FormalPara Lernziele des Kapitels
  • Sie können die Unterschiede zwischen Liberalismus und Republikanismus bezüglich ihres Menschenbildes, der Aufgaben des Staates und des Zusammenlebens der Bürgerinnen und Bürger beschreiben.

  • Sie benennen verschiedene Theorien und Konzeptionen sozialer Gerechtigkeit.

  • Sie wissen von mindestens zwei Herausforderungen im Sozial- und Gesundheitswesen, die entlang sozialer Gerechtigkeitsfragen debattiert werden, und können überzeugende Argumente dafür formulieren.

Das Gesundheits- und Sozialwesen steht vor einer Vielzahl an Herausforderungen. Einige von ihnen wurden bereits behandelt. Die Folgen des wirtschaftlichen Strukturwandels, von Automatisierung und Digitalisierung, kündigten sich in den vergangenen Jahren bereits auf mehr oder weniger leisen Sohlen in der Sozialhilfe an. Personen, die darauf nicht ausreichend vorbereitet sind oder deren Aus- und Weiterbildungsprofile den Erfordernissen des modernen Arbeitsmarktes nicht mehr entsprechen, werden immer häufiger von der ALV «ausgesteuert» und landen trotz mitunter langjähriger Berufserfahrung (im schlechtesten Fall bis zur Erreichung des Renteneintrittsalters) in der Sozialhilfe. Ein mühsamer Weg des sozialen Abstiegs droht, der zu sozialer Stigmatisierung und psychischen Problemen führen kann. Gerade bei Jüngeren mehren sich «Arbeitsintegrations-Biografien» mit Anstellungen in subventionierten Beschäftigungen des zweiten Arbeitsmarktes. Dagegen muss der Personal- und Fachkräftemangel seine Schatten nicht mehr vorauswerfen. Er ist vor allem im Gesundheitsbereich längst omnipräsent und führt zu Belastungsspitzen der Mitarbeitenden und – indirekt – reduzierter Jobzufriedenheit.

Die demografische Entwicklung begleitet uns als Schlagwort seit 30 bis 40 Jahren und scheint immer noch nicht «von gestern» zu sein; über ihre Folgen debattieren wir im politischen Akkord (Stichwort: AHV-Reformen). Der steigende Kostendruck darf ebenfalls in keiner Abhandlung über den Zustand der gesundheitlichen und sozialen Versorgung fehlen. Unterdurchschnittliche – gelegentlich heisst es: «unterirdische» – Löhne in Gesundheits- und Sozialeinrichtungen wollen wir nicht eigens thematisieren. Sie sind die Wurzel manchen Übels, wenn es um Qualitätseinbussen und mangelnde Arbeitsplatzattraktivität geht, und über sie wurde zuletzt viel geschrieben. Papier ist geduldig.

Apropos Papier, das braucht es in Zeiten der Digitalisierung offenbar nicht mehr. Medizinische Diagnosen werden über Online-Chats gestellt, Sozialberatungen über MS Teams oder Zoom (oder in ein paar Jahren womöglich per Virtual Reality Tool) abgehalten, Hochschulen unterrichten das Leitungspersonal von morgen im Flipped Classroom. Künstliche Intelligenz hält scheinbar über kurz oder lang in Spitälern, Praxen und Amtsstuben Einzug. Schon heute wird mit Algorithmen experimentiert, um etwa Fallverläufe im Kindesschutz vorherzusagen. Auf diese Trends haben sich Organisationen in den vergangenen zehn bis 15 Jahren mit grossangelegten Digitalisierungsprojekten und strategischen Initiativen zur Bewältigung des digitalen Wandels vorbereitet. Trotzdem waren wir bei Ausbruch der Pandemie einigermassen unvorbereitet und überrascht, was man alles ohne persönlichen Kontakt und «feuchten Händedruck» erledigen kann (das oft sogar mit Effizienzgewinnen, und in vielen Fällen hat durch die Umstellung auf entsprechende Formate – vielleicht auch aufgrund der Alternativlosigkeit und des hohen zeitlichen Drucks – die Qualität nicht gelitten). Was bei «digitalen Eingeborenen» oft nur ein verblüfftes Schulterzucken hervorruft, führt auch mit der prägenden Corona-Erfahrung im Rucksack an vereinzelten Stellen immer noch zu veritablen Irritationen und Ratlosigkeit. Wohlgemerkt: Einige Städte und Gemeinden verkündeten kürzlich – rund ein Vierteljahrhundert nach der flächendeckenden Verbreitung des Internets – dass sie beim hausinternen Schriftverkehr das altehrwürdige Telefax endgültig in Rente geschickt haben, ja, Bürgerinnen und Bürger Verwaltungsroutinen mittlerweile bequem von zuhause aus erledigen könnten. Immerhin.

