Die Standardsetzung der International Financial Reporting Standards (IFRS) ist durch einen stetigen Wandel gekennzeichnet,Footnote 1 der sich unlängst in der Veröffentlichung neuer Rechnungslegungsregeln, etwa zur Bilanzierung von Umsatzerlösen in IFRS 15 Erlöse aus Verträgen mit Kunden in 2014, zur Leasingbilanzierung in IFRS 16 Leasingverhältnisse in 2016 und zur bilanziellen Erfassung von Versicherungsprodukten in IFRS 17 Versicherungsverträge in 2017, sowie in verschiedenen aktuellen Standardsetzungsaktivitäten, wie bspw. dem Primary-Financial-Statements-ProjektFootnote 2, widerspiegelt. Die IFRS werden vom International Accounting Standards Board (IASB) im Rahmen eines öffentlichen Standardsetzungsverfahrens, dem sog. Due Process, als „single set of high-quality […] standards“ entwickelt.Footnote 3 Die Ermittlung von Rechnungslegungsvorschriften ist demnach originär eine technische Aufgabe, die mit einer Wahl zwischen Bilanzierungsalternativen einhergeht.Footnote 4 Die Standardsetzung stellt zugleich eine Regulierung der Rechnungslegung dar; sie hat als solche ökonomische Konsequenzen und ist insofern auch politisch motiviert.Footnote 5 Die IFRS sind daher nicht nur technische Standards, sondern vielmehr das Ergebnis eines politischen Prozesses, der verschiedenen Interessen unterliegt.Footnote 6

Die Einflussnahme von unterschiedlichen Interessengruppen auf den Standardsetzungsprozess erlangt vor dem Hintergrund der privatrechtlichen Organisation des IASB besondere Bedeutung.Footnote 7 Während für Interessengruppen ein hoher Anreiz zur Teilnahme am Due Process besteht, um die Ausgestaltung der Rechnungslegungsvorschriften zugunsten eigener Vorteile zu beeinflussen,Footnote 8 ist das IASB für die Sicherstellung seiner Standardsetzungskompetenz auf die Akzeptanz der Standards angewiesen, was zwar den Einbezug der Interessengruppen erfordert, gleichzeitig jedoch eine Abwägung der Interessen aller von der Standardsetzung Betroffenen, mithin auch nicht am Standardsetzungsprozess Beteiligter, verlangt.Footnote 9 Hinzu kommt, dass nicht nur externe Interessengruppen Einfluss auf die Standardsetzung ausüben, sondern auch etwa einzelne Board-Mitglieder aufgrund ihrer Herkunft sowie anderer Charakteristika sowie der Technical Staff im Zuge der Vorbereitung der Diskussionsgrundlage für die Standardsetzungstreffen die Ausgestaltung der Regelungsvorschriften beeinflussen können.Footnote 10 Die Entwicklung von Rechnungslegungsstandards wird demnach von der Einflussnahme verschiedener am Standardsetzungsprozess beteiligter Akteure und von der Reaktion bzw. dem Umgang des Standardsetzers mit diesen Einflüssen geprägt.Footnote 11 Die Standardsetzung stellt insofern einen „interactive process of meaning making“ dar.Footnote 12

Das Lobbying verschiedener externer Interessengruppen ebenso wie der Einfluss der Standardsetzungsbefugten auf interner Ebene zeigte sich besonders im Standardsetzungsprozess von IFRS 15. Die Entwicklung von IFRS 15 stellte ein gemeinsames Standardsetzungsprojekt zwischen dem IASB und dem Financial Accounting Standards Board (FASB), ein sog. Konvergenzprojekt, dar.Footnote 13 Das Ziel war es, den Regelungsumfang der US-Generally Accepted Accounting Principles (US-GAAP) zu reduzieren und die bilanztheoretischen Inkonsistenzen zwischen den alten International Accounting Standards (IAS) IAS 18 Erlöserfassung und IAS 11 Fertigungsaufträge zu beseitigen sowie die faktische Regelungslücke in Bezug auf die Bilanzierung von Mehrkomponentengeschäften zu schließen.Footnote 14 Die gemeinsame Entwicklung von IFRS 15 war dabei von zahlreichen Kontroversen sowohl zwischen dem IASB und FASB als auch zwischen den Standardsetzern und der Bilanzierungspraxis geprägt. So bestanden etwa zwischen den Board-Mitgliedern bereits am Anfang des Standardsetzungsprojekts unterschiedliche Ansichten über die Ausrichtung des Umsatzerfassungsmodells im Hinblick auf die Bewertung vertraglicher Ansprüche und Verpflichtungen zum beizulegenden Zeitwert, dem sog. Fair-Value-AnsatzFootnote 15. Der Fair-Value-Ansatz wurde vom IASB und FASB intensiv diskutiert, aber letztlich zugunsten eines transaktionspreisbasierten Ansatzes abgelehnt,Footnote 16 was nicht zuletzt auch auf die unterschiedliche Vorgeschichte und die Erfahrungen der Board-Mitglieder zurückgeführt werden kann.Footnote 17 Weitere Konflikte äußerten sich auch in Bezug auf die Anknüpfung der Umsatzerfassung an die Änderung der Vermögenslage, dem sog. Asset-Liability-Ansatz.Footnote 18 So wurde die Umsatzerfassung im Sinne der vertragsbasierten Ausgestaltung des Standards an das Kriterium des Kontrollübergangs gebunden; die Konkretisierung des kontinuierlichen Kontrollübergangs erfolgte – unter selbst zwischen den Board-Mitgliedern abweichenden Ansichten –Footnote 19 indes vor dem Hintergrund zahlreicher Kritik aus der Bilanzierungspraxis durch ein aus bilanztheoretischer Sicht den Kontrollübergang fingierendes Hilfskriterium.Footnote 20

