Zusammenfassung
Inzwischen kann man von einer etablierten rekonstruktiven Bildungs- und Sozialisationsforschung sprechen. Rekonstruktiv vorgehende Untersuchungen zu Abschnitten der primären Sozialisation und Bildungsprozessen im Rahmen der frühen Kindheit bleiben jedoch spärlich. Diese aber sind ein notwendiges Fundament, um auch die Konzepte späterer Phasen der Sozialisation und Bildung zu schärfen. Im Folgenden gehen wir von dem Argument aus, dass auch eine an verbalen Äußerungen oder ethnographischen Daten orientierte Kindheitsforschung methodisch-methodologische Schwierigkeiten aufwirft, die unseres Erachtens durch den in der Kindheitsforschung selbst problematisierten vagen Begriff von agency und die Aufforderung, Kindern eine Stimme zu geben, mit verdeckt bleiben. Die methodologische Auswertung unserer empirischen Arbeit erbringt demgegenüber eine komplexere konstitutionstheoretische Begrifflichkeit. Anschließend an eine bereits kritische und den Agencybegriff erweiternde Debatte in der Kindheitsforschung selbst bieten wir den Begriff einer prozessual-relationalen agency an, der mit einer rekonstruktiven Kindheitsforschung zusammengeht. Anhand eines konkreten Beispiels soll gezeigt werden, wie sich dieses Konzept aus der Empirie und der empirischen Arbeit ergeben hat.
Access this chapter
Tax calculation will be finalised at checkout
Purchases are for personal use only
Notes
- 1.
Eine hervorzuhebende Ausnahme ist Weißhaupt et al. (2019).
- 2.
Hier kann exemplarisch folgende Äußerung von Neuß genannt werden: „Bildinterpretationen, die ohne die Beachtung der Kontextualität oder der Aussagen des Kindes gemacht werden, sagen zumeist mehr über den Betrachter aus als über den Beforschten“ (Neuß, 1999: 52). An anderer Stelle sprach er von der „maßlosen Überschätzung der Zeichnungen und ihrer Interpretierbarkeit“ (Neuß, 1999, S. 39) Der ganze tendenziell skeptische Diskurs ist auch in einer jüngeren Publikation „Methoden der qualitativen Kindheitsforschung“ von Mey und Schwentesius (2019: 25) referiert.
- 3.
Wir danken dem Schweizerischen Nationalfonds. Projekt SNF 100019_179168.
- 4.
Scheid (2012), Ritter und Zizek (2014), Scheid und Ritter (2015), Scheid und Zizek (2017); Münte et al. (2022), Piberger et al. (2021), Zizek und Andermann (2022), Kekeritz und Kubandt (2022). Das hier angeführte Fallbeispiel, eine Kinderzeichnung der eigenen Familie in Tieren, wurde in einer relativ frühen Phase analysiert. Die Analyse ist aber besonders ausführlich in Ritter und Zizek (2014) dokumentiert Die vorliegende Analyse knüpft an jene an.
- 5.
Ernst (2021: 77) formuliert seine diagrammatischen Untersuchungen erkenntnistheoretisch integrierend und bildungstheoretisch bedeutsam: „Menschen haben die kognitive Fähigkeit ausgebildet, nicht nur den Erfolg der eigenen Praktiken, sondern auch der eigenen Simulationen reflexiv zu kontrollieren – was eine wichtige Fähigkeit in Problemsituationen ist, die nach einem Explizitmachen verlangen.“
- 6.
- 7.
Sofern man agency nicht als ein Konstrukt positioniert: „Da weder die Akteursschaft von Kindern noch deren Vulnerabilität anthropologische und damit vorsoziale Eigenschaften sind, sondern Kinder erst in gesellschaftlichen Zusammenhängen – z. B. durch die UN-Kinderrechtskonvention (...) – zu Akteuren werden oder als vulnerabel gelten, muss agency-Forschung beides im Blick behalten können, d. h. die gängige Dichotomie von Schutz und agency überwinden und ein entsprechendes analytisches Werkzeug hierfür zur Verfügung haben“ (Betz & Eßer, 2016: 311). Dass Akteursschaft an Sozialität gebunden ist, gilt in einem trivialeren Sinn als dem im Zitat benannten, denn die Zeugung von Leben ist an Sozialität gebunden: Wie könnte es zu Leben in vorsozialen Zusammenhängen kommen und ist der Nachwuchs im Tierreich nicht vulnerabel? Durch die Formel wird nahegelegt, man könnte von einer Akteursschaft und Vulnerabilität nicht selbstverständlich ausgehen, sie seien prinzipiell auch hintergehbar und eine Frage der konkreten Institutionen und Begriffe. Dadurch wird aber auch die Relevanz der Begriffe unscharf und unscharf sogar auch, was man schützen möchte, wenn etwa davon die Rede ist, ‚Kindern eine Stimme zu geben‘. Von der Soziologie kann man erwarten, dass sie ihre Grundbegriffe auch für soziale Realität jenseits historisch kontingenter Institutionen zu bilden vermag, also tendenziell auch den Übergang von Natur zu Kultur begrifflich zu fassen sucht. In diesem Zitat sind also starke Dichotomien rekonstruierbar entsprechend derjenigen, dass Natur nicht kontingent und humane Sozialität dagegen sozial konstruiert sei.