Es wäre naheliegend, darüber zu schmunzeln, wäre der zögerliche, manchmal unbeholfene Umgang mit der Digitalisierung nicht ein Symptom für die grundlegende Unbeweglichkeit des Gesundheits- und Sozialwesens, die ihm bisweilen unterstellt wird. Für die langen Reaktionszeiten, mit denen sich Leistungstragende und Leistungserbringende soziale, technologische und ökologische Veränderungen zu eigen machten. Ihre traditionellen, hierarchischen Strukturen seien auf Stabilität ausgerichtet; ihnen fehle die Flexibilität, die Kultur, das Mindset, um aktuellen Herausforderungen mit dem nötigen Tempo zu begegnen. Steuerungs- und Entscheidungsprozesse seien träge und ressourcenintensiv, neue Angebote und Produkte könnten nicht zeitnah und unbürokratisch entwickelt werden, Wünsche und Bedürfnisse der Leistungsbeziehenden blieben aussen vor. Durch unzureichende Lösungen für das Problem der Fachkräfteknappheit komme es zu Kapazitätsengpässen und Qualitätsverlusten, hoher Arbeitsbelastung und Stellenfluktuation, mit dem Ergebnis hoher Kosten, niedriger Effizienz sowie unzureichender «Kundenorientierung». Schenkt man Managementhandbüchern der vergangenen Jahre (Laloux 2014; Strauch und Reijmer 2018) Glauben, führen selbstorganisierte, partizipative Organisations- und Führungsmodelle zum Glück. Wir sind alle miteinander zu wenig kollaborativ, innovativ, disruptiv, es mangelt an Agilität und Responsivität, um ein paar weitere, populäre Catch Words in den Ring zu werfen. Organisationen werden – angeblich – leistungsfähiger, wenn sie nicht übermässig hierarchisch strukturiert sind. Sie sollen die Verantwortung für zentrale organisationale Belange und Prozesse auf Teams von Mitarbeitenden übertragen, die sodann sinnorientiert zusammenarbeiten, je nach Fähigkeiten und Motivation grösstmögliche Verwirklichung finden, sich mit den eigenen Handlungen und Entscheiden identifizieren, flexibler und rascher auf die Bedürfnisse der Klientinnen und Klienten eingehen und Innovationen bottom-up entwickeln.

Fach- und Führungskräfte der Gesundheits- und Sozialberufe können sich zu den aufgereihten Entwicklungen und Diagnosen positionieren, im Sinne der Patientinnen und Klienten konstruktiv mit ihnen umgehen. Einrichtungen und Betriebe sind in der Lage, sie vorausschauend in ihr Handeln und die Planung von Zukunftsstrategien und Angeboten einzubeziehen, Politik und Behörden die Rahmenbedingungen zu schaffen.

Betrachten wir die politischen und ökonomischen Rahmenbedingungen des Sozial- und Gesundheitswesens, tun wir dies einerseits, um die Probleme und Lebenssituationen der Klientinnen und Patienten vor dem Hintergrund übergeordneter gesellschaftlicher Strukturen und Prozesse besser einordnen zu können, die politisch-institutionellen und ökonomischen Umfeldfaktoren des professionellen Handelns zu kennen und öffentliche Diskurse nachzuvollziehen, in denen Pflegende, Betreuungspersonal, Sozialarbeitende etc. die Legitimität ihres Tuns immer wieder neu herstellen und absichern. Wir tun es andererseits, um zum Wohle der Begünstigten an politischen und ökonomischen Interaktionen aufgeklärt teilhaben resp. als (angehende) Führungspersonen die Leistungserbringung in fortschrittlicher Weise auszurichten und die dafür benötigte Ressourcenausstattung abzusichern. Dazu gehört, mit relevanten Debatten und Entwicklungen vertraut zu sein, die das individuelle und kollektive Handeln in den kommenden Jahren prägen werden. Ebenfalls erfordert es, von den eigenen Interessen und Präferenzen (z. B. als Mitarbeiterin oder Mitarbeiter einer spezifischen Organisation) auf eine übergeordnete Ebene zu abstrahieren, welche die persönliche Haltung auf Interessen und Präferenzen anderer bezieht. Die daraus resultierenden Problemdeutungen und Lösungsrezepte können unterschiedlich sein. Für eine fundierte Positionsbestimmung hat es sich bewährt, grundlegende Einsichten der politischen Philosophie zum Verhältnis von Individuum und Gesellschaft (bzw. Staat) sowie divergierende Interpretationsangebote sozialer Gerechtigkeit zu reflektieren.

