Bereits in der Einleitung wurde erläutert, dass mit dem Begriff Armut sehr unterschiedliche Dinge gemeint sein können und dass es gar nicht so einfach ist, sich darauf zu verständigen, worin genau Armut eigentlich besteht. Eine theoretische Auseinandersetzung mit den Armutsbegriff scheint daher dringend geboten, um präzise zu bleiben und nicht in die Beliebigkeit abzurutschen. Die begriffliche Annäherung erfolgt in drei Schritten. Im ersten Schritt werden ausgewählte, im Kontext des Themas bedeutsame soziologische Konzepte zusammengefasst und für die empirische Auseinandersetzung fruchtbar gemacht. Im zweiten Schritt wird die in der theoretischen Auseinandersetzung gewonnene Auffassung von Armut durch Implikationen zu Ungleichheiten aus Sicht der soziologischen Netzwerkforschung erweitert. Im dritten Schritt werden diese beiden Sichtweisen zu einer theoretischen Perspektive auf den Begriff der »sozialen« Armut verdichtet.

2.1 Armut als Ergebnis gesellschaftlicher Strukturbildung

Armut wird in dieser Arbeit als ein relatives bzw. relationales Konstrukt verstanden, welches keinen manifesten Zustand beschreibt, sondern bestimmte Formen der Verhältnisse zwischen Personen und Gruppen in einer Gesellschaft. Aus dieser Perspektive ist es kaum möglich, den Untersuchungsgegenstand Armut losgelöst von gesellschaftlichen Gesamtzusammenhängen zu betrachten. Häufig wird in der theoretischen Auseinandersetzung daher eher die Ungleichheit der Besitz- und Machtverhältnisse adressiert als die Armut an sichFootnote 1. In dieser Arbeit soll die Armut dagegen ausdrücklich ins Zentrum der Betrachtung gerückt werden. Grund dafür sind die folgenden drei Überlegungen:

  1. 1.

    Auch wenn der Armutsbegriff in der sozialwissenschaftlichen Theorie gern umgangen wird, ist er Teil des gesellschaftlichen Diskurses und als lebensweltlich erfahrbare Kategorie Teil unserer alltäglichen Wahrnehmung. Der Armutsbegriff ist also in der Welt und wir können ihn nicht wegdefinieren, nur weil seine Bedeutung in Abhängigkeit von sozialen und gesellschaftlichen Kontexten variiert – wie alle anderen Klassifikationen in der Ungleichheitsforschung auch (Berger, 1988)Footnote 2. Daher erscheint es notwendig, die verschiedenen Bedeutungen des Armutsbegriffs zu analysieren, seine Verwendung kritisch zu reflektieren und darüber zu einem tiefergehenden Verständnis von »Armut« zu gelangen.

  2. 2.

    Aus der Rekonstruktion der Bedeutung von Armut in einer Gesellschaft lassen sich auch übergeordnete Zusammenhänge und Mechanismen verstehen: Was gilt als gesellschaftliches »Unten«? Welche und wessen Verhältnisse werden als beklagenswert erachtet? Wann und warum wird ein sozialer Status als diskreditierend wahrgenommen? Wer wird dafür verantwortlich gemacht? Welche Akteur*innen befassen sich mit der Armut und welche Handlungsmöglichkeiten lässt die Gesellschaft ihren »Armen«? Die Bearbeitung dieser Fragestellungen ist von größter Relevanz für die Analyse sozialer Strukturen insgesamt, da sie Aufschluss über die Mechanismen der Entstehung und Reproduktion gesellschaftlicher Ordnungsmuster gibt.

  3. 3.

    Armut wird gesellschaftlich produziert und lässt sich nicht aus der Gruppe der Armen selbst heraus erklären. Einige Theorien betrachten die Armut gar als funktionalen Bestandteil der (Re-)Produktion sozialer Verhältnisse (siehe Ausführungen zu Marx und Simmel). Diese Prozesse sind in der Regel nicht beobachtbar und auch nicht Teil unseres diskursiven Bewusstseins. Sie müssen theoretisch reflektiert und empirisch untersucht werden. Dazu ist eine wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Armutsbegriff unerlässlich.

Die theoretische Auseinandersetzung mit der Armut führt also weit über die bloße Beschreibung der Einkommens- und Vermögensverhältnisse hinaus. Sie fragt danach, wann, wo, warum und für wen die gesellschaftliche – im hier zu untersuchenden Fall auch die wohlfahrtsstaatliche – Integrationsmaschine ins Stocken gerät. Im Folgenden sollen daher wichtige Schlaglichter der Theoretisierung des Armutsbegriffs von den Anfängen der Soziologie bis zu den aktuellen Debatten zusammengefasst werden.

2.1.1 Armut in der klassischen soziologischen Theorie

Karl Marx analysiert im ersten Band des »Kapitals« die Macht- und Besitzverhältnisse in der industriellen Klassengesellschaft. Den Fokus seiner Analyse richtet er auf zwei Klassen, die er für besonders relevant für die Beschreibung der dominierenden kapitalistischen Produktionsweise hält, eine besitzlose Klasse – das Proletariat – und eine besitzende Klasse – die Bourgeoisie. Das Proletariat ist darauf angewiesen, seine Arbeitskraft zu verkaufen, um zu überleben, während die Bourgeoisie dazu in der Lage ist, ihr Kapital – bestehend aus Produktionsmitteln wie Fabriken, Land, Maschinen oder Geld – dazu einzusetzen, das Proletariat für sich arbeiten zu lassen (Marx, 1971). Die beiden Klassen befinden sich in einem wechselseitigen ökonomischen Abhängigkeitsverhältnis: Das Kapital in den Händen der Bourgeoisie kann nicht ohne den Einsatz von Arbeit vermehrt werden, während das Proletariat auf den Verkauf seiner Arbeitskraft angewiesen ist. Dieses Abhängigkeitsverhältnis wird auf einem Markt ausgetragen, auf welchem die Bourgeoisie die Arbeit nachfragt, die durch das Proletariat angeboten wird. Problematisch wird dieses Verhältnis für das Proletariat immer dann, wenn es zu einem Überangebot von Arbeitskräften (Marx spricht von einer „relativen Überbevölkerung“ oder einer „Surplus Population“) kommt – z. B., wenn infolge des technischen Fortschritts (bzw. durch den Einsatz und die Akkumulation von Kapital) effizientere Produktionsweisen entstehen, für die weniger Arbeitskräfte benötigt werdenFootnote 3 (Marx, 1979, S. 661). In diesem Fall sinken die Löhne und es kommt zur Herausbildung eines als Reservearmee bezeichneten Teils des Proletariats, dem es nicht gelingt, seine Arbeitskraft zu verkaufenFootnote 4.

Die Reservearmee kann aus der Marx’schen Perspektive als Ort beschrieben werden, an dem sich das Elend konzentriert – vermutlich würde man die Lebensbedingungen der Arbeitslosen, die Marx vor Augen hatte, heute als »absolute Armut« beschreiben. Dennoch steht die Reserve nicht außerhalb der Klassengesellschaft, sondern ist aus zwei Gründen von elementarer Bedeutung für deren Funktionsweise. Die permanente „relative Überzähligmachung“ (ebd. S. 663) von Arbeitskräften sorgt erstens für den endlosen Nachschub an billigem und schnell verfügbarem PersonalFootnote 5 und zweitens für eine Disziplinierung der »aktiven Armee«. Das in der Reserve sichtbar werdende Elend diszipliniert den beschäftigten Teil des Proletariats dazu, die Anforderungen der Bourgeoisie in der Arbeit zu erfüllen. Marx bringt diesen Zusammenhang auf eine einfache Formel:

„Die Überarbeit des beschäftigten Teils der Arbeiterklasse schwellt die Reihen ihrer Reserve, während umgekehrt der vermehrte Druck, den die letztere durch ihre Konkurrenz auf die erstere ausübt, diese zur Überarbeit und Unterwerfung unter die Diktate des Kapitals zwingt.“ (Marx, 1979, S. 665)

Der ReservearmeemechanismusFootnote 6 ist von zentraler Bedeutung für die Armutsforschung, da er so etwas wie ArmutFootnote 7 und Verelendung sowohl als Produkt als auch als funktionalen Bestandteil der (Re-)Produktion gesellschaftlicher Verhältnisse beschreibt. Armut lässt sich aus dieser Perspektive nicht als individuell verantwortetes Problem oder aus den Defiziten einer sozialen Gruppe heraus erklären, sondern als Grundbestandteil der ökonomischen Ordnung bzw. der »politischen Ökonomie«.

Einen weiteren Meilenstein auf dem Weg zu einer Theoretisierung der Armut liefert Georg Simmels in seinem Hauptwerk »Soziologie« erschienener Aufsatz »Der Arme« (Simmel, 1992, S. 512–555). Auch Simmel betrachtet die Armut nicht als einen objektiv beschreibbaren Zustand, sondern als ein spezifisches soziales Verhältnis. Als arm gelten bei Simmel all jene Personen, deren soziale Stellung sich allein dadurch definiert, dass die Gesellschaft für sie aufkommt. Die Armen sind daher „ihrer sozialen Stellung nach nur arm […] und weiter nichts“ (ebd. S. 554). Sie erlangen ihren Status aufgrund einer Eigenschaft, die von Dritten als defizitär und bekämpfungswürdig bestimmt wird. Auf diese Weise werden die Armen zum Objekt politischer und gesellschaftlicher Interventionen. Nicht „der persönliche Mangel [macht] den Armen […]“ (ebd. S. 555), sondern erst „der um des Mangels willen Unterstützte [ist] dem soziologischen Begriffe nach der Arme“ (ebd.).

Simmel geht davon aus, dass die Unterstützung der Armen in der Regel einem übergeordneten gesellschaftlichen Zweck dient, z. B. der Vorbeugung gegen soziale Unruhen oder der Verhinderung der Ausbreitung von Krankheiten. Er versteht die Armenfürsorge daher nicht als einen altruistischen Akt der Nächstenliebe, sondern als eine gesamtgesellschaftliche Angelegenheit. Wird die Armenfürsorge wohlfahrtsstaatlich institutionalisiert, lässt sie sich als ein wechselseitiges Verhältnis aus Rechten und Pflichten beschreiben: Dem Recht der »Armen«, Unterstützung zu erhalten, steht die Pflicht der nicht-Armen gegenüber, diese zu gewähren. Der daraus resultierende Interessengegensatz zwischen Unterstützungsgeber*innen auf der einen und Unterstützungsempfänger*innen auf der anderen Seite wird dadurch verringert, dass das Recht auf Unterstützung an Bedingungen geknüpft wird, die den Interessen derjenigen zugutekommen, die die Unterstützung leisten. Darin wird festgehalten, wer zur Gruppe der Armen – bzw. der rechtmäßigen Empfänger*innen der Hilfen – gehört, wie hoch die Unterstützung sein soll und welche Gegenleistungen von den Empfänger*innen erwartet werden. Auf diese Weise wird das Recht auf Unterstützung im Sinne der Gebenden eingeschränkt.

Die Einführung der Armenfürsorge erfolgt Simmel zufolge eher zur Befriedigung der Interessen der Gebenden als mit dem Ziel, die Armut an sich zu bekämpfen. So dient die Armenfürsorge in der Regel eher der „Wohlfahrt des sozialen Ganzen“ (ebd. S. 516), wenn sie das Ziel verfolgt, „den Armen nicht zu einem aktiven, schädigenden Feinde der Gesellschaft werden zu lassen [und] seine herabgesetzte Kraft wieder für sie fruchtbar zu machen“ (ebd.). Armut ist demnach ein soziales Konstrukt, welches eine Gruppe von Leistungsempfänger*innen definiert und die ihnen gewährten Leistungen an Bedingungen knüpft, welche einem Zweck dienen, der außerhalb der Gruppe der Armen selbst liegt (diesen Mechanismus bezeichnet Simmel mit dem Begriff der Teleologie). Eine Person, die dafür in Frage kommt, Hilfe aus der Armenfürsorge zu erhalten, muss den durch die Gebenden definierten Kriterien entsprechen und sich ihren Bedingungen fügen. Aus eigener Kraft kann der oder die Arme keinen Hilfeanspruch geltend machen.

Während Simmel die Institutionalisierung der Armenfürsorge und ihre Instrumentalisierung zum Zwecke der Regulierung einer wohlfahrtsstaatlich organisierten Gesellschaft im Blick hat, fokussiert die Marx’sche Analyse auf die Produktionsverhältnisse und die Stabilisierung der klassengesellschaftlichen Ordnung im Kapitalismus durch die Disziplinierung der Arbeiterklasse. Beide Zugänge zum Armutsbegriff weisen sehr deutlich darauf hin, dass Armut im Kontext sozialer Strukturbildungen untersucht und verstanden werden sollte.

