Zusammenfassung

Ziel dieser Arbeit war es, unter Rückgriff auf die soziologische Netzwerkforschung Armut als komplexes gesellschaftliches Konstrukt theoretisch zu beschreiben und empirisch zu erfassen. Den Ausgangspunkt der Überlegungen bildete das Konzept der relativen Einkommensarmut, das Personen dann als arm bezeichnet, wenn das Einkommen ihres Haushaltes weit unter dem Mittelwert der Verteilung in der Gesellschaft liegt, der sie zugerechnet werden. Analog dazu werden in der Ungleichheitsforschung auch weitere Dimensionen von Armut relativ erfasst, z. B. die Erwerbstätigkeit, die Bildung oder die politische Partizipation. Gemein ist diesen Kategorien, dass sie von außen durch Forscher*innen bestimmt und universell auf alle gesellschaftlichen Teilgruppen angewendet werden. Die theoretischen Überlegungen in dieser Arbeit zeigen, dass dieses Vorgehen einige Leerstellen aufweist:

  1. 1.

    Es ist fraglich, welche subjektive Relevanz die zugrunde gelegten Kategorien im Alltag der Betroffenen haben, bzw., ob alle als arm identifizierten Akteur*innen gleichermaßen unter dem statistisch festgestellten Mangel leiden.

  2. 2.

    Es bleibt offen, ob die auf diese Weise als arm identifizierten Personen und Gruppen nicht auf darüberhinausgehenden Dimensionen sozial eingebunden sind. Damit werden evtl. vorhandene alternative Formen der sozialen Teilhabe übersehen (bzw. durch die Forschung nicht anerkannt) und Personen als arm bezeichnet, die bei genauerem Hinsehen evtl. doch eine hohe soziale Einbindung aufweisen und selbst keinen Mangel wahrnehmen.

  3. 3.

    Die Mechanismen und Prozesse, die zur Herausbildung und Reproduktion von Armut führen, werden auf Basis dieser Kategorien nur indirekt erfasst.

  4. 4.

    Die Rede von der sozialen Teilhabe und Partizipation führt häufig zu einer Über-Betonung individueller Verantwortlichkeit und zur Vernachlässigung struktureller Zusammenhänge.

Aus diesen Gründen wurde nach einer Möglichkeit gesucht, das Ausmaß von relativer Armut differenziert und ausgehend von den Betroffenen selbst zu erfassen, ohne dabei jedoch den Blick für strukturelle Zusammenhänge zu verlieren.

Dafür greift diese Arbeit auf die theoretischen und empirischen Grundlagen der soziologischen Netzwerkforschung zurück. Diese ermöglicht es, die Wahrnehmung und Bewältigung von Armut eingebettet in soziale Beziehungen zu konzeptualisieren und zu messen. Damit wird die Analyse der subjektiven Sichtweisen der Betroffenen untrennbar mit der Rekonstruktion ihrer Einbindung in die Möglichkeitsräume ihres sozialen Umfeldes verknüpft. Diese Möglichkeitsräume werden hier als egozentrierte soziale Netzwerke operationalisiert und erfasst. Um nicht auf der Mesoebene sozialer Beziehungen stehenzubleiben, werden die sozialen Netzwerke der Betroffenen ihrerseits als eingebettet in übergeordnete Kontexte verstanden und analysiert. Dazu werden subjektive Sichtweisen über die eigene soziale Position vor dem Hintergrund kultureller und normativer Bewertungshorizonte rekonstruiert, die die Netzwerke der Befragten umgeben.

Die Zugehörigkeit zur Anerkennungsordnung in einem konkreten gesellschaftlichen Umfeld wird in dieser Arbeit in Anlehnung an die Arbeiten Harrison Whites und Mustafa Emirbayers (und Kolleg*innen) über das Netzwerk konzeptualisiert und gemessen. Netzwerke bestehen aus Teilbereichen (Domänen), in denen die Akteur*innen handeln und in denen sie jeweils spezifische Rollen (Identitäten) einnehmen. Diese Rollen sind Ergebnis von Aushandlungsprozessen (Kontrollprojekten) zwischen den Angehörigen der jeweiligen Domäne. Die empirische Analyse zeigt, dass sich die Befragten im Rahmen solcher Aushandlungen (z. B. im Gespräch mit dem Interviewer von der Universität) gegen die Zuschreibung der Rolle einer von Armut betroffenen und auf Hilfe angewiesenen Person wehren, da diese die von ihnen angestrebte Identität als respektable und anerkennenswürdige Akteur*innen bedroht. Sie erwehren sich dieser Zuschreibung unter Rückgriff auf allgemein anerkannte Aktivitäten in den Domänen ihrer Netzwerke. Gegen den Verdacht, „ihrer sozialen Stellung nach nur arm […] und weiter nichts“ (Simmel, 1992, S. 492) mehr zu sein, wehren sie sich, indem sie ihr alltägliches Engagement im Freundeskreis, im Stadtteilzentrum, im Verein, in der Nachbarschaft oder in der Familie usw. in den Vordergrund ihrer Selbstdarstellung rücken.