Liberalismus und Republikanismus

Liberalismus und Republikanismus als klassische politische Paradigmen geben die Koordinaten an, damit wir auf dem dicht bewachsenen Terrain sozial- und gesundheitspolitischer Diskussionen sicher navigieren. Sie sind die «beiden großen ‹Familien› in der Politischen Theorie und Ideengeschichte» (Schaal und Heidenreich 2016: 51), derer sich moderne politische Erklärungsansätze und Argumentarien nach wie vor zuordnen lassen. Um es kurz zu fassen und kein Philosophieseminar zu begründen, fassen wir die allerwichtigsten Punkte für unsere Themen zusammen (Tab. 8.1).

Tab. 8.1 Liberalismus und Republikanismus im sozial- und gesundheitspolitischen Kontext.

Gemäss dem Liberalismus lässt sich die soziale Realität am besten mit dem individuellen Handeln interessengeleiteter Akteurinnen und Akteure erklären (sog. methodologischer Individualismus), die jeweils für sich den grössten Vorteil suchen (ebd.). Pointiert formuliert: Die Welt besteht aus einer zufälligen Ansammlung isolierter Nutzenmaximierender, die auf andere Menschen nicht viel geben und mit dem Ellenbogen voraus durch die Lande ziehen (sog. Homo OeconomicusFootnote 1). Um Gemeinschaft oder Gesellschaft reisst man sich nicht, sondern pflegt gerade so viel sozialen Kontakt, wie er den persönlichen Zwecken dient, ohne die eigene Freiheit einzuschränken. Denn das ist die grosse Sorge der Liberalen: Dass andere sie zu etwas nötigen könnten, das ihre Autonomie und ihren Nutzen beschneidet. Die Ordnung des Gemeinwesens setzt beim grösstmöglichen Schutz individueller Freiheit an. Demzufolge treten sich im Staat in erster Linie Rechtspersonen gegenüber, die Freiheits- und Eigentumsrechte, Abwehr- und Anspruchsrechte geltend machen (z. B. Abwehr von Eingriffen in das persönliche Eigentum oder Anspruch auf Freiheit der Berufswahl). Die Aufgabe des Staates ist die Sicherung dieser Grundrechte auf der horizontalen (zwischen den Rechtspersonen untereinander) sowie auf der vertikalen Ebene (zwischen staatlichen Instanzen und Rechtspersonen). Damit sich die Individuen in gesundem Masse konkurrenzieren, aber nicht kannibalisieren, d. h. die Freiheiten der einen nicht die Freiheiten der anderen beschneiden, sorgt der Staat durch Politik-, Verwaltungs-, Polizei- und Justizapparat für Rechtsprechung (Rechtsetzung) und Rechtsanwendung (Rechtdurchsetzung). Ziel ist es, in einem geordneten Institutionen- und Gesetzesrahmen die Freiheit aller zu mehren (wobei, treu den Gesetzen des Marktes, für die Interpretation von Freiheit die Meinung der Mehrheit ausschlaggebend ist). In drastischer Auslegung ergibt dies einen möglichst zurückhaltenden «Nachtwächterstaat», der die individuelle Autonomie und Entfaltung der Bürgerinnen und Bürger (auf dem Markt) als höchstes Gut betrachtet und zwecks Wahrung des sozialen Friedens allenfalls eine Minimalexistenzsicherung vorsieht (von Hayek 1971).

