primarlehrpersonenbildung erklärt werden kann.

Geht es um die qualitativ-empirische Erforschung schulischer Profile, Eigenarten oder Charakteristika als Teil eines Gesamtzusammenhangs im Sinne einer Gesamteinheit aus verschiedenen Elementen wie etwa der «Art des Lernens, Erziehens und der Organisation den unterschiedlichen Akteur*innen einer Schule und diversen Umwelteinflüssen» (Holtappels 1995, S. 12 f., zit. nach Fernandez et al. 2019, S. 485), wird in theoretisch-konzeptioneller Hinsicht im deutschen Sprachraum häufig auf den Schulkulturansatz (Helsper et al. 2001; Kramer 2015; Helsper 2008; Böhme et al. 2015) zurückgegriffen.

Ursprünglich auf Fend zurückgehend, hatte der Begriff Schulkultur in seinen Anfängen eine normative Bedeutung und Schulen wurden entlang verschiedener Dimensionen dahingehend analysiert, inwiefern sie ‘reich’ oder ‘arm’ an Kultur seien (Fernandez et al. 2019, S. 486). Die jüngere und aktuelle Forschung zu SchulkulturFootnote 2 rückt die «Unterschiedlichkeit von Schulkulturen» ins Zentrum (ebd., S. 486). Sie nimmt im Gegensatz zur normativen eine deskriptiv-analytische Perspektive ein (Lindner 2019, S. 492) und ist daher zur Erfassung und Beschreibung der Pluralität von Schulen respektive Schulkulturen geeignet, welche keine impliziten oder expliziten Vorstellungen von mehr oder weniger Schulkultur als zu erreichendes Ziel formulieren (Fernandez et al. 2019, S. 486).

Dieser neuere Schulkulturbegriff und seine Konzeption wurde im Wesentlichen von Werner Helsper im Kontext eines Forschungsprojekts zu Transformationsprozessen der Schulkultur an ostdeutschen Gymnasien geprägt (Kramer 2015, S. 23). Anstelle von Fends Dimensionen definierte Helsper Schulkultur als Spannungsfeld des «Realen», «Symbolischen» und «Imaginären» (Helsper et al. 2001; Helsper 2008, S. 67).

Während das Reale sowohl die «materialisierte Struktur schulischer Räume» (etwa Schulräume und -häuser, ihre Ausstattung, Lerngegenstände etc.) als auch die grundlegenden Strukturen des Bildungssystems (beispielsweise seine Mehrgliedrigkeit) oder die Antinomien pädagogischen Handelns (Helsper 1996) umfasst, bezeichnet das Imaginäre die «idealen pädagogischen Entwürfe der jeweiligen Schule sowie die damit verbundenen institutionellen Selbstentwürfe, die die schulischen Akteure konstruieren» (Helsper 2008, S. 67). Dies schlägt sich etwa in Reden zu Schuljahresbeginn, in Schulprogrammen und -broschüren oder dem Webauftritt nieder und dient der Selbstpräsentation und -darstellung der Schule (ebd., S. 68).

Das Symbolische der Schulkultur entfaltet sich auf der Handlungsebene bzw. der Mikro- oder Interaktionsebene und zeigt sich in Praktiken, Interaktionen, Routinen sowie Objektivationen und umfasst die konkrete Ebene des Unterrichts, seiner Inhalte und die verwendeten Materialien, aber auch die «Praktiken der Kontrolle, der Beurteilung, des Strafens, der moralischen Rechenschaftslegung etc.» (ebd., S. 69).

In diesem Spannungsfeld, welches jede Schulkultur konstituiert, unterscheiden Helsper et al. die Dimensionen Leistung, Inhalte, pädagogische Orientierungen und Partizipationsformen (2001, S. 36). Datengrundlage für die Rekonstruktion von Schulkulturen sind Interviewtranskripte, Texte zur Selbstdarstellung der jeweiligen Schule, Protokolle von Reden der jeweiligen Schulleitenden zu Schuljahresbeginn, oder «protokollierte Sprechakte der Unterrichtskommunikation» (Idel und Stelmaszyk 2015, S. 62). Von den Vertreter*innen des Schulkulturansatzes wurde zur Analyse der Schulkultur das methodologische Design der «qualitativen Mehrebenenanalyse» ausgearbeitet (Hummrich und Kramer 2018; Helsper et al. 2013).

Zusammengefasst nimmt der Schulkulturansatz die Schule als Gesamtzusammenhang aus Strukturen, Materialitäten, Selbstentwürfen und tatsächlichen Praktiken in den Blick (Idel und Stelmaszyk 2015, S. 62) und scheint daher auf den ersten Blick geeignet für die kontrastierende Untersuchung der FMS Pädagogik und des musisch-pädagogischen Gymnasialprofils als Schulkulturen. Allerdings lassen sich auch am Schulkulturansatz Kritikpunkte und theoretisch-konzeptionelle Desiderata ausmachen, welche das Herbeiziehen einer alternativen theoretischen Perspektive nahelegen.

Aus Helspers Perspektive wird Schulkultur «generiert durch die handelnde Auseinandersetzung der schulischen Akteur*innen mit übergreifenden, bildungspolitischen Vorgaben und Strukturierungen vor dem Hintergrund historischer Rahmenbedingungen und der sozialen Auseinandersetzung um die Durchsetzung und Distinktion pluraler kultureller Ordnungen und deren Hierarchisierung» (Helsper 2008, S. 66 f.). Der Verweis auf übergreifende Strukturierungen und die Begriffe der Distinktion und Hierarchisierung deuten bereits auf die dominante strukturalistische Fundierung im Schulkulturansatz Helspers hin, welche sich auf systemtheoretische und strukturtheoretische Elemente stützt (Kramer 2015, S. 24). Diese Perspektive gewann im zeitlichen Verlauf an Dominanz und fokussierte vermehrt schulkulturelle Passungsverhältnisse im Kontext der Bourdieuschen Habitus- und Distinktionstheorie und damit Fragen von (Re-)produktion sozialer Ungleichheit und den dazu führenden Inklusions- und Exklusionsprozessen (Fernandez et al. 2019, S. 486).

Rolf-Thorsten Kramer (2015, S. 38) kritisiert allerdings, dass aufgrund dieser dominanten strukturalistischen Perspektive mit ihrem Fokus auf die prägende Wirkung struktureller Elemente die tatsächlichen schulischen Praktiken zu wenig Aufmerksamkeit erhalten würden. Somit fordern Vertreter*innen des Schulkulturansatzes selbst einen verstärkten Fokus auf Praktiken, um «die bisher noch immer bestehende Lücke in Bezug auf den systematischen Einbezug der Ebene des Unterrichts im Schulkulturansatz» zu schließen (Kramer 2015, S. 43) und sich verstärkt auch einer «Analyse des Unterrichts als Vermittlungsgeschehen» hinzuwenden (Idel und Stelmaszyk 2015, S. 63). Dafür sei «das Geschehen im Klassenzimmer stärker als gegenstandsbezogener Unterricht in seinen Arrangements» denn als bloße sozialisatorische, Inklusions- und Exklusionsprozesse produzierende Praxis in den Blick zu nehmen (ebd., S. 64). Im Kontext eines erweiterten Kulturbegriffs sollen daher auch «stärker körperliche Praktiken sowie Räume und Dinge» in die Analyse einbezogen werden, was im Endeffekt zu einem stärker praxistheoretischen Verständnis von Schulkultur führen könnte (ebd.).

In diesem Zusammenhang schlagen Till-Sebastian Idel und Bernhard Stelmaszyk (2015) zudem vor, die qualitative Mehrebenenanalyse der Schulkulturforschung (reale, imaginäre und symbolische Ebene) um die Ebene der gesellschaftlichen Diskurse zu erweitern und zu untersuchen, wie diese «in die innerschulische Sinnproduktion hineinreichen» (ebd., S. 64). Mit der Prämisse eines stärkeren Fokus auf die Handlungs- und Interaktionsebene, Materialitäten sowie Praktiken der Akteur*innen wird im Rahmen dieser Studie vorgeschlagen, das (Mehr-)ebenenkonzept der Schulkulturforschung aufzugeben und stattdessen die Schulkultur als ‘Situation’ zu konzeptualisieren (siehe nachfolgendes Kapitel), die (auch) durch außerschulische, sozio-kulturelle Handlungslogiken fundiert ist.

Dies hätte auch eine Abkehr vom bisherigen Fokus auf Prozesse der Inklusion, Exklusion und Distinktion vor dem Hintergrund der Bourdieuschen Habitustheorie zur Folge, welche die Schulkultur als jeweils «durchgesetzte Dominanzkultur» im Sinne einer «Hegemonialkultur» konzipiert (Kramer 2015, S. 29). Die bisherige Schulkulturforschung im Anschluss an Helsper stellt nämlich den primären, sekundären und professionellen (im Fall der Lehrpersonen) Habitus und die entsprechenden Passungsverhältnisse in Zentrum.Footnote 3 Es wird untersucht, «wie Einzelschulen als sozial distinktive und selektive ‘Institutionen-Milieu-Komplexe’ (Helsper 2006, zit. nach Idel und Stelmaszyk 2015, S. 59) mit bestimmten kulturellen Präferenzen bestimmte Schülerhabitus figurieren und damit bestimmten Schülern bestimmte Passungsverhältnisse offerieren» (Idel und Stelmaszyk 2015, S. 59).

Aus einer solchen Perspektive, welche den schulischen Akteur*innen mit ihren vorreflexiven Wahrnehmungs- Denk- und Handlungsschemata als festen Dispositionen (Habitus) reflexive Kompetenzen im Sinne von agency abspricht, bleibt die konstitutive Rolle der Akteur*innen und ihrer Praktiken bei der Herstellung von Schulkultur unterbeleuchtet. Wenn man aus einer Bourdieuschen Perspektive die Akteur*innen und ihr Handeln vorreflexiv durch gesellschaftliche Strukturen geprägt konzipiert sieht, steht dies im Widerspruch zum Bestreben des Schulkulturansatzes, auch Materialitäten, Räumlichkeiten und Artefakte in die Analyse mit einzubeziehen. Wenn man diese in die Analyse einbezieht, müsste auch ihre Rolle und Funktion im Gesamtzusammenhang der Schulkultur geklärt werden, und inwiefern sie (und nicht nur der individuelle Habitus) das Handeln der Akteur*innen mitstrukturieren.

Auch deshalb wird in der vorliegenden Studie vorgeschlagen, die Kognition und das Handeln von Individuen nicht nur als Funktion ihres Habitus, sondern geknüpft an die jeweilige schulische Situation und deren Ausstattung mit Personen, Materialitäten und kognitiven Formaten (Diaz-Bone 2018, S. 328) zu konzeptualisieren. Damit würde auch der Anspruch erfüllt, die sozialisierende Wirkung der Schulkultur selbstFootnote 4 in den Blick zu nehmen, welche sich durch die handlungspraktische Auseinandersetzung der Akteur*innen mit den Personen, Objekten, kognitiven Schemata und Koordinationserfordernissen einer schulischen Kultur konstituiert.

Helsper et al. (2001, S. 39) beschreiben die Schulkultur mit ihren verschiedenen Ebenen (des Realen, Symbolischen und Imaginären sowie den Dimensionen der Leistung, der Inhalte, der pädagogischen Orientierungen und den Partizipationsverhältnissen) als von Spannungen und Widersprüchlichkeiten geprägt. Insofern erstaunt es, dass der Schulkulturansatz gleichzeitig von der Bourdieuschen Konzeption eines in sich kohärenten Individuum ausgeht (Barthe et al. 2016). Es stellt sich dann nämlich die Frage, wie ein kohärentes Individuum in Abhängigkeit seines (kohärenten) Habitus überhaupt eine Passung zu einer unkohärenten – also von Spannungen und Widersprüchlichkeiten durchzogenen – Schulkultur erfahren kann.

Von Interesse ist in der vorliegenden Studie daher vielmehr, wie sich die schulische Kultur als ‘Situation’ jeweils in gemeinsamer Konstruktion durch die Akteur*innen, Materialitäten und kognitiven Schemata konstituiertFootnote 5 – diese schulische Situation die Kognitionen und Praktiken der beteiligten Akteur*innen aber wiederum auch prägt und mitstrukturiert. Daher wird im Anschluss an die von den Vertretern*innen des Schulkulturansatzes formulierte Forderung nach einem stärkeren Fokus auf Akteur*innen, Praktiken und Materialitäten, nach einer Abkehr von der einseitigen Konzentration auf Institutionen-Milieu-Passungsverhältnisse sowie mit dem Anspruch an eine Erweiterung des Ebenenkonzepts in der vorliegenden Studie dafür plädiert, eine stärker handlungstheoretisch orientierte Sichtweise auf Schulkultur einzunehmen – ohne deren strukturalistisches Element aufzugeben.