In der weiteren Theoretisierung sozialer Strukturen wird die Bestimmung der Armut immer differenzierter und es wird zunehmend schwerer, die Armut in der Gesellschaft zu lokalisieren. Den Anfang zu dieser Entwicklung machte bereits Max Weber, der mit seinen Überlegungen unmittelbar bei Marx anknüpft, dessen Konzepte dann aber stark ausdifferenziert. Er beschreibt Klassenlagen, deren Angehörige „die typische Chance 1. der Güterversorgung, 2. der äußeren Lebensstellung, [und] 3. des inneren Lebensschicksals“ (Weber, 2002, S. 300) miteinander teilen. Gemeint sind damit objektiv bestimmbare Gruppen, deren Angehörige sich ähneln, im Hinblick auf ihre ökonomische Situation sowie im Hinblick auf ihre soziale Zugehörigkeit und die Art und Weise ihrer Lebensführung. Den Ausgangspunkt von Webers Überlegungen bildet die Marx’sche Definition von Klasse – das Proletariat wird bei Weber zur „Erwerbsklasse“ (ebd.), die Bourgeoisie zur „Besitzklasse“ (ebd.). Im Unterschied zu Marx bezieht Weber sich jedoch stärker auf die Lebens- als auf die Besitzverhältnisse, um die Klassen voneinander zu unterscheiden. Zur Besitzklasse zählen demnach nur diejenigen, bei denen die „Besitzunterschiede [die] Klassenlage primär bestimmen“ (ebd.) – z. B. dann, wenn also die individuelle Lage einer Person oder einer Gruppe davon abhängt, wieviel Macht sie hat, Monopolstellungen einzunehmen und Kapital zu bilden. Angehörige der Erwerbsklasse können ebenfalls vermögend sein, zählen aber nicht zur Besitzklasse, solange ihre Klassenlage primär durch ihre „Chancen der Marktverwertung von Gütern und Leistungen“ (ebd.) bestimmt wird, wozu sie notgedrungen ihre Arbeitskraft einsetzen müssen. Darin zeigt sich, dass Weber seine Klassen nicht wie Marx als homogene Blöcke zweier gegensätzlicher Interessengemeinschaften betrachtet, sondern den Differenzierungen innerhalb und zwischen den Klassen eine größere Bedeutung beimisst. Überhaupt nicht in die Marx’sche Argumentation passt die Begrifflichkeit der „negativen Privilegierung“ (Weber, 2002, S. 301). So sind bei Weber auch jene Personen der Besitzklasse zuzuordnen, die selbst als Besitz gelten. Dazu zählt er „a) Besitzobjekte (Unfreie […]), b) Deklassierte („proletarii“ im antiken Sinn), c) Verschuldete, [und] d) Arme“ (ebd.), denn auch deren Klassenlage wird durch Besitz determiniert (sie werden besessen) und nicht durch ihre Erwerbschancen.

Weber ergänzt die Zweiteilung in Besitz- und Erwerbsklassen, in Abgrenzung zu MarxFootnote 8, um weitere Differenzierungen. Er geht von einer erheblichen Heterogenität innerhalb dieser beiden Klassen aus, zu deren Beschreibung er die folgenden Dimensionen aufspannt (Weber, 2002, 300 ff.):

  • die Erziehung,

  • die Art und Weise der Lebensführung,

  • die Bildung,

  • der Beruf und die berufliche Qualifikation,

  • die Ausstattung mit Besitz und Vermögen sowie

  • die Zugehörigkeit zu ständischen Verbänden.

Daraus ergibt sich eine ungeheure Vielzahl möglicher Merkmalskombinationen, welche die „typischen Chancen“ (ebd., 300) ihrer Inhaber zusätzlich zu ihrer ökonomischen Lage beeinflussen. Um dieser Feststellung gerecht zu werden, führt Weber die Begriffe der „sozialen Klasse“ (ebd., 300 f.) und des „Standes“ (ebd., 303 ff.) ein. Einen Schritt, den Kaesler (2003) wie folgt begründet:

„Hauptabsicht dieser Skizze war es, wegzukommen von einer einseitigen Beurteilung der sozialen Lage von Einzelnen und Gruppen ausschließlich unter dem Gesichtspunkt ihrer materiell-ökonomischen Stellung (»Klasse«) und hinzukommen zu einer mindestens zweidimensionalen Betrachtungsweise durch die Verbindung mit einer Sicht, nach der die Art der Lebensführung und die soziale »Schätzung« ebenfalls von kategorialer Bedeutung ist (»Stand«).“ (Kaesler, 2003, S. 215 Hervorhebung im Original)

Was lässt sich daraus in Bezug auf den Armutsbegriff lernen? Zum einen wird die Armut bei Weber zu einem mehrdimensionalen Phänomen, das sich nicht mehr allein aus der ökonomischen Situation oder einem spezifischen Abhängigkeitsverhältnis ableiten lässt. Der Blick ins Portemonnaie kann täuschen, wie das bereits von Weber selbst aufgeworfene Problem der »armen« Studierenden zeigtFootnote 9 – ihm zufolge kann man durchaus gleichzeitig unter materieller Knappheit leiden und einer höheren ständischen Lage angehören. Zum anderen schließen Webers Überlegungen die Möglichkeit sozialer Mobilität ausdrücklich mit ein –»typische Chancen« determinieren zwar die Ausgangspositionen, eröffnen aber die Möglichkeit eines Auf- oder Abstiegs. Der Begriff der sozialen Klasse ist sogar durch den „Wechsel“ (Weber, 2002, S. 300) definiert, der entweder „persönlich“ (ebd.) oder „in der Generationenfolge leicht möglich ist und typisch stattzufinden pflegt“ (ebd.). Diese differenzierte und bereits leicht dynamisierte Betrachtung führt dazu, dass es „nicht notwendig zu Klassenkämpfen und Klassenrevolutionen“ (ebd. S. 301, Hervorhebung im Original) kommt, denn die von Marx behaupteten unmittelbaren Interessengegensätze zwischen den Klassen treten aus Webers ausdifferenzierter Perspektive der vielfältigen Klassenlagen und Stände heraus nicht mehr so eindeutig zutage (ebd. S. 303)Footnote 10.

2.1.2 Armut im Wohlfahrtsstaat

Die Ausdifferenzierung der sozialstrukturanalytischen Kategorien im Anschluss an Weber wurde durch Theoretiker wie Theodor Geiger (1949), Ralf Dahrendorf (1965) und Karl Martin Bolte (1967) fortgeführt. Die starre Kategorie der Klasse wurde immer mehr aufgeweicht und durch komplexe und mehrdimensionale Modelle ersetzt. Bei der Bewertung dieser Konzepte hinsichtlich ihres theoretischen und empirischen Gehalts ist zu fragen, ob es sich nur um eine „Pluralisierung der analytischen Perspektive“ (Berger, 1987) – also um die bloße Vervielfältigung der erhobenen Kategorien handelt (z. B. infolge der gewachsenen Möglichkeiten elektronischer Datenverarbeitung in der empirischen Sozialforschung) – oder ob sich auch „realhistorische Differenzierungs-, Pluralisierungs- oder Individualisierungstendenzen“ (ebd., Hervorhebung im Original) im Zeitverlauf finden lassen.

Für die These einer tatsächlichen grundlegenden Veränderung sozialer Strukturierung sprechen makrostrukturelle Entwicklungen wie die massive Wohlstandssteigerung, die Tertiärisierung auf dem Arbeitsmarkt und die Bildungsexpansion seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs. Der sogenannte Fahrstuhleffekt (Beck, 1986) führte zu Verbesserungen der sozialen Situation in allen gesellschaftlichen Schichten, aber nicht notwendigerweise zur Reduktion sozialer Ungleichheiten. Die Gesellschaft wurde infolgedessen nicht mehr nur als vertikal stratifiziert beschrieben, sondern zunehmend auch als horizontal ausdifferenziert (Geißler, 2013), und dadurch immer „unbestimmter und strukturloser“ (Berger, 1987).

Hradils versucht, diese Unordnung mit seinem Konzept der sozialen Lagen einzufangen. Seine Definition sozialer Ungleichheit blickt nicht mehr nur auf die Ressourcenverteilung, sondern allgemein auf die Kontexte der Erreichung von Lebenszielen:

„Unter sozialer Ungleichheit sind gesellschaftlich hervorgebrachte und relativ dauerhafte Handlungsbedingungen zu verstehen, die bestimmten Gesellschaftsmitgliedern die Befriedigung allgemein akzeptierter Lebensziele besser als anderen erlauben.“ (Hradil, 1987, S. 144)

Zu diesen Kontexten bzw. „gesellschaftlich hervorgebrachten und relativ dauerhaften Handlungsbedingungen“ (ebd.) zählen neben Ressourcen auch Risiken, und damit sowohl positive als auch „negative Einflüsse auf die Chancen bedürfnisbefriedigenden Handelns“ (Hradil, 2.1987, S. 148, Hervorhebung im Original). Diese Bedingungen resultieren laut Hradil ab Mitte der 1970er Jahre nicht mehr nur aus der strukturellen Einbindung in die industriegesellschaftliche Arbeitswelt, sondern darüber hinaus zunehmend aus der „staatlichen Daseinsvorsorge und der persönlichen Interaktion“ (ebd., S. 148). Analog dazu wurden auch die in der obenstehenden Definition sozialer Ungleichheit angesprochenen „allgemein akzeptierten Lebensziele“ immer vielfältiger. Zu den anfangs dominierenden ökonomischen Zielen („Geld, formale Bildung, berufliches Prestige und formale Machtstellungen“, Hradil, 1987, S. 146) gesellten sich Bedürfnisse, die „mithilfe politischer und staatlicher Leistungen befriedigt werden können“ (ebd., dazu zählt Hradil: die Existenzsicherung, die „Entlastung von aufreibenden Lebens- und Arbeitsbedingungen“ (ebd.), Gesundheit und Partizipation) und soziale Ziele wie Integration, Selbstverwirklichung und Emanzipation (ebd., S. 147). Da die klassischen (ökonomischen) Dimensionen durch die neueren ergänzt, aber nicht ersetzt werden, kommt es zur Vermehrung der Dimensionen sozialer Ungleichheit.

Diese Feststellung führt Hradil zu einer Überlegung, die am Ende des Theorieteils in Abschnitt 2.3 noch einmal aufgegriffen und in den Kontext der Netzwerkforschung gestellt werden wird: Die verschiedenen Dimensionen sollten erstens nicht isoliert oder additiv, sondern in ihrem Zusammenspiel betrachtet werden, und zweitens ist angesichts der Vervielfältigung der Dimensionen davon auszugehen, dass Statusinkonsistenzen (verstanden als die „Gleichzeitigkeit von Vor- und Nachteilen“, Hradil, 1987, S. 148) zunehmen und das Konzept der Statuskonsistenz an Relevanz für die Bestimmung der sozialen Lage verlieren wird. So ist die Benachteiligung in einer Dimension nur noch dann relevant in Bezug auf die soziale Ungleichheit, wenn sie nicht durch einen Vorteil in einer anderen Dimension ausgeglichen (kompensiert oder substituiert) werden kann (ebd., 148 ff.). Hradil geht davon aus, dass die Bedeutung und die Gewichtung von Handlungsbedingungen (= Dimensionen) in Abhängigkeit vom individuellen Handlungskontext variiert:

„Man muß also die genaue Konstellation, das heißt die Beschaffenheit aller gegebenen (un)vorteilhaften Lebensbedingungen kennen und hieraus die Logik der Situation erschließen, in die der jeweilige Akteur gestellt ist, um Kontexte sozialer Ungleichheit zu identifizieren und Dimensionen sozialer Ungleichheit angemessen verknüpfen zu können.“ (Hradil, 1987, S. 151, Hervorhebung im Original)

Um diese stark individualisierte Perspektive einzufangen, schlägt Hradil vor, typische Konstellationen von Ausprägungen der Dimensionen sozialer Ungleichheit und deren Relevanz in Bezug auf die Befriedigung von Lebenszielen zu identifizieren. Diese typischen Konstellationen bezeichnet er als soziale Lagen (ebd.). Für die Armutsforschung bedeutete das, dass Armut nicht länger als klassenspezifisches Phänomen am unteren Ende der Sozialstruktur zu betrachten ist, sondern schichtübergreifend und in sehr unterschiedlicher Art und Weise auftreten kann. Armut wird bei Hradil verstanden als eine Einschränkung primärer Dimensionen ungleicher Lebensbedingungen bei gleichzeitig niedrigen „Substitutions- und Kompensationschancen“ (ebd., S. 151) zum Ausgleich dieser Benachteiligung auf anderen Dimensionen.

Die dynamische Armutsforschung (Buhr & Leisering, 2012; Leisering & Leibfried, 1999) geht noch einen Schritt weiter. Sie nimmt an, dass Armut nicht mehr nur einer bestimmten Lage oder Schicht zuzuordnen ist, sondern als vorübergehende Erscheinung im Lebenslauf auftreten kann – etwa in Phasen der Ausbildung oder im Übergang von einer Arbeitsstelle zu nächsten.

Die Ausdifferenzierung gesellschaftlicher Teilbereiche und die Einführung einer dynamisierten Perspektive führten dazu, dass die Substanz des Armutsbegriffs theoretisch immer schwerer zu fassen ist – Armut bezieht sich nicht mehr auf eine Zustandsbeschreibung der Situation an einer bestimmten sozialstrukturellen Position, sondern auf Prozesse im Lebenslauf und die Verhältnisse zwischen vertikal und horizontal ausdifferenzierten gesellschaftlichen Teilgruppen. Armut wird, in Abhängigkeit von individuellen biographischen Verläufen und soziokultureller Einbindung, sehr unterschiedlich wahrgenommen und scheint immer weniger relevant für die Analyse sozialer Strukturen.