Im Gegensatz dazu geht der Republikanismus von einem gemeinschafts- bzw. gesellschaftszentrierten Erklärungskonstrukt aus (sog. methodologischer Holismus) (Schaal und Heidenreich 2016). Dieses lässt die Bürgerinnen und Bürger tugendhaft – aus eigenem, intrinsisch motiviertem Antrieb – an der Steigerung des Gemeinwohls teilhaben. Weil dem republikanischen Paradigma die Furcht vor Freiheits- und Eigentumsbeschränkungen wie im Liberalismus fremd ist und es den Menschen als ein durch und durch soziales, in wechselseitige Beziehungen und Netzwerke eingebundenes, moralisches, vernunftbetontes Wesen konzeptualisiert, übertrifft die normative Qualität eines entsprechend wertegeleiteten Kollektivs in den theoretischen Beschreibungen die Summe seiner Teile bei weitem. Der Mensch kann hier gar nicht anders, er «will» sich an den öffentlichen Angelegenheiten beteiligen und dem Gemeinwohl dienen, welches immer schon da ist, naturgegeben, die Individuen ihrer Bestimmung zuführt und sie das gute Leben lehrt. Im «radikalen» republikanischen Denken ist die Nichtpartizipation, die demokratische Enthaltsamkeit, der Rückzug ins Private also eigentlich nicht vorgesehen. Ihre Empathie und Sittlichkeit verbieten es den Bürgerinnen und Bürgern, sich dem Grossen und Ganzen zu entziehen. Bei so viel Moralin muss die Frage erlaubt sein, weshalb es einen Staat braucht. Nun, auch er sichert Rechte, jedoch andere als im Liberalismus. Es geht ihm nicht so sehr um negative Freiheit, um Freiheit «von etwas», sondern er verleiht vor allem Partizipationsrechte und befähigt zur Teilhabe. Bürgerinnen und Bürger sollen aktiv ihre Stimme einbringen können, wenn über die Ordnung relevanter Regelungsaspekte zu befinden ist. Und wenn alle die Gemeinschaft und den gesellschaftlichen Ausgleich als fundamentalen Wert anerkennen, sollte dies bei Wahlen und Abstimmungen auf solidarische Lösungen hinauslaufen.

Konzeptionen sozialer Gerechtigkeit

Soziale Gerechtigkeit kann vor diesem Hintergrund viel bedeuten. Konsequente Liberale im Sinne der klassischen Schule würden den Begriff der sozialen Gerechtigkeit möglicherweise kategorisch und mit Verweis darauf, dass in der Marktwirtschaft grundsätzlich niemand Einkommen verteilt, ablehnen und für minimale Spielregeln mit dem Ziel eines fairen, die individuellen Leistungen honorierenden Gütertauschs eintreten (von Hayek 1971). Für den sozialliberalen Vordenker Rawls (1979) wiederum muss neben der Vergabe gleicher Grundrechte und Freiheiten Chancengleichheit gewährleistet sein, sodass sich soziale und ökonomische Ungleichheiten aufgrund der Herkunft oder natürlicher Gaben und Fähigkeiten «zum grösstmöglichen Vorteil für die am wenigsten begünstigten Gesellschaftsmitglieder auswirken» (ebd.: 69 f.). Materielle Ungleichheiten sind demzufolge «gerecht», wenn erstens jede und jeder prinzipiell die Möglichkeit besitzt, sich in eine gute Lebenssituation zu katapultieren, und zweitens eine ökonomische Elite nicht exklusiv Wohlstand anhäuft, ohne dass hiervon auch die sozial Schwächsten profitieren – was wir als Plädoyer für einen Wohlfahrtsstaat lesen können, der allerdings Differenzen zulässt.

Walzer (1983) wiederum geht vom republikanischen Ideal der Gemeinschaft aus, die über Regeln der Verteilung von Gütern – u. a. Sicherheit und Wohlfahrt, Erziehung und Bildung, Geld und Waren – in unterschiedlichen sozialen Sphären zu entscheiden habe, in denen ihrerseits eigene Verteilungslogiken herrschen. Gerecht ist die Verteilung der Güter für ihn dann, wenn sie möglichst ausschliesslich nach Kriterien der jeweiligen «Distributionssphäre» erfolgt, also z. B. sich die Verteilung von Gesundheitsleistungen an der individuellen Bedürftigkeit und von politischen Ämtern an der Eignung des potenziellen Personals bemisst (und kein dominantes Gut – in kapitalistischen Gesellschaften üblicherweise Geld – permanent die Grenze seiner Sphäre überschreitet). Zwar redet Walzer nicht dem Egalitarismus, d. h. der vollkommenen Gleichheit zwischen den Menschen, das Wort, jedoch ist im Hinblick auf das uns interessierende Gesundheits- und Sozialwesen der Weg zur Bedarfs- bzw. Bedürfnisgerechtigkeit nicht weit. Diese ist verwirklicht, wenn allen Bürgerinnen und Bürgern voraussetzungslos die Deckung eines bestimmten (Mindest-)Bedarfs (z. B. an Sozialleistungen) zusteht, wobei wir zwischen Bedarf als standardisierter Grösse (etwa der «Warenkorb» für die Berechnung des Grundbedarfs in der Sozialhilfe) und personen- und situationsbezogenen Bedürfnissen unterscheiden müssen. Bedarfsgerechtigkeit kann als Gegenteil der dem Liberalismus nahestehenden Konzeption von Leistungsgerechtigkeit interpretiert werden, welche gilt, wenn Ressourcen und Güter entsprechend der erbrachten Leistung – in der Regel gedeutet als individuell erzielter Lohn auf dem Arbeitsmarkt – verteilt werden (Ebert 2015).