3.3 Die Économie des Conventions (EC) als gemeinsamer theoretischer Rahmen

Die erste Fragestellung dieser Studie beschäftigt sich mit einem Transformationsprozess im Bildungssystem in einer Situation der Unsicherheit. Diese betrifft im vorliegenden Fall die Definition der angemessenen Zugangswege zur Lehrpersonenbildung im Kontext ihrer Tertiarisierungsreform Ende der 1990-er Jahre und der daraus entstehenden Erfordernis der Handlungskoordination zwischen verschiedenen beteiligten Akteur*innen. Es interessiert, wie bildungspolitische Entscheidungen eingebracht, kritisiert und legitimiert wurden und wie sich welche Lösungen durchsetzten.

Die dritte Fragestellung der Studie hat zum Ziel, die unterschiedliche Bedeutung der FMS Pädagogik und des musisch-pädagogischen Gymnasialprofils als Zubringer für die Ausbildung von Primarlehrpersonen zu erklären und dafür die beiden schulischen Profile im Sinne von ‘Schulkulturen’ in ihrer qualitativen Ausgestaltung, ihren Charakteristika und Spezifika zu untersuchen. Dabei wird angenommen, dass die verschiedenen Charakteristika eines Profils wie etwa die Bildungsziele, Bildungsinhalte, die pädagogischen Beziehungen oder didaktischen Strategien nicht zufällig, sondern sozial konstruiert sind. Das bedeutet, dass die schulischen Akteur*innen der Existenz und Ausgestaltung dieser Charakteristika je nach schulischem Profil Sinn und Wert zuschreiben und sie aus ganz bestimmten Gründen legitimieren und entsprechend handeln.

Für beide Fragestellungen wurden im vorhergehenden Kapitel auf den ersten Blick passende Theorieperspektiven erläutert. Im Anschluss an deren theoretisch-konzeptionelle Defizite und Desiderata strebt diese Studie an, beide Fragestellungen unter einer gemeinsamen Theorieperspektive – der Économie des Conventions (EC) – zu untersuchen, welche den genannten Kritikpunkten und Desiderata zu begegnen vermag.

Die EC unterscheidet sich von den bisherigen Theorieparadigmen in der sozialwissenschaftlich ausgerichteten Bildungsforschung. Denn im deutschsprachigen Raum finden bisher überwiegend entweder institutionalistische bzw. strukturalistische (Émile Durkheim, Pierre Bourdieu) oder individualistische (Raymond Boudon, Hartmut Esser) Theorien Anwendung (Leemann und Imdorf 2019a, S. 3; Solga und Becker 2012).

Sowohl die Educational Governance-Perspektive zur Erklärung von Transformationen und Handlungskoordination im Bildungssystem als auch der auf der Bourdieu’schen Theorieperspektive beruhende Schulkulturansatz entsprechen der Theorietradition des Institutionalismus und Strukturalismus, welche in der deutschsprachigen Bildungsforschung weit verbreitet ist. Die institutionalistische bzw. strukturalistische Perspektive geht davon aus, dass gesellschaftliche Akteur*innen sich in ihrem Handeln an Institutionen im Sinne von externen Regeln ausrichten (müssen), bzw. ihr Handeln durch gesellschaftliche Strukturen (etwa in inkorporierter Form als Habitus) determiniert ist. Die institutionalistische Denkweise geht auf Durkheim zurück, welcher als erstes einen disziplinär soziologischen Zugang zur Thematik von Bildung und Erziehung entwarf.

Durkheim versteht soziale Institutionen als «soziale Tatsachen» (Durkheim 1967) und sieht diese damit als gegeben an. Aus dieser Perspektive erscheinen sie als «dem Handeln externe Realität» (Diaz-Bone 2009, S. 252). Durkheim versteht Gesellschaften in der Folge «als Gefüge solcher aufeinander bezogener Institutionen» (Rosenmund 2015, S. 13) und betrachtet sie als «Element externen sozialen Zwangs, der menschliches Verhalten prägt» (Mayntz und Scharpf 1995, S. 40). In dieser Theorietradition lässt sich auch der Educational Governance-Ansatz verorten. Die ihm zugrundeliegende Governance-Theorie fokussiert anstelle der staatlichen top-down-Steuerung (Government) auf Regelungsstrukturen als «Institutionen, die rationales Handeln […] lenken» (Mayntz 2004, S. 4) und lässt sich daher als institutionalistisch bezeichnen (ebd., S. 5).

Der Strukturalismus zählt insbesondere in Frankreich zu den bedeutendsten Paradigmen der Geistes- und Sozialwissenschaften (Diaz-Bone 2018, S. 382). Er betont «die Existenz der den sozialen Praktiken unterliegenden (vorbewussten) Strukturen» (ebd.). Ein prominentes Beispiel hierfür ist die Habitustheorie Bourdieus, der zu prominenten Vertretern dieser Theorietradition gehört. Das Denken, Wahrnehmen und Handeln von Individuen ist aus dieser Perspektive vorreflexiv, sprich unbewusst durch verinnerlichte gesellschaftliche Strukturen geprägt, so dass letztendlich «die sozialen Strukturen auf der Makroebene […] die dominierenden erklärenden Prinzipien für die soziale Realität, das Handeln und die Koordination sind» (ebd., S. 384). Da der Schulkulturansatz Helspers mit dem Fokus auf Passungsverhältnisse zwischen individuellem und institutionellem Habitus explizit auf die Bourdieusche Theorieperspektive zurückgreift und sowohl den individuellen Habitus als auch die Schulkultur einseitig durch soziale Strukturen geprägt versteht, kann auch er in dieser Theorietradition eingeordnet werden.

Sowohl der Educational Governance- als auch der Schulkulturansatz gehen von Strukturen und/oder Institutionen aus, welche das Handeln der Akteur*innen determinieren und restringieren, und als zentrales Erklärungsmoment sozialer Ordnung dienen.Footnote 6 Insofern ist die Kritik an der Vernachlässigung sozialer Praktiken auf der gesellschaftlichen Mikro-Ebene sowohl im Schulkultur- als auch im Educational Governance-Ansatz wenig verwunderlich.

Am anderen Ende des Spektrums dieser Kritik eines mangelnden Fokus auf Individuen und ihre Handlungspraktiken befinden sich Theorietraditionen, welche die Entstehung sozialer Ordnung vornehmlich in den Perspektiven und Praktiken der Individuen verortet. So fokussiert etwa die im sozial- und bildungswissenschaftlichen Feld prominente Perspektive des Individualismus statt Institutionen und gesellschaftlichen Strukturen die einzelnen Akteur*innen bzw. Individuen und erklärt soziale Ordnung als Resultat ihres ökonomischen respektive zweckrationalen, nutzenmaximierenden Handelns. Prominentes Beispiel ist der Rational-Choice-Ansatz nach Boudon (Diaz-Bone 2018, S. 12), welcher insbesondere in der quantitativ orientierten Bildungsverlaufsforschung häufig Anwendung findet. Im Gegensatz zur Annahme, dass gesellschaftliche Institutionen und Strukturen das individuelle Verhalten determinieren und somit zu dessen Erklärung herangezogen werden müssen, wird Gesellschaft und soziale Prozesse als Aggregat individueller Entscheidungen rationaler Individuen gedacht.

Auch der auf Charles Sanders Pierce, George Herbert Mead und Charles Horton Cooley zurückgehende Pragmatismus fokussiert die gesellschaftliche Mikro-Ebene des individuellen Handelns. Allerdings beschränkt sich diese Perspektive sozialen Handelns weder auf das zweckrationale Verfolgen von Zielen noch auf ein bloßes Ausführen (internalisierter) sozialer Normen oder Institutionen (siehe oben) (Schubert 2009, S. 364). Vielmehr entsteht soziales Handeln in der pragmatistischen Handlungstheorie dadurch, dass jede Handlungssituation von Unsicherheit über die Handlung anderer Akteure geprägt ist, neue Anforderungen mit sich bringt und keinesfalls alleine durch die Orientierung an Institutionen oder zweckrationalen Zielorientierungen bewältigt werden kann (ebd., S. 347).

Es bedarf vielmehr «kreativen Kompetenzen» des Interpretierens von Handlungssituationen – aber auch von Normen, Bedeutungen und Institutionen (ebd.). Im Fokus steht die «Handlungsfähigkeit und die reflexiven Kompetenzen der Akteure» (Diaz-Bone 2018, S. 32). In der Folge entsteht soziales Handeln dadurch, dass Akteure ihre Handlungen interpretierend koordinieren, um Handlungsprobleme und Konflikte in grundsätzlich von Unsicherheit (über die jeweilige Handlung und Situationsinterpretation der anderen Akteure) geprägten Situationen zu überwinden (Schubert 2009, S. 364).

3.3.1 Die EC als pragmatischer Institutionalismus

Die Économie des Conventions (EC) bzw. Soziologie der KonventionenFootnote 7 hat den Anspruch, die Perspektiven des Institutionalismus und Strukturalismus sowie Individualismus und Pragmatismus zu integrieren, um Prozesse der Handlungskoordination, Kritik und Rechtfertigung sowie der Bewertung und Evaluation von Personen, Prozessen und Dingen zu erklären.Footnote 8 Es handelt sich dabei um eine aus den neuen französischen Sozialwissenschaften stammende, in der deutschsprachigen Bildungsforschung erst seit kurzem wahrgenommene und rezipierte Theorieperspektive (Leemann und Imdorf 2019a, S. 4).

Sie fand zuerst überwiegend im Bereich der Wirtschaftswissenschaften Anwendung, so etwa im Themenbereich von Arbeit, Arbeitsmärkten, Arbeitslosigkeit, Produktqualitäten und Produktionsbedingungen – für einen Überblick siehe Rainer Diaz-Bone (2018). Insbesondere Jean-Louis Derouet (1989, 1992), Elisabeth Chatel (2006; Bailly und Chatel 2004) und Eric Verdier (2001, 2008) haben diese theoretische Perspektive spezifisch für Fragen der Bildungsforschung fruchtbar gemacht (Leemann und Imdorf 2019a). Inzwischen wird die EC auch im deutschsprachigen Raum in zahlreichen empirischen Studien zu Fragen von Bildungsungleichheit und -gerechtigkeit, Bewertungen im Bildungssystem, der Curriculumforschung, der Konstruktion von Personen und Institutionen im Bildungsbereich sowie der Bildungsgovernance angewandt (siehe Imdorf et al. 2019).

Im Kontrast zu den Perspektiven des Strukturalismus und Institutionalismus sowie des Individualismus und Pragmatismus erklärt die EC soziale Ordnung weder durch die außerhalb der Individuen liegenden gesellschaftlichen Strukturen und deren Prägekraft auf das individuelle Handeln noch alleine durch die nutzenmaximierende Rationalität der Individuen.

Vielmehr schreibt die EC Akteur*innen die Kompetenz und Handlungsmacht (agency) zu, sich in Situationen der Handlungskoordination, der Bewertung sowie der Kritik und Rechtfertigung kritisch-reflexiv (also unabhängig ihres Habitus) und gestützt auf die materielle Ausstattung der Situation (Objekte, kognitive Formate) auf unterschiedliche, plurale Prinzipien oder «kollektive Koordinationslogiken» (Diaz-Bone 2018, S. 147) zu berufen (von denen etwa die nutzenmaximierende Logik nach Boudon nur eine wäre). Damit integriert sie sowohl pragmatistische als auch strukturalistische Elemente. Sie wird daher auch als «pragmatischer Institutionalismus» bezeichnet (Diaz-Bone 2018, S. 371).

Luc Boltanski und Laurent Thévenot als zentrale Begründer der EC distanzierten sich als ehemalige Mitarbeiter Bourdieus von dessen (strukturalistischer) Vorstellung eines vorreflexiven und relativ unveränderlichen Habitus, welcher das Denken, Handeln und Wahrnehmen von Individuen strukturiert und ihnen einen «klar definierten sozialen Raum der Wertigkeiten und der Muster der Wertschätzung» zuweist (Meier et al. 2016, S. 311). Bei ihrer empirischen Arbeit am französischen Statistikinstitut INSEE stellten Boltanski und Thévenot fest, dass sich Akteur*innen situativ an einer Vielzahl von Bewertungs- oder Legitimationsprinzipien – später «Konventionen» – genannt, orientieren und dabei reflexiv-argumentative Kompetenzen an den Tag legen (Boltanski und Thévenot 2007, S. 16 f.). In der Folge forderten sie, diese reflexiv-kritischen, situativen Kompetenzen der Akteur*innen stärker in den Blick zu nehmen und widmeten sich der theoretischen Ausarbeitung der sowohl strukturalistischen als auch pragmatistischen Elemente integrierenden Perspektive, welche heute unter dem Namen «Économie des Conventions» oder «Soziologie der Konventionen» fungiert. Mit ihrem zentralen Werk «Über die Rechtfertigung» gehören sie zu den wichtigsten Begründern dieser Theorieperspektive (ebd.).