Literatur
Andresen, S., Koch, C., & König, J. (2015). Kinder in vulnerablen Konstellationen. In S. Andresen, C. Koch, & J. König (Hrsg.), Vulnerable Kinder. Interdisziplinäre Annäherungen (S. 7–19). Springer VS.
Betz, T., & Eßer, F. (2016). Kinder als Akteure – Forschungsbezogene Implikationen des erfolgreichen Agency-Konzepts. Diskurs Kindheits- und Jugendforschung/Discourse. Journal of Childhood and Adolescence Research, 11 (3), 301–314.
Bollig, S. (2018). Kinder als Akteure des Feldes früher Bildung, Betreuung und Erziehung. Vorschlag zu einer praxistheoretischen Methodologisierung und Dimensionalisierung des agency-Konzepts in frühpädagogischer Forschung. In B. Bloch, P. Cloos, S. Koch, M. Schulz, & W. Smidt (Hrsg.), Kinder und Kindheiten. Frühpädagogische Perspektiven (S. 136–151). Beltz Juventa.
Ernst, C. (2021). Diagramme zwischen Metapher und Explikation: Studien zur Medien-und Filmästhetik der Diagrammatik. Transcript.
Eßer, F. (2014). Agency Revisited. Relationale Perspektiven auf Kindheit und die Handlungsfähigkeit von Kindern. Zeitschrift für Soziologie der Sozialisation und Erziehung, 34(3), 233–246.
Garz, D. (2008). Sozialpsychologische Entwicklungstheorien. Von Mead, Piaget und Kohlberg bis zur Gegenwart. VS Verlag.
Heinzel, F. (2010). Zugänge zur kindlichen Perspektive – Methoden der Kindheitsforschung. In B. Friebertshäuser, A. Langer, & A. Prengel (Hrsg.), Handbuch Qualitative Forschungsmethoden in der Erziehungswissenschaft (S. 702–722). Beltz Juventa.
Helsper, W. (2021). Objektive Hermeneutik. Die bildungssoziologische Bedeutung des strukturtheoretischen Ansatzes. In U. Bauer, U. H. Bittlingmayer, & A. Scherr (Hrsg.), Handbuch Bildungs- und Erziehungssoziologie (S. 453–472). Springer VS.
Kekeritz, M., & Kubandt, M. (2022). Kinderzeichnungen im qualitativen Forschungskontext zwischen Traditionen und Aufbrüchen. In M. Kekeritz & M. Kubandt (Hrsg.), Kinderzeichnungen in der qualitativen Forschung. Herangehensweisen, Potenziale, Grenzen (S. 3–19). Springer VS.
Koller, H. C. (2012). Anders werden. Zur Erforschung transformatorischer Bildungsprozesse. In I. Miethe & H. R. Müller (Hrsg.), Qualitative Bildungsforschung und Bildungstheorie (S. 19–33). Budrich.
König, J. (1994). Briefessay über Helmuth Plessners „Die Einheit der Sinne“. In J. König & H. Plessner (Hrsg.), Briefwechsel 1923–1933. Mit einem Briefessay von Josef König über Helmuth Plessners „Die Einheit der Sinne“ (S. 219–311). Alber.
Mey, G., & Schwentesius, A. (2019). Methoden der qualitativen Kindheitsforschung. In F. Harnack (Hrsg.), Qualitative Forschung mit Kindern. Herausforderungen, Methoden und Konzepte (S. 3–47). Springer VS.
Misch, G. (1950). Der Weg in die Philosophie. Eine philosophische Fibel. Erster Teil. Der Anfang. Francke.
Moran-Ellis, J. (2014). Agency und soziale Kompetenz in früher Kindheit. In R. Braches-Chyrek, C. Röhner, H. Sünker, & M. Hopf (Hrsg.), Handbuch frühe Kindheit (S. 171–184). Barbara Budrich.
Münte, P., Piberger, J., & Scheid, C. (2022). Kinderzeichnungsanalyse als Chance für die Erforschung von Bildungsprozessen. Ein objektiv-hermeneutischer Zugang zu Kinderzeichnungen. In M. Kekeritz, & M. Kubandt (Hrsg.), Kinderzeichnungen in der qualitativen Forschung. Herangehensweisen, Potenziale, Grenzen (S. 129–155). Springer VS.