Relative Einkommensarmut und insbesondere der Verlust der Erwerbsarbeit erschweren die Strategien der Identitäts-Behauptung, machen diese aber nicht unmöglich. Solange die Betroffenen Zugang zu (alternativen) Domänen haben, in denen sie Respektabilität generieren können, ist es ihnen möglich, die Auswirkungen von materieller Knappheit und sozialem Ausschluss zu verringern. Diese Beobachtungen führen zur Formulierung folgender theoretischer Definition von sozialer Armut in dieser Arbeit (siehe Abschnitt 2.3.2): Von sozialer Armut bedroht sind Akteur*innen dann, wenn sie infolge materieller Unsicherheiten in Abhängigkeitsverhältnisse geraten, die ihre Identität in zentralen Netzwerkdomänen gefährden oder Zugänge in Anerkennung generierende Domänen versperren. Von sozialer Armut betroffen sind sie dann, wenn sie in dieser Situation nicht in der Lage sind, diese Beschränkung im Rückgriff auf alternative Identitäten aus anderen Domänen ihres Netzwerks zu kompensieren. Die Fähigkeit der Befragten, Identitäten zu etablieren, die im Einklang mit ihren persönlichen und kollektiven Idealen, Interessen und Verbindlichkeiten stehen, wird in Anlehnung an Emirbayer und Goodwin (1994, S. 1443) als Agency bezeichnet.

Ausgehend von diesem netzwerktheoretischen Armutsverständnis wurde empirische Literatur zum Zusammenhang von Armut und sozialen Beziehungen zusammengetragen und ausgewertet. Dabei zeigt sich, dass andauernde Armut Netzwerke schwächt, sie werden kleiner und homogener und ihre Unterstützungspotenziale nehmen ab. Ursachen für die Schwächung der Netzwerke sind formale Ausschlüsse von Gelegenheitsstrukturen (insb. der Arbeitsstelle), Rückzug aus Angst vor Stigmatisierung, nicht erfüllbare Reziprozitätsnormen in Anbetracht von Belastungen (z. B. durch Sorgearbeit) oder mangelnde Ressourcen und Überforderung mit der Pflege sozialer Beziehungen in Anbetracht mit der Armut einhergehender Sorgen und Nöte.

In umgekehrter Wirkrichtung können Netzwerke zur Entstehung, aber auch zur Verringerung der Armut beitragen. Die Entstehung und Verstärkung von Armut kann durch das Vorhandensein negativer oder belastender Beziehungen im Netzwerk befördert werden, z. B. durch mit der Sorge um erkrankte Angehörige verbundene Einschränkungen der Bewältigungschancen (räumlich, zeitlich, kognitiv). Darüber hinaus lassen sich komplexere Zusammenhänge finden: Abgrenzungsbedürfnisse zu anderen als arm wahrgenommenen Personen verringern das Unterstützungspotenzial der Netzwerke der Betroffenen (ausbleibende Solidarisierung mit anderen „Armen“). Verringert oder gar vermieden wird die Armut vor allem durch die verschiedenen Formen sozialer Unterstützung (materielle, emotionale, motivationale, informationelle etc.). Statusverluste können zudem durch eine Verlagerung auf alternative Aktivitäten in institutionalisierten oder informellen Domänen teilweise kompensiert werden.

Bezüglich der Typisierung von Netzwerken und sozialen Beziehungsstrukturen unter der Bedingung von Armut zeigt sich, dass es nur wenige Studien gibt, die die Netzwerke gezielt in den Blick nehmen. Viele Typologien beziehen sich aber implizit auch auf Netzwerke. Es gibt Typologien

  • auf Basis standardisierter Netzwerkmaße im Bereich der Armutsforschung,

  • nach den für das Bewältigungshandeln relevanten Beziehungsarten,

  • nach domänenspezifischen Beziehungskulturen und

  • der alltäglichen Wahrnehmung und Bewältigung der Armut in sozialen Beziehungsnetzwerken.

Das Literaturstudium zeigt damit, dass sowohl die Netzwerkstrukturen als auch die Bewältigungsstrategien nicht einheitlich sind und eine Binnendifferenzierung zwischen den von relativer Einkommensarmut betroffenen Personen (z. B. durch die Erstellung von Typologien) sinnvoll ist. Solche Differenzierungen gab es bislang vor allem in Bezug auf die Wahrnehmung und Bewältigung von Armut. Die Netzwerke der Betroffenen werden dagegen bislang eher selten systematisch analysiert und verglichen. Auch das Zusammenspiel aus Netzwerkstruktur und Handeln wurde bislang eher indirekt betrachtet, da die Netzwerke bislang nur selten im Fokus vorliegender Untersuchungen zu Armut und Ungleichheit stehen.

Ziel dieser Arbeit war es daher, diesen Zusammenhang unter Anwendung eines Forschungsdesigns zu analysieren, welches die strukturelle Einbindung und die subjektive Wahrnehmung gleichermaßen erfasst. Dazu wurden die Netzwerke und subjektiven Wahrnehmungen von 57 von relativer Einkommensarmut betroffenen Personen in drei Schritten analysiert:

  1. 1.

    wurde eine Clusteranalyse auf Basis von 7 MaßzahlenFootnote 1 durchgeführt, die die standardisiert erfassten egozentrierten Netzwerke der Befragten charakterisieren (Abschnitt 5.1).