3.3.2 Konventionen und Situationen

Eine Handlung wird aus EC-Perspektive weder einzig auf die Intentionen eines nutzenmaximierenden Akteurs noch vorwiegend auf soziale Strukturen und Institutionen zurückgeführt. Vielmehr wird eine Handlung als Prozess und Ergebnis der Auseinandersetzung eines Akteurs mit seiner materiellen und sozialen Umwelt gedeutet (Eymard-Duvernay et al. 2011 zit. nach. Vogel 2018, S. 68). Akteur*innen besitzen keine vollständige, sondern eine unvollständige Rationalität und sind angewiesen auf eine «soziale Umgebung und Kompetenzen, um mit einer existierenden Pluralität möglicher Rationalitäten umgehen zu können» (Diaz-Bone 2018, S. 371). Diese Rationalitäten oder Prinzipien werden als Konventionen bezeichnet.

Diese Konventionen, auf die sich Individuen bei der Handlungskoordination, Bewertung, Kritik und Rechtfertigung berufen, sind weder beliebig noch naturgegeben. Sie haben sich als «kulturell etablierte Koordinationslogiken» (Diaz-Bone 2018, S. 3) im historischen Zeitverlauf in westlichen Zivilisationen in Auseinandersetzung von Individuen mit ihrer soziokulturellen Umwelt als «Ressourcen für die Koordination» bewährt (ebd., S. 375), etabliert und sind in der materiellen Umwelt objektiviert.

Sie sind abzugrenzen vom alltäglichen Begriffsverständnis einer Konvention als Gebrauch, Routine oder auch «Regel» oder «Gesetz» (Diaz-Bone 2009, S. 239) wie es etwa die ‘Genfer Konvention’ nahelegt. Gemeint ist ein viel grundlegenderes Verständnis von Konvention, welche das Fundament für eine ganze «Handlungsgrammatik» darstellt und die eine «Rechtfertigungsform» sowie eine «Wertigkeitsordnung» hervorbringt, welche einem je spezifischen Gemeinwohl (wie Gemeinschaft, Gleichheit, Effizienz…) zugutekommen (ebd.; Boltanski und Thévenot 1999).

Tab. 3.1 bietet eine kurze Übersicht über die bisher theoretisch herausgearbeiteten und empirisch geprüften Konventionen, Wertigkeits- oder Rechtfertigungsordnungen (siehe nachfolgende Kapitel). Sie beansprucht weder Vollständigkeit noch ausgeprägte Erklärungskraft, sondern soll an dieser Stelle lediglich zum besseren Verständnis der nachfolgenden Ausführungen beitragen:

Tab. 3.1 Kurzübersicht Konventionen

Da soziale Situationen stets mehrdeutig sind und (zumindest theoretisch) jeweils verschiedene Wertigkeits- oder Rechtfertigungsordnungen respektive Konventionen als Prinzipien der Koordination, Bewertung und Rechtfertigung dienen können, müssen sich die beteiligten Akteur*innen in diesen Situationen über die angemessene Konvention verständigen. Dabei können sie dank ihrer kritisch-reflexiven Kompetenz auf Basis einer Konvention und mit Bezugnahme auf die in der Situation anwesenden Objekte (als «externe konventionenbasierte Stützen» (Dodier 2010, S. 13)) und kognitiven Formate eine andere Konvention kritisieren, zurückweisen oder anprangern, so dass zur Klärung der angemessenen Konvention eine Prüfung stattfinden muss.

Diese Angewiesenheit der Akteur*innen auf die soziale und materielle Umwelt für die Handlung begründet den methodologischen Fokus der EC auf die «Situation» als zentrale Analyseeinheit, weswegen sie nicht nur als pragmatischer Institutionalismus, sondern auch als «methodologischer Situationalismus» bezeichnet wird (Diaz-Bone 2018, S. 374 f.). Denn Situationen sind aus Sicht der EC «komplexe Konstellationen von Objekten, kognitiven Formaten, Koordinationserfordernissen (Problemen), institutionellen Arrangements (wie Organisationen), Personen und Konzepten», und somit «nicht auf Face-to-face-Situationen» reduzierbar (ebd.). Da Akteur*innen sich zur Koordination, Evaluation und Rechtfertigung in Situationen ebenso auf die kulturell etablierten Konventionen wie auf die in der Situation präsenten Objekte, Personen und kognitiven Formate stützen (müssen), lehnt die EC die traditionell-soziologische Aufteilung in gesellschaftliche Ebenen wie die Mikro-, Meso- und Makroebene ab (ebd., S. 376).

Betrachtet werden stattdessen Konventionen in «Situationen» in ihrer zeitlichen, räumlichen, sachlichen und sozialen Reichweite (ebd., S. 377). In einer konkreten Face-to-face-Interaktionssituation, wie sie üblicherweise der Mikroebene zugerechnet wird, wird aus Sicht der EC mit der Bezugnahme auf Konventionen als kollektiv «geteilte Formen des Interpretierens» lediglich die Makro-Ebene «ausgeführt» und in «Praktiken, Dispositiven und Institutionen realisiert und objektiviert» (Barthe et al. 2013, S. 178, zit. nach Diaz-Bone 2018, S. 376). In der analytischen Betrachtung «kollabiert» aber eine solche Ebenenunterscheidung (Diaz-Bone 2018, S. 376), womit sich diese Theorieperspektive von den meisten soziologischen Ansätzen – so auch von der Educational Governance-Perspektive und der Schulkulturforschung – unterscheidet.

Da sie nicht lediglich auf die Mikroebene der konkreten Interaktionssituationen fokussiert, hat die EC auch ein weiter gefasstes Verständnis davon, was als eine Situation zu bezeichnen ist. So gelten auch die «institutionelle Konstellation in einer Branche oder eine epochale historische Konstellationen [sic!] von institutionellen Arrangements, Konventionen, Interpretationen, Objekten als Situationen» (ebd.). Die EC «entkoppelt den Situationsbegriff von der leiblichen Ko-Präsenz» (Gießmann und Röhl 2018, S. 8).

So lässt sich etwa die institutionelle Konstellation der Lehrpersonenbildung zu Beginn der Tertiarisierungsreform oder aber auch ein schulisches Profil wie dasjenige der FMS Pädagogik oder des Gymnasiums im Sinne eines schulischen Dispositivs aus Akteur*innen, Objekten und pädagogischen Orientierungen etc. als Situation bezeichnen. Die EC widmet sich entsprechend – unter anderem – der Untersuchung und Analyse von in diesen Situationen vorfindbaren Dispositiven und deren Reichweite (Diaz-Bone 2017, S. 85).

3.3.3 Plurale Rechtfertigungs- und Wertigkeitsordnungen in Situationen der Unsicherheit

Unabhängig davon, ob es sich um eine Face-to-face-Interaktionssituation einer Unterrichtssituation, um eine ganze historische Epoche oder eine organisationale Konstellation wie etwa die Situation der Lehrpersonenbildung in der Schweiz handelt – gemeinsam ist aus EC-Perspektive allen Situationen, dass sie geprägt sind von einer grundlegenden Unsicherheit darüber, wie die jeweils anderen Akteur*innen eine Situation interpretieren, wie sie handeln, evaluieren oder welche Erwartungen sie haben (Diaz-Bone 2009, S. 244). Selbst das musisch-pädagogische Gymnasialprofil und die FMS Pädagogik sind nicht einfach «gegeben», sondern diese schulischen Situationen müssen aus EC-Perspektive von den beteiligten Akteur*innen (Schüler*innen, Lehrpersonen, Schulleitung) täglich in Auseinandersetzung mit ihrer Umwelt (Lehrmittel, Lehrpläne etc.) ‘aktiviert’ werden. Dabei wären immer auch andere Handlungsweisen, Entscheidungen und deren Begründungen möglich als bis anhin.

Konventionen als kollektive Koordinationslogiken ermöglichen den Akteur*innen, diese situative Unsicherheit zu bewältigen und sich zu koordinieren respektive zu einer Übereinkunft zu kommen. Erschwert wird dies jedoch durch die «Komplexität an Verständigungs- und Bewertungsmöglichkeiten» (ebd., S. 237) bzw. die Pluralität der zur Verfügung stehenden Konventionen.

Die EC ordnet nicht wie die Educational Governance-Perspektive bestimmten sozialen Bereichen, Sphären oder Berufsgruppen wie etwa Lehrpersonen bestimmte Konventionen im Sinne von Argumentations- und Bewertungslogiken zu. Sondern es stehen allen beteiligten Akteur*innen verschiedene Konventionen als mögliche Handlungs- und Bewertungslogiken zur Verfügung. Da diese sich aber bezüglich des angestrebten Gemeinwohls und der relevanten Wertigkeiten unterscheiden, sind Widersprüche und gegenseitige Kritik kaum vermeidbar (ebd., S. 244). Soziale Ordnung ist daher aus dieser Perspektive ein «immer nur vorübergehend stillgestellter» Konflikt (Pettenkofer 2017, S. 126).

Solche Momente der Kritik oder des Konflikts zeigen sich, wenn Uneinigkeit und Unsicherheit über das angemessene Vorgehen oder die angemessene Wertigkeit einer Person, eines Objekts oder eines Prozesses aufkommt. Diese Momente erfordern eine konventionenbasierte Aushandlung respektive Koordination der beteiligten Akteur*innen. Kommt vorerst keine Einigung zustande und herrscht Dissens, sprechen Boltanski und Thévenot von einem «kritischen Moment» (Boltanski und Thévenot 2011, S. 55):

Menschen, die in alltäglichen Beziehungen leben, bestimmte Dinge – vielleicht in der Politik, bei ihrer Arbeit oder in einer Gewerkschaft – gemeinsam tun und ihr Handeln koordinieren müssen, stellen fest, dass etwas falsch läuft, dass sie nicht mehr zurechtkommen, dass sich etwas ändern muss. […] Häufiger schlägt eine Szene in eine Diskussion um, in der Kritiken, Vorwürfe und Klagen ausgetauscht werden. (Boltanski und Thévenot 2011, S. 43)

Befinden sich Akteur*innen in einer öffentlichen Situation bzw. in der «Sphäre gerechtfertigten Handelns» (Dodier 2010, S. 9) und nicht etwa in einer privaten Liebes- oder Vertrautheitsbeziehung, verlangt Kritik nach Rechtfertigung:

Wer andere Personen kritisiert, muss Rechtfertigungen produzieren, um die eigene Kritik zu stützen, während Personen, die Ziel der Kritik sind, ihr Handeln rechtfertigen müssen, um ihre Sache zu verteidigen. Die Rechtfertigungen müssen dabei den Regeln des Akzeptablen folgen. Beispielsweise liesse sich nicht sagen: «Ich stimme Ihnen nicht zu, weil Ihr Gesicht mir nicht gefällt». (Boltanski und Thévenot 2011, S. 44)

Wird beispielsweise der Zugang über die FMS Pädagogik in die Ausbildung von Primarlehrpersonen kritisiert, muss die kritisierende Akteurin ihre Kritik legitim begründen können. In öffentlichen Situationen (wie etwa bildungspolitischen Verhandlungen oder schulischem Unterricht) unterliegen Akteur*innen laut Boltanski und Thévenot (2007) also einem Rechtfertigungszwang im Sinne eines «Rechtfertigungsimperativ» (ebd., S. 43 f.) und einem «Zwang zur Einigung auf ein Gemeinwohl» (ebd., S. 61). Es handelt sich dabei – und hierbei zeigt sich das pragmatische Element der EC – um ein situatives und von den Akteuren zu überwindendes Handlungsproblem, und nicht um eine «nachträgliche Rechtfertigungsideologie» (Diaz-Bone 2018, S. 165). Vielmehr wird dieser Zwang «mobilisiert durch eine kollektive Intentionalität (das Erreichen des Gemeinwohls) und den dafür erforderlichen Zwang zur Koordination» (ebd.).

Diesem permanenten Rechtfertigungszwang unterliegen Akteur*innen auch in scheinbar «eindeutigen» Situationen. Denn theoretisch wäre jederzeit Kritik (auf Basis einer anderen Konvention) möglich und Akteur*innen müssen sich jederzeit in der Lage sehen, etwas zu begründen oder zu rechtfertigen (Boltanski 2010, S. 155). Somit können auch die beiden in dieser Studie untersuchten schulischen Profile als Situation gedeutet werden, in welcher Akteur*innen jederzeit in der Lage sein müss(t)en (und ihnen aus theoretischer Perspektive diese Kompetenz auch zuerkannt wird), eine pädagogische Maßnahme, ein Lehrmittel, ein Bildungsziel oder ähnliches zu begründen und dabei Bezug auf eine Konvention und das ihr inhärente Gemeinwohl zu nehmen.