Setzen wir die Grundprämissen der politisch-philosophischen Paradigmen voraus, finden wir in der Sozial- und Gesundheitspolitik typische Leitbilder, die das Spannungsfeld zwischen Individualismus und Holismus, liberaler und republikanischer Gerechtigkeitsvorstellung spiegeln (Tab. 8.1). Zu weiten Teilen folgt das wohlfahrtsstaatliche Tableau der Schweiz Grundsätzen, die mit dem republikanischen Ansatz in Einklang zu bringen sind. Den Sozialversicherungen wohnt ein starkes Element der (obligatorischen) Solidarität inne, das von einer zentralen Planung und Steuerung getragen wird und als Observatorium über bedarfsgerechte (teilweise auch bedürfnisgerechte) Leistungen fungiert. Da somit, wie auch in der Sozialhilfe, Leistungen weitgehend unabhängig von der Höhe individueller Vorleistungen (Sozialversicherungsabgaben bzw. Steuern im Falle der Sozialhilfe) gewährt werden, bewirkt das System logischerweise Umverteilungen. Das gilt auch für die AHV, die von den aktuellen Erwerbstätigengenerationen (sog. Umlageverfahren bzw. Generationenvertrag) und z. T. aus Steuern finanziert wird und deren Rentenhöhe sich prinzipiell an den eingezahlten Beiträgen orientiert, jedoch nach oben hin «gedeckelt» ist.

Gegen den republikanischen Universalismus spricht insbesondere die Krankenversicherung. Sie schreibt die Freiheit der Kassenwahl und des Versicherungsmodells (mit Implikationen für die persönliche «Kopfprämie») vergleichsweise gross, womit sie auf die liberalen Leitbilder Eigenverantwortung und Wettbewerb (der Anbietenden) einzahlt. Davon abgesehen ist es mit individualisierten Beiträgen oder kapitalgedeckter Finanzierung, d. h. anlagebasierter Vermögensbildung auf dem Kapitalmarkt, mit Ausnahme beruflicher Vorsorgesysteme («Säule 2») und der freiwilligen «dritten Säule» nicht weit her. Liberale in «Reinkultur» würden wohl für eine Ausweitung der privaten Versicherungslogik auf andere Bereiche der sozialen Risikoabsicherung plädieren, weil damit nach ihrer Meinung mehr Kosteneffizienz herrsche und niemand für etwas bezahlen müsse, was sie oder er nicht verschuldet hat. Schliesslich würde dies – so die Advokatinnen des referierten Ansatzes – zu mehr Leistungsgerechtigkeit und Beitragsäquivalenz führen («you get what you give»). Unter Berücksichtigung der Forderungen nach mehr Deregulierung und Wettbewerb, etwa im Spitalbereich, können wir diese Vorstösse auf die scharfkantige Darwin-Formel «survival of the fittest» bringen, welche sich in politischer Kampfrhetorik gegen «Staatsmonopolismus», «bürokratische Regelungswut» und «Einheitsbrei» richtet. Die Neigung der Gegenseite, alle Schwierigkeiten in der Sozialpolitik als «neoliberal» oder «marktradikal» zu etikettieren, erscheint nicht weniger problematisch, da sie «zu einer ritualhaft in Anspruch genommenen Chiffre für ‹sozialstaatsfeindliche› Umtriebe aller Art» führt und «am Rande des Verschwörungstheoretischen [operiert]» (Lessenich 2013: 13). Dadurch sind die Schuldigen immer schon ausgemacht und es wird der Blick darauf verstellt, wo der sprichwörtliche Schuh tatsächlich drückt.

Entlang der Verortung des Institutionengefüges innerhalb der Liberalismus-Republikanismus-Schablone (mitsamt der ihr inhärenten Leitbilder und Gerechtigkeitsregeln) diskutieren wir im Folgenden aktuelle Diskurse und Zukunftsherausforderungen bezüglich ihrer Bedeutung für Wandel und Gerechtigkeit im Gesundheits- und Sozialwesen.