2.1.3 Prekarität und Exklusion

Seit der Wende und im Kontext der ökonomischen Krisen der 2000er Jahre wird die These, Armut trete oft als vorübergehende Episode in individualisierten Lebensläufen auf, wieder häufiger in Frage gestellt. Unter den Schlagworten Prekarisierung und Exklusion wird bezweifelt, ob die soziale Marktwirtschaft im hochentwickelten Kapitalismus noch in der Lage ist, alle Teilgruppen der Gesellschaft zu integrieren. Veränderungen auf dem Arbeitsmarkt und der sozialen Sicherungssysteme führten zum Abbau statussichernder Normalarbeitsverhältnisse (unbefristete Vollzeitstellen) und zur Zunahme atypischer Beschäftigungsformen (Befristung, Teilzeit, Leiharbeit etc.). Spätestens seit den Arbeitsmarktreformen der Agenda 2010 gilt, dass, wer seinen sicheren Arbeitsplatz verliert oder von Beginn an keine statussichernde und Aufstiegsperspektiven eröffnende Anstellung gefunden hat, eigenverantwortlich nach Perspektiven suchen muss, um seine Existenz und seinen Status abzusichernFootnote 11. Statt einfach nur seine Arbeit zu machen, heißt es nun, sich gut verkaufen zu müssen, sich ständig weiter zu qualifizieren und sich bereitzuhalten für jede mögliche Beschäftigung (Bröckling, 2007). Armut entsteht, wenn die Versuche, unter diesen Bedingungen den Anschluss zu halten, scheitern. Mit Blick auf die Klassenstruktur ist zu fragen, ob diese Entwicklungen die gesamte Gesellschaft betreffen, sodass die Verhältnisse zwischen den gesellschaftlichen Teilgruppen weiterhin gleich bleiben, oder ob nur einige der Passagiere aus dem Beck’schen Fahrstuhl (siehe Abschnitt 2.1.2) wieder nach unten fahren, während andere in den oberen Etagen bleiben oder weiter aufsteigen.

Castel (2000) geht von einer Verschiebung der sozialstrukturellen Verhältnisse aus und theoretisiert diese in seinem Zonenmodell der französischen Lohnarbeitsgesellschaft. Oben, in der Zone der Integration, befinden sich demnach all jene, die sich nach wie vor in gesicherten und auskömmlichen Beschäftigungsverhältnissen befinden. Unten ist dagegen die Zone der Entkoppelung angesiedelt, deren Angehörige dauerhaft von Erwerbsarbeit ausgeschlossen sind. Dazwischen liegt die Zone der Prekarität, in der unsichere und atypische Beschäftigungsformen vorherrschen, die keine langfristige Absicherung über dem sozio-ökonomischen Existenzminimum mehr garantieren. Die Zone der Prekarität wachse Castel zufolge immer weiter an und betreffe zunehmend auch mittlere soziale Lagen, die bislang als gesichert galten.

Die Exklusionsthese bezieht sich auf Prozesse, die sowohl in der Zone der Prekarität ablaufen als auch in der Zone der Entkoppelung (Bude & Willisch, 2008; Kronauer, 2010). Sie geht davon aus, dass bei dauerhaftem Ausschluss aus statussichernden Institutionen wie dem Normalarbeitsverhältnis soziale Lagen entstehen, deren Angehörige irreversible biographische Abstiege und Statusverluste verarbeiten müssen und zunehmend von gesellschaftlicher Teilhabe exkludiert sind bzw. sich als exkludiert empfinden. Als Belege dafür werden eine gleichbleibend hohe Zahl von Langzeitarbeitslosen angeführt (Zone der Entkoppelung) und die Zunahme atypischer Beschäftigungsverläufe, die keine dauerhafte Absicherung mehr garantieren (Zone der Prekarität).

Dass die andauernde Unsicherheit jedoch noch nicht unbedingt als Exklusion aufgefasst werden muss, zeigen Überlegungen zum »sekundären Erwerbsmodus« (Alda et al., 2004), bzw. zur »Zwischenzone« (Grimm et al., 2013, siehe auch Abschnitt 3.2.2). Zwar beschreibt der sekundäre Erwerbsmodus einen andauernden Wechsel zwischen Beschäftigung und nicht-Beschäftigung, ohne Übergang in gesicherte Beschäftigung, allerdings lassen sich Anpassungsstrategien von Betroffenen beobachten, die es schaffen, diese dauerhaft prekäre Situation auf gewisse Weise wieder zu normalisieren. Sie halten sich durch die strategische Kombination aus der Inanspruchnahme sozialstaatlicher Leistungen und prekärer Arbeit dauerhaft über Wasser und entwickeln aus dieser Erfahrung heraus ein Zwischenzonenbewusstsein (ebd., S. 259), da sie „sich weder als »Hartzer«, d. h. als beziehende von Grundsicherungsleistungen definieren wollen, noch sich als unabhängige Erwerbstätige definieren zu können“ (Grimm et al., 2013, S. 259).

Der Widerspruch zwischen objektivierter Lagebeschreibung und subjektiver Wahrnehmung wird bereits in der Exklusionsdebatte diskutiert. So könne ein subjektives Exklusionsempfinden bereits dann bestehen, wenn die betreffende Person objektiv nicht als exkludiert bezeichnet werden kann (Bude & Lantermann, 2006). Umgekehrt gehe objektive Exklusion nicht immer mit der subjektiven Wahrnehmung, exkludiert zu sein, einher (ebd.). Prekär ist bereits, wer sich in „unsichere[n] Arbeits-, Beschäftigungs- und Lebensverhältnisse[n]“ (Dörre, 2014) befindet, ohne dass die Unsicherheit tatsächlich in eine existenzgefährdende Lage unterhalb gesellschaftlicher Standards führen muss. Wo genau Exklusion und Prekarität im Spannungsfeld zwischen objektivierten Verhältnissen und subjektiven Empfindungen zu verorten ist und ob es sich dabei um einen Zustand der Armut handelt, bleibt theoretisch und empirisch unklar.

Für die Armuts- und Ungleichheitsforschung im Sinne der oben zusammengefassten soziologischen Theorien steht damit jedoch die Frage nach einer Rückkehr der Reservearmee (Dörre, 2009) und der damit verbundenen sozialen Frage (Castel, 2000) im Raum, die sich auf die sozialstrukturelle Beschreibung derjenigen bezieht, die nicht mehr (dauerhaft) in die Verwertungsmaschine des Marktes integriert werden können. Angewandt auf die Marx’sche Theorie (siehe 2.1.1) ließe sich argumentieren, dass die Angst, in der Zone der Entkoppelung zu landen, diejenigen, die sich in der Zone der Prekarität befinden, dazu bringt, Arbeitsverhältnisse zu akzeptieren, die weit unterhalb ihrer Ansprüche liegen. Mit Simmel könnte man danach fragen, inwieweit der Sozialstaat im Interesse der Hilfeleistenden zu einer Disziplinierung der Hilfeempfänger*innen und derer, die den Hilfebezug gerade so vermeiden können, beiträgt und damit zu (Re-)Produktion ungleicher Macht- und Ausbeutungsverhältnisse.

Die wissenschaftliche Debatte um das Verhältnis zwischen »objektiven« Lebensverhältnissen und subjektiver Wahrnehmung scheint auch in den aktuellen Debatten um eine wachsende Anzahl von Menschen, die sich durch die etablierten Kräfte des öffentlichen und politischen Lebens nicht mehr ausreichend repräsentiert fühlen und sich populistischen Ideen zuwenden, wieder neu entfacht. Auch hier werden Spannungen zwischen Selbstwahrnehmung und »objektiver« Lage diskutiert, z. B. in Bezug auf den Widerspruch zwischen der nicht unbedingt als benachteiligt zu beschreibenden sozial-räumlichen Verortung eines großen Teils der AfD-Wählenden und ihrer Selbstwahrnehmung als gesellschaftlich marginalisierte Gruppe (z. B.: Deppisch et al., 2019; Lengfeld, 2017; Lux, 2018).

Im Gegensatz zur relationalen Begriffsbildung (Inklusion vs. Exklusion) erscheint die Bewältigung dieser Umstände hochgradig individualisiert. Eine innere Solidarität der »Exkludierten« ist genauso wenig auszumachen wie eine soziale Gruppe, die sich selbst als »Prekariat« begreift (Otto, 2019). Dennoch werden die Angehörigen prekärer oder gar exkludierter Lagen häufig mit verallgemeinerten Verhaltenserwartungen und stigmatisierenden Zuschreibungen konfrontiert. Der Druck zur eigenverantwortlichen Suche nach Perspektiven in Zeiten zunehmender Arbeitsplatzunsicherheiten resultiert nicht allein aus Veränderungen auf dem Arbeitsmarkt (Globalisierung, Flexibilisierung, Mechanisierung, Digitalisierung, …). Er wird auch befeuert durch Debatten, in denen Klischeebilder wie der faule Arbeitslose konstruiert und als abschreckendes Beispiel dafür, wie man nicht sein sollte, inszeniert werden (Chassé, 2010; Oschmiansky et al., 2003). Vor diesem Hintergrund ist zu befürchten, dass die Wissenschaft durch die Verbreitung verallgemeinernder Begriffe wie »Exklusion« und »Prekariat« zu einer Verschärfung dieser Verhältnisse beiträgt. Der Exklusionsthese wird in den aktuellen Debatten daher häufig entgegnet, dass allein der Begriff »Exklusion« die Betroffenen zu einer homogenen Gruppe aus Opfern sozialer Verhältnisse mache und auf diese Weise ihre individuellen Anstrengungen missachte. Aus dem gut gemeinten Versuch einer Skandalisierung ausgrenzender sozialer Verhältnisse werde so eine stigmatisierende Zuschreibung, die die kritisierten Verhältnisse ungewollt reproduziert und verstärkt (so argumentieren z. B. Marquardsen, 2012 und Weißmann, 2016).

Die Armutsforschung sollte ihre Herangehensweise daher kritisch hinterfragen: Konstruieren wir uns unser Forschungsobjekt auf ähnliche Weise selbst, sobald wir versuchen, eine Gruppe als arm, prekär oder exkludiert zu definieren? In welchem Verhältnis stehen unsere Definitionen zur Wahrnehmung derer, die wir darunter subsumieren? Würden sich die Betroffenen selbst als »arm« bezeichnen? Zur Analyse gesamtgesellschaftlicher Macht- und Abhängigkeitsverhältnisse in Anlehnung an Marx oder Simmel ist der Armutsbegriff durchaus zu gebrauchen. Wir sollten jedoch sehr zurückhaltend mit der Etikettierung benachteiligter Gruppen aus der Beobachterperspektive heraus sein. Unter Umständen schaffen wir damit ein diskursiv hoch wirksames Element mit wackeliger, empirischer Grundlage.

2.1.4 Armut und Capabilities nach Amartya Sen

Amartya Sen (1980) entwickelt seine Theorie auf Basis der Kritik ökonomischer Konzepte, die die Wohlfahrt und Ungleichheit in Gesellschaften allein auf Basis der Bewertung des ökonomischen Nutzens oder der Ressourcenausstattung („utility or primary goods“, ebd. S. 218) messen. Seiner Ansicht nach ist der Zugriff auf Ressourcen nicht gleichbedeutend mit der Fähigkeit, diese zur Erreichung grundlegender Ziele einsetzen zu können:

„[…] there is evidence that the conversion of goods to capabilities varies from person to person substantially, and the equality of the former may still be far from the equality of the latter.“ (Sen, 1980, S. 219)

Der materielle Lebensstandard ist nach Sen nicht hinreichend für die Bewertung einer Situation als arm oder nicht arm, da, auch unter der Bedingung einer ausreichenden materiellen Ausstattung, Unterdrückung und Unfreiheit bestehen können (Sen, 2000a). Er geht davon aus, dass die Fähigkeit Ziele zu erreichen auch auf über das Einkommen hinausgehenden Dimensionen beschränkt sein kann (konkret benennt er die Dimensionen Alter und Geschlecht, soziale Rollen und damit Verbundene Verpflichtungen, sozial-räumliche Faktoren und lokale Gesundheitsrisiken, Sen, 1992, S. 113).

Statt nur auf die Ressourcen zu schauen, sollten die Fähigkeiten (capabilities) der Menschen betrachtet werden, „ein Leben führen zu können, für das sie sich mit guten Gründen entscheiden konnten, und das die Grundlagen der Selbstachtung nicht in Frage stellt“ (Volkert et al., 2003, S. 60)Footnote 12. Diese Fähigkeiten unterscheidet Sen von den tatsächlich gewählten Handlungsweisen. Zur Verdeutlichung bemüht er den Vergleich eines Fastenden mit einem Hungernden. Der Fastende verfügt im Gegensatz zum Hungernden über die Fähigkeit zu essen, aber auch über die Freiheit darauf zu verzichten. Die Analyse von Armut und Ungleichheit sollte sich so gesehen eher auf die Bewertung der Fähigkeiten richten, als auf die Handlungsergebnisse (Leßmann, 2009, 169 ff.).

Welche Fähigkeiten besonders relevant zur Bewertung einer gesellschaftlichen Lage sind und welchen eher eine untergeordnete Bedeutung zukommt, ist nach Sen abhängig von kulturellen und gesellschaftlichen Kontexten (Sen, 1980, S. 219, 1992, S. 110). Er spricht von stark auf die Grundbedürfnisse reduzierten „basic capabilities“ (Sen, 1980, S. 218) im Kontext von extreme poverty („e.g. the ability to be well nourished and well sheltered, the capability of escaping avoidable morbidity and premature mortality“ eine systematische Auflistung minimaler Funktionen findet sich bei Leßmann, 2009, S. 173 ff.; Sen, 1993, S. 272) und von stärker diversifizierten capabilities in wohlhabenderen Gesellschaften. Sen geht implizit davon aus, dass diese Fähigkeiten innerhalb gesellschaftlicher Kontexte ungleich verteilt sind, indem er fordert, so etwas wie eine „basic capability equality“ (Sen, 1980, S. 218) herzustellen.

Die Mitglieder in einer Gesellschaft unterscheiden sich demnach in ihren Chancen darauf, Fähigkeiten auszubilden und zu nutzen. Armut besteht aus einem „Mangel an Verwirklichungschancen“ (Sen, 2000b, S. 110), während Reichtum eine besonders hohe Ausstattung mit Verwirklichungschancen meint. Ökonomische Ressourcen haben demnach durchaus einen großen, doch nicht den alleinigen Einfluss auf die Verfügbarkeit von Verwirklichungschancen (Sen, 1985a).