Der Rechtfertigungsimperativ und der Fokus auf das Gemeinwohl verweisen auf die moralische Fundierung der EC. Deshalb sprechen Boltanski und Thévenot (2007) auch von Konventionen als Rechtfertigungsordnungen. In diesem Zusammenhang verbietet das «Prinzip der gemeinsamen Würde» (Boltanski und Thévenot 2007, S. 108) eine dauerhafte Zuschreibung oder Aberkennung von Größe (grandeur) oder Wertigkeit zu Individuen anhand von biologischen Merkmalen (Geschlecht, Körperform, Haut- Haar- oder Augenfarbe) oder aufgrund der nationalen oder sozialen Herkunft. Eine solch dauerhafte Zuschreibung widerspräche der Annahme, dass grundsätzlich jedes Individuum in Bezug auf ein Gemeinwohl «Größe» oder Wertigkeit erhalten kann.

Dauerhafte und verfestigte soziale Ungleichheiten und Bildungsungleichheiten sind aus einer EC-Perspektive folglich nicht legitim. In diesem Kontext hat Tobias Peter (2017) auf Basis von Dokumentenanalysen gezeigt, wie trotz der das Bildungssystem durchziehenden Prämisse von Chancengleichheit (staatsbürgerliche Konvention) Exzellenz und Elitebildung – welche Bildungsungleichheiten darstellen – gerechtfertigt werden. Ähnlich untersuchte Böker (2018), wie Begabtenförderung gerechtfertigt wird. Ebenso in diesen Themenkomplex einordnen lässt sich die Forschung von Imdorf (2010) zur Ausbildungsvergabe in Klein- und Mittelbetrieben und der Frage danach, mit Berufung auf welche Konvention(en) etwa die Ablehnung von Bewerbenden mit Migrationshintergrund und damit die Produktion von Ungleichheit bei der Ausbildungsplatzvergabe gerechtfertigt wird. Auch die Forschung von Leemann (2014) zum «Umgang der Organisation Schule mit gleichstellungspolitischen Erwartungen» und Reformen wie denjenigen des «Gendertags» in der Schweiz bewegt sich in diesem Themenbereich (Leemann und Imdorf 2019a, S. 18).

Die Begriffe der «Größe» oder «Wertigkeit» deuten an, was mit dem Begriff der Konvention als Wertigkeitsordnung gemeint ist. Die zu beurteilenden Akteur*innen, Objekte und Handlungen werden anhand einer Konvention/Wertigkeitsordnung miteinander verglichen – weshalb sie auch als «Äquivalenzprinzipien» bezeichnet werden (Diaz-Bone 2018, S. 165). Vergleichen bedeutet in diesem Zusammenhang, am gleichen Maßstab nach den gleichen Kriterien zu messen. Im schulischen Kontext bedeutet dies beispielsweise, dass alle Schüler*innen an ihrer schulischen Leistung und damit an Prinzipien der industriellen Konvention gemessen und bewertet werden (Prüfungen, Noten, Zeugnisse, Promotion) – unabhängig etwa von ihren zwischenmenschlichen Fähigkeiten (Wertigkeiten der häuslichen Konvention). Die Konvention als Wertigkeitsordnung erlaubt folglich, die Wertigkeit oder «Größe» von Personen, Objekten und Handlungen festzustellen und in eine Rangfolge zu bringen.

Je nach Wertigkeitsordnung wird diese Größe aber unterschiedlich definiert, und so kann ein und dieselbe Person oder Handlung, ein und dasselbe Objekt auf Basis einer Konvention viel Wertigkeit bzw. «Größe» erhalten, auf Basis einer anderen Konvention jedoch als «klein» oder minderwertig gelten. Wertigkeit, Größe oder auch ‘Qualität’ ist also nicht objektiv und allgemein feststellbar, sondern hängt von der Konvention ab, auf die man sich bei der Bewertung beruft.

Entsprechend zeigt die Theorieperspektive der EC im Feld der Wirtschaftswissenschaft auf, wie Produktqualitäten einem Produkt nicht inhärent sind, sondern wie Qualität mit Bezugnahme auf unterschiedliche Konventionen unterschiedlich konstruiert wird. Für die EC ist hier die Studie von Pierre Boisard und Marie-Thérèse Letablier (1987) zur Qualitätskonstruktion von Camembert programmatisch. Im Bereich der Bildung bedeutet dies, dass Wertigkeit oder ‘Qualität’ von Bildungszielen, Bildungsinstitutionen, pädagogischen Maßnahmen, didaktischen Strategien, Bildungstiteln, Lehrplänen oder auch Lehrpersonen und Schüler*innen nicht per se objektiv feststehen oder eindeutig bestimmt werden können (beispielsweise von der Erziehungswissenschaft oder einer Evaluationsagentur), sondern konstruiert wird durch das Handeln der jeweiligen schulischen Akteur*innen gestützt auf ihre materielle Umwelt und mit Bezugnahme auf ein Spektrum pluraler Konventionen (Leemann und Imdorf 2019a, S. 34).

Bei der Betrachtung von Konventionen als Wertigkeitsordnungen geht es um die soziale Konstruktion von Wertigkeit und ‘Qualität’. Daher spricht François Eymard-Duvernay (1989) auch von «Qualitätskonventionen», welche Akteur*innen bei der Beurteilung von (Produkt-)qualitäten heranziehen (Diaz-Bone 2018, S. 143).Footnote 10 Aus dieser Perspektive ist auch «Qualifizierung», Verstanden als die konventionenbasierte Zuschreibung von Wertigkeit oder Qualität (Leemann und Imdorf 2019a, S. 33) ein wichtiges Forschungsfeld für die EC. Beispielsweise können Selektionsverfahren für Lehrpersonen und Schüler*innen als Prüfungen der Größe gewertet werden, welche die «Qualität» der Bewerbenden im Hinblick auf die dem jeweiligen Schultyp zugrundeliegenden Konventionen/Wertigkeitsordnungen prüft (ebd., S. 35). Solche Prozesse der Wertigkeitskonstruktion im Rahmen von Selektion untersucht beispielsweise Imdorf für Kinder mit Migrationshintergrund beim Übergang in die Sekundarstufe I (2011) oder bei der Selektion von Auszubildenden für Ausbildungsbetriebe in der Schweiz (2008). Ebenso untersuchten Leemann und Imdorf (2012) die Ausbildungsplatzvergabe in Lehrbetriebsverbünden.Footnote 11

Konventionen können damit als «allgemeine normative Prinzipien» bezeichnet werden und dienen als Grundlage, um den betreffenden (im vorliegenden Fall schulischen) Akteur*innen, Handlungen und Objekten «Wertigkeit», «Qualität» oder Legitimität zuzuschreiben (Diaz-Bone 2009, S. 239). Das Erkenntnisinteresse der EC ist also nicht, ob etwas ‘Qualität’, Größe oder Wertigkeit besitzt (gemessen anhand einer bestimmten Maßstabes), sondern wie Qualität von den Akteur*innen mit Bezugnahme auf welche (unterschiedlichen) Konventionen definiert und ausgehandelt wird. Damit steht die soziale Konstruktion von Qualität oder Wertigkeit unter Einbezug der materiellen Umwelt im Fokus. Dieser für die EC zentrale Prozess der Zuschreibung von Wertigkeit wird in der vorliegenden Studie im Anschluss an Eymard-Duvernay (2012a, S. 11) als «Valorisierung» bezeichnet.

3.3.4 Konventionen als Welten

Boltanski und Thévenot (1991, 2007) haben sechs dieser Konventionen, Rechtfertigungs- oder Wertigkeitsordnungen auf Basis klassischer Werke der politischen Philosophie rekonstruiert und an zeitgenössischer Managementliteratur sowie Ratgebern für Unternehmen empirisch überprüft. Bei den Klassikern der Philosophie handelt es sich um solche, «die in systematischer Weise Formen des Gemeinwohls darlegen, auf die in unserer heutigen Gesellschaft ständig Bezug genommen wird» (Boltanski und Thévenot 2007, S. 97). Aus den klassischen Texten von Adam Smith («Wealth of Nations»), Henri de Saint-Simon («Du système industriel»), Augustinus («De civitate dei»), Bossuet («La Politique tirée des propres paroles de l’écriture sainte»), Hobbes («Leviathan»), Rousseau («Gesellschaftsvertrag») rekonstruierten Boltanski und Thévenot sechs politische «Gemeinwesen», in welchen ein bestimmtes Gemeinwohl als erstrebenswert gilt.

Da diese Gemeinwesen nicht nur virtuell-theoretisch existieren, sondern sich in objektivierter Form (als Objekte, Dinge etc.) in der materiellen Umwelt niederschlagen und Akteur*innen somit handlungspraktisch und unmittelbar zur Verfügung stehen (Diaz-Bone 2018, S. 147), verwenden Boltanski & Thévenot auch den Begriff der «Welt» für das, was die EC im Allgemeinen als Konvention bezeichnet. Der Weltenbegriff verweist darauf, dass sich Akteur*innen nicht lediglich diskursiv auf Konventionen stützen, sondern diese Konventionen, Wertigkeits- oder Rechtfertigungsordnungen mit einem Ensemble an zugehörigen Objekten verknüpft sind (Boltanski und Thévenot 2007, S. 65). Sie sprechen in diesem Zusammenhang von «Wesen», welche die jeweiligen Welten bevölkern. Zu diesen Wesen zählen etwa «Personen, aber auch Institutionen, Instrumente, Maschinen, Verhaltensvorschriften, Zahlungsmittel, Abkürzungen, Namen und so weiter» (ebd.). Personen und Objekte sind also gleichermaßen als «Wesen» einer Welt zu verstehen, wobei (gewisse) Objekte im Gegensatz zu Personen einer einzigen Welt zugeordnet werden können (Boltanski und Thévenot 1999, S. 373).

So lässt sich ein Lineal als Messinstrument eindeutig der industriellen Konvention zuordnen. Personen bzw. Akteur*innen haben aus EC-Sicht hingegen die kritisch-reflexive Kompetenz, auf verschiedene Konventionen Bezug zu nehmen, zwischen diesen zu wechseln und deren situative Angemessenheit zu prüfen. Deshalb können Personen niemals einzelnen Welten zugeordnet werden. Welten bringen aber durchaus gewisse Akteursformen mit sich (etwa das «Familienmitglied» in der häuslichen Welt oder kollektive Körperschaften in der staatsbürgerlichen Welt), die eher der einen oder der anderen Welt zugeordnet werden können (Vogel 2018, S. 81).

In ihrem für die EC grundlegenden Werk «Über die Rechtfertigung», haben Boltanski und Thévenot (2007) sechs solcher Welten rekonstruiert: die staatsbürgerliche Welt, die industrielle Welt, die häusliche Welt, die Welt des Marktes, die Welt der Meinung und die Welt der Inspiration. Später wurden sie durch die projektförmige (Boltanski und Chiapello 2003) und die ökologische oder «grüne» Welt (Thévenot et al. 2011) ergänzt (siehe zur Übersicht Tab. 3.1).

Derouet (1989, 1992) hat diese Welten als Koordinations- Handlungs- und Bewertungsprinzipien spezifisch auf die Institution Schule und Fragen von Bildungs ‘qualität’ und -gerechtigkeit übertragen.Footnote 12 Statt von Rechtfertigungsordnungen spricht Derouet von «modèles de compétence», was Imdorf (2011) mit «Schulwelten» übersetzte.

Derouet spezifiziert für jede Schulwelt (im Sinne einer Konvention als «normative[s] Model[l]» (Imdorf 2011, S. 230)) das schulische Gemeinwohl, die legitime Wissensform, die Architektur und die räumlichen Arrangements, die Beziehung zwischen Lehrperson und Schüler*innen, die Wissensvermittlung im Sinne von Pädagogik/Didaktik, die Eigenschaften eines ‘guten’ Schülers oder Lehrers, die Beziehung der Schule zur Außenwelt (Familie und Staat) und die typische Kritik an der jeweiligen Schulwelt (Derouet 1989, 1992). Entlang dieser Kriterien erörtert er die unterschiedlichen Schulwelten und zeigt im Anschluss, wie im schulischen Unterrichtsgeschehen Konflikte bewältigt und Kompromisse gefunden werden müssen.

Zentral für die Übertragung dieses von Derouet ausgearbeiteten theoretischen Rahmens in die deutschsprachige Bildungsforschung sind Christian Imdorf, Regula Julia Leemann und Philipp Gonon (2019). Sie haben die von Boltanski und Thévenot rekonstruierten Konventionen und deren Übertragung auf die Institution Schule durch Derouet sowie die deutschsprachige Adaption durch Imdorf (2011) mit eigenen theoretisch-konzeptionellen Überlegungen sowie empirischen Ergebnissen (siehe etwa Leemann und Imdorf 2019b; Esposito et al. 2019) ergänzt und systematisiert. Die Dimensionen und jeweiligen Ausprägungen verstehen sie als Arbeitshypothesen, welche künftige Forschung anregen und durch sie weiterentwickelt werden soll (Leemann und Imdorf 2019a, S. 7). Diese Arbeitshypothesen dienen als Forschungsheuristik für die vorliegende Studie.