Gerechtigkeit und Ungleichheiten in Sozialhilfe und Pflege

Bereits in Kap. 6 hatten wir uns mit Entwicklungen in der Sozialhilfe auseinandergesetzt und festgestellt, dass Fragen der Existenzsicherung eng mit Bildung, Arbeitsmarktanforderungen und Gesundheitsverläufen verknüpft sind. Ohne Frage werden dies auch Themen in den kommenden Jahren sein. Es wird darum gehen, optimierte Modelle der Beratung und Vermittlung zu entwickeln, um z. B. durch Falllastenreduktion und den Einbezug von Sozialarbeitenden die Ablösungsquote und Lebensqualität der Betroffenen auf ein höheres Niveau zu bringen. In diesem Zusammenhang wird relevant sein, wie in den Medien mit der Sozialhilfe umgegangen wird bzw. welche Vorstellungen von Gerechtigkeit im Diskurs vorherrschen. Schliesslich sind Journalistinnen und Journalisten entscheidend an der Meinungs- und Willensbildung der Bürgerinnen und Bürger beteiligt, welche in der (halb-)direkten Demokratie ihrerseits über relevante politische Projekte abstimmen. So kam eine Analyse des medialen Diskurses zur Sozialhilfe in der Schweiz zwischen 2010 und 2019 zu dem Ergebnis, dass die Medien durch eine starke Fokussierung prominenter Einzelfälle sowie eine weitreichende Ausblendung konkreter Lebensrealitäten der Leistungsbeziehenden das «unterste Netz der Sozialen Sicherheit» simplifiziert thematisieren. Sie stellen den Sozialhilfebezug mitunter als einen Zustand dar, in dem man aufgrund persönlichen Verschuldens «landet» oder in welchen man gar «abrutscht». Selektiv, aber lautstark porträtieren sie Personen, die das System «hintergehen», und stellen die Richtlinien der SKOS in Frage (Rosenberger et al. 2019). Es braucht kein Doktorat in Logik, um aus diesen Befunden eine Diskrepanz zwischen den Ansprüchen an ein bedarfsgerechtes (wenngleich bedürftigkeitsgeprüftes) Minimalsicherungssystem einerseits und der von einigen Medien propagierten Leistungsgerechtigkeit andererseits herauszulesen.

In den Ausführungen zur Sozialhilfe war nachzulesen, dass ein beträchtlicher Teil der Bezugsberechtigten seinen Anspruch auf Leistungen de facto nicht geltend macht. Hierbei haben wir es mit einem Grundproblem zu tun, das für andere Sozial- und Gesundheitsleistungen ebenso gilt. Es betrifft auch die in Kap. 7 skizzierten, intermediären Angebote für unterstützungsbedürftige Personen, die eine vorübergehende Betreuung in Heimen und Tagesstätten ermöglichen und dadurch pflegende und betreuende Angehörige entlasten. Am Beispiel dieser neuen Versorgungsmodelle können wir soziale Gerechtigkeit für den «Megatrend» Demografische Entwicklung durchdeklinieren. Die Nachricht, dass die Gesellschaft altert und immer mehr Seniorinnen und Senioren (aber durchaus auch Jüngere) auf Pflege und Unterstützung bei der Alltagsbewältigung angewiesen sind, besitzt wenig Neuigkeitswert. Aber wussten Sie, dass die Anzahl der in Alters- und Pflegeheimen oder von Spitex-Diensten gepflegten und betreuten Personen – im Jahre 2020 schweizweit mehr als eine halbe Million – und die dadurch entstehenden Kosten sich in den kommenden 20 Jahren ungefähr verdoppeln werden? (Eling und Elvedi 2019; BFS 2022a, b). Oder war Ihnen bekannt, dass etwa 200′000 Seniorinnen und Senioren im Alter von 65 Jahren und älter (rund 14 %) mit einem monatlichen Einkommen bis zu 2′279 Franken und somit unterhalb der absoluten Armutsgrenze leben? Auffallend sind dabei insbesondere die regionalen Unterschiede mit Armutsquoten zwischen 6 % in Basel-Stadt und fast 30 % im Tessin (Gabriel und Kubat 2022) (siehe Abb. 8.1).

Abb. 8.1
figure 1

(Quelle: Gabriel und Kubat 2022)

Absolute Armutsquote der Seniorinnen und Senioren in den Kantonen.