Auch bei den Regelungen zur Bilanzierung von Mehrkomponentengeschäften waren aufgrund der einerseits in den IFRS faktisch bestehenden Regelungslücke und der andererseits hohen Praxisrelevanz der Regelungsvorschriften Auseinandersetzungen zwischen verschiedenen Interessengruppen erwartbar. Mehrkomponentengeschäfte kennzeichnen sich durch Transaktionen, die ein Konglomerat aus einer Haupt- und mehreren Nebenleistungen umfassen, wie etwa ein Lieferungs- und Leistungsbündel bestehend aus dem Verkauf einer Software, der Implementierung dieser und etwaiger Wartungsleistungen.Footnote 21 Für die Bilanzierung von Mehrkomponentengeschäften wurde von IFRS-Anwendern häufig auf die Regelungen anderer Standardsetzer, insbesondere die US-GAAP, zurückgegriffen.Footnote 22 So erfolgte etwa bei vielen Unternehmen der Telekommunikationsbranche die Umsatzerfassung aus dem Verkauf vergünstigter Mobilfunktelefone in Zusammenhang mit anderen Dienstleistungen unter Anwendung der in den US-GAAP verankerten Contingent-Revenue-Cap-Methode in Höhe des Betrags, der rechtlich in jedem Fall durchsetzbar, mithin nicht bedingt ist.Footnote 23 Vor dem Hintergrund der etablierten Bilanzierungspraxis sowie der Bedeutung der Regelungen angesichts des Umfangs der betroffenen Transaktionen ist die Entwicklung der zur Bilanzierung von Mehrkomponentengeschäften relevanten Regelungen des IFRS 15 besonders geeignet, um den Einfluss von Interessengruppen, insbesondere Unternehmen, zu analysieren.

Die Relevanz des Due Process wird in diesen Zusammenhang überaus deutlich, da er die prozedurale Basis für die Auseinandersetzung zwischen den am Standardsetzungsprozess Beteiligten sicherstellt.Footnote 24 Die Inhalte sowie Ausgestaltungsmöglichkeiten der Regelungsvorschriften sind insofern nicht objektiv gegeben, sondern werden diskursiv konzeptualisiert und konstruiert;Footnote 25 Positionen bilden sich demnach „in diskursiven Kontexten […], die sie zugleich ermöglichen und einschränken.“Footnote 26 Die IFRS-Standardsetzung wird daher als diskursiver Prozess betrachtet, der als solcher eine „black box“ sozialer Interaktion darstellt.Footnote 27 Dies begründet einen interdisziplinären Ansatz, der die Einbindung etwa von in der Politikwissenschaft etablierten Ansätzen, wie bspw. der politikwissenschaftlichen Diskursforschung, rechtfertigt.Footnote 28 So zielt ein konstruktivistischer Ansatz auf „das kognitive Konstruieren der Welt, d. h. auf menschliche Individuen, […] die als bewusst wahrnehmende Wesen die Wirklichkeit konstruieren, ohne sie – wie etwa in empiristischer […] Tradition – ‘objektiv’ zu entdecken“, und stellt insofern einen erkenntnistheoretischen Ansatz dar.Footnote 29

Dem erkenntnistheoretisch-konstruktivistischen Forschungsansatz folgend bezweckt die Dissertation einen verstehend-erklärenden Beitrag in der Forschung zum Entstehungsprozess von Rechnungslegungsvorschriften zu leisten. Anhand einzelner zur Bilanzierung von Mehrkomponentengeschäften ausgewählten Regelungen des IFRS 15 wird das Zustandekommen von Regelungsvorschriften im Rahmen des durchgeführten Standardsetzungsprozesses nachvollzogen. Das Ziel ist folglich nicht die Ausarbeitung einer zweckgerechten Gestaltung des Due Process, sondern ein besseres Verständnis über den bestehenden Normermittlungsprozess und das daraus resultierende Standardsetzungsergebnis zu erlangen. Die Standardsetzung wird dabei als interaktiver Prozess der Sinnbildung verstanden, an dem unterschiedliche Akteure beteiligt sind. Vor diesem Hintergrund ergibt sich folgende zentrale Forschungsfrage:

Wie werden Rechnungslegungsvorschriften im Due Process konstituiert?

Der Fokus wird dabei auf den Einfluss von Unternehmen gelegt, konkret auf die Frage, wie die Entwicklung von Regelungsvorschriften durch die Unternehmen als am Standardsetzungsprozess Beteiligte beeinflusst wird. Rechnungslegungsstandards sind für Unternehmen von besonderer Bedeutung, weil sie die Vermögens- und Ertragsermittlung bestimmen, mithin Auswirkungen auf den Kapitalmarkt haben.Footnote 30 Als Anwender der Rechnungslegungsvorschriften sind sie zudem unmittelbar von der Entwicklung neuer sowie der Überarbeitung bestehender Standards betroffen, was einen hohen Anreiz zur Teilnahme am Standardsetzungsprozess darstellt.Footnote 31 Da es sich bei der Entwicklung von IFRS 15 – im Vergleich zu anderen bilanzierungsspezifischen Standardsetzungsprojekten, wie bspw. IFRS 2 Anteilsbasierte VergütungFootnote 32 um Regelungsvorschriften zur Umsatzrealisierung handelt, die Unternehmen unabhängig von den Unternehmenscharakteristika oder dem Geschäftsmodell betreffen, konnte von einer hohen Beteiligung von Unternehmen am Standardsetzungsprozess ausgegangen werden.

Die Analyse der Standardsetzung als diskursiver Prozess erfolgt im Gegensatz zu anderen Literaturbeiträgen zum Lobbying, in denen z. B. die Charakteristika der am Standardsetzungsprozess Beteiligten in Form von Beteiligungsanalysen untersucht werden,Footnote 33 durch ein qualitativ-inhaltsanalytisches Vorgehen.Footnote 34 Hierfür werden die abgegebenen Unternehmensstellungnahmen sowie die Standardentwürfe zu IFRS 15 auf ihren Inhalt sowie die eingesetzte Rhetorik der Unternehmen und Standardsetzer analysiert. Besonders die von Unternehmen eingesetzte Rhetorik stellt dabei einen in der Analyse von Rechnungslegungsstandardsetzungsprozessen bislang wenig beachteten Aspekt dar.Footnote 35 Die Analyse unterliegt vor dem Hintergrund der gewählten Methodik sowie dem Fokus auf Unternehmensstellungnahmen indes einzelnen Einschränkungen; anstelle statistisch verallgemeinerbarer Resultate handelt es sich vielmehr um indizielle Ergebnisse, die einen erkenntnistheoretischen Mehrwert leisten.

Für die Beantwortung der Forschungsfrage wird im ersten Teil der Dissertation der Standardsetzungsprozess als rekursiver Prozess theoretisch untersucht. Als Erklärungsansätze für die Entwicklung von Rechnungslegungsvorschriften werden zunächst die deduktive und induktive Normermittlungstheorie herangezogen und in Zusammenhang mit der Rolle des Rahmenkonzepts sowie der dort festgelegten Zwecksetzung und qualitativen Anforderungen gesetzt. Anschließend wird der Due Process unter Zuhilfenahme der hermeneutischen Methode als diskursiver Normermittlungsprozess betrachtet, um das rekursive Verhältnis zwischen Standardsetzung und Standardanwendung zu untersuchen. In diesem Zusammenhang werden auch die formalen Verfahrensanforderungen des Due Process erläutert und die Partizipationsmöglichkeiten für Interessengruppen ebenso wie die Rechtfertigungsmöglichkeiten des IASB aufgezeigt.

Aufbauend auf dieser theoretischen Auseinandersetzung werden im zweiten Teil der Dissertation mithilfe einer qualitativen Inhaltsanalyse die vom IASB in den einzelnen Standardentwürfen und die von den Unternehmen in den abgegebenen Stellungnahmen adressierten Bilanzierungsalternativen sowie die eingesetzte Rhetorik anhand ausgewählter Regelungen des IFRS 15 untersucht. Im Sinne der argumentativen Diskursanalyse erfolgt auf dieser Basis die Identifizierung sog. story-lines, um sich den diskursiven Strukturen des Standardsetzungsprozesses zu nähern. Unter Einbezug der Ergebnisse der theoretischen Betrachtung werden die Analyseresultate vor dem Hintergrund der Forschungsfrage, wie Rechnungslegungsvorschriften entstehen und ihre Bedeutung erlangen, und den Implikationen für die diskursive Auseinandersetzung zwischen dem IASB und den Unternehmen diskutiert. Hierdurch können Einblicke in den wechselseitigen Einfluss des IASB und der Unternehmen auf die Regelungsgestaltung sowie einerseits die Rolle des Rahmenkonzepts bzw. übergeordneter Rechnungslegungsprinzipien und andererseits der Beachtung von Praktikabilitätserwägungen im Standardsetzungsprozess gewonnen werden. Die Dissertation schließt mit einer Zusammenfassung der wesentlichen Ergebnisse in Thesenform.