Tab. 3.2 liefert eine Übersicht über die von Boltanski und Thévenot sowie von Boltanski und Chiapello rekonstruierten Welten sowie ihre Übertragung und Spezifizierung auf den Bildungsbereich durch Derouet (1989, 1992, 2019) sowie Imdorf und Leemann (2019a):

Tab. 3.2 Übersicht über Konventionen im Bildungsbereich

3.3.5 Objekte, Dispositive und Forminvestitionen

Wie die bisherigen Ausführungen deutlich gemacht haben, erfolgt die Mobilisierung von Konventionen durch Akteur*innen bei der Koordination, Bewertung, Kritik oder Rechtfertigung nicht lediglich diskursiv, sondern gestützt auf Objekte und kognitive Formate der jeweiligen Welt. Die handlungspraktische, pragmatische Relevanz von Konventionen ergibt sich also nicht zuletzt auch durch ihren Niederschlag in Objekten, welcher in einem langen historischen Prozess gewachsen und nicht mehr einfach aufzulösen ist (Dodier 2011, S. 84).

Verweisen in einer Situation besonders viele Objekte auf eine bestimmte Konvention, erschwert dies die plausible Bezugnahme auf eine andere Konvention (Boltanski und Thévenot 2007, S. 370). Dies schränkt die «prinzipielle Mehrdeutigkeit und Verhandelbarkeit» einer Situation ein und bestimmt gemäß Lisa Knoll «in gewisser Weise die Deutbarkeit einer Situation» (2012, S. 77). Es bleibt dennoch eine empirisch zu ergründende Frage, inwiefern die Anwesenheit und die Über- oder Mehrzahl gewisser Objekte eine Situation und die Durchsetzung einer bestimmten Konvention in einer Situation vorstrukturieren.

Im Gegensatz zu Personen können gewisse Objekte einer einzigen Konvention zugeordnet werden. Genauso wie Personen können aber auch Objekte in verschiedenen Welten Größe erlangen. So wird etwa eine Holzbank zu einem staatsbürgerlichen Objekt, wenn sie in einem Parlament steht und mit anderen Objekten der staatsbürgerlichen Konvention verknüpft wird (Dodier 2011, S. 90). Die gleiche Holzbank kann jedoch als in der Familientradition weitergereichtes, vom Urgroßvater von Hand geschreinertes Möbel ein Objekt der häuslichen Welt darstellen. Die Relevanz von Objekten für die Koordination, Bewertung und Kritik oder Rechtfertigung ist also eine empirisch zu klärende Frage und kann nicht im Vornherein im Sinne einer Formel Anzahl häusliche Objekte = grösser als N → häusliche Konvention setzt sich mit Wahrscheinlichkeit xy in der Situation z durch abgeleitet werden. Unbestritten ist jedoch die hohe Bedeutung von Objekten bzw. der «Materialität» für die Handlungskoordination, die Rechtfertigung und Bewertung in Situationen (Knoll 2012, S. 75; Diaz-Bone 2018; Dodier 2011).Footnote 13

Objekte sind aus EC-Perspektive zudem immer als Teil eines ganzen Dispositivs aus «Regeln, Worten, Objekten» (Dodier 2011, S. 84) zu verstehen. Wird auf ein bestimmtes Objekt Bezug genommen, wird damit das gesamte Dispositiv und die ihm zugrundliegende Konvention aufgerufen (ebd.). Trotzdem bedarf es in einer Situation immer einer konventionenbasierten Interpretation dieses Dispositivs, da «ihr pragmatischer Sinn unvollständig ist, also die Art und Weise, was sie Akteur*innen in Situationen bedeuten und wie sie zu handhaben sind» (Salais 1998; Favereau et al. 2002, zit. nach Diaz-Bone 2017, S. 89).

Nicht nur die Rationalität der Akteur*innen ist unvollständig, sondern auch die Bedeutung von anderen Elementen des Dispositivs. Auch Regeln und Gesetze als InstitutionenFootnote 14 müssen aus Sicht der EC von Akteur*innen in der jeweiligen Situation interpretiert und angewandt werden – was je nach herangezogener Konvention in einer unterschiedlichen Auslegung resultiert. Die EC betrachtet Institutionen (Regeln, Gesetze, Normen) daher also nicht wie etwa Durkheim als externe Zwänge, sondern ebenso wie die Rationalität der Akteur*innen als prinzipiell unvollständig und damit interpretationsbedürftig.

Der Begriff des Dispositivs ist in der EC allerdings nicht eindeutig definiert. Gemeint sind mit Dispositiven nicht wie im Foucaultschen Sinne «Dispositive der Macht»Footnote 15 (Diaz-Bone 2017, S. 90), sondern die Ausstattung einer Situation mit materiellen und immateriellen Entitäten. Während Dodier hier überwiegend Regeln, Worte und Objekte meint (Dodier 2011, S. 84), spricht Diaz-Bone (2017) von «Institutionen und Instrumentierung» oder «Instrumenten» (S. 89) einer Situation ebenso wie von Intermediären und Konventionen selbst (ebd., S. 92), welche ein Dispositiv ausmachen. Mit dem Begriff der Instrumentierung beruft er sich auf Eymard-Duvernay (2012b), welcher diese Instrumentierung genauer definiert und sie aus Worten (insbesondere spezifische ‘Grammatiken’ wie die Juristensprache), Objekten und Klassifikationen zusammengesetzt beschreibt.

Die Abgrenzung zum Dispositiv- und Machtbegriff Foucaults ist darin zu sehen, dass diese Dispositive weder jemandem «gehören» (Diaz-Bone 2017, S. 90) noch als extern gegebene Sachverhalte existieren, die von den Akteur*innen als ‘gebrauchsfertig’ benutzt oder eingesetzt werden können. Wie solche Dispositive von wem genutzt werden, hängt aus EC-Perspektive wiederum von den Akteur*innen und den Konventionen, Objekten und Klassifikationen des Dispositivs ab. Dispositive können aus Sicht der EC «unterschiedlich verwendet werden und sind wandelbar, wie die pluralistische Konstellation der Strategien, die sie mobilisieren» (ebd.). Dispositive sind also immer «situativ eingebettet» und werden von den entsprechenden Akteur*innen in der Situation mobilisiert (ebd.).Footnote 16

Für die vorliegende Studie wird ein (schulisches oder bildungspolitisches) Dispositiv verstanden als die Ausstattung einer Situation (sei es eine schulische face-to-face-Interaktionssituation, die historische oder aktuelle Verfasstheit des Bildungssystems im Allgemeinen oder der Lehrpersonenbildung im Besonderen) mit Objekten (etwa Lehrplänen oder Unterrichtsmaterialien), Worten (Diskursen und Begrifflichkeiten), Klassifikationen (etwa Allgemein- oder Berufsbildung, Theorie oder Praxis), Institutionen als Regeln und Gesetzen (etwa Zugangs- und Übertrittsregelungen oder Anerkennungsreglemente) und Intermediären wie etwa Lehrer*innenverbänden.

Diese Dispositive dienen dazu, Wertigkeiten von Personen, Handlungen, Prozessen und Objekten herzustellen. Aus diesem Grund bezeichnet Eymard-Duvernay (2012b) sie als «Dispositive der Valorisierung», welche Akteur*innen bei der Zuschreibung von Wertigkeit mobilisieren und die Dispositive dabei auch eigene Effekte entwickeln können – so dass sie etwa bestimmte konventionenbasierte Wertigkeitszuschreibungen nahelegen und andere erschweren. Dispositive wie auch Forminvestitionen (siehe unten) können, sind sie einmal etabliert, «Effekte […] haben, die nicht dem Handeln von Akteuren zuzurechnen sind» (Thévenot 1983, S. 218; zit. nach Diaz-Bone 2018, S. 87). Aus Sicht der Educational Governance-Forschung wären dies beispielsweise unintendierte Effekte, welche ebenfalls in die Analyse der Handlungskoordination einzubeziehen sind.

Auch wenn Dispositive niemandem «gehören» (Diaz-Bone 2017, S. 90), spielen sie dennoch eine Rolle im Zusammenhang mit der Analyse von Macht, Machteffekten und -verteilungen in Situationen. Laut Eymard-Duvernay (2012b) können nämlich die in diesen Dispositiven enthaltenen Forminvestitionen und Instrumentierungen durchaus «in Besitz» von jemandem sein (ebd., S. 182) und dadurch ungleiche Machtverteilung in einer Situation nach sich ziehen. Ein Dispositiv der Valorisierung kann so einerseits machteinschränkend als auch machtermöglichend wirken (ebd.). Insofern beschäftigt sich die Analyse von Dispositiven mit einer klassisch soziologischen Fragestellung von Machtgenerierung, -verteilung und ihren Effekten. Dies allerdings mit dem Unterschied, dass Macht als «distribuiert» (Diaz-Bone 2017, S. 92; Eymard-Duvernay 2012b, S. 182) in den situativ zur Verfügung stehenden Dispositiven und ihrer Mobilisierung durch die beteiligten Akteur*innen verstanden wird. Im Weiteren zeigen sich auch Machteffekte, wenn a) gewisse Akteur*innen in Situationen mehr oder weniger einflussreich sind, gewisse Konventionen durchzusetzen oder b) wenn sich gewisse kognitive Formen als bedeutend und machtvoll erweisen (Thévenot 2016; Diaz-Bone 2017, S. 92).

Diese (potenziell machtvollen) Objekte, Worte und Klassifikationen als Instrumentierung einer Situation sind laut Eymard-Duvernay Forminvestitionen (2012b, S. 182). Das Konzept der Forminvestitionen bezeichnet, wie der Begriff schon andeutet, eine Investition in ‘Formen’ bzw. «a range of form-giving activities» (Thévenot 1984, S. 2). Forminvestitionen sind also einerseits ein Prozess (Aktivitäten der Investition) sowie auch ein Resultat (eine Forminvestition bzw. Form) dieses Prozesses (Diaz-Bone 2018, S. 90). Forminvestitionen als Produkt können materieller Art (Objekte wie Lehrpläne, Unterrichtsmaterialien, Schulhäuser, Schulformen etc.), aber auch immaterieller Natur sein. Daher werden Letztere auch als ‘kognitive Formen’ bezeichnet. Gemeint sind damit etwa Klassifikationen, Regeln, Schemata, Standards, Normen und ähnliches.

Der Begriff der Investition meint hier, dass sowohl in die materiellen als auch die kognitiven Formen ‘investiert’ wurde – und zwar nicht nur finanziell, sondern auch durch Arbeit. Ein Beispiel dafür ist etwa die Etablierung einer Berufsbezeichnung, die durch symbolische Repräsentationsarbeit und Verrechtlichung geschaffen wird, wie es Boltanski für die Berufsgruppe der Cadres in Frankreich nachzeichnete (Diaz-Bone 2018, S. 74). Beispiele aus dem schweizerischen Bildungssystem wären etwa der Bildungsrahmenartikel in der Bundesverfassung, die Entwicklung sprachregionaler Lehrpläne oder verschiedene Bildungskonkordate zwischen den Kantonen, welche Investitionen in Form von Koordinations- und Aushandlungsarbeit sowie entsprechenden zeitlichen Aufwand erfordern.

Forminvestitionen erleichtern die (zukünftige) Handlungskoordination und machen zukünftige Situationen und Abläufe erwart- und reproduzierbar (ebd., S. 87), «weil sie Handlungen koordinierbar und die Wertigkeit von Personen […] und Objekten […] bestimmbar machen» (ebd., S. 86) bzw. die zukünftige «Kategorisierung von Akteuren und Zuständen» erleichtern (ebd., S. 87). Dies wird etwa bei der Einführung eines landesweit anerkannten Bildungszertifikats oder Abschlussdiploms deutlich. Beispielsweise kann eine Person, die sich auf eine freie Stelle als Lehrperson bewirbt, einfacher beurteilt und mit anderen Bewerbenden verglichen werden, wenn sie ein landesweit anerkanntes und einheitlich reguliertes Lehrdiplom vorweisen kann. Das Bewerbungsinstrument des CV an sich ist ebenfalls als Forminvestition zu verstehen, als «In-Formation von Wissen» (ebd.). Formen bzw. Forminvestitionen können entweder einer einzelnen Konvention oder Welt angehören und dort Wissen ‘in Form bringen’ und objektivieren, oder sie können Kompromisse stabilisieren (siehe unten).

Sind Forminvestitionen einer einzelnen Konvention zugehörig, erhöhen sie deren Reichweite, und somit deren Mächtigkeit und Einfluss in einer Situation. Forminvestitionen tun dies aber nur in dem Maße, in dem sie selbst gewisse Kriterien einer bedeutenden Forminvestition erfüllen: die räumliche Gültigkeit/Reichweite, die zeitliche Gültigkeit/Reichweite und eine materielle Ausstattung (die Form ist dauerhaft objektiviert in Materialien oder Objekten) (Thévenot 2011, S. 385, 2009, S. 794). Die gymnasiale Maturität beispielsweise kann vor diesem Hintergrund als eine erfolgreiche Forminvestition angesehen werden: sie hat gesamtschweizerische Gültigkeit, ist von zeitlich hoher Dauer und schlägt sich in zahlreichen Objekten und Formaten (Maturitätsanerkennungsreglement, Rahmenlehrplan, Fächerstruktur, Examina, Abschlusszertifikate etc.) nieder. Eine lediglich in einem einzelnen Gymnasium eingeführte Bekleidungsvorschrift beispielsweise wäre eine weniger bedeutende Forminvestition.