Der Problematik der Unterscheidung absoluter und relativer Armut entzieht sich Sen, indem er feststellt, dass Armut „ein absoluter Begriff im Bereich von Fähigkeiten ist, im Bereich von Waren oder Merkmalen jedoch sehr häufig eine relative Form annimmt“ (Sen, 1985b; zitiert nach G. Hawthron in: Sen, 2000a, S. 12). Viele Fähigkeiten können demnach über verschiedene gesellschaftliche Kontexte hinweg universell betrachtet werden, auch wenn die zu ihrer Erreichung benötigen Ressourcen zwischen diesen Gesellschaften erheblich variieren:

„Um ein Leben ohne Scham zu führen, um fähig zu sein, Freunde zu besuchen und zu bewirten, um an dem teilhaben zu können, was in verschiedenen Bereichen geboten wird und worüber die anderen reden, bedarf es in einer Gesellschaft, die generell reicher ist und in der die meisten Menschen etwa über Autos, eine große Auswahl an Kleidung Radios, Fernsehgeräte usw. verfügen, kostspieligerer Güter und Dienstleistungen. Somit erfordern einige (für einen »Mindest«-Lebensstandart relevante) Fähigkeiten in einer reicheren Gesellschaft mehr Realeinkommen und Wohlstand in Form von Güterbesitz als in ärmeren. Die gleichen absoluten Fähigkeiten können also relativ mehr Einkommen (und Güter) erfordern.“ (Sen, 2000a, S. 39, Hervorhebung im Original)

Sens praktische Implikation gilt der Forderung nach einer politischen Vermehrung von Verwirklichungsmöglichkeiten. Er argumentiert, dass die Armut vor allem durch die Befähigung der Betroffenen zu eigenverantwortlichem Handeln auf Basis von real existierenden Wahlmöglichkeiten bekämpft werden sollte und nicht durch rein monetäre Ansätze (Sen, 2000b, 118 ff.).

Allerdings findet sich bei Sen wenig Substantielles über die strukturellen Mechanismen und Prozesse, die die Verfügbarkeit von Verwirklichungschancen regulieren. Über die Forderung, dass allen Menschen die Chancen zur Verwirklichung grundlegender Ziele zur Verfügung stehen sollten, bleibt die Theorie sehr unscharf in Bezug auf die Frage, welche Ziele in einem konkreten gesellschaftlichen Zusammenhang als relevant normiert werden und auf welche Weise dies geschieht. Hier ist z. B. unklar, auf welche Weise eine Fähigkeit (wie die Teilnahme am Arbeitsmarkt) derart bestimmend für die gesellschaftliche Positionierung wird, dass sie alle anderen Fähigkeiten (z. B. gute Eltern sein, die Mutter pflegen oder sich in der Nachbarschaft engagieren) dieser Person in den Schatten stellt? Die subjektive Bedeutung von Fähigkeiten ist Sen zufolge zwar kulturell, bzw. auf Basis der „nature oft the society“ (Sen, 1980, S. 219) beeinflusst. Offen bleibt jedoch, auf welche Weise diese Relevanzsetzungen mit gesellschaftlichen Machtstrukturen verwoben sind.

Diese Leerstelle bietet die Gelegenheit, Sens Theorie zu verkürzen und falsch zu interpretieren. Groh Samberg (2009) merkt an, dass die Einführung des Konzepts der Verwirklichungschancen in den zweiten Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung auch dazu dienen könnte, Zweifel an der Brisanz des Armutsthemas zu sähen und politische Verantwortung auf die Betroffenen selbst zu verlagern, in der Anrufung, die „gebotenen Chancen auch wahrzunehmen“ (ebd. S. 16). Diese Überlegung spitzt er folgendermaßen zu:

„Dazu scheint auch das Missverhältnis zu passen, das zwischen der zweideutigen Definition von Armut als Defizit an Verwirklichungschancen und einem empirischen Berichtsteil besteht, der sich in der Auflistung unzusammenhängender Einzelindikatoren erschöpft. Mit der Verbindung von progressiver Rhetorik und zerstreuender Empirie hat die Bunderegierung möglicherweise eine Strategie gefunden, um sich der politischen Verantwortung vor der effektiven Bekämpfung von Armut wortreich entziehen zu können“ (ebd. S. 17).

Hauser (2018) betont darüber hinaus, dass die soziokulturellen Grundbedürfnisse auch unabhängig von der individuellen Leistung zu sichern sind:

„Die zumindest in Deutschland grundgesetzlich statuierte Staatsauffassung weist dem Sozialstaat […] auch die Aufgabe zu, selbst für jene, die ihre Chancen nicht voll nutzen, ein soziokulturelles Existenzminimum zu gewährleisten.“ (Hauser, 2018, S. 153)

Die beiden, in der Armuts- und Reichtumsberichterstattung der Bundesregierung miteinander verschmelzenden Konzepte, „Verwirklichungschancen“ (Sen, 2000b) und „Lebenslagen“ (Berger & Hradil, 1990), sind mehrdimensional und zielen auf die individuelle Handlungsfähigkeit der Akteur*innen ab (Leßmann, 2009, 13 ff.). Sie hinterlassen aber eine Lücke zwischen der Mikro und der Makroebene, die bei Sen zwar nicht gänzlich ausgespart aber doch nachrangig behandelt wird.

2.1.5 „Die Elementaren Formen der Armut“

Einen wegweisenden Beitrag zur Verringerung der bis hierhin beschriebenen Unbestimmtheit des Armutsbegriffs leistet der französische Soziologe Serge Paugam. Er vergleicht den gesellschaftlichen Umgang mit der Armut und ihre Erscheinungsformen in unterschiedlichen Mitgliedsstaaten der Europäischen Union miteinander und unterscheidet diese in drei Idealtypen (Paugam, 2008): die integrierte Armut, die marginale Armut und die disqualifizierende Armut.

Die „integrierte Armut“ (Paugam, 2008, 123 ff.) kommt vor allem in südeuropäischen Ländern vor, in denen relative Armut und Erwerbslosigkeit weit verbreitet und in bestimmten sozialen Lagen dauerhaft vorzufinden sind. Die Betroffenen sind an Erwerbslosigkeit und eine sehr geringe wohlfahrtsstaatliche Absicherung gewöhnt und befinden sich häufiger in materiellen Notlagen. Diesen begegnen sie vor allem durch familiale Solidarität, mit deren Hilfe es ihnen gelingt, individuelle Unsicherheiten zu reduzieren. Darüber hinaus erwirtschaften sie einen großen Teil ihres Einkommens durch wechselnde Tätigkeiten im informellen Sektor. Immer mal wieder erwerbslos zu sein ist eine alltägliche Erfahrung, die die Betroffenen mit anderen Personen in ihren Netzwerken teilen und gemeinsam bewältigen. Erwerbslosigkeit und Armut werden in diesen Gesellschaften daher seltener als Verlust von Status und Anerkennung erfahren.

Die „marginale Armut“ (Paugam, 2008, 164 ff.) ist dagegen eher in reicheren Gesellschaften zu finden, in denen die Armut aufgrund stark ausgebauter sozialer Sicherungssysteme als »bekämpft« gilt, wie z. B. in Dänemark, Schweden, der Schweiz und in den alten Bundesländern. Die Armut wird hier in den öffentlichen Diskursen kaum thematisiert, bzw. als eher randständiges Thema behandelt. Forscher*innen, die sich trotzdem der Armut widmen, sind in solchen Kontexten einem hohen Rechtfertigungsdruck ausgesetzt, da es „unnötig oder gar verhängnisvoll sei, sie zu einem zentralen Thema in der gesellschaftspolitischen Debatte hochzuspielen“ (ebd., S. 188). Paugam zitiert in diesem Zusammenhang die Aussage eines Vertreters des Paritätischen Wohlfahrtsverbands: „In Deutschland ist es so, dass, wenn Sie einen Politiker mit dem Begriff Armut konfrontieren, er sich angegriffen fühlt, weil Sie damit sagen möchten, dass die Sozialpolitik Defizite habe“ (ebd. S. 190).Footnote 13 Diese Marginalisierung der Armut führt dazu, dass die Betroffenen häufiger stigmatisiert und strukturelle Ursachen der Armut negiert werden. Die Armut wird als selbstverschuldet oder als individuelles Einzelschicksal angesehen oder (hier verweist Paugam auf die dynamische Armutsforschung) als vorübergehende Erscheinung im Lebenslauf (ebd. S. 193).

Die „disqualifizierende Armut“ (Paugam, 2008, 213 ff.) kommt ebenfalls vorrangig in hoch entwickelten Gesellschaften vor, in denen Erwerbslosigkeit lange Zeit eine marginale Rolle spielte und Armut als ein „residuales“ Phänomen wahrgenommen wurde. Wenn in diesen Gesellschaften Beschäftigungskrisen ausbrechen, die für eine ungewohnte Zunahme der Erwerbslosigkeit sorgen, wird der Verlust der Arbeit als sozialer Absturz wahrgenommen. Es bildet sich der Typus des „deklassierten Armen als eines Opfers von Schwierigkeiten, mit denen er vorher nie konfrontiert war“ (ebd. S. 217) heraus. Besonders deutlich tritt die disqualifizierende Armut, Paugam folgend, in Ostdeutschland zutage, wo sich von Armut Betroffene besonders häufig als Personen wahrnehmen, die einen „sozialen Absturz hinter sich haben“ (ebd. S. 218). Der Zusammenhang zwischen dem Arbeitsplatz und der Wahrnehmung von Armut sei hier besonders groß, weil die soziale Absicherung fest mit einem stabilen Beschäftigungsstatus verknüpft ist bzw. war. Paugam bringt die Bedeutung der disqualifizierenden Armut im Kontext von Arbeitsmarktkrisen wie folgt auf den Punkt:

„Wenn Armut als Absturz wahrgenommen wird, von dem Menschen betroffen sein können, die unter zufriedenstellenden […] Bedingungen leben, dann steigt damit auch das subjektiv empfundene Risiko, selbst davon betroffen zu werden. Die disqualifizierende Armut führt zu einer fast nicht zu kontrollierenden kollektiven Angst.“ (Paugam, 2008, S. 119f., Hervorhebung im Original)

Damit nimmt er eine mögliche Erklärung für die bereits im vorangegangenen Abschnitt zitierten Wahlanalysen vorweg: Die in Ostdeutschland auch in mittleren Lagen zu beobachtende hohe Zustimmung zur Eliten- und systemkritischen AfD könnte auch Zeugnis einer tiefsitzenden Verunsicherung bzw. einer kollektiven Angst vor dem sozialen Absturz sein.

Paugam zeigt mit dieser Typologie der Armut eindrücklich, dass die Theoretisierung des Armutsbegriffs entscheidend von den konkreten Rahmenbedingungen der Gesellschaft abhängig ist, auf die man sich bezieht. Eine allgemeingültige Armutsdefinition wird daher nur schwer zu finden sein. Armutskonzepte sollten daher verschiedene sozialstrukturelle Ebenen berücksichtigen, die sich wechselseitig beeinflussen. Im folgenden Abschnitt schlage ich daher vor, eine Perspektive einzunehmen, die zwischen der makrostrukturellen Rahmung und der subjektiven Wahrnehmung auf der Mikroebene angeordnet ist und die die Wechselwirkungen zwischen diesen beiden Polen abbildet.

2.2 Armut aus Sicht der soziologischen Netzwerkforschung

In diesem Abschnitt soll der Blick auf die Prozesse gerichtet werden, die auf der Mesoebene sozialer Netzwerke zur (Re-)Produktion sozialer Ungleichheiten führen. Darüber hinaus sollen Handlungsressourcen und Bewältigungschancen der Akteur*innen betrachtet werden, die sich aus deren Einbettung in soziale Beziehungen ergeben. Es geht also darum, zu klären, inwiefern Akteur*innen durch ihre Position innerhalb der Sozialstruktur in ihren Entfaltungsmöglichkeiten eingeschränkt oder befähigt werden und wie sich diese Handlungsfähigkeit auf der Ebene sozialer Netzwerke darstellt.

2.2.1 Soziales Kapital und soziale Ungleichheit

Bis hierhin wurde festgestellt, dass Armut nicht aus sich heraus beschrieben werden kann, sondern nur im Kontext einer konkreten sozialen Struktur. In der Regel verfügen als „arm“ problematisierte Gruppen über eine vergleichsweise geringe Ressourcenausstattung, beschränkte Handlungsmöglichkeiten bzw. wenig Macht, ihre Lage selbst zu beeinflussen. Eine Möglichkeit, solche Ungleichheiten abzubilden, bietet die Analyse der Verteilung wertvoller Güter innerhalb einer Gesellschaft. Die Ergebnisse solcher Betrachtungen variieren, je nachdem, welche Güter im Kontext einer Untersuchung als wertvoll erachtet werden. Eine grundlegende theoretische Systematisierung solcher Güter ist in der Kapitaltheorie Pierre Bourdieus nachzulesen. Bourdieu geht davon aus, dass sich Positionierungen im sozialen Raum nach der Ausstattung der Akteur*innen mit ökonomischem, kulturellem und sozialem Kapital differenzieren lassen. Das „ökonomische Kapital ist unmittelbar und direkt in Geld konvertierbar […]“ (Bourdieu, 1983, S. 185, Hervorhebung im Original). Das kulturelle Kapital kann entweder in Form von Wissen inkorporiert sein, „in objektiviertem Zustand, in Form von kulturellen Gütern“ (ebd., Hervorhebung im Original) existieren oder in „institutionalisiertem Zustand“ (ebd., Hervorhebung im Original) als Titel, Zeugnis oder Zertifikat vorliegen.