  2. 2.

    wurde eine Typologie auf Basis einer komparativen Analyse der problemzentrierten Interviews mit den Befragten hinsichtlich der Bedeutung sozialer Beziehungen für die Wahrnehmung und Bewältigung von Armut erstellt (Abschnitt 5.2).

  3. 3.

    wurden die Analysen aus den ersten beiden Schritten zusammengeführt und auf Zusammenhänge zwischen der strukturellen und der qualitativen Analyse überprüft (Abschnitt 5.3).

Die quantitative Analyse ergab drei unterschiedliche Netzwerkcluster:

  1. 1.

    Institutionelles Unterstützungsnetzwerk: Diese Netzwerke verfügen über einen hohen Anteil institutioneller sowie unterstützender Akteur*innen, die vergleichsweise häufig einen anderen Erwerbsstatus aufweisen als die Befragten selbst.

  2. 2.

    Kleines, eng verbundenes Familiennetzwerk: Diese Netzwerke enthalten die meisten familiären Beziehungen, sind vergleichsweise klein und eng verbunden.

  3. 3.

    Großes, verzweigtes Peer-Netzwerk: Diese Netzwerke sind sehr groß, stark modularisiert und verfügen über geringe Anteile institutioneller und unterstützender Beziehungen. Der Anteil an Personen, die denselben Erwerbsstatus aufweisen wie die Befragten selbst, ist hier besonders hoch.

Die qualitative Analyse ergab 4 Typen der Wahrnehmung und Bewältigung von Armut:

  1. 1.

    Prekärstabil – Herstellung von Agency in alternativen Domänen: Die Befragten begegnen der Armutssituation durch die Etablierung alternativer Formen sozialer Teilhabe.

  2. 2.

    Prekärlabil – Mangel an Agency: Die Befragten fühlen sich alleingelassen mit ihren alltäglichen Problemen, orientierungslos oder fremdbestimmt, und es fehlt ihnen an Anreizen und Strukturen, um Pläne zu fassen und zu verwirklichen.

  3. 3.

    Geschwächte Agency: Die Befragten haben Krisen durchlebt, die es ihnen unmöglich machen, ihr früheres Leben weiterzuführen. Sie sind dabei, sich neue Domänen und Positionen zu erschließen und benötigen dafür Unterstützung.

  4. 4.

    Ausbau von Agency: Die materielle Knappheit stellt sich den Befragten als vorübergehende Phase im Lebenslauf dar, die sie im Sinne der langfristigen Verbesserung ihrer Statusposition in Kauf nehmen.

Im Vergleich der quantitativen mit der qualitativen Analyse zeigt sich eine systematische Verteilung der quantitativen Netzwerkcluster auf die qualitativen Typen der Wahrnehmungs- und Bewältigungsweisen. Im Typ 1 Prekärstabil dominieren die institutionellen Unterstützungsnetzwerke. Die Befragten schaffen es, unter Rückgriff auf institutionalisierte Strukturen in ihrer Umgebung (Ehrenamt, Verein, Kultur, Maßnahmen der Jobcenter …), Unterstützung und soziale Teilhabe zu generieren. Im Typ 2 Prekärlabil dominieren dagegen die kleinen, eng verbundenen Familiennetzwerke. Die Befragten misstrauen sowohl institutionellen als auch nicht-institutionellen Akteur*innen jenseits ihres Kernnetzwerkes aus wenigen Familienmitgliedern. Zudem fehlt es in ihrer sozial-räumlichen Umgebung an Gelegenheitsstrukturen, in denen Handlungen realisiert werden könnten, die über ihre aktuelle Situation hinausweisen. Im Typ 3 Geschwächte Agency sind alle drei Netzwerkcluster gleichermaßen vertreten. Die Heterogenität der Netzwerke der Befragten ist Ausdruck der Prozesshaftigkeit des biographischen Übergangs, in dem sie sich befinden. Während die akute Krise oft in engeren Kernnetzwerken bewältigt wurde, geht die Anpassung an die neue Lebensphase nach der Krise mit einer Öffnung der Netzwerke einher. Die Netzwerkstrukturen im Typ 4 Ausbau von Agency sind dagegen sehr einheitlich, genauso wie die soziodemographische Zusammensetzung dieser Gruppe: Alle Befragten sind Studierende und alle bewegen sich in großen verzweigten Peer-Netzwerken mit nur geringer Ego-Alter-Heterogenität und einem geringen Anteil unterstützender Beziehungen.

Schlussfolgerungen

Auf Basis der bis hierhin zusammengefassten Analysen lassen sich die eingangs gestellten Fragen wie folgt beantworten:

  1. 1.

    Wie setzen sich die sozialen Netzwerke von Menschen in relativer Einkommensarmut zusammen und wie sind sie strukturiert?

    • In der Clusteranalyse konnten drei Gruppen von Netzwerkstrukturen im Sample identifiziert werden, die sich stark voneinander unterscheiden. Eine spezifische Struktur der Netzwerke von Armut betroffener Menschen lässt sich daher nicht feststellen.

  2. 2.