Investitionen in materielle oder kognitive Formen erleichtern zwar die (zukünftige) Koordination, bringen aber wie jede Investition auch Kosten oder «Opfer» (Thévenot 2011, S. 385) mit sich. Neben möglichem Aufwand in Form von finanziellen Mitteln und geleisteter Arbeit (ein Rahmenlehrplan etwa entsteht nicht ohne Aufwand), bedeutet das In-Form-Bringen nämlich auch eine Generalisierung oder Einigung auf eine bestimmte Form, für welche die Möglichkeit anderer Formen oder Lösungen aufgegeben werden muss (ebd.).

Für eine zeitliche und räumliche Reichweite muss ein gewisser Grad an Generalisierung oder auch StandardisierungFootnote 17 erfolgen, was den Verzicht auf oder die Opferung von Einzelfällen und ihren Spezifika erforderlich macht:

When you code or classify, you make things general. If you make things general, you lose something. [...] Making entities more common [...] requires a sacrifice of other potentialities of these entities. (ebd., S. 385)

Leemann und Imdorf (2019b) zeigen dies anschaulich am Beispiel der Institutionalisierung des Schultyps der Fachmittelschule in der Schweiz, wofür in einem länger andauernden bildungspolitischen Prozess verschiedene kantonale Formen und Ausprägungen der ehemaligen Diplommittelschulen und Höheren Töchterschulen geopfert werden mussten. Ähnliche Prozesse der Opferung und Generalisierung zeigte Leemann (2019) am Beispiel von Lehrbetriebsverbünden im schweizerischen Berufsbildungssystem. Es handelt sich bei Forminvestitionen also letztlich um «Prozesse der Homogenisierung, Vergleichbarmachung, Einordnung und Generalisierung» (Knoll 2012, S. 75).

Im Prozess einer Forminvestition lassen sich laut Thévenot besonders gut die Interessen verschiedener beteiligter Akteur*innen beobachten, wenn sie beispielsweise ein bestimmtes Element einer Form(-investition) (etwa eine Klassifikation, ein Gesetz oder ähnliches) in ihrem eigenen Interesse möglichst vage und interpretationsoffen halten möchten (deliberate vagueness) (Thévenot 1984, S. 3). Thévenot bezeichnet daher den Moment einer Reform als «extremely opportune moment to examine the process of form-giving and how links are established with existing forms» (ebd., S. 5).

Forminvestitionen können zudem nicht nur aufgrund ihrer zeitlichen Dauer, ihrer Reichweite und ihrer Materialität einflussreich werden, sondern auch abhängig vom Ausmaß, in dem sie mit anderen, bereits existierenden Forminvestitionen (materieller oder kognitiver Art) vernetzt oder verlinkt werden können. Der Aspekt der Verlinkung mit bereits bestehenden und etablierten Forminvestitionen kann als alternative Erklärung zu Mechanismen und Phänomenen der Pfadabhängigkeit (Mahoney 2000) verstanden werden. Daher eignet sich die EC auch hervorragend für die Analyse von bildungspolitischen Prozessen, Transformationen und Reformen. Reformen oder Institutionalisierungsprozesse können als Forminvestitionen in den Blick genommen werden, bei denen verschiedene Akteur*innen ihre Interessen offenlegen und miteinander koordinieren müssen. So untersuchten beispielsweise Lea Zehnder und Philipp Gonon (2017) aus einer EC-Perspektive die Wurzeln der Schweizer Berufsbildung und Gonon (2019) die Institutionalisierung akademischer Weiterbildung.

Eine weitere für den – insbesondere föderalistischen – Bildungskontext relevante Eigenschaft von Forminvestitionen besteht darin, dass kollektiv ausgehandelte Forminvestitionen zwar besonders hohe Investitionskosten im Sinne von Arbeitsaufwand mit sich bringen, so etwa die interkantonale Harmonisierung von Bildungsstrukturen und -inhalten unter Koordination der kantonalen Erziehungsdirektoren (EDK). Ist diese «kostspielige» Investition jedoch einmal erfolgreich in eine Form gebracht, ist diese üblicherweise von hoher Dauer und Legitimität, da sie kollektiv unter Einbezug aller Interessen geschah und alle Beteiligten eine gewisse Verantwortung dafür übernehmen (Thévenot 1984, S. 32). Dies mindert oder reduziert in der Folge Kritik an den eingeführten Formen (ebd., S. 33) – die gerade im schweizerischen Bildungssystem bei einer zentralstaatlichen top-down-Regelung heftig ausfallen würde. Dass auch interkantonal ausgehandelte Regelungen jedoch keineswegs frei von Kritik sind, zeigen im schweizerischen Bildungsdiskurs immer wieder aufbrechende Debatten um Fremdsprachenunterricht, die Harmonisierung von Bildungsstrukturen oder sprachregionale Lehrpläne.

Neben materiellen und kognitiven Formen, die eindeutig einer bestimmten Konvention oder «Welt» zugehörig sind und deren Reichweite erhöhen, haben Forminvestitionen eine zweite wichtige Funktion: die Stabilisierung von Kompromissen zwischen zwei oder mehreren Konventionen. Dies wird erforderlich, wenn in einer Situation Konflikte und Dispute entstehen, sich keine einzelne Konvention durchsetzen kann, und zur Handlungskoordination ein Kompromiss eingegangen werden muss. Ein klassisches Beispiel hierfür ist die Organisation, welche als Kompromissobjekt zwischen Wertigkeiten der marktlichen und der industriellen Konvention gilt (Thévenot 2001).

3.3.6 Kritik, Prüfung und Kompromiss

Kompromisse sind vonnöten, wenn in einer Situation Uneinigkeit bezüglich des angestrebten Gemeinwohls herrscht und keine Einigung auf eine einzelne Konvention stattfindet. Solche Situationen der Uneinigkeit haben Boltanski und Thévenot in «Über die Rechtfertigung» in den Blick genommen und als «kritische Momente» bezeichnet (Boltanski und Thévenot 2011, S. 43). Unabhängig davon, ob sich in einer Situation der Uneinigkeit eine Konvention durchsetzt oder ein Kompromiss geschlossen werden muss – vorausgehend ist stets ein Moment der Kritik (ausgelöst durch die Uneinigkeit). Die EC wird daher auch als Soziologie der Kritik (nicht zu verwechseln mit der kritischen Soziologie) bezeichnet, da sie die kritischen Kompetenzen der Akteur*innen in kritischen Momenten und den darauffolgenden Koordinationsprozess der Einigung und/oder Kompromissbildung untersucht. In den meisten Situationen der Uneinigkeit wird aber nicht explizit ein zugrundeliegendes Gemeinwohl kritisiert. Die unterschiedlichen Gemeinwohlorientierungen der Akteur*innen zeigen sich vielmehr in der Kritik an der Zuweisung von «Größe» oder Wertigkeit.

Wie erläutert wurde, besteht eine zwingende Eigenschaft einer Konvention, «Welt» oder Rechtfertigungsordnung darin, dass die ihr zugehörigen Wesen (Personen, Objekte etc.) eine bestimmte «Größe» (grandeur) erhalten, und zwar entsprechend dem der jeweiligen Konvention zugrundeliegenden Wertigkeitsmaßstab bzw. Bewertungsprinzip. Die Zuweisung von Wertigkeit als «Prüfung der Größe» (Boltanski und Thévenot 2007, S. 183) erfolgt anhand einer Prüfung, welche in der EC auch als «Realitätsprüfung» (ebd. 2011; Boltanski 2010), Bewährungsprobe oder Realitätstest bezeichnet wird. Gemeint ist damit jeweils dasselbe: in Momenten der Kritik oder Unsicherheit werden «Qualitäten und Wertigkeiten infrage gestellt» und in der Folge «mit Bezug auf Objekte geprüft» (Diaz-Bone 2018, S. 156).

Der Begriff der «Realität» bzw. Realitätsprüfung stammt daher, dass zur Prüfung der Größe die «Realität» pragmatisch mit der konventionellen Welt abgeglichen wird (Knoll 2015, S. 13). Da im Rahmen der EC eine rein diskursive Rechtfertigung nicht wirkmächtig ist, muss sich sowohl Kritik als auch Rechtfertigung genauso wie die erforderliche Realitätsprüfung auf Objekte stützen (Diaz-Bone 2018) und keine bloß «theoretische Debatte» darstellen (Boltanski und Thévenot 2007, S. 184). So können die in Frage gestellten Personen oder Objekte miteinander vergleichen und in eine «begründete Rangfolge» gebracht werden (ebd., S. 65 f., 184 f.).

Objekten kommt bei der Zuweisung von Wertigkeit folglich eine zentrale Koordinationsfunktion zu. «Dinge, Gegenstände und Apparaturen» dienen als materialisierte «Referenzpunkte», die Realitätsprüfungen stützen (Boltanski und Thévenot 2011, S. 56). Mit Hilfe der materiellen Grundlage der Objekte können Wertigkeiten von Personen auf der Grundlage einer bestimmten Konvention durch eine Prüfung festgestellt werden. Dabei ist wichtig, dass die Objekte das jeweilige Bewertungsprinzip stützen und zur jeweiligen Welt gehören: «Halten sie zusammen, dann liefern sie den Beweis dafür, dass Einigungen zwischen Menschen gerecht sind. Dieser Gerechtigkeit (justice) entspricht eine Richtigkeit (justesse) der Abstimmungen mit den Sachen» (Boltanski und Thévenot 2007, S. 184).

Da den verschiedenen Konventionen unterschiedliche Logiken zugrunde liegen und unterschiedliche Objekte die jeweilige Konvention als «Welt» ausmachen, entsprechen diesen Welten auch unterschiedliche Verfahren der Prüfung der Größe (ebd., S. 185). Boltanski und Thévenot haben verschiedene Beispiele für solche Realitätsprüfungen aufgeführt. In der häuslichen Welt beispielsweise «beruft man sich auf das Zeugnis eines Großen, dessen Urteil maßgeblich ist» (Autorität, Patron, Anerkennung), in der Welt der Meinung zeigt man «den Grad an Glaubwürdigkeit auf, die man bei einer großen Anzahl Menschen genießt», führt in der staatsbürgerlichen Welt den Gemeinwillen an, stützt sich in der industriellen Welt «auf eine kompetent durchgeführte Expertise», oder bezahlt den Preis in der Marktwelt (ebd.).

Diese Beispiele verdeutlichen, dass den unterschiedlichen Verfahren zur Überprüfung der Größe eines Wesens in einer Welt auch unterschiedliche «kognitive Modalitäten» entsprechen (ebd., S. 186). In der industriellen Welt beispielsweise geht es um das (Ver-)messen, um Kennziffern und Kriterien, während in der häuslichen Welt ein «Denken in Geschichten» (Verweis auf Tradition und Verkörperung eines allgemeinen Prinzips in Form einer Person etwa eines Königs) vonnöten ist (ebd.).

Gemäß Boltanski und Thévenot gibt es zwei Formen der Kritik, mit der die Gültigkeit einer Zuweisung von Größe auf Basis einer Realitätsprüfung angezweifelt werden kann. Bei der ersten, milderen Form der Kritik wird nun die Gültigkeit dieser Realitätsprüfung angezweifelt und hinterfragt, nicht aber die ihr zugrundeliegende Konvention (Boltanski und Thévenot 2007, S. 294 f.). Dabei gibt es zwei Aspekte, auf welche die Kritik bezogen werden kann:

  1. a)

    Es wird kritisiert, dass die zur Prüfung «nötigen Objekte fehlen» (ebd., S. 295). Es wird also nicht die Prüfung an sich in Frage gestellt, sondern ihre Umsetzung bzw. das Fehlen der entsprechenden, zur Prüfung notwendigen Objekte. So kann die «Größe» bzw. Wertigkeit von Personen nicht adäquat geprüft werden, bzw. ihre Größe fällt im Vergleich zu anderen Personen, bei deren Prüfung die entsprechenden Objekte vorhanden waren, geringer aus (ebd.). Dies wird als ungerecht empfunden, die Prüfung als ungültig betrachtet und eine Wiederholung unter Vorhandensein der entsprechenden Objekte gefordert (ebd.). Zusammenfassend geht es hier also um die Vollständigkeit einer Prüfung.