Bereits diese beiden Formen von Kapital sind in gewisser Weise sozial determiniert. Denn Kapital entsteht laut Bourdieu immer aus Arbeit, die entweder eine materielle Gestalt angenommen hat oder verinnerlicht wurde (Bourdieu, 1983, S. 183): „Wird Kapital von einzelnen Aktoren oder Gruppen privat und exklusiv angeeignet, so wird dadurch auch die Aneignung sozialer Energie in Form von verdinglichter oder lebendiger Arbeit möglich.“ Die Verteilungsstruktur in einer Gesellschaft ist daher nicht zufällig entstanden, sondern eine mit der Zeit gewachsene Objektivierung sozialer Verhältnisse, durch die Handlungen ermöglicht oder eingeschränkt werden:

„Das Kapital ist eine der Objektivität der Dinge innewohnende Kraft, die dafür sorgt, daß nicht alles gleich möglich oder gleich unmöglich ist. Die zu einem bestimmten Zeitpunkt gegebene Verteilungsstruktur verschiedener Arten und Unterarten von Kapital entspricht der immanenten Struktur der gesellschaftlichen Welt, d.h. der Gesamtheit der ihr innewohnenden Zwänge, durch die das dauerhafte Funktionieren der gesellschaftlichen Wirklichkeit bestimmt und über die Erfolgschancen der Praxis entschieden wird.“ (Bourdieu, 1983, S. 183)

In der Kapitalverteilung einer Gesellschaft objektiviert sich ihre soziale Differenzierung bzw. ihre Machtstruktur. In diesem Sinne sind alle Formen von Kapital sozial vermittelt, da Kapital nicht ohne die Mitwirkung anderer angeeignet und akkumuliert werden kann. Der Begriff des »sozialen Kapitals« führt aber noch einen Schritt weiter, indem er nicht mehr auf die persönliche Kapitalausstattung einzelner Akteur*innen abzielt, sondern die Ressourcen beschreibt, die unter Rückgriff auf soziale Beziehungen mobilisiert werden können.

„Der Umfang des Sozialkapitals, das der Einzelne besitzt, hängt […] sowohl von der Ausdehnung des Netzes von Beziehungen ab, die er tatsächlich mobilisieren kann, als auch von dem Umfang des (ökonomischen, kulturellen oder symbolischen) Kapitals, das diejenigen besitzen, mit denen er in Beziehung steht.“ (Bourdieu, 1983, S. 191)

Auch das soziale Kapital ist Produkt von Arbeit. Diese besteht darin, zufällige Bekanntschaften in verbindliche und nützliche Beziehungen zu überführen und diese dauerhaft zu pflegen:

„[D]as Beziehungsnetz ist das Produkt individueller oder kollektiver Investitionsstrategien, die bewußt oder unbewußt auf die Schaffung und Erhaltung von Sozialbeziehungen gerichtet sind, die früher oder später einen unmittelbaren Nutzen versprechen.“ (Bourdieu, 1983, S. 192)

Diese Beziehungen können durch informelle („Anerkennung, Respekt, Freundschaft“ ebd.) oder institutionalisierte Prozesse (wie die Eheschließung) zusammengehalten werden und müssen durch „Beziehungsarbeit in Form von ständigen Austauschakten“ (ebd. S. 193) reproduziert werden, „durch die sich die gegenseitige Anerkennung immer wieder neu bestätigt“ (ebd.).

Soziales Kapital kann auch dazu genutzt werden, die eigenen Einflussmöglichkeiten zu vergrößern. So ermöglicht es das Prinzip der Delegation einzelnen Mitgliedern sozialer Gruppen (z. B. dem Familienoberhaupt), im Namen aller zu handeln und somit „eine Macht auszuüben, die in keinem Verhältnis zu [ihrem] persönlichen Gewicht steht“ (ebd., S. 193). An dieser Stelle deutet Bourdieu an, dass es auch negative Wirkungen sozialer Zugehörigkeiten geben kann, denn die Position der Delegierten oder des Mandatsträgers verschafft einer Person einen Machtgewinn, den diese nicht zwingend positiv im Sinner aller Beteiligten einsetzen muss (→ „Möglichkeit der Zweckentfremdung von Sozialkapital“. ebd. S. 194).

Damit kommt der Bourdieu’sche Kapitalbegriff – insbesondere der Begriff des sozialen Kapitals – den in dieser Arbeit zur Anwendung gebrachten Ansätzen der soziologischen Netzwerkforschung bereits sehr naheFootnote 14. Allerdings fokussiert das Bourdieu’sche Konzept noch sehr stark auf einzelne Personen und Gruppen und deren individuelle Kapitalausstattung und weniger auf die wechselseitige Positionierung dieser Gruppen zueinander in einem größeren Geflecht sozialer Beziehungen. Die Kapitalausstattung erscheint hier eher als kategoriale Variable, die indirekt Auskunft über Position von Akteur*innen in einer sozialen Umgebung gibt (bzw. in der sich die Position in der Machtstruktur der Gesellschaft objektiviert).

Doch die sozialen Beziehungen selbst nimmt Bourdieu nicht in den Blick, was sich gut anhand seines Habituskonzepts verdeutlichen lässt. Demnach haben Personen, die eine vergleichbare sozialstrukturelle Position innehaben, in der Regel auch ähnliche kulturelle Vorlieben und Praxen (Bourdieu, 1982, 212 f.). Empirisch nachgewiesen wird der Habitus in der Regel als eine Korrelation von Attributen statusähnlicher Personen, während die Beziehungen und Interaktionen innerhalb und zwischen den Statusgruppen eher selten betrachtet werden (Fuhse, 2010, 186 ff.). Er beschäftigt sich vorrangig mit Berufsgruppen und deren Attributen (Einkommen, Geschmack, Fähigkeiten, …) auf der Aggregatebene, ohne zu rekonstruieren, wie sich diese Gruppen auf der Mesoebene sozialer Beziehungen konstituieren.

Aus der Korrelation kultureller Vorlieben statusähnlicher Personen leitet Bourdieu die Annahme ab, dass objektiv klassifizierbare Lebensbedingungen zu ähnlichen alltäglichen Wahrnehmungen und Verhaltensweisen führen, oder anders ausgedrückt: „dass Akteure und Gruppen, auf welche die gleichen Strukturprinzipien in der gleichen Stärke wirken, einen ähnlich strukturierten Habitus haben“ (Barlösius, 2011, S. 63). Dieser Zusammenhang wird bei Bourdieu in der Praxis dieser Akteur*innen und Gruppen sichtbar:

„[…] in den »Eigenschaften« […] mit denen sich die Einzelnen wie die Gruppen umgeben – Häuser, Möbel, Gemälde, Bücher, Autos, Spirituosen, Zigaretten, Parfums, Kleidung – und in den Praktiken, mit denen sie ihr Anderssein dokumentieren – in sportlichen Betätigungen, den Spielen, den kulturellen Ablenkungen – ist Systematik nur, weil sie in der ursprünglichen synthetischen Einheit des Habitus vorliegt, dem einheitsstiftenden Erzeugungsprinzip aller Formen von Praxis.“ (Bourdieu, 1982, 282f.)

Der Habitus strukturiert also nicht nur das Verhalten, sondern bringt auch Handlungspraxen hervor, die in der wechselseitigen Disktinktion sozialer Gruppen voneinander erzeugt werden und als Dokumente ihres Andersseins zu beobachten sind – damit ist er als »strukturierte Struktur« und »strukturierende Struktur« gleichermaßen wirksam (Bourdieu, 1982, 277 ff.).

Da er die Konstituierung sozialer Gruppen ausgehend von ihrer gegenseitigen Bezugnahme und wechselseitigen Abgrenzung voneinander beschreibt, kann Bourdieu als einer der wichtigsten Ideengeber einer relationalen Soziologie sozialer Ungleichheiten bezeichnet werden. Die Netzwerkforschung versucht, die bei Bourdieu noch recht immanenten Strukturbeschreibungen theoretisch auszuformulieren, indem sie die soziale Positionierung nicht nur durch Attribute erfasst, die den Akteur*innen zugeordnet werden, sondern deren soziale Einbindung unmittelbar beschreibt und abbildet. Sie erfasst vor- oder nachteilige Positionierungen auf der Beziehungsebene, indem sie die Positionierung einzelner Akteur*innen oder Gruppen rekonstruiert und hinsichtlich ihrer subjektiven und strukturellen Bedeutung analysiert.

2.2.2 Ungleichheiten in sozialen Beziehungsnetzwerken

Soziale Netzwerke sind zunächst einmal nichts weiter als eine Ansammlung sozialer BeziehungenFootnote 15. Eine solche kann, Max Weber folgend, beschrieben werden als ein „aufeinander gegenseitig eingestelltes und dadurch orientiertes Sichverhalten mehrerer“ (Weber, 2002, S. 34, Hervorhebung im Original). Worin genau dieses Verhältnis besteht (sich grüßen, Dinge leihen, streiten, Informationen austauschen etc.), ist zunächst offen und kann je nach Forschungsinteresse genauer eingegrenzt werden. Damit lassen sich bereits erste Unterscheidungen treffen, indem man analysiert, wer über wie viele Beziehungen verfügt (bei Bourdieu 1983, S. 191, als „Ausdehnung des Netzes von Beziehungen“ bezeichnet) und wie sich diese Beziehungen qualitativ voneinander unterscheiden („Umfang des Sozialkapitals“ bei Bourdieu 1983, S. 191).

Granovetter (1973) schlägt zur Unterscheidung des Umfangs bzw. der Qualität von Beziehungen eine einfache Kategorisierung ihrer Stärke vor:

“the strength of a tie is a (probably linear) combination of the amount of time, the emotional intensity, the intimacy (mutual confiding), and the reciprocal services which characterize the tie.” (Granovetter, 1973, S. 1361)

Als starke Beziehungen können dieser Idee zufolge die meisten Freundschaften oder Beziehungen zu Eltern, Partner*innen und Geschwistern bezeichnet werden, schwache Beziehungen bestehen dagegen eher zwischen losen Bekannten. Diese Unterscheidung ist sehr grob, verblüffenderweise aber ausreichend, um darauf basierend eine grundlegende Theorie sozialer Netzwerke aufzustellen:

“It is sufficient for the present purpose if most of us can agree, on a rough intuitive basis, whether a given tie is strong, weak, or absent.” (Granovetter, 1973, S. 1361)

Während starke Beziehungen innerhalb sozialer Gruppen (Cliquen, Nachbarschaftsorganisationen, Familien, etc.) vorherrschend sind, in denen (fast) alle Mitglieder miteinander verbunden sind, bilden schwache Beziehungen Brücken zwischen solchen Gruppen. Die These der »Transitivität« besagt, dass sich mit der Zeit eine hohe Beziehungsdichte innerhalb von Gruppen mit vorwiegend starken Beziehungen einstellt. Denn wenn Person A jeweils eine enge Freundschaft zu den Personen B und C unterhält, ist zu erwarten, dass sich die Personen B und C früher oder später ebenfalls kennenlernen werden. Granovetter bezeichnet ein offenes Dreieck aus zwei starken Beziehungen einer Person zu zwei weiteren daher als „forbidden triad“. Schwache Beziehungen sind dagegen seltener innerhalb stark miteinander verbundener Gruppen anzutreffen, dafür aber häufiger als Brücken („local bridges“ Granovetter, 1973, S. 1365) zwischen diesen Gruppen. Wer an Informationen (z. B. über eine freie Arbeitsstelle) jenseits, des eigenen Umfelds gelangen möchte, ist daher auf die »Stärke schwacher Beziehungen« („the strength of weak ties“, Granovetter, 1973) angewiesen oder auf Personen aus dem eigenen Umfeld, die schwache Beziehungen zu anderen Gruppen unterhalten („indirect contacts“ Granovetter, 1973, S. 1371).