    Wie wird relative Einkommensarmut subjektiv erlebt?

    • Einkommensarmut stellt sich in allen der vier qualitativen Typen als relevantes Problem im Alltag dar. Es herrscht ein permanenter Zwang zur Kompromissfindung zwischen konkurrierenden Bedarfen, insbesondere zwischen physischen (Ernährung, Gesundheit, Wohnung) und sozialen (Teilhabe, Status, Unterstützung) Bedürfnissen. Häufig werden Entscheidungen zugunsten der sozialen Teilhabe getroffen (Ausgaben für Kultur, gemeinschaftliche Aktivitäten, äußeres Erscheinungsbild), die durch Einsparungen im Bereich der Ernährung und Gesundheit ausgeglichen werden müssen (Essen, Strom, Heizung, funktionale Kleidung, Medizin und Pflege).

    • Über das Problem der Knappheit hinaus stellt sich Armut insbesondere als Problem der Infragestellung der gesellschaftlichen Zugehörigkeit dar. Oft geht sie mit dem (dauerhaften) Verlust einer anerkannten Statusposition einher, der nicht einfach hingenommen werden kann und ein Bewältigungshandeln herausfordert.

  3. 3.

    Inwiefern beeinflusst die Beziehungsstruktur die Wahrnehmung der eigenen Situation und die Alltagsbewältigung?

    • Soziale Netzwerke bilden die Umgebung, in der die mit der Armut einhergehenden Herausforderungen bewältigt werden. Sie bieten Anknüpfungspunkte und Gelegenheiten für das Bewältigungshandeln und sie stellen die Kontexte zur Verfügung, in denen sich erweist, ob dieses Handeln erfolgreich ist oder nicht.

    • Die Wiederherstellung von verlorener oder prekär gewordener gesellschaftlicher Anerkennung gelingt nur, wenn den Betroffenen Netzwerkdomänen zur Verfügung stehen, in denen ihre Aktivitäten soziale Anerkennung erfahren.

    • Netzwerke entstehen aus dem Zusammenspiel aus subjektiven Bemühungen um sozialen Anschluss und der strukturellen Verfasstheit der alltäglichen Umgebung. Wo es Orte der Begegnung, Möglichkeiten der Beratung und institutionelle Ressourcen zur Erweiterung von Handlungsmöglichkeiten gibt, wachsen auch die subjektiven Bewältigungschancen und das Zutrauen in die eigene Handlungsfähigkeit. In strukturell schwachen Umgebungen führt oftmals auch das ambitionierteste Netzwerkhandeln nicht zu mehr Anerkennung und Selbstwirksamkeit.

  4. 4.

    Geht relative Einkommensarmut mit »sozialer« Verarmung einher? Werden soziale Beziehungsnetzwerke infolge relativer Einkommensarmut kleiner und homogener? Gibt es »negative« Wirkungen sozialer Beziehungen, die die Alltagsbewältigung erschweren?

    • Die These eines Rückzugs in statushomogene Armuts-Netzwerke lässt sich nicht bestätigen. Im Gegenteil: die homogensten Netzwerke finden sich im hier analysierten Datensatz nicht in den häufig mit der Armut identifizierten Gruppen (Alleinerziehende, Langzeitarbeitslose, Personen mit niedriger Bildung, …), sondern bei den Studierenden, die sich eher vorübergehend in relativer Einkommensarmut befinden.

    • In Bezug auf die Verkleinerung von Netzwerken gibt es aber durchaus einen Zusammenhang mit der Armut, der sich insbesondere im Typ 2 „Prekärlabil“ anhand der Netzwerk-Biographien den Befragten nachzeichnen lässt: Die Reduktion der Netzwerke der Befragten auf einen Kern aus wenigen engen Beziehungen kann als Ergebnis eines biographischen Niedergangs in einer strukturell schwachen Umgebung gedeutet werden. Die Befragten erlebten einen sukzessiven Statusverlust, den sie auch unter Rückgriff auf Netzwerkressourcen nicht aufhalten konnten. Ihre Erfahrungen des Scheiterns verdichten sich zur Wahrnehmung, mit ihren Problemen allein zu sein. Vor allem institutionelle Angebote werden unter Verweis auf diese Erfahrungen als falsche Versprechungen zurückgewiesen. Auf diese Weise schützen sich die Befragten vor weiteren Rückschlägen. Im Ergebnis führt diese Wahrnehmung zu einem Rückzug in ein verlässliches Kernnetzwerk und zur Abschottung dieser verbliebenen Domäne vor äußeren Zumutungen.

    • Die Fälle in den anderen Typen, insbesondere in Typ 1 Prekärstabil und Typ 3 Ausbau von Agency zeigen jedoch, dass diese Spirale durchbrochen werden kann, wenn es Gelegenheits- und Anreizstrukturen im Umfeld der Befragten gibt, in denen sie die Erfahrung von Selbstwirksamkeit machen und in die Lage versetzt werden soziale Anerkennung zu erlangen.

  5. 5.

    Welche Chancen bieten soziale Netzwerke für die Bewältigung von Armut? Welche »positiven« Wirkungen sozialer Beziehungen gibt es, und unter welchen Bedingungen entfalten sie sich?