Während die Nicht-Inanspruchnahme von Sozialhilfe häufig das Ergebnis bewussten Abwägens bestehender Optionen ist, sind im Bereich der ergänzenden Tages- und Nachtbetreuung oft keine Angebote vorhanden. Die nicht flächendeckende Versorgungslandschaft trifft auf Bedenken der Angehörigen, einen nahestehenden Menschen in einer Situation der Hilfsbedürftigkeit abzugeben, und auf mangelnde Sensibilität für die eigenen Grenzen. Hinzu kommen anspruchsvolle Zugangs- und Antragsvoraussetzungen, fehlende Informationen, Probleme des Case- und Schnittstellenmanagements zwischen beteiligten Professionen sowie eine unzureichende Integration in die Pflegefinanzierung. Obwohl intermediäre Tages- und Nachtstrukturen gut gemeint und in vielen Fällen hilfreich sind, scheint die Gestaltung des Zugangs zu ihnen soziale Ungleichheit weder zu verringern noch für mehr soziale Gerechtigkeit zu sorgen (Götzö et al. 2019). Denn wer armutsgefährdet ist und wem sonst keine Möglichkeiten der Finanzierung offenstehen, wird im Zweifel keine Unterstützung bekommen oder diese innerhalb des Familienverbands von denjenigen Personen – typischerweise (Schwieger-)Töchter und Ehefrauen – erhalten, die aufgrund ohnehin eingeschränkter Arbeitsmarktpartizipation und Berufsbiografien (etwa infolge von Care-Arbeit) die geringsten Lohneinbussen zu befürchten haben (Schneider 2006). Impulse für Wandel sind ehrenwert, aber wenn es nicht gelingt, die adressierten Zielgruppen in den Stand zu setzen, von ihnen zu profitieren, können sie angesichts der zuvor eingeführten, an der gemeinschaftlichen Maxime orientierten Gerechtigkeitskonzeptionen nur schwerlich als gerecht bezeichnet werden. Sind sie nicht gerecht, droht ihnen ein Mangel öffentlicher Legitimität. Dies gilt vor allem deshalb, weil Ungleichheiten im schweizerischen Pflegeregime in besonderem Masse ausgeprägt sind. Sie sind es im Hinblick auf die stärkere Verantwortungsübernahme von Frauen, auf kantonale Unterschiede, jedoch auch in Bezug auf die Einbettung professioneller und informeller Versorgung in die Regelungssysteme (Kehl et al. 2018; Eling und Elvedi 2019).

An der informellen Pflege und Unterstützung innerhalb von Familien und Gemeinschaften lässt sich indes demonstrieren, weshalb das Prinzip der Leistungsgerechtigkeit in der Realität an seine Grenzen stösst. Als Erstes stellt sich nämlich die Frage, was unter einer Leistung zu verstehen ist. Wird unter Leistungsgerechtigkeit typischerweise «Marktgerechtigkeit» verstanden und die Annahme postuliert, dass der preisvermittelte Tausch eine faire und leistungsgerechte Verteilung materieller Ressourcen (Löhne) garantiert, fällt die informelle Pflege und Unterstützung aus diesem Konzept heraus. Informalität schliesst per definitionem ein wirtschaftliches Beschäftigungsverhältnis mit vertraglich geregeltem Einkommen aus. In diesem Kontext provoziert die Idee der Leistungsgerechtigkeit eine Diskussion darüber, wie Leistung sinnvoll gemessen werden kann, wenn nicht auf der Grundlage von Löhnen – anhand der investierten Arbeitsstunden, des körperlichen Einsatzes, der gesellschaftlichen Wirkung? Und wie sind Leistungen zu bewerten, die kollektiv resp. kollaborativ entstanden sind? Ist es möglich, diese trennscharf einzelnen Individuen zuzurechnen? Solcherlei Fragen sind in der Diskussion über den gesellschaftlichen Mehrwert informeller Pflege- und Unterstützungsbeiträge nicht nur hochaktuell und aufgrund der demografischen Entwicklung zukünftig relevant, sondern werden seit vielen Jahren in der Forschung thematisiert.

Um möglichst exakt zu beziffern, was Ehepartnerinnen und -partner, (Schwieger-)Töchter, Nachbarinnen und Nachbarn etc. im Dunkelfeld der amtlichen Statistik und öffentlichen Aufmerksamkeit zur Aufrechterhaltung des selbständigen Lebens im Alter und bei physischen oder psychischen Beeinträchtigungen jüngerer Menschen neben Spitex und Heimen volkswirtschaftlich beisteuern, streiten Ökonomie, Soziologie und verwandte Disziplinen über adäquate Methoden und Instrumente. Knackpunkt ist keineswegs primär der Aufwand, welcher im Rahmen der Haushaltsproduktion betrieben wird – dieser ist recht gut dokumentiert –, sondern, wie eine «durchschnittliche» Stunde Pflege und Unterstützung adäquat monetarisiert, d. h. in einen Geldwert (einen «Schattenpreis») umgerechnet werden kann. Das Ziel solcher Übungen ist es, die Gesamtheit der privaten Zeitinvestitionen jenen des professionellen Versorgungssystems gegenüberzustellen (dessen Wertschöpfung in Franken, Euro oder der jeweils passenden Währung ausgewiesen ist). Die Opportunitätskostenmethode geht (im Einklang mit dem Liberalismus und nutzenmaximierenden Individuen) davon aus, dass soziale Wesen stets einer regulären Erwerbstätigkeit nachgehen und ihren Gewinn maximieren würden, wenn sie ihre verfügbare Zeit nicht auf die Hilfe von Bedürftigen in ihrem Umfeld verwendeten. Sie legt deshalb das stündliche Erwerbseinkommen dieser Personen auf dem Arbeitsmarkt (bzw. ihren entgangenen Verdienst) für Berechnungen zugrunde, wodurch die Pflege und Unterstützung durch eine Professorin oder einen Unternehmensvorstand mehr «wert» ist als die gleiche Tätigkeit einer Reinigungskraft. Die im Fachdiskurs angebotene Alternative ist der Marktkostenansatz. Er zieht die Stundenlöhne ausgebildeter Pflege- oder Betreuungspersonen für die informellen Unterstützungspersonen als Kalkulationsgrundlage zu Rate. Dadurch werden beide Handlungsformen als substitutiv, d. h. prinzipiell austauschbar, betrachtet. Sowohl die Qualität sozialer Beziehungen und des Vertrauens im informellen Bereich als auch die Ausbildung und Arbeitsethik im professionellen Sektor werden somit vernachlässigt. Verhaltensökonomische Modelle wiederum gehen von diversen Annahmen aus und ermitteln Preise auf der Basis statistischer Zusammenhänge (Van den Berg et al. 2004; Kehl 2016). Bis anhin hat sich keine Methode als übermächtig erwiesen, sodass Aussagen über den (volkswirtschaftlichen) Beitrag engagierter Bürgerinnen und Bürger in der Care-Arbeit mit Vorsicht zu geniessen sind. Gleiches gilt für die Haushalts-, Erziehungs- oder Freiwilligenarbeit, für die ebenfalls keine Preise auf Märkten bezahlt werden.

Mehr Gerechtigkeit durch Freiwilligenmanagement?

Stichwort Freiwilligenarbeit: Nicht zuletzt der anhaltende Personalmangel lenkt den Blick auf die Anforderungen an ein gelingendes Freiwilligenmanagement. In der Diskussion über die Sicherstellung bedürfnisgerechter, qualitativ hochstehender Angebote im Sozial- und Gesundheitswesen wird die Rolle der Zivilgesellschaft und von Freiwilligen fast schon gebetsmühlenartig wiederholt (Freitag und Manatschal 2014). Dahinter steht die mittlerweile etablierte Vorstellung einer ausdifferenzierten Wohlfahrtsgesellschaft, in der sich Staat, Markt, Familien- und Gemeinschaftssystem bei der Lösung von sozialen Problemen wechselseitig ergänzen (Rose 1986; Evers und Olk 1996). Es ist weitgehend unumstritten, dass die Schweiz ohne Freiwilligentätigkeiten «schwer vorstellbar» ist, ohne sie «eine tragende Säule unseres Gemeinwesens wegbrechen» würde (Lamprecht et al. 2020: 15). Es stimmt jedoch ebenfalls, dass sich Fachpersonen und Freiwillige hinsichtlich Kompetenzen, Erfahrungen, Verantwortungszuschreibungen etc. unterscheiden und sich Aushandlungen über Zuständigkeiten in Organisationen mitunter schwierig gestalten (Nadai et al. 2005).

Um beide Parteien innerhalb von Organisationen nicht gegeneinander auszuspielen, hat es sich bewährt, die Gewinnung, Begleitung und Anerkennung von Helfenden systematisch zu strukturieren. Neuere Studien zeigen, dass viele schweizerische Organisationen ein professionelles Freiwilligenmanagement betreiben. Vereine, Stiftungen, Genossenschaften usw. betrachten es als wichtige Ressource, um die Interessen und Bedürfnisse der Engagierten mit jenen der Organisation und den jeweils Begünstigten in Einklang zu bringen. Gerade soziale und karitative Organisationen verfügen signifikant