  2. b)

    Oder aber es wird kritisiert, dass Objekte aus einer anderen Konvention herangezogen würden, welche die Prüfung verwässern, ungerecht machen und so keine gerechte Zuschreibung von Größe erfolgen würde (ebd.). Boltanski und Thévenot illustrieren dies am Beispiel einer schulischen Prüfung: Wird zur Beurteilung eines Prüflings nur seine fachliche Leistung (industrielle Konvention) als Kriterium herangezogen und gemessen, ist die Prüfung gerecht. Kommt aber Verdacht auf, dass sich der Prüfer bei der Bewertung (also der Zuweisung von Größe) beispielsweise durch Anzeichen des Reichtums (marktliche Konvention) wie teure Kleidung oder Schmuck, oder auch von Manieren (häusliche Konvention) und somit von Elementen anderer Welten/Konventionen hat beeinflussen lassen, wird die Prüfung ebenfalls als ungerecht kritisiert und eine Wiederholung in «reiner Form», also mit ausschließlichem Fokus auf die Leistung gefordert (ebd., S. 298). Auch an dieser Stelle werden wieder die pragmatischen Kompetenzen der Akteur*innen betont: der Prüfer kann die Anzeichen von Reichtum und die guten Manieren des Prüflings durchaus wahrnehmen – aber dennoch die «Augen verschlossen» halten vor diesen Anzeichen und sich rein auf die Leistung stützen (ebd.). Eine berechtigte Kritik an dieser Prüfung müsste also nachweisen, dass der Prüfer die Augen nicht verschlossen und andere Objekte/Elemente als diejenigen der industriellen Konvention zur Bewertung herangezogen hat (ebd.). Zusammenfassend geht es hier also um die «Reinheit» oder Unverfälschtheit der Prüfung.

Ist eine Prüfung ausreichend vollständig (siehe Punkt a) und unverfälscht (siehe Punkt b), bzw. weist sie eine «technische Passung» (Potthast 2001, S. 553) zur zugrundeliegenden Konvention auf, ist dies ein Beweis für ihre Angemessenheit oder Richtigkeit (justesse).

Die zweite, radikalere Form der Kritik stößt sich nicht an der (unvollständigen oder «unreinen») Realitätsprüfung selbst, sondern am ihr zugrundeliegenden Prinzip respektive der ihr zugrundeliegenden Konvention. Es geht hierbei um die Frage der Gerechtigkeit (justice) oder Legitimität (Eymard-Duvernay 2012a, S. 22) der angewandten Wertigkeits- oder Rechtfertigungsordnung. Im obigen Beispiel des Examens würde die Kritik also lauten, dass die fachliche Leistung (industrielle Konvention) gar nicht das richtige Kriterium zur Überprüfung der Größe der betreffenden Person sei. Auf Basis der inspirierten Konvention könnte man beispielsweise die Kritik äußern, dass die Notengebung anhand der fachlichen Leistung der Kreativität des Prüflings nicht gerecht werde (Knoll 2012, S. 13). Es steht also das zugrundeliegende Gemeinwohl zur Debatte (Boltanski und Thévenot 2007, S. 300). Die Frage dreht sich nicht mehr darum, ob etwa die industrielle Leistungsprüfung vollständig oder unverfälscht durchgeführt wurde, sondern ob sie an sich das geeignete Bewertungsprinzip in dieser Situation sei.

Dies äußert sich laut Boltanski und Thévenot in einem Konflikt statt einer bloßen Uneinigkeit oder Meinungsverschiedenheit (ebd.). Kritik wird also nicht mehr mit der Absicht einer Wiederholung der Realitätsprüfung in «reiner» oder «vollständiger» Form geübt, sondern es wird gefordert, «eine andere Prüfung einzurichten, die in der alternativen Welt als gültig angesehen wird» (ebd., S. 301). In einem Konflikt über die gerechte Realitätsprüfung herrscht in diesem Fall also «Uneinigkeit hinsichtlich der Welt, in der die Prüfung stattfinden soll, damit sie legitim ist» (ebd., S. 302). Aus diesem Grund ist eine Situation umso kritikanfälliger, je «unreiner» sie ist («in dem Sinne, dass sie Gegenstände einbezieht, die in unterschiedlichen Welten Relevanz besitzen») (ebd. 2011, S. 65).

Eine erste Möglichkeit zur Auflösung des Konflikts und der Herstellung von Handlungsfähigkeit besteht nun entweder darin, sich auf eine einzige, legitime Realitätsprüfung zu einigen und diese vollständig und unverfälscht durchzuführen (Boltanski und Thévenot 2007, S. 302, 2011, S. 66). Die zweite MöglichkeitFootnote 18 der Wiederherstellung von Handlungsfähigkeit und der (zumindest temporären) Auflösung eines Konflikts ist, einen Kompromiss zwischen den konfligierenden Konventionen herzustellen (ebd. 2011, S. 66). Die Situation bleibt dabei mehrdeutig, die Auseinandersetzung wird durch den Kompromiss aber dennoch ausgesetzt und der «Streit» vermieden (ebd., S. 367).

Entstand der Konflikt ursprünglich aus der Bezugnahme auf ein je unterschiedliches Gemeinwohl, beziehen sich die beteiligten Akteur*innen in einem Kompromiss auf ein Gemeinwohl, welches über die bisher miteinander konfligierenden «hinausgeht und sie dadurch in sich einschließt» (ebd., S. 368).

Boltanski und Thévenot nennen hierfür das Beispiel der «Kreativitätstechniken», welche sowohl «industrielle Routine» (Technik) als auch «Sprudeln der Inspiration» (Kreativität) in sich vereint (ebd., S. 367). Ein anderes Beispiel sind «Arbeitnehmerrechte», welche Wertigkeiten der industriellen (Arbeitnehmer sind als Beschäftigte von Wertigkeit) und der staatsbürgerlichen (Recht von Bürger*innen) Konvention als Kompromiss vereinen (ebd. 2011, S. 67).

Das neue Konstrukt (so etwa die Kreativitätstechniken) löst als Forminvestition die vorhandene Spannung und Mehrdeutigkeit zwar nicht auf. Es ist aber wesentlich einfacher sie zu ignorieren, indem man sich auf das Kompromisskonstrukt bezieht (Knoll 2013, S. 6). Die Spannung oder Kontroverse wird wortwörtlich «aufgehoben» in einem Kompromisskonstrukt (Leemann und Imdorf 2015), ohne die ursprüngliche Kontroverse durch einen einer einzigen Welt zugehörigen Realitätstest zu lösen (Thévenot 2001, S. 411). Solche Konstrukte können als Kompromissobjekte (Boltanski und Thévenot 2007, S. 373), Kompromisssubjekte (Leemann und Imdorf 2019b, S. 427) oder Kompromissformeln (Boltanski und Thévenot 2007, S. 367) in Erscheinung treten.

Ein Kompromisskonstrukt «erscheint unserem Alltagsverständnis durchaus als akzeptabel» (Boltanski und Thévenot 2007, S. 367), was im Fall der Kreativitätstechniken oder der Arbeitnehmerrechte nachvollziehbar ist. Kompromisse sind aber als «schwache argumentative Konstruktionen» zu Beginn fragil und angreifbar, da aufgrund ihrer Mehrdeutigkeit jederzeit wieder Kritik aufkommen kann (ebd. 2011, S. 67, 2007, S. 368). Robuster und gewappneter gegen Kritik ist ein Kompromiss, wenn er als Forminvestition in Objekten und kognitiven Formen «mit einer eigenen Identität» festgehalten wird (ebd. 2007, S. 369). So kann er nicht als einer einzigen Welt zugehörig identifiziert werden, sondern erlaubt den Akteur*innen als «hybrides» Kompromissobjekt einen «flexiblen argumentativen Bezug» (Knoll 2015, S. 14, 2012, S. 79).

Solche hybriden Konstrukte sind mehrdeutig, da sie «je nach Auffassung, unterschiedlichen Welten angehören können» (Boltanski und Thévenot 2007, S. 371). Dies können beispielsweise verschwommene «Containerbegriffe» (Knoll 2015, S. 14) wie jener der «Gesellschaft» sein, welcher sowohl Bezugnahmen auf die häusliche (gute Gesellschaft), staatsbürgerliche (politische Gesellschaft) oder auch industrielle (sozialwissenschaftlich-empirisch beforschte und ‘vermessene’ Gesellschaft) Konvention erlaubt (Boltanski und Thévenot 2007, S. 371). Ein wesentlicher (Arbeits-)Aufwand für eine Forminvestition besteht beim Herstellen eines Kompromisses deswegen auch darin, «sich auf einen passenden Begriff zu verständigen» (ebd. 2007, S. 373).

Neben solchen Containerbegriffen als kognitiven Formen stärkt und stabilisiert einen Kompromiss auch eine «Verankerung […] in der Welt der Dinge» (ebd., S. 370). Je stärker und häufiger sich ein Kompromiss aus ineinander verwobenen und sich gegenseitig stützenden, hybriden Objekten und kognitiven Formen niederschlägt, desto stabiler, desto schwerer auflösbar und schwerer kritisierbar wird er (ebd., S. 370). Es ist also letztlich die Institutionalisierung, welche einen Kompromiss stärkt (Knoll 2015, S. 14).

Die Herstellung von Kompromissen, von Handlungsfähigkeit und sozialer Ordnung ist im Bildungsbereich bei Analysen zu Institutionalisierungsprozessen, Wandel und Steuerung im Bildungssystem relevant (Leemann und Imdorf 2019a, S. 21). Die EC erlaubt hierbei, «kritische Momente» (aufkommen von Kritik oder Herausforderungen, welche die Bildungspolitik bewältigen muss), die darauffolgende Handlungskoordination und die gefundenen Lösungen und/oder Kompromisse theoretisch zu fassen. So haben beispielsweise Imdorf, Berner und Gonon (2016) aufgezeigt, wie sich das in der Schweiz inzwischen etablierte und dominante duale Modell der Berufsbildung ursprünglich als Kompromisslösung zwischen unterschiedlichen Interessen der Kantone darstellte (Leemann und Imdorf 2019a, S. 22). Ebenso haben Leemann und Imdorf (2015) gezeigt, wie in Ausbildungsverbünden als neuer netzwerkförmiger Organisationsform der dualen Berufsbildung in der Schweiz der sogenannten Leitorganisation des Ausbildungsverbunds die Aufgabe zukommt, widersprüchliche Handlungslogiken der einzelnen ihr unterstellten Betriebe auszutarieren und über Kompromisse zu vereinigen (Leemann und Imdorf 2019a, S. 31).

3.4 Theoretische Einbettung des Erkenntnisinteresses und Arbeitshypothesen

Konventionen können zusammenfassend als soziokulturelle Koordinationslogiken, als «Welten» aus Personen, Objekten, kognitiven Formaten, Institutionen, Worten etc. verstanden werden. Akteur*innen mobilisieren diese Konventionen bei der Handlungskoordination sowie der Bewertung und Kritik von Handlungen, Personen, Objekten oder Prozessen und weisen diesen gestützt auf je unterschiedliche Konventionen «Größe»/Wertigkeit zu oder sprechen sie ihr ab.

Es wurde dargestellt, inwiefern sich die EC als gewinnbringende Theorieperspektive auch für Analysen im Bereich der Bildung erweist, für welche Art von Erkenntnisinteresse sie konzeptionell geeignet ist und für welche Fragestellungen sie bereits in empirischen Forschungsprojekten umgesetzt wurde. Mit ihrem theoretischen Instrumentarium kann sie sowohl den bezüglich der Educational Governance-Forschung als auch der Schulkulturforschung formulierten Desiderata nach einem stärkeren Fokus auf die Akteur*innen und deren Handlungspraxis sowie dem Einbezug von Materialitäten und unintendierten Effekten der Handlungskooperation begegnen.