    • Netzwerke sind die Quelle materieller, emotionaler und informationeller Unterstützung, die es ermöglicht, die Auswirkungen der Armutssituation abzumildern. Die Auswertung der qualitativen Interviews zeigt jedoch, dass die Annahme sozialer Unterstützung Risiken mit sich bringt, die die Befragten vorher genau abwägen: Sie lehnen Unterstützung ab, wenn sie dadurch in Abhängigkeit zu den Unterstützungs-Leistenden geraten könnten oder wenn die Annahme der Unterstützung sie dazu zwingt, sich als bedürftige Person zu outen und so ihre Respektabilität in Frage stellt. Von zentraler Bedeutung ist daher das Prinzip der Reziprozität: Unterstützung kann immer dann besonders leicht angenommen werden, wenn die Befragten die Gelegenheit haben, in die Beziehung zu den Unterstützungs-Leistenden auch selbst etwas einzubringen.

    • Netzwerke sind der Ort, an dem soziale Teilhabe hergestellt wird. Sie bieten Gelegenheit zur Herstellung sozialer Zugehörigkeit (Statuserwerb). Der im Netzwerk erworbene Status bleibt jedoch so lange prekär, wie ihm die Anerkennung auf übergeordneten Ebenen verweigert wird.

Beitrag zur Armuts- und Netzwerkforschung

Diese Erkenntnisse bereichern die Armutsforschung um eine Perspektive, die die subjektiven Wahrnehmungs- und Bewältigungsweisen der Akteur*innen und ihre strukturelle Einbettung gleichermaßen in den Blick nimmt – und das nicht nur theoretisch, sondern auch empirisch. Die qualitativen Daten ermöglichen die Rekonstruktion der Wahrnehmungs- und Bewältigungsweisen nach den etablierten Standards der qualitativen Ungleichheitsforschung. Die qualitativen und quantitativen Netzwerkanalysen machten es darüber hinaus möglich, die Lebenssituationen und Handlungen der Befragten hinsichtlich ihrer Entstehungskontexte zu erklären und im sozial-räumlichen Umfeld zu verorten. Damit kann das Wesen der Armut als in gesellschaftliche Zusammenhänge eingebettetes Phänomen methodisch besser abgebildet werden als in rein strukturellen oder allein auf die subjektive Wahrnehmung bezogenen Analysen.

Die Methoden und Techniken der Netzwerkforschung erwiesen sich im Rahmen der Analyse als ein gut ausgearbeitetes und ideal auf die Fragestellung anwendbares Instrumentarium. Im Rahmen der Auseinandersetzung mit dem Cultural Turn im Anschluss an Harrisson White und Mustafa Emirbayer konnte darüber hinaus gezeigt werden, dass die Netzwerkperspektive sich auch theoretisch tiefgehend zur Anwendung bringen und für die Beschreibung sozialer Ungleichheiten nutzbar machen lässt.

Allerdings steht dieses Feld noch am Anfang seiner Bearbeitung: Der Zusammenhang zwischen sozialen Netzwerken und sozialer Ungleichheit wurde bislang, insbesondere im deutschsprachigen Raum, eher kursorisch und überwiegend aus der quantitativen Perspektive bearbeitet. Zu wünschen wären weitere Studien, die sich explizit mit dem Zusammenspiel aus struktureller Einbindung und subjektiver Wahrnehmung aus der Mixed-Methods-Netzwerk-Perspektive beschäftigen und die hier begonnene Ausarbeitung einer Netzwerktheorie sozialer Ungleichheit weiterführen.

Limitationen und Desiderate

In diesem Sinne fehlt der in dieser Arbeit durchgeführten Analyse noch die Vergleichsebene: Es wurden 57 Netzwerke von einkommensarmen Menschen aus städtischen und ländlichen Räumen in Nordostdeutschland analysiert. Offen bleibt, ob sich die hier zusammengetragenen Befunde auch in Erhebungen in anderen Regionen zeigen würden oder ob die Variation räumlicher, normativer und kultureller Kontexte – im Einklang mit der Theorie – zu anderen Befunden führen würde.

Darüber hinaus sollte die Mixed-Methods-Analyse in folgenden Studien unbedingt auf eine höhere Ebene geführt werden. Denkbar wäre die Überprüfung und Erweiterung der Ergebnisse im Rahmen von Studien unter Verwendung repräsentativer Surveys mit Netzwerkmodul (z. B. mit dem PASS-Datensatz). Die Analyse der standardisiert erhobenen Netzwerke im Survey könnte den Ausgangspunkt für die Ziehung eines qualitativen Subsamples nach dem Quota-Verfahren bilden, mit dem sich das Zusammenspiel aus Netzwerkstruktur und subjektiver Wahrnehmung auf einer breiteren Basis analysieren ließe. Zudem sollten mehr Netzwerkanalysen im Längsschnitt durchgeführt werden, um beantworten zu können, wie sich die Netzwerkstrukturen und -zusammensetzungen im Zeitverlauf verändern.