Aus diesen Überlegungen lassen sich Theorien über den Beitrag sozialer Netzwerke zur Erklärung soziologischer Phänomene ableiten. Denn nicht nur Informationen, auch Krankheiten oder Gerüchte erlangen eine größere Reichweite, wenn sie erst einmal über schwache Beziehungen verbreitet werden:

“Intuitively speaking, this means that whatever is to be diffused can reach a larger number of people, and traverse greater social distance (i.e., path length), when passed through weak ties rather than strong. If one tells a rumour to all his close friends, and they do likewise, many will hear the rumour a second and third time, since those linked by strong ties tend to share friends. If the motivation to spread the rumour is dampened a bit on each wave of retelling, then the rumour moving through strong ties is much more likely to be limited to a few cliques than that going via weak ones; bridges will not be crossed.” (Granovetter, 1973, S. 1366)

Granovetter versucht aus diesen Überlegungen heraus eine Verbindung von der Mikro- zur Makroebene sozialer Strukturbildung herzustellen und wendet diese Überlegungen auf mesostrukturelle Fragestellungen an, indem er z. B. danach fragt, warum sich „manche Nachbarschaften zum Widerstand gegen Verwaltungsmaßnahmen organisieren [lassen] und andere nicht?“ (Stegbauer, 2019). Er stellt fest, dass sich dies mit dem Grad der Vernetzung zwischen unterschiedlichen Gruppen innerhalb von Nachbarschaften durch schwache Beziehungen erklären lässt bzw. deren Fehlen in Nachbarschaften, die sich nicht organisieren lassen (ebd.). In Bezug auf die Bewältigungschancen von Erwerbslosigkeit bedeutet dies, dass die Reichweite des eigenen Handelns vergrößert wird, sobald es in den Netzwerken der Betroffenen Brücken in verschiedene soziale Kreise gibt, denn:

“The fewer indirect contacts one has the more encapsulated he will be in terms of knowledge of the world beyond his own friendship circle.“ (Granovetter, 1973, S. 1371)

Die Idee der Beschreibung von Netzwerken anhand der Verteilung starker und schwacher Beziehungen wird in den wirtschaftssoziologischen Arbeiten Ronald S. Burts (1982, 1992) zu einer Netzwerktheorie der Strukturierung von Märkten weiterentwickelt. Burt (2005) zufolge wird soziales Kapital aus der Positionierung von Akteur*innen in Netzwerken generiert und kann daher nicht als Attribut einzelner Akteur*innen isoliert betrachtet und gemessen werden. Demzufolge können Akteur*innen dann besonders erfolgreich und autonom handeln, wenn sie mehr als andere in der Lage sind, „strukturelle Löcher“ durch schwache Beziehungen zu überwinden. Solche Akteur*innen, die Beziehungen über soziale Kreise hinweg unterhalten, bezeichnet Burt als Broker. Je mehr schwache Beziehungen sie unterhalten, desto weniger redundant sind die Informationen, auf die sie zugreifen und die sie im Sinne ihrer Interessen einsetzen können. Diese Perspektive führt die Granovetter‘sche Argumentation weiter aus, indem sie den Zusammenhang zwischen der Positionierung im Netzwerk und den Zugriffsmöglichkeiten auf alternative Handlungsstrategien von Akteur*innen herausarbeitet, denn:

“People connected across groups are more familiar with alternative ways of thinking and behaving”. (Burt, 2004, S. 349)

Doch Burt zeigt darüber hinaus, dass auch der dem Brokarage entgegengesetzte Mechanismus des Closure – also die Schließung sozialer Kreise nach außen – an der Bildung sozialen Kapitals beteiligt sein kann (Burt, 2005). Zwar werden hier nicht mehr Information und Einfluss generiert, dafür aber Vertrauen, Verlässlichkeit und soziale Kontrolle. Beide Positionierungen ergänzen sich komplementär und sind – wie im Rahmen des Literaturteils und der empirischen Analyse noch ausführlich gezeigt werden wird – gleichermaßen bedeutsam für die Wahrnehmung und Bewältigung von Armut.

Eher auf der Aggregatebene der Beschreibung lokaler Netzwerkstrukturen im internationalen Vergleich wendet auch Putnam (2001) die Idee von Brokerage and Closure im Rahmen seiner Sozialkapitaltheorie an. Er unterscheidet das soziale Kapital von Gemeinschaften unter anderem danach, wie hoch der Anteil brückenbildender („bridging“) Beziehungen zwischen Gruppen mit unterschiedlichen Eigenschaften und bindenden („bonding“) Beziehungen innerhalb dieser Gruppen ist. In einem normativ aufgeladenen Duktus folgert er, dass das bridging social capital zwar sozialen Rückhalt gewähre, homogene Gruppen insgesamt aber anfälliger dafür seien, „sich »dunklen« Zielsetzungen zuzuwenden“ (Putnam & Goss, 2001, S. 29, Hervorhebung im Original).

2.2.3 Vom strukturellen Determinismus zum Cultural Turn

Die im vorangegangenen Abschnitt zusammengefassten Netzwerktheorien sind auf eine radikale Weise strukturalistisch. Sie unterstellen, dass sich soziale Verhältnisse allein aus der Strukturierung von Beziehungen heraus erklären lassen. Annahmen über die kulturellen Aspekte, die die Genese und Reproduktion sozialer Beziehungsnetzwerke beeinflussen, spielen in den vorgestellten Arbeiten von Granovetter und Burt, wenn überhaupt, nur eine untergeordnete Rolle. Die bei Bourdieu als verdinglichte soziale Strukturierung beschriebenen, objektivierten Einflüsse auf die (Re-)Produktion sozialer Netzwerke werden dort eher nicht betrachtet. Die Analyse der Mechanismen (ungleicher) Verteilung von Kapital im Sinne einer strukturierenden Kraft, die die Wahrnehmung und das Verhalten von Akteur*innen ebenso beeinflusst (strukturierende Struktur), wie es dieses ermöglicht und hervorbringt (strukturierte Struktur), erfordert jedoch die Einbeziehung von Bedeutungszusammenhängen, die sich über die Zeit in Form von „Kultur“ stabilisiert haben.

Mustafa Emirbayer und Kolleg*innen fordern daher einen Cultural Turn in der Netzwerkforschung. Sie formulieren eine Kritik an deren strukturellem Determinismus und entwickeln in ihren Arbeiten eine Perspektive, die die kulturellen Einflüsse auf das Handeln von Akteur*innen in sozialen Netzwerken – und damit auf die Genese sozialer Beziehungen – mit einbezieht (Emirbayer, 1997; Emirbayer & Goodwin, 1994; Emirbayer & Mische, 1998). Sie kritisieren, dass strukturdeterministische Ansätze nicht nur die prägende Kraft kultureller Kontexte auf die Dynamik sozialer Beziehungen missachten, sondern auch die mit dem Begriff der Agency bezeichnete „Handlungs- und Gestaltungsmacht der Akteure“ (Löwenstein, 2017, S. 13).

Die Basis ihrer Argumentation bildet die Netzwerkperspektive, die sie analog zu den oben genannten Ansätzen ausformulieren und zuspitzen auf die Formel des „antikategorialen Imperativs“ (Emirbayer & Goodwin, 1994, S. 1414). Akteur*innen konstituieren sich demnach erst dadurch, dass sie wechselseitig aufeinander einwirken. Daher sollte sich die Aufmerksamkeit der Netzwerkforschung auf Relationen statt auf die Analyse scheinbar atomisiert handelnder Individuen und ihnen zuzuordnender Kategorien (Beruf, Einkommen, Bildung etc.) richten (ebd., Emirbayer, 1997, S. 287). Die Relationen oder auch „Transaktionen“ (Emirbayer, 1997, S. 287) sind jedoch nur unter Berücksichtigung kultureller Einflüsse zu verstehen, denn:

“Culture and social relations empirically interpenetrate with and mutually condition one another so thoroughly that it is well-nigh impossible to conceive of the one without the other.” (Emirbayer & Goodwin, 1994, S. 1438)

Mit dem Begriff der Kultur sind „symbolische Formationen wie diskursive Rahmen und kulturelle Idiome“ (Emirbayer & Goodwin, 2017, S. 320)Footnote 16 gemeint. Dazu gehören Bewertungsschemata, die Handlungen als „»pur« und »verunreinigt«, »gerecht« und »ungerecht« [oder] »heilig« und »profan«“ (ebd., S. 322, Hervorhebung im Original) erscheinen lassen und die einen Einfluss auf die Entstehung oder Vermeidung sozialer Beziehungen ausüben.

Darüber hinaus kommt es in diesem Spannungsverhältnis zwischen kultureller Rahmung und der strukturellen Einbettung in Netzwerke zu „Momenten der Freiheit – oder der Anstrengung“ („that moment of freedom – or of "effort", as Talcott Parsons termed it“, Emirbayer & Goodwin, 1994, S. 1442), die Emirbayer und Goodwin als Agency beschreiben und wie folgt definieren:

“Human agency, as we conceptualize it, entails the capacity of socially embedded actors to appropriate, reproduce, and, potentially, to innovate upon received cultural categories and conditions of action in accordance with their personal and collective ideals, interests, and commitments.” (Emirbayer & Goodwin, 1994, S. 1443)

Diese Definition hält die Möglichkeit einer individuellen Handlung aus der kulturellen und strukturellen Einbettung heraus offen, denn:

“Any empirical instance of action is structured simultaneously by the dynamics of societal as well as cultural structures, even though-in principle, at least-it is never completely determined and structured by them.” (Emirbayer & Goodwin, 1994, S. 1443)

Damit konkretisiert sich die in dieser Arbeit zu betrachtende Wahrnehmung und Bewältigung von Armut durch handelnde Subjekte: Diese nehmen ein soziales Konstrukt wie »Armut« nicht im leeren Raum wahr, sondern eingebettet in soziale Beziehungszusammenhänge und im Kontext kultureller Bedeutungsmuster. Letztere sind zu unterscheiden in die objektivierten Muster sozialer Ungleichheit in Form von Kapitalverteilungen und deren Bedeutung für die Positionierung im sozialen Raum auf der einen Seite und die impliziten Regeln und Muster, die dem Beziehungshandeln Sinn verleihen und es dadurch strukturieren, auf der anderen. Daher lassen sich die hier zu analysierenden egozentrierten Netzwerke nicht aus sich selbst heraus erklären, sondern müssen im Kontext verfestigter makrostruktureller Muster und deren subjektiver Interpretation durch die Befragten auf der Handlungsebene betrachtet werden.

2.2.4 Netzwerke, Domänen und Identitäten

Dazu, wie die Forderung nach einer stärkeren Berücksichtigung von Kultur und Agency in der Netzwerkforschung theoretisch und empirisch umzusetzen ist, treffen Emirbayer und Kolleg*innen keine genauen Aussagen. Im Rahmen ihrer Kritik an der Kulturlosigkeit der Netzwerkforschung erkennen sie jedoch an, dass Harrison White ihren Vorstellungen einer Netzwerkperspektive, die sensibel ist für Bedeutungen und Sinnzusammenhänge, besonders nahekommt (Emirbayer & Goodwin, 1994, 1436 f.)Footnote 17. Auch White verortet seine Theorie auf der Mesoebene zwischen Individualismus und Strukturalismus (White, 2008, 14 f.). Zwischen dem Erscheinen der ersten (1992) und der zweiten Auflage (2008) seines Hauptwerks „Identity and Control“ findet der Cultural Turn in der Netzwerkforschung dann endgültig Eingang in seine Theorie (Schmitt, 2019). Wie im Folgenden gezeigt wird, sind Whites Begriffe gut geeignet, die wechselseitige Bedingtheit von kulturellen Strukturen, Netzwerken und der Handlungs- und Gestaltungsmacht der Akteur*innen zu erfassen.

White knüpft mit seinen Überlegungen am symbolischen Interaktionismus (Blumer, 1969) und insbesondere an der Soziologie Erving Goffmans (1969) an (ausführlich zur Genese sozialer Beziehungsnetzwerke aus Sicht des Symbolischen Interaktionismus: Töpfer und Behrmann 2021). White zufolge führt das Aufeinandertreffen von Akteur*innen immer zu Unsicherheit, die dadurch hervorgerufen wird, dass Situationen nie zu 100 % definiert und die Akteur*innen gezwungen sind, sich aufeinander einzustellen. In der Wiederholung ähnlicher Interaktionen stabilisieren sich die Verhaltensweisen der beteiligten Akteur*innen und ihre Beziehungen zueinander. Sie beobachten sich selbst und die anderen, während sie selbst auch von ihren Interaktionspartner*innen beobachtet werden. Diese Beobachtungen verdichten sich mit der Zeit zu Identitäten von Interaktionspartner*innen innerhalb eines bestimmten Kontexts (z. B. wer die Richtung vorgeben darf und wer folgt).

Identitäten entstehen so gesehen aus dem Bedürfnis, Unsicherheiten in Interaktionen zu kontrollieren. Da die Akteur*innen dabei wechselseitig aufeinander einwirken, sind es nicht nur sie selbst, die versuchen, Kontrolle ausüben, sondern sie sind auch den Kontrollversuchen der anderen ausgesetzt. Die Kontrolle wirkt also gleichzeitig von innen und von außen und zwingt die Akteur*innen, eine Position in diesem Spannungsverhältnis zu finden:

“Identity is produced by the contingency to which it is a response, an intervention in the process to come, at whatever level and in whatever realm. Seeking control is not some option of choice, it comes out of the way identities get triggered and keep rolling along as process. So, basically, an identity comes along with its footing out of mismatch, by drawing on both observation and reflexive self-observation.” (White, 2008, S. 9)

Identitäten, wie White sie definiert, befinden sich daher immer im Fluss, da sie immer nur Teil eines vorübergehend stabilisierten Arrangements wechselseitiger Kontrollversuche der Akteur*innen sind. Diese wechselseitigen Bestrebungen, Kontrolle zu erreichen, bezeichnet White als control efforts, die hier als Kontrollversuche übersetzt werdenFootnote 18.

Bis hierhin erklärt White die Herausbildung sozialer Strukturen noch ohne Rückgriff auf kulturelle Einflüsse. Quelle jeglicher Strukturierung ist bislang nicht die Kultur, sondern die Unsicherheit, oder besser ausgedrückt: „chaos and accident are the sources and bases for all identities“ (White, 2008, S. 9). Doch würde es zu nichts führen, nach dem ursprünglichen Kontrollversuch zu suchen, um die Strukturierung der Gesellschaft von einem vermeintlichen Nullpunkt aus zu erklären. Denn jeder Versuch, Kontrolle zu erlangen, findet bereits eingebettet in bestehende strukturelle Muster statt, die eine zwingende Kraft auf die Akteur*innen ausüben und deren Handlungen beeinflussen, z. B. in Form von allgemeinen Verhaltensregeln und kulturellen Bewertungsmustern. Diese Sinnzuschreibungen und kulturellen Kontexte arbeitet White in die Grundbegriffe Story, Domäne, Disziplin, Switching und Stil mit ein, welche auf der Definition der folgenden fünf Bedeutungsebenen von Identitäten aufbauen (Schmitt & Fuhse, 2015, S. 67 f.; White, 2008, S. 17):

  1. 1.

    Die erste Ebene beschreibt Positionen in Netzwerkdomänen, also in der Wiederholung stabilisierte und in der wechselseitigen Beobachtung der Akteur*innen verfestigte Stellungen („stances“ White, 2008, S. 10), wie etwa die des Clowns- oder die der Themengeberin in einer Gruppe von Studierenden (ebd.). Da sich Personen in der Regel in mehreren voneinander unterscheidbaren Netzwerkkontexten bewegen, verfügen sie über ein ganzes Bündel solcher Identitäten.