Zudem distanziert sich die EC von in der Soziologie dominanten Konzepten wie derjenigen der gesellschaftlichen Ebenen (Mikro-, Meso- und Makroebene) sowie einem ausschließlich strukturalistischen oder individualistischen Akteursverständnis. Statt gesellschaftlichen Ebenen nimmt sie Situationen in den Blick, in denen Akteur*innen reflexiv-kompetent auf plurale, soziokulturell etablierte Koordinations- und Bewertungslogiken zurückgreifen. Je nach Konzeption der Konventionen als Rechtfertigungsordnungen (Kritik und Rechtfertigung), Wertigkeitsordnungen (Evaluation, Bewertung, Zuweisung von Größe) oder Handlungs- und Koordinationslogiken (Koordination, Kooperation, Aushandlung) können Konventionen im Bildungsbereich in dreierlei Weise zur Untersuchung und Analyse von entsprechenden Forschungsfragen dienen (Leemann und Imdorf 2019a):

  • Als Rechtfertigungsordnungen zur Analyse von (Bildungs-)Ungleichheit, Gerechtigkeit und Inklusion

  • Als Handlungs- und Koordinationslogiken zur Analyse von Institutionalisierung, Wandel und Steuerung in Bildungsinstitutionen, Bildungsorganisationen und Bildungssystemen

  • Als Wertigkeitsordnungen zur Analyse (der sozialen Konstruktion) von ‘Qualität’ und Bewertungen im Bildungsbereich

Die erste Fragestellung der vorliegenden Studie beschäftigt sich mit der Erklärung des (erfolgreichen) Institutionalisierungsprozesses der FMS Pädagogik angesichts des gymnasialen «Königswegs» im Kontext der Tertiarisierungsreform der Lehrpersonenbildung Ende der 1990-er Jahre. Wie der Forschungsüberblick zeigt, ist zwar empirisch gestütztes Wissen zur Positionierung des Gymnasiums als «Königsweg» im Kontext der Tertiarisierung der Lehrpersonenbildung und der Auflösung der Lehrer*innenseminare der Sekundarstufe II vorhanden. Es existiert bisher jedoch kein spezifisches Wissen zur (umkämpften) Institutionalisierung der FMS Pädagogik und den entsprechenden bildungspolitischen Aushandlungs- und Koordinationsprozessen, die in der (verpflichtenden) Zulassung von Absolvierenden der FMS Pädagogik zur tertiarisierten Lehrpersonenbildung resultierten. Mit diesem Erkenntnisinteresse (Institutionalisierung und bildungspolitische Koordination angesichts einer Reform) sind Konventionen als Handlungs- und Koordinationslogiken zur Analyse von Institutionalisierung und Wandel im Bildungssystem relevant. Aus dieser Perspektive lautet die entsprechende Forschungsfrage:

Welche Prozesse und Dynamiken im Sinne von Kritiken, Konflikten und Kompromissen können im Institutionalisierungsprozess der FMS Pädagogik als bildungspolitischem Koordinationsprozess identifiziert werden? Auf welche Konventionen stützen sich welche Akteur*innen, wie werden auftretende Konflikte handlungspraktisch gelöst, wie die gegebenenfalls gefundenen Kompromisse stabilisiert? Wie wird in welche Formen mit welchen Begründungen und Maßnahmen investiert? Wie lässt sich im Zusammenspiel dieser Dynamiken die (erfolgreiche) Institutionalisierung der FMS Pädagogik angesichts des gymnasialen «Königswegs» erklären?

Bisherige Forschung verweist darauf, dass der Zugang über die FMS in die tertiarisierte Lehrpersonenbildung von Beginn an umstritten war (siehe Abschn. 2.2.2). Aus einer EC-Perspektive kann die FMS mit Profil und Fachmaturität Pädagogik sowohl als Resultat und mit Blick auf ihre Institutionalisierung auch als Prozess der Forminvestition betrachtet werden. Vor diesem Hintergrund kann die Arbeitshypothese formuliert werden, dass die FMS Pädagogik zur erfolgreichen Institutionalisierung mit bestehenden Formen verlinkt werden musste und Kompromisse gefunden wurden, welche die der FMS entgegengebrachte Kritik einschlossen.

Da die FMS traditionell-historisch jungen Frauen und in jüngerer Zeit Jugendlichen mit Migrationshintergrund einen Bildungsabschluss auf Sekundarstufe II ermöglichte, ist zu erwarten, dass bei den Koordinations- und Aushandlungsprozessen die staatsbürgerliche Konvention (Chancengleichheit, Fairness, Durchlässigkeit) eine bedeutende Rolle spielte. Ebenso verweist die bisherige Forschung auf kantonal stark variierende Interessen im Bereich der Lehrpersonenbildung, welche im Kontext der Auflösung der seminaristischen Ausbildungstradition besonders deutlich wurden (siehe Criblez 2010, 2016). Daher ist mit Blick auf den schweizerischen Bildungsföderalismus und die teilweise stark unterschiedlichen kantonalen Traditionen und Interessen in Bezug auf die Lehrpersonenbildung zu erwarten, dass kantonale/regionale Traditionen als Aspekte der häuslichen Konvention von hoher Bedeutung in den Aushandlungs- und Koordinationsprozessen waren. Ebenso ist zu erwarten, dass sich mit dem Argument der Befriedigung des Fachkräfte- oder Nachwuchsmangels in der Lehrpersonenbildung eine Begründungslogik der industriellen Konvention als relevant erweist.

Im Weiteren kann vermutet werden, dass im Rahmen der bildungspolitischen und -föderalistischen Handlungskoordination im Prozess der Institutionalisierung der FMS Pädagogik nicht nur Kompromisse zwischen verschiedenen kantonalen Interessen respektive Konventionen gefunden werden mussten, sondern dass diese möglicherweise auch genug «vage» konzipiert werden mussten (deliberate vagueness (Thévenot 1984)), dass verschiedenste kantonalen Interessen berücksichtigt werden konnten. Zuletzt ist davon auszugehen, dass aufgrund der im Untersuchungszeitraum stattfindenden wesentlichen Umbrüche und Reformen im Bildungssystem auch nicht-intendierte Effekte der Handlungskoordination den Institutionalisierungsprozess der FMS Pädagogik prägten.

Die dritte Fragestellung der vorliegenden Studie beschäftigt sich damit, wie die unterschiedliche Bedeutung der FMS Pädagogik und des musisch-pädagogischen Gymnasialprofils für die Ausbildung zur Primarlehrperson erklärt werden kann. Wie der Forschungsüberblick zeigt, existiert umfassende empirische Forschung zu Studien- und Berufswahlmotiven von am Lehrberuf interessierten Gymnasiast*innen und Lehramtsstudierenden im Allgemeinen. Dabei deutet einiges darauf hin, dass bei der Formung dieser Motive und der lehrberufsspezifischen Interessen die vorhergehende schulische Sozialisation und die Vorbildung von erheblicher Bedeutung ist (Denzler und Wolter 2008a, b; Brühwiler und Spychiger 1997; Brühwiler 2001; Treptow 2006; Ingrisani 2014; Affolter et al. 2015). Unter der Annahme, dass die unterschiedliche Bedeutung der beiden untersuchten schulischen Profile für die Primarlehrpersonenbildung in der entsprechenden schulischen Sozialisation zu suchen ist, lässt sich danach fragen, wie und durch welche Charakteristika und Spezifika die beiden untersuchten Profile die Wahl einer PH-Ausbildung zur Primarlehrperson für Fachmittelschüler*innen wahrscheinlicher und für Gymnasiast*innen unwahrscheinlicher machen.

Im Anschluss an die theoretische Perspektive der EC kann dieses Erkenntnisinteresse als Frage nach zugrundeliegenden Wertigkeitsordnungen und deren Kompromisse formuliert werden. Mit Bezug auf welche Konventionen weisen die beteiligten Akteur*innen verschiedenen Charakteristika und Spezifika des jeweiligen schulischen Profils Wertigkeit zu und wie unterscheiden sich diese je nach Bildungsprofil? Durch welche Konventionen, Objekte, Forminvestitionen etc. konstituiert sich das jeweilige schulische Dispositiv, wie gehen die jeweiligen Akteur*innen handlungspraktisch damit um, und wie lässt sich dadurch die unterschiedliche Bedeutung der beiden Profile für die Ausbildung zur Primarlehrperson erklären?

Hierbei wird davon ausgegangen, dass lehrberufsspezifische Interessen und Berufswahlmotive nicht in erster Linie im Habitus der Schüler*innen verankert sind und diese sich dann lediglich aufgrund der schulischen (nicht-)Passung im entsprechenden Schultyp wiederfinden. Die zentrale Arbeitshypothese lautet aus einer stärker pragmatistisch orientierten EC-Perspektive, dass sich entsprechende Interessen und Orientierungen wesentlich in der handlungspraktischen Auseinandersetzung mit dem jeweiligen schulischen Dispositiv (bestehend aus Akteur*innen, Konventionen, Objekten, Forminvestitionen…) (her)ausbilden und so gegebenenfalls unterschiedliche Studienwahlinteressen befördern können.

Die FMS wird heute – ähnlich wie das musisch-pädagogische Gymnasialprofil im Kontext seiner Einführung 1995 – in vielen Kantonen als Ersatz oder Nachfolge des ehemaligen Lehrer*innenseminars wahrgenommen (Capaul und Keller 2014). Daher kann im Weiteren die Annahme formuliert werden, dass die FMS stärker als die gymnasiale Ausbildung ähnlich wie die ehemaligen Lehrer*innenseminare einen besonderen Fokus auf Berufspraxis und berufspraktische Bezüge, Praktika, ein familiäres Klima und spezifisch pädagogische Interessen legt und damit Wertigkeiten der häuslichen Konvention für die FMS von hoher Bedeutung sind.

Zudem ist zu erwarten, dass diese häusliche Ausprägung in solchen Kantonen stärker ist, wo die Lehrpersonenbildung traditionellerweise und lange seminaristisch organisiert war (und der seminaristisch-häuslichen Ausbildung somit mehr Wertigkeit zukam), und dort geringer, wo die Ausbildung von Lehrpersonen früh auf Hochschulstufe angehoben wurde. Zudem ist mit Blick auf die spezifische PH-Vorbereitungsfunktion, mit der sich das pädagogische FMS-Profil mit der Fachmaturität Pädagogik profiliert zu erwarten, dass auch Wertigkeiten der industriellen Konvention wie Funktionalität und Effizienz im Sinne von kompetenzorientierter Berufsvorbereitung von hoher Bedeutung sind.

Mit Blick auf die Forschungsergebnisse von Mombelli-Matthys (2011) kann zudem die Arbeitshypothese formuliert werden, dass im musisch-pädagogischen Gymnasialprofil trotz dessen Einführung als funktionaler Ersatz der ehemaligen Lehrer*innenseminare im Vergleich zur FMS eine berufspropädeutische Funktion eher abgelehnt wird. Die Ergebnisse von Mombelli-Matthys (2011) zum Schwerpunktfach PPP verweisen auf Logiken der zweckfreien Bildung, welchen als Ausdruck von Wertigkeiten der staatsbürgerlichen Konvention in der gymnasialen Ausbildung mehr Bedeutung zukommen dürfte. Anschließend an die Erkenntnis, dass sich fachliche Interessen von Gymnasiast*innen im Verlauf der gymnasialen Ausbildung verstärken (ebd.), ist im Weiteren zu erwarten, dass in der gymnasialen Ausbildung einer monofachlichen Orientierung am disziplinären Wissenskanon (Derouet 1989, S. 21) als Ausdruck staatsbürgerlicher Wertigkeiten höhere Bedeutung zukommt als in der FMS.

Auch wenn heute eine berufspropädeutische Funktion des Schwerpunktfachs PPP abgelehnt wird (Mombelli-Matthys 2011), liegen seine Wurzeln dennoch in Vorbereitung auf die Ausbildung zur Lehrperson (funktionaler Ersatz der Lehrer*innenseminare). Als entsprechende Arbeitshypothese kann formuliert werden, dass die ehemalige Funktion dieser Schwerpunktfachs als «Seminarnachfolge» als kognitives Format bezeichnet werden kann, welches die Wahrnehmung der Akteur*innen noch immer strukturiert. Daher könnte man erwarten, dass in Kantonen, welche das Schwerpunktfach PPP anbieten, die FMS Pädagogik weniger ausgeprägt als «Ersatz der Lehrer*innenseminare» wahrgenommen und valorisiert wird als in Kantonen ohne Schwerpunktfach PPP.

Ebenso kann die Hypothese formuliert werden, dass die Ergebnisse Cortesis (2017), wonach die berufsvorbereitende Funktion der FMS in der deutschsprachigen Schweiz mehr Anerkennung erfährt als in der französischsprachigen Schweiz, wo ihre allgemeinbildende Funktion stärker valorisiert wird, auch spezifisch auf die FMS Pädagogik übertragen werden können. Konventionentheoretisch würde dies bedeuten, dass Wertigkeiten der häuslichen und industriellen Konvention (beruflich-konkretes Handwerk, funktionale Vorbereitungslogik) in der deutschsprachigen Schweiz, Wertigkeiten der staatsbürgerlichen Konvention (zweckfreie Allgemeinbildung) in der französischsprachigen Schweiz mehr Wertigkeit erhalten. Auch für die gymnasiale Ausbildung würde dies bedeuten, dass eine möglicherweise vorhandene berufsvorbereitende Logik tendenziell eher in der deutsch- als in der französischsprachigen Schweiz vorzufinden ist.

Die formulierten Arbeitshypothesen sind weder abschließend, noch decken sie den ganzen theoretisch-analytischen und empirisch zu untersuchenden Bereich ab, den die vorliegende Studie in den Blick nimmt. Da insbesondere die Fragestellung nach den Spezifika und Charakteristika der beiden schulischen Profile auch einen explorativen Anspruch hat, sind auch relevante Ergebnisse außerhalb des durch die Arbeitshypothesen definierten Fokus zu erwarten. Wie das Forschungsvorhaben der vorliegenden Studie forschungsmethodisch und -praktisch umgesetzt wurde, ist Gegenstand des folgenden Kapitels.