Aufgabe der weiteren theoretischen und empirischen Auseinandersetzung mit dem Konzept der »sozialen« Armut wäre es, zu überprüfen, inwieweit auch Personen und Gruppen jenseits der von relativer Einkommensarmut Betroffenen vom Verlust Anerkennung generierender Identitäten bedroht sind und in welchem Verhältnis diese Situationen zur sozialen Armut stehen.

Implikationen in Bezug auf den politischen und gesellschaftlichen Umgang mit Armut

Die Formulierung politischer Forderungen gehört nicht unbedingt zu den Schlüsselqualifikationen eines Soziologen. Im Anschluss an diese Arbeit wäre es daher sinnvoll, die Ergebnisse in interdisziplinäre Diskurse unter Beteiligung von Betroffenen und Akteur*innen aus der Praxis einfließen zu lassen, um daraus konkrete Vorschläge zur Armutsbekämpfung abzuleiten (wie z. B. unter Mitwirkung des Autors hier geschehen: AWO Landesverband Mecklenburg-Vorpommern e. V., 2015, 15 ff.). Bis dahin müssen die Handlungsimplikationen etwas abstrakt und wage bleiben. Ich habe mich dennoch bemüht, so konkret wie möglich zu werden, ohne dabei den Bezug zur hier verwendeten Datengrundlage zu verlieren.

Alle Angehörigen des Samples sind in unterschiedlicher Weise von »sozialer« Armut betroffen. Das der Rekrutierung zugrundeliegende Kriterium der relativen Einkommensarmut erfasst also tatsächlich soziale Lagen, deren Angehörige nicht nur materiell gefährdet sind, sondern auch in ihrer sozialen und gesellschaftlichen Teilhabe. Aus dem engen Zusammenhang zwischen materieller Knappheit und sozialer Armut leiten sich zwei übergeordnete Handlungsfelder für die Armutsbekämpfung unmittelbar ab:

  1. 1.

    Materielle Unsicherheiten reduzieren: Die Handlungsfähigkeit wird insbesondere durch materielle Knappheit beeinträchtigt, die für alle Befragten in dieser Studie ein großes Problem im Alltag bedeutet. Sie sind gezwungen, Bedürfnisse gegeneinander abzuwägen und Abstriche zu machen, die entweder ihre Gesundheit oder ihre soziale und kulturelle Teilhabe gefährden. Beides führt auf Dauer zu negativen Auswirkungen – sowohl für die Betroffenen selbst (Verlust an Wohlbefinden, Gesundheit, Lebenssinn und Selbstwirksamkeit, Risiko psychischer Erkrankungen, Erosion sozialer Netzwerke, …) als auch für die Gesellschaft insgesamt (Verlust an Humankapital, Kosten für das Gesundheitswesen, soziale Spaltung, …). Relative Einkommensarmut bedeutet ein Leben in permanenter Unsicherheit. Die Betroffenen setzen sich keine langfristigen Ziele mehr, weil sie gezwungen sind, ihre Energien in mittelfristige Absicherung zu investieren. Alle Ansätze zur Bekämpfung der Armut sollten daher immer die Verbesserung der materiellen Absicherung der Betroffenen mit einbeziehen.

  2. 2.

    Bekämpfung von Stigmatisierung: Soziale Ausgrenzung lässt sich nur verringern, wenn die von Armut Betroffenen nicht als passive Hilfeempänger*innen oder notleidende Opfer herabgewürdigt, sondern als legitimer Teil der Gesellschaft betrachtet und eingebunden werden. Die Stigmatisierung von Armen als leistungsunwillige Hilfeempfänger*innen stellt einen unbeholfenen Versuch des nicht-armen Teils der Gesellschaft dar, die moralische Verantwortung für die Armut auf die Einzelnen abzuladen. Zynischerweise besteht in dieser Form der Herabwürdigung der Armen die Hauptursache für deren soziale Ausgrenzung und die Einschränkung ihrer Handlungsfähigkeit. Die Betroffenen schämen sich für ihre Lage und versuchen, sich der Stigmatisierung zu entziehen, indem sie ihre Situation nach außen hin verbergen. Dadurch werden Bewältigungspotenziale im sozialen Umfeld systematisch unterwandert, und die Armut verschärft sich. Wenn die Versuche, den Anschluss zu halten, scheitern, ist die Gesellschaft als Ganzes gefragt, eine Antwort auf die Frage zu finden, wie die Kräfte (re-)integriert werden sollen, die z. B. im Zuge des sozialen Wandels freigesetzt wurden. Dabei geht es nicht um Fürsorge und Almosen, sondern um die Frage, wie wir unsere Gesellschaft so organisieren, dass alle Mitglieder darin ihren Platz finden.

Eine Binnendifferenzierung der sehr heterogenen Gruppe der von relativer Einkommensarmut Betroffenen scheint gerade auch mit Blick auf die Formulierung von Handlungsimplikationen für die Armutsbekämpfung sinnvoll. Der in dieser Arbeit gemachte Vorschlag für eine solche Differenzierung findet sich in der Typologie (Tabelle 5.7, S. 139) und in vereinfachter Form in der untenstehenden Abbildung 6.1. Auf der einen Seite stehen Personen, die noch über anerkannte Identitäten verfügen bzw. in der Lage sind, diese im Rahmen alltäglicher Statuskämpfe zu verteidigen. Sie verfügen über eine vergleichsweise hohe Agency, die jedoch auf Basis ihrer prekären Lebensumstände nicht dauerhaft abgesichert werden kann. Auf der anderen Seite stehen Befragte, die nur wenige oder gar keine Identitäten mehr einnehmen, die ihnen Anerkennung und Teilhabe über den Kreis der engsten Beziehungen hinaus zuteil werden lassen. Sie haben ihren Status als respektables Mitglied der Gesellschaft weitgehend verloren und verfügen über eine geringe Agency, die auf ihr nahes Umfeld beschränkt bleibt. Die durch die Armutsbekämpfung zu bearbeitenden Problemfelder unterscheiden sich in den beiden Gruppen (siehe Abbildung 6.1):

  1. 1.

    Agency absichern: Dort, wo die Agency (noch) vorhanden ist, die Armut den sozialen Status aber immer wieder gefährdet (Prekarität, Statuskampf), ist es notwendig, die bestehende Handlungsfähigkeit der Betroffenen durch begleitende Unterstützungsangebote zu stärken bzw. die Prekarität durch Maßnahmen zur materiellen und sozialen Absicherung der Betroffenen zu verringern. Wer sich bereits auf einem Karriereweg befindet (Perspektiven in Sicht), benötigt Zuspruch und Unterstützung für die Realisierung seiner bzw. ihrer Ziele. Wer es schafft, sich in einem prekären Alltag so einzurichten, dass ein gewisses Maß an sozialer Teilhabe und Lebenszufriedenheit beibehalten, aber nicht dauerhaft abgesichert werden kann (Perspektiven unklar), sollte Unterstützung zur langfristigen Absicherung dieser Teilhabe erhalten (Prekarität verringern). Insbesondere müssen Risiken prekarisierter Arbeitswelten institutionell abgefedert werden.

  2. 2.

    Agency (wieder-)herstellen: Dort, wo die Agency weitgehend verloren gegangen ist und die Betroffenen kaum noch am gesellschaftlichen Leben teilhaben (verfestigte Armut, Statusverlust), sind tiefgreifende Interventionen von außen nötig, die einen steuernden Einfluss auf das Bewältigungshandeln nehmen und die dafür nötigen Ressourcen bereitstellen. Realistische Perspektiven müssen aufgezeigt oder neu geschaffen und das Vertrauen in institutionelle Unterstützung muss durch die Bereitstellung verlässlicher Hilfen wiederhergestellt werden. Jüngeren Menschen, die in ihrem sozialen Umfeld keine Möglichkeiten zur mittelfristigen Verbesserung ihrer Situation sehen, sollten in Austausch mit Gatekeepern und Vorbildern gebracht werden, um positive Szenarien für die eigene Zukunft zu entwickeln. Diese Szenarien sollten dann umgehend durch intensive und engmaschige institutionelle Förderung realisiert werden. Älteren von verfestigtem sozialem Ausschluss Betroffenen sollten nur noch ehrliche Angebote gemacht werden, die tatsächlich zu einer nachhaltigen Verbesserung ihrer Situation beitragen, statt immer wieder ihre Mitwirkung an Prozessen einzufordern, die ihrer Erfahrung nach seit sehr langer Zeit zu keinem Ergebnis geführt haben.

Die 14 konkreten Vorschläge in der dritten Spalte der Abbildung 6.1 sollen einen Ausblick auf mögliche konkrete Maßnahmen zur Armutsbekämpfung liefern. Ausgewählte Aspekte sollen im Folgenden herausgegriffen und erläutert werden, um die hinter den 14 Punkten stehende Haltung zu verdeutlichen:

  • Anerkennung der alltäglichen Leistungen der Betroffenen: Ein Leben unter dem Eindruck von Armut und Prekarität bedeutet für die Betroffenen, größere Anstrengungen für die Erreichung vergleichsweise kleiner Ziele mit geringerer Halbwertzeit aufbringen zu müssen als Menschen, die nicht von Armut betroffen sind. Wer in der Regel nur befristet angestellt und schlecht bezahlt wird, kann sich nichts aufbauen – weder ein finanzielles Polster, noch einen guten Ruf. Mit jeder neuen Stelle wird die Reset-Taste betätigt. Dabei nicht zu verzagen, stellt eine enorme Leistung dar, die nur selten gesehen, geschweige denn anerkannt wird. Auch Tätigkeiten jenseits des Arbeitsmarktes finden häufig im Verborgenen statt: die Pflege der Eltern, die Betreuung der Kinder, das Engagement in der Nachbarschaft usw. Oftmals führt die Übernahme von Verantwortung für andere Menschen nicht zu einer höheren Wertschätzung, sondern sogar zur Reproduktion der Armutssituation aufgrund daraus resultierender Vereinbarkeitsprobleme. Wer Armut bekämpfen möchte, sollte diese alltäglichen Leistungen zur Kenntnis nehmen und dann fragen, warum es den Betroffenen trotz dieses Aufwands nicht gelingt, eine auskömmliche und gesicherte Position zu erreichen.

  • Befähigung zu erfolgreichem Netzwerkhandeln – Förderung von Gelegenheitsstrukturen und Stärkung der Hilfe zur Selbsthilfe: Armut bedeutet die Infragestellung der sozialen Zugehörigkeit der Betroffenen. Zugehörigkeit und Teilhabe zu behaupten oder wiederherzustellen kann nur gelingen, wenn dafür Anknüpfungspunkte im sozialen Umfeld vorhanden sind. Doch wo es kein funktionierendes Gemeinwesen mehr gibt, kann man sich nicht einbringen. Daher ist es von großer Bedeutung, niedrigschwellig zugängliche Treffpunkte und Beratungsangebote zu erhalten, auszubauen oder neu zu schaffen, an denen Arme und nicht-Arme miteinander in Interaktion treten können.

  • Ehrenamt aufwerten: Die Förderung des Ehrenamtes in strukturschwachen Regionen könnte ein wichtiger Schlüssel zur Förderung sozialer Teilhabe sein: Dafür müssten Infrastrukturen bereitgestellt werden (Räume, Sportplätze, Transportmittel etc.) für die die Angehörigen der jeweiligen Sozialräume selbst die Verantwortung übernehmen und wo sie Gelegenheiten zum Ausbau ihres Engagements im Rahmen professioneller Beratungs- und Unterstützungsangebote finden (z. B. durch sozialraumorientierte Gemeinwesenarbeit). Lokales Engagement ließe sich durch einfache Maßnahmen aufwerten, wie etwa die Anrechnung von Rentenpunkten, die Befreiung vom Sanktionsdruck bei ALG II-Bezug, die Möglichkeit anrechnungsfreier Zuverdienste zu Leistungen aus der Sozial- und Arbeitslosenversicherung, die unbürokratische Gewährung von Vergünstigungen und Ehrenamtskarten, die Möglichkeit der Professionalisierung durch Freiwilligendienste und geförderte Beschäftigung (siehe unten).

  • Professionelle Beratung und Begleitung: Engagement entsteht nicht allein dadurch, dass man einen Raum aufschließt. Es braucht Arbeit an den Netzwerken der Betroffenen und am Gemeinwesen. Dafür sind Fachkräfte nötig, die lokale Gelegenheitsstrukturen pflegen und erweitern, soziale Prozesse langfristig begleiten und das für die Förderung der sozialen Teilhabe nötige Wissen und weitere Ressourcen zugänglich machen.

  • Geförderte Beschäftigung: Von besonderer Bedeutung ist die Schaffung mittelfristig abgesicherter Status- und Einkommenspositionen durch geförderte Beschäftigung, wie sie z. B. das Teilhabechancengesetz (SGB II § 16i/e) vorsieht. Solche Programme könnten auch im Rahmen der im vorangegangenen Punkt skizzierten sozialraumorientierten Angebote implementiert werden – vor allem dort, wo der Rückzug staatlicher und privater Daseinsvorsorge große Lücken hinterlässt. Mögliche Einsatzbereiche auf kommunaler Ebene wären die Förderung von Bürgerbussen und Dorfläden, Stadtteiltreffs und Sportvereinen mit Personalmitteln für engagierte Personen aus der Region.

  • Prekär Beschäftigte besser absichern: In vielen Regionen scheint es eine soziale Spaltung der Arbeitnehmer*innen zu geben: Auf der einen Seite stehen die abgesicherten Stammbelegschaften, auf der anderen Seite die atypisch Beschäftigten, die sich von Arbeitsgelegenheit zu Arbeitsgelegenheit hangeln müssen. Hier braucht es Maßnahmen, die geeignet sind, die Absicherung prekär Beschäftigter zu verbessern – insbesondere in Bezug auf die Altersvorsorge, die Absicherung im Fall episodisch wiederkehrender Arbeitslosigkeit (z. B. im Bereich der Saisonarbeit) und im Krankheitsfall.

  • Horizonterweiterung: Insbesondere die in dieser Studie interviewten Jugendlichen und jungen Erwachsenen in Armut (mit Ausnahme der Studierenden) leiden unter einem Mangel an Inspiration. Es fehlt an Gatekeepern und guten Vorbildern, die den Weg in eine gesicherte und unabhängige Zukunft aufzeigen. Im Extremfall glauben bereits junge Menschen nicht mehr daran, dass sich ihre Situation noch einmal nennenswert verbessern wird. Wo die entscheidenden Impulse fehlen, müssen Maßnahmen entwickelt werden, die Orientierung geben und Perspektiven in Aussicht stellen, z. B. durch Austauschprogramme, geförderte Praktika oder die Vermittlung von Mentor*innen. Solche Maßnahmen sind jedoch immer nur dann zielführend, wenn an ihrem Ende auch echte Chancen für die Teilnehmenden stehen.

Resümierend kann festgehalten werden, dass die Beschäftigung mit der »sozialen« Armut zu domänenübergreifenden Erkenntnissen geführt hat, mithilfe derer sich theoretische, empirische und praxisrelevante Aspekte sozialer Ungleichheiten im Spannungsfeld zwischen Handeln und Struktur betrachten lassen. Es ist zu hoffen, dass die hier begonnene Arbeit in der Zukunft präzisiert und erweitert wird.

Abbildung 6.1
figure 1

Handlungsimplikationen