  2. 2.

    Die zweite Ebene meint die Verschmelzung verschiedener Identitäten zu einer übergeordneten Einheit, die ebenfalls als Identität auftreten kann, sofern dieser Einheit eine Bedeutung zugeschrieben wird. So können Schüler*innen eine Identität innerhalb einer Klasse haben (siehe 1.), genauso wie die Klasse selbst als Identität wahrgenommen werden kann, die sich z. B. beim Sportfest als eigenständige Einheit mit der Parallelklasse misst. Weitere Steigerungen sind denkbar, sofern ihnen Bedeutung zugeschrieben wird (z. B. Schulen, die gegeneinander antreten).

  3. 3.

    Die dritte Ebene beschreibt Spuren von Personen oder anderen Akteur*innen (Klassen, Schulen) über mehrere Kontexte hinweg („the trace of different identities in different netdoms“, White, 2008, S. 17). Wenn also eine Schülerin dabei beobachtet wird (oder wenn sie sich selbst dabei beobachtet), wie sie im Laufe eines Tages Interaktionskontexte wechselt (von der Schule in den Hort und dann nach Hause), wird sie als Identität wahrgenommen, die sich durch ihre Einbindung in diese konkreten Beziehungszusammenhänge von anderen unterscheidet.

  4. 4.

    Die vierte Ebene ist die „Interpretation dieser Wechselspur“ (Schmitt & Fuhse, 2015, S. 68) durch die Akteur*innen selbst. Diese Bedeutung beschreibt White als diejenige, die unserem Alltagsverständnis von Identität am nächsten kommt (White, 2008, S. 11). Hier konstruieren Akteur*innen eine Identität, indem sie sich über die verschiedenen Domänen hinweg als erfolgreich oder gescheitert, als arm oder reich, als ehrgeizig oder faul wahrnehmen.

  5. 5.

    Die fünfte Ebene beschreibt die Identität einer Person als Zusammenhang aus allen vier vorangegangenen Teil-Identitäten. „Eine personale Identität muss mithin alle situationsbezogenen Stabilisierungen (1), ihre Verknüpfung miteinander (2), ihre Verkettung in der Zeit (3) und die damit verknüpfte Selbstbeobachtung (4) integrieren“ (Schmitt & Fuhse, 2015, S. 68).

White definiert die soziale Beziehung in der Logik der ersten Bedeutungsebene als eine Geschichte, bzw. Story, in der „die situative Verschränkung von Kontrollprojekten auf Dauer gestellt“ (Schmitt & Fuhse, 2015, S. 96) wird. In den Stories halten die Akteur*innen ihre Beobachtungen von Kontrollprojekten bzw. -versuchen fest. Bei jedem weiteren Kontrollversuch wird die Story fortgeschrieben und verfeinert, sodass sich die Qualität der Beziehung mit der Zeit verändert. Damit leisten Stories drei wesentliche Beiträge zur Entstehung und Reproduktion von Beziehungen:

„Sie verdichten die Beziehung zu einem beschreibbaren und damit sozial transportablen Phänomen. Sie geben der Beziehung ein zeitliches Profil und knüpfen sie so an Ereignisse, Situationen und ablaufende Prozesse. Schließlich betten sie die Beziehung in eine erweiterte Umgebung ein, in der auch andere Identitäten und andere Beziehungen eine wichtige Rolle spielen.“ (siehe auch: Schmitt, 2009; Schmitt & Fuhse, 2015, S. 97)

Die Story muss dabei nicht unbedingt nur die Beziehungen zwischen zwei einzelnen Akteur*innen definieren. Sie kann auch ein ganzes Bündel von Akteur*innen zueinander in Bezug setzen (z. B. als das Wissen über die übliche Aufstellung und die eigene Position in einer Fußballmannschaft).

Die in den Stories eingelagerten Beziehungen bestehen jedoch nicht im luftleeren Raum, sondern in konkreten Beziehungskontexten, die White mit der zweiten Bedeutungsebene des Identitätsbegriffs bereits andeutet. Denn innerhalb der zu einer übergeordneten Identität aggregierten sozialen Einheiten herrschen spezifische Logiken, die die Interaktionen und Kontrollversuche der Akteur*innen beeinflussen. White bezeichnet diese Kontexte als Netzwerkdomänen oder Netdoms. Netdoms bilden den Rahmen der Interaktionen, in denen Identitäten ausgehandelt werden. Sie sind alltagsweltlich leicht voneinander unterscheidbar als Plätze, an denen spezifische Sinnformen und Logiken gelten – wie z. B. die Familie, der Freundeskreis, der Sportverein, die Arbeitsstelle oder die Weiterbildungsmaßnahme. Netzwerkdomänen sind „reale soziokulturelle Strukturen mit vorfindlichen Sinngrenzen“ (Schmitt & Fuhse, 2015, S. 109), im Rahmen derer die Akteur*innen durch ein gemeinsames Repertoire an Stories („a common set of stories“, White, 2008, S. 8) miteinander verbunden sind.

Domänen lassen sich analog zu Identitäten auf verschiedenen Ebenen aggregieren. Der Begriff lässt sich auf alle Konstellationen von Akteur*innen anwenden, die in einem gemeinsamen Bedeutungszusammenhang miteinander interagieren. Domänen, in denen stärkere Verbindlichkeiten vorherrschen und die durch eine praktische Aktivität („practical activity – whether the production of a frozen pizza or the dinner party in a country club“ White, 2008, S. 9) prozesshaft miteinander verbunden sind, bezeichnet White auch als Disziplinen:

“Disciplines are concepts about processes rather than about structure in sociocultural life. Depending on which discipline is at work, control struggles take place according to different rules in different frames.” (White, 2008, S. 8, Hervorhebung im Original)

Domänen und Disziplinen stellen einen kulturellen Hintergrund der Interaktion in Netzwerken bereit und strukturieren und begrenzen diese dadurch. Disziplinen geben z. B. vor, wie sich Akteur*innen um einem Prozess herum organisieren (Produktionsordnung), wer Zugang zu einer Arena sozialen Austausches bekommt und wer davon ausgeschlossen wird (Selektionsordnung) oder wer eher als Sprecher einer heterogenen Gruppe von Akteur*innen in Frage kommt und wer nicht (Mediationsordnung, Schmitt & Fuhse, 2015, 72 ff.). Domänen und Disziplinen hierarchisieren die innerhalb ihres Wirkungsbereichs handelnden Akteur*innen:

“Disciplines can be seen as status systems that are made up simultaneously of evaluative judgments and of network patterns created by interaction of those judgments with task flows.” (White, 2008, S. 64)

Mit den Begriffen Story, Domäne und Disziplin kommt die kulturelle Rahmung der Sinnstrukturen sozialer Netzwerke deutlich zum Tragen. Doch laufen alle drei Begriffe immer auf eine Kristallisation und Verfestigung sozialer Strukturen hinaus, die die Handlungs- und Gestaltungsmacht (Agency) der Akteur*innen beschränkt.

Wie es dennoch zu Veränderungen sozialer Strukturen kommen kann, erklärt White mit dem auf der dritten und vierten Ebene von Identität angelegten Begriff des Switchings. Da die Akteur*innen sich durch mehrere Domänen bewegen, kommt es immer wieder zu Kontextwechseln, die Unsicherheiten hervorrufen und Veränderungen von Stories herbeiführen. So können neue Sozialformen entstehen, wenn Domänen miteinander vermischt oder aufgespalten werden. Switchings sind allgegenwärtig und passieren ständig, z. B., wenn sich zwei Personen unterhalten und eine dritte hinzutritt, wenn die Pausenglocke läutet oder beim Blick auf das Smartphone:

“In their search for control, identities switch from netdom to netdom, and each switching is at once a decoupling from somewhere and an embedding into somewhere.” (White, 2008, S. 2)

Durch die ständige Entbettung und Wiedereinbettung nehmen sich Personen nicht nur als Identitäten in einer spezifischen Domäne wahr, sondern über verschiedene Domänen hinweg. Akteur*innen gewinnen individuelle Handlungsspielräume durch das Switching. Sie können verschiedene Domänen miteinander verbinden (und sich z. B. von einem Freund in dessen Firma als zuverlässige Arbeitskraft empfehlen lassen), bestimmte Domänen meiden (z. B. als trockene Alkoholikerin nicht mehr an der Kneipe vorbeigehen) oder verstärkt frequentieren (z. B. häufiger bei der Bäckerei vorbeischauen, die hin und wieder nach einer Aushilfe sucht). Außerdem besteht die Möglichkeit, bei der Selbstwahrnehmung und Außendarstellung der eigenen Identität die Gewichtung der Relevanz domänenspezifischer Einzel-Identitäten zu variieren (auf der vierten Bedeutungsebene des Identitätsbegriffs).

Die komplexe Identitätsbeschreibung der fünften Ebene, in der alle vorangegangenen Bedeutungen miteinander verschmelzen, lässt sich anhand des Begriffs des Stils beschreiben. Personen mit einem ähnlichen Stil erkennen sich gegenseitig als ähnlich oder zusammengehörig, da ihre Eigenschaften auf den unterschiedlichsten Dimensionen miteinander korrespondieren. Um diese Ähnlichkeit zu erkennen, reicht eine flüchtige Begegnung, denn:

“As in music, a conversation can have a specific rhythm, a specific sensibility that is the signature of its style; similarly, the issue is whether a field of recurring discourse sustains and reproduces a distinctive rhythm of social interaction.” (White, 2008, S. 114)

Der Stilbegriff bewegt sich inhaltlich in großer Nähe zum Habitus-Konzept von Bourdieu – auf den sich White erstaunlicherweise kaum bezieht. Die sowohl im Habitus als auch im Stil zutage tretenden feinen Unterschiede werden aus beiden Perspektiven als das beobachtbare Ergebnis von Distinktionspraxen der Akteur*innen beschrieben. Anders als Bourdieu erklärt White die Bedeutung der feinen Unterschiede jedoch nicht mit der makrostrukturellen Positionierung im sozialen Feld, sondern ausgehend von den auf der Mesoebene sozialer Beziehungen ablaufenden Mechanismen.

Damit sind die netzwerktheoretischen und ungleichheitssoziologischen Grundlagen dieser Arbeit umrissen. Im dritten Abschnitt des Theorieteils werden die Essenzen der beiden Perspektiven noch einmal zusammengefasst und miteinander in Beziehung gesetzt, um daraus einen armuts- und ungleichheitssensiblen theoretischen Standpunkt zu formulieren.

2.3 Fazit: »Soziale« Armut

2.3.1 Zusammenfassung

Die soziologische Beschäftigung mit dem Armutsbegriff zeigt, dass Armut nicht als Eigenschaft isolierter Akteur*innen betrachtet werden sollte (Abschnitt 2.1). Die Sichtbarkeit von Armut infolge von Prekarität und Langzeiterwerbslosigkeit diszipliniert die weniger gut abgesicherten Teile der Erwerbsbevölkerung dazu, sich der herrschenden Produktionsordnung zu unterwerfen und Arbeitsverhältnisse zu akzeptieren, die unterhalb der eigenen Ansprüche liegen (Marx). Die Konstruktion einer Gruppe der Armen im Wohlfahrtsstaat dient häufig dazu, deren Abhängigkeit von Unterstützung im Sinne der in der Regel gut abgesicherten Hilfeleistenden auszunutzen, indem die Hilfe an Bedingungen gebunden wird (Simmel). Stärker nach verschiedenen Dimensionen der Armut differenzierende Perspektiven weisen darauf hin, dass die soziale Lage nicht nur materiell erfasst werden könne, sondern auch die sich in der sozialen Schätzung und der Art der Lebensführung offenbarende Zugehörigkeit zu Ständen oder sozialen Klassen berücksichtigt werden müsse (Weber). Wo »die Armen« in einer zunehmend nicht mehr nur vertikal, sondern auch horizontal ausdifferenzierten Gesellschaft zu finden sind, ließ sich unter dem Eindruck der allgemeinen Wohlfahrtssteigerung nach dem Zweiten Weltkrieg immer schwerer bestimmen. Die Sozialstrukturanalyse beschäftigte sich mehr und mehr mit horizontalen Ungleichheiten und der Herausbildung heterogener sozialer Lagen, in denen die Dimensionen sozialer Ungleichheit auf unterschiedliche Weise zusammenwirken (Hradil). Die dynamische Armutsforschung ging zudem von einer Verzeitlichung der Armut im Lebenslauf aus, wodurch die Plausibilität einer als »arm« zu charakterisierenden Klassenlage weiter infrage gestellt wurde (Buhr/Leisering).

