Zusammenfassung
Wenn die Moderne als Zeitalter der Einsamkeiten verstanden werden soll, stellt sich die Frage nach den Gemeinschaften, die zu Zeiten vor Beginn der Moderne existiert haben müssten. Wie lassen sich die Erfahrungen von Gemeinschaft in Abgrenzung zu den modernen Einsamkeiten beschreiben? Und was tritt im Zuge der Modernisierung – also beim Übergangsprozess von einer der Moderne vorausgehenden Epoche (Vormoderne) zur Moderne selbst – an die Stelle des Vormodernen?.
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Die bewusste Verwendung des Begriffspaars von Moderne und Vormoderne scheint vielleicht auf den ersten Blick „wenig einfallsreich“ (Winandy 2014a, S. 217), jedoch soll damit von Anfang an der einschneidende Charakter der im Folgenden beschriebenen gesellschaftlichen Veränderungen mit Einsetzen der Moderne hervorgehoben werden. Schon Walter Benjamin gestand ein, „[j]ede Epoche“ käme „sich ausweglos modern vor“ (Benjamin [1940] 1980, S. 678), jedoch sah er in den noch näher zu bestimmenden Veränderungen hin zur säkularisierten Industriegesellschaft etwas „ausweglos Moderne[s]“, was sich für ihn besonders treffend in diesem Gedanken von Julius Meyer ausdrückt: „Nichts offenbar scheidet die neue Zeit so scharf von den früheren, als diese Einkehr des Menschen in sich selbst und in die Wirklichkeit bis sich gleichzeitig auf allen Gebieten des Lebens und im allgemeinen Bewußtsein vollzieht. Vielleicht, daß unsere Nachkommen in der gesammten Geschichte seit Christus von der französischen Revolution und von der Wende des achtzehnten und neunzehnten Jahrhunderts den zweiten Hauptabschnitt datiren werden, während sie in den ersten die Entwickelung der ganzen christlichen Welt sammt der Reformation zusammenfassen.“ (Meyer 1867, S. 22).
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Es ist somit nicht verwunderlich, dass Freuds Theorie von den tiefenseelisch begründeten Psychopathologien vor allem die Störungen in diesem sensiblen Geflecht dichtester Bindungen zwischen Kind, Mutter und Vater in den Mittelpunkt stellt (vgl. „Psychologie der Einsamkeit“). „Das Unbehagen in der Kultur“ (1930) liegt dann nicht einfach nur in der stillschweigend und doch widerwillig hingenommenen Notwendigkeit einer ‚Übertönung‘ angeborener Triebe des „Es“ unter komplexen gesellschaftlichen Bedingungen, die von jedem Mitglied Mäßigung und Selbstdisziplinierung erfordern und moralisch-normativ reguliert werden müssen, sondern auch darin, dass sich dieser kulturell notwendige Triebverzicht dann auch potentiell gegen die – natürlicherweise sexuell begründete – Urgemeinschaft und die daraus erwachsenden engsten Familiengemeinschaften richtet, welche unter Bedingungen fortschreitender Kulturalisierung implizit zunehmend in Frage gestellt werden, was dann erst der Einsamkeit der Moderne den Weg bahnt.
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Zu den Ursprüngen der nicht unumstrittenen Großeltern-Hypothese, die in der im Vergleich zu anderen Arten auffällig langen Lebensdauer von Frauen nach Verlust der Fruchtbarkeit einen erheblichen evolutionären Selektionsvorteil des Menschen sieht, vgl. George (1957).
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Sperrungen bei Tönnies im Original.
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Ohne den im zweiten Teil meiner Dissertation (Newiak 2022) noch folgenden Ausführungen vorausgreifen zu wollen, drängt sich bereits hier eine Verbindung zu den Bedeutungsproduktionen in Horrorfilmen und -fernsehserien auf: Diesem Genre zuzuordnende ästhetische Artefakte qualifizieren sich als „Horror“ nicht durch die explizite spektakuläre Zurschaustellung körperlicher Gewalt als solche, sondern durch einen affektiv wirksamen Modus des Schreckens, der erst durch die in Narration und Inszenierung erlebte Störung und Durchbrechung der gewohnten Alltagsrealität von Gemeinschaftserfahrungen entsteht: Horror verstört, weil seine spezifische Realität die erlernte Sicherheit eines gemeinsamen Bedeutungskosmos (zumindest für die Dauer der Rezeption) in Frage stellt und die Zuschauenden gemeinsam mit den handelnden Akteuren mit einer gefährlichen Verlassenheit konfrontiert, die erst durch den Verlust der gewohnten Bedeutungsordnungen entsteht (Newiak 2018).
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Newiak, D. (2022). Die Gemeinschaften der Vormoderne. In: Die Einsamkeiten der Moderne. Springer VS, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-658-35811-2_1
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