Nentwig-Gesemann, I., & Mackowiak, K. (2012). Schwerpunkt: Interviews mit Kindern–methodische Herausforderungen und Potenziale. Frühe Bildung, 1(3), 121–124.
Nentwig-Gesemann, I. (2013). Qualitative Methoden der Kindheitsforschung. In M. Stamm, & D. Edelmann (Hrsg.), Handbuch frühkindliche Bildungsforschung (759–770). Springer VS.
Neuß, N. (1999). Symbolische Verarbeitung von Fernseherlebnissen in Kinderzeichnungen: Eine empirische Studie mit Vorschulkindern. KoPäd-Verlag.
Oevermann, U. (2009). ‚Get Closer‘. Bildanalyse mit den Verfahren der objektiven Hermeneutik am Beispiel einer Google Earth-Werbung. In J. Döring (Hrsg.), Geo-Visiotype. Zur Werbegeschichte der Telekommunikation (S. 129–177). Universi.
Piberger, J., Wiest, E. M., & Münte P. (2021). Naturdarstellungen in Kinderzeichnungen. Zur Bildungsbedeutsamkeit pädagogisch vermittelter Naturerfahrungen. Umweltpsychologie, 25(2), 97–119.
Raithelhuber, E. (2016). Extending agency: The merit of relational approaches for childhood studies. In F. Esser, M. S. Baader, T. Betz, & B. Hungerland (Hrsg.), Reconceptualising agency and childhood (S. 89–101). Taylor & Francis.
Ritter, B., & Zizek B. (2014). Aufschlusspotentiale – Zur schöpferisch-ausdruckshaften Aneignung der Primärgruppe und der eigenen Positionalität in Kinderzeichnungen. In S. Eberhard & S. Antje (Hrsg.), Aus Bildern lernen–Beobachtungen und Erkenntnisse zur Bildersprache und -magie (S. 107–164). Münstermann.
Scheid, C. (2012). Eine Erkundung zur Methodologie sozialwissenschaftlicher Analysen von gezeichneten und gemalten Bildern anhand der Analyse zweier Kinderzeichnungen [40 Absätze]. Forum Qualitative Sozialforschung/Forum: Qualitative Social Research, 14(1), Art. 3. http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:0114-fqs13013.
Scheid, C., & Ritter B. (2015). Mikes Lösung – Rekonstruktion eines Bildungsprozesses in einer Kinderzeichnung. ZQF – Zeitschrift für Qualitative Forschung, 15(1–2), 181–206.
Scheid, C., & Zizek B. (2017). Methodische und konstitutionstheoretische Aspekte einer rekonstruktiven Kindheitsforschung. Sozialer Sinn, 18(1), 1–26.
Weißhaupt, M., Hildebrandt, E., & Leonhard, T. (2019). Wenn die Lehrperson ins Spiel kommt. Das kindliche Rollenspiel und dessen Beeinflussung als soziale Praxis des Kindergartens [95 Absätze]. Forum Qualitative Sozialforschung/Forum: Qualitative Social Research, 20(2), Art. 9. https://doi.org/10.17169/fqs-20.2.3055.
Zizek, B. (2018). Tendenzen und Desiderata aktueller Sozialisationsforschung aus der Perspektive einer rekonstruktiven Sozialisationsforschung. In A. Kleeberg-Niepage & S. Rademacher (Hrsg.), Kindheits- und Jugendforschung in der Kritik (S. 355–388). Springer VS.
Zizek, B., & Andermann, H. Z. (2022). Kinder als Künstler_Innen–Wesentliche Aspekte ausdruckshaft-schöpferischer Aneignung der Welt und des Selbst am Beispiel von Kinderzeichnungen. In M. Kekeritz & M. Kubandt (Hrsg.), Kinderzeichnungen in der qualitativen Forschung. Herangehensweisen, Potenziale, Grenzen (S. 157–182). Springer VS.
Author information
Authors and Affiliations
Corresponding author
Editor information
Editors and Affiliations
Rights and permissions
Copyright information
© 2023 Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature
About this chapter
Cite this chapter
Scheid, C., Zizek, B. (2023). Analysen von Kinderzeichnungen als Ausgangspunkt für eine rekonstruktive Kindheitsforschung. In: Scheid, C., Silkenbeumer, M., Zizek, B., Zizek, L. (eds) Sozialisationstheorie und -forschung revisited. Rekonstruktive Sozialisationsforschung. Springer VS, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-658-36002-3_6
Download citation
DOI: https://doi.org/10.1007/978-3-658-36002-3_6
Published:
Publisher Name: Springer VS, Wiesbaden
Print ISBN: 978-3-658-36001-6
Online ISBN: 978-3-658-36002-3
eBook Packages: Education and Social Work (German Language)