Die Arbeiten von Sen und Paugam helfen dabei, neue Orientierung in diesen zunehmend unübersichtlicher werdenden Diskursen zu finden. Sen kritisiert die Dominanz relativer Konzepte wie die Verteilung von Einkommen und anderen Ressourcen in der Unlgeichheitsforschung und schlägt vor, stattdessen die ungleiche Verteilung von Fähigkeiten (capabilities) in den Blick zu nehmen, die über verschiedene gesellschaftliche Kontexte hinweg als absolute Größe aufgefasst werden können. „Ein Leben ohne Scham zu führen“ (Sen, 2000a, S. 39) oder „Freunde zu besuchen und zu bewirten“ (ebd.) sind solche Fähigkeiten, die in Indien genauso relevant sind wie in Deutschland, auch wenn die Kontexte der Verwirklichung dieser Ziele stark variieren. Paugam systematisiert unterschiedliche Bedeutungen und Auswirkungen von Armut nach den gesellschaftlichen Kontexten, in denen sie vorkommt. In reichen Wachstumsgesellschaften wie der alten BRD spricht er vom Typ der marginalen Armut. Hier wird Armut als residuales Phänomen betrachtet, das die Gesellschaft als Ganzes nicht betrifft. Die Armen sind auf sich selbst verwiesen und werden häufig stigmatisiert und ausgegrenzt. In postsozialistischen Regionen wie den neuen Bundesländern kam es infolge ökonomischer Krisen zur Herausbildung der disqualifizierenden Armut, die sich in der Häufung dauerhafter Statusverluste ausdrückt, die von den Betroffenen als entwürdigend empfunden werden (Paugam). Sie leben in prekären Verhältnissen und empfinden sich nicht selten als exkludiert von der Teilhabe an der Gesellschaft oder werden so beschrieben (Bude, Kronauer). Im Kontrast zu diesen beiden Typen der Armut steht die integrierte Armut, die in den Regionen vorkommt, in denen schon immer ein niedriges Wohlstandsniveau herrschte (Paugam). Hier stellt die Armut nicht die soziale Zugehörigkeit infrage. Stattdessen kommt es zur Herausbildung informeller Strukturen, durch die sich die Betroffenen gegenseitig stützen.

All diese theoretischen Beschreibungen sehen die Armut als Bestandteil oder Erscheinungsform konkreter sozialer, räumlicher und zeitlicher Kontexte und Konstellationen (Produktionsordnungen, Wohlfahrtsstaaten, Konjunkturen und Brüche, Kulturen, …). Diese Kontextabhängigkeit besteht sowohl auf der Makroebene – etwa beim Vergleich der Erscheinungsformen von Armut in verschiedenen Ländern und Regionen der Europäischen Union – als auch auf der Mesoebene sozialer Beziehungen – z. B. dann, wenn man die Bedeutungen und Auswirkungen einer unterdurchschnittlichen Ressourcenausstattung in verschiedenen sozialen Lagen analysiert. Die Betrachtung sozialer Beziehungsnetzwerke ermöglicht es, die subjektive Wahrnehmung von Armut mit der strukturellen Einbindung der Akteur*innen in Beziehung zu setzen. In dieser Arbeit wird daher vorgeschlagen, die Armut direkt auf der Ebene der relationalen Einbindung von Akteur*innen zu bestimmen. Daher wurde im Abschnitt 2.2 in die theoretische Perspektive der soziologischen Netzwerkforschung eingeführt.

Den Ausgangspunkt der theoretischen Auseinandersetzung mit sozialen Beziehungen bildete die Frage danach, wie sich Ungleichheiten auf der Mesoebene sozialer Netzwerke konstituieren und wie sich die Einbettung der Akteur*innen in diese Strukturen auf ihre Bewältigungschancen und ihre Selbstwahrnehmung auswirkt. Der Begriff des sozialen Kapitals nach Bourdieu verweist darauf, dass soziale Beziehungen eine wichtige Handlungsressource darstellen, die sich von ökonomischen und kulturellen Ressourcen abgrenzen lassen. Darüber hinaus zeigt die Sozialkapitaltheorie auf, dass soziale Beziehungen nicht zufällig verteilt sind und ihre Verfügbarkeit von der Positionierung innerhalb der Macht- und Verteilungsstruktur in der Gesellschaft abhängt. Allerdings bezieht sich das Sozialkapital-Konzept vorwiegend auf kategoriale Zusammenhänge zwischen sozialen Gruppen und deren Eigenschaften (z. B. kulturelle Vorlieben unterschiedlicher Berufsgruppen). Die Mechanismen, die auf der Beziehungsebene zur Herausbildung dieser Gruppen führen, werden so nur indirekt erfasst, ebenso wenig wird auf diese Weise die innere Kohärenz dieser Gruppen in ihren alltäglichen Praxen überprüft.

Diese Lücke schließt die soziologische Netzwerkforschung. Sie rückt die Relationen zwischen den Akteur*innen in den Fokus ihrer Betrachtung und bildet Ungleichheiten ab, indem sie eher vorteilhafte (Broker und Gatekeeper) und eher nachteilige Positionen (isolierte Knoten oder Akteur*innen mit indirektem oder fehlendem Zugang zu sozialen Kreisen jenseits der eigenen Clique) in Netzwerken identifiziert (Burt, Granovetter). In der Auseinandersetzung mit den Arbeiten Emirbayers und Whites wurde diese rein strukturalistische Netzwerktheorie durch eine kultursensible und handlungstheoretische Perspektive ergänzt. Demnach ist die Strukturierung sozialer Netzwerke überformt durch kulturelle Einflüsse, die die Möglichkeiten der Entstehung und Pflege sozialer Beziehungen regulieren. Mit den White’schen Begriffen kann gezeigt werden, auf welche Weise soziales Handeln angewiesen ist auf die Einbettung in soziale Beziehungen. Ausgehend von ihrer sozialen Position und der damit verbundenen kulturellen Rahmung versuchen Akteur*innen demnach Kontrolle über ihre Identitäten auszuüben, indem sie sich auf bestimmte Weise innerhalb und zwischen den ihnen zur Verfügung stehenden Netzwerkdomänen hin und her bewegen (bzw. »switchen«). Damit stellt White eine Perspektive zur Verfügung, die es ermöglicht, Ungleichheiten im Kontext individueller (und typischer) Positionen im sozialen Netzwerk (z. B. als Einbindung in Domänen) abzubilden und die damit einhergehenden Zwänge und Möglichkeiten auf der Handlungsebene zu thematisieren.

2.3.2 Was ist »soziale« Armut?

Der in dieser Arbeit zur Anwendung gebrachte Begriff »soziale« Armut findet seinen Ausgangspunkt beim Konzept der „aus der Logik der Situation“ (Hradil, 1987, S. 151) heraus zu analysierenden sozialen Lagen nach Hradil (siehe Abschnitt 2.1). Die Logik der Situation wird hier jedoch nicht auf Basis von Attributen einzelner Akteur*innen beschrieben, sondern aus der Netzwerkperspektive heraus rekonstruiert. Sie ist das Ergebnis einer zeitlichen Abfolge von Ein- und Entbettungen in und aus Netzwerkdomänen und kann auch als Set von Identitäten verstanden werden, die einer Person innerhalb der Domänen ihres Netzwerks zu einem bestimmten Zeitpunkt zur Verfügung stehen, z. B. als Mutter (Kernfamilie), pflegende Tochter (Herkunftsfamilie), Kollegin (Erwerbsarbeitsstelle), engagierte Nachbarin (Dorfverein) usw. Es wird davon ausgegangen, dass die spezifische Einbettung in Domänen mit vor- oder nachteiligen Handlungsbedingungen verknüpft ist, die sich als Dimensionen sozialer Ungleichheiten beschreiben lassen (insb.: Kapitalausstattung, Gelegenheitsstrukturen, soziale Anerkennung).

Die daraus resultierenden Bewältigungschancen werden unter Rückgriff auf das Agency-Konzept nach Emirbayer und Goodwin (1994 – siehe Abschnitt 2.2) betrachtet. Demnach liegt Handlungsfähigkeit vor, wenn Akteur*innen in der Lage sind, ausgehend von der zu einem bestimmten Zeitpunkt gegebenen sozio-strukturellen Einbettung, ein Leben im Einklang mit ihren persönlichen und kollektiven Idealen, Interessen und Verbindlichkeiten („personal and collective ideals, interests, and commitments“ Emirbayer & Goodwin, 1994, S. 1443) zu führenFootnote 19.

Agency wird in dieser Arbeit operationalisiert als die Fähigkeit zur Beeinflussung (Kontrolle nach White 2008) der eigenen Identität durch die Möglichkeiten des Switchings (ebd.) zwischen Netzwerkdomänen. »Soziale« Armut geht mit der Hemmung oder dem Verlust dieser Fähigkeit einher. Von »sozialer« Armut bedroht sind Akteur*innen dann, wenn sie infolge materieller Unsicherheiten in Abhängigkeitsverhältnisse geraten, die ihre Identität in zentralen Netzwerkdomänen gefährden oder Zugänge in Anerkennung generierende Domänen versperren. Von »sozialer« Armut betroffen sind sie sie dann, wenn sie in dieser Situation nicht in der Lage sind, diese Beschränkung durch ein Zurückgreifen auf alternative Identitäten aus anderen Domänen ihres Netzwerks zu kompensieren (Switching).

Dieses Armutsverständnis verschränkt die subjektive und die relationale Perspektive miteinander. Die Fokussierung auf die Einbindung handelnder Akteur*innen in Netzwerkdomänen führt dazu, dass deren subjektive Wahrnehmungen und Bewältigungsstrategien immer im Zusammenhang mit ihrer (meso-)strukturellen Positionierung betrachtet werden. Trotzdem sind eigenwillige – vielleicht sogar individuelle – Bewältigungsweisen denkbar, da die Agency als die Fähigkeit der Akteur*innen begriffen wird, über verschiedene Domänen hinweg Identitäten zu etablieren, die ihren Träger*innen Respektabilität, Anerkennung und Teilhabe verleihen.

Wenn eine Person ihr Handeln auf eine in der Zukunft liegende Herausforderung ausrichtet (z. B. einen Bildungsabschluss zu erreichen, einen Entzug zu machen oder eine Familie zu gründen), verschmilzt die subjektive Wahrnehmung der Agency mit diesem Ziel – die Person bewertet ihre Handlungsfähigkeit dann in Abhängigkeit von ihren Chancen im Hinblick auf die Bewältigung dieser Herausforderung. Handlungsfähigkeit kann aber auch ohne Bezug auf die Erreichung eines konkreten Ziels hergestellt werden, etwa dann, wenn Akteur*innen in der Lage sind, sich in ihrer zum Zeitpunkt t gegebenen soziostrukturellen Einbettung ihren Ansprüchen gerecht einzurichten (z. B. durch die Generierung von Einkommen, Anerkennung, Zugehörigkeit und Teilhabe, Alltagsstruktur, Lebenssinn usw.).

2.3.3 Warum Armut aus der Netzwerkperspektive betrachten?

Da die soziale Strukturierung auf mehreren Dimensionen gleichzeitig stattfindet und die Bedeutung der verschiedenen Dimensionen für die subjektive Wahrnehmung und »objektive« Bestimmung sozialer Teilhabe je nach individueller Positionierung oder gesellschaftlichem Kontext schwankt (vgl. soziale Lage nach Hradil → 2.1.2), ist die rein kategoriale Messung von Armut und Teilhabe sehr fehleranfällig. Insbesondere alternative Formen sozialer Einbindung in Netzwerkdomänen jenseits institutionalisierter und bereits als »teilhaberelevant« anerkannter Strukturmerkmale lassen sich so nicht erfassen. Daher braucht es ein Instrumentarium, mit dem sich die soziale Einbettung von Akteur*innen in diese Strukturen unmittelbar und offen abfragen lässt.

Mithilfe einer qualitativen bzw. geringfügig standardisierten Netzwerkperspektive lässt sich offen nach allen möglichen Arten von Beziehungen und deren Relevanz fragen. „Offen“ bedeutet, nicht danach zu fragen: „Sind Sie Mitglied in einem Verein?“, sondern: „Mit welchen Personen, Institutionen, Gruppen etc. haben Sie im Alltag Kontakt?“ Erfasst man dazu noch die Beziehungen zwischen diesen Akteur*innen und die subjektive Bedeutung der Domänen, denen diese angehören, aus Sicht der Befragten, lässt sich die mesostrukturelle Einbindung und deren Einfluss auf die Identitäten der befragten Personen als arm oder nicht-arm rekonstruieren.

Indem die mesostrukturelle Einbindung von Menschen in relativer Einkommensarmut in familiäre, informelle, institutionelle und (semi-)professionelle Beziehungen ins Zentrum der Betrachtung gerückt wird, können

  • erstens sozialstrukturelle Positionen besser abgebildet werden: So kann auf Basis einer systematischen Erhebung sozialer Beziehungen herausgearbeitet werden, ob materielle Armut mit sozialer Verarmung einhergeht, die sich im Verschwinden von Beziehungen zu nicht-Armen äußert. Auf diese Weise können Begriffe wie Exklusion und soziale Ausgrenzung auf ihre Substanz hin überprüft werden.

  • Zweitens können subjektive Bewertungen der eigenen Lage aus der Netzwerkperspektive tatsächlich relational interpretiert werden. Hier geht es darum, herauszufinden, welche subjektiven Erfahrungen sozialer Ungleichheit dazu führen, dass sich Menschen als außerstande empfinden, ihre Situation aus eigener Kraft zu verändern. Genauso gilt es, von der anderen Seite her zu fragen: Welche Formen sozialer Einbindung wirken der subjektiven Wahrnehmung, von der gesellschaftlichen Entwicklung ausgeschlossen zu sein, entgegen?

  • Drittens bietet die Netzwerkperspektive die Möglichkeit, subjektives Handeln eingebettet in soziale Kontexte der Handlungsermöglichung und -begrenzung zu betrachten. Die Netzwerkforschung betrachtet nicht nur individuelle Handlungen in Bezug auf das Netzwerk, sondern auch Wirkungen des Netzwerks auf diese Handlungen. Handlungs- und Bewältigungschancen sind demnach abhängig von der sozialstrukturellen Position, aus der heraus diese Handlung erfolgt.

Basierend auf diesen Überlegungen werden im Folgenden Erkenntnisse zur Wahrnehmung und Bewältigung von Armut in sozialen Beziehungsnetzwerken aus der empirischen Literatur zusammengetragen, um darauf aufbauend die Fragestellung und das Design der hier durchgeführten Studie vorzustellen und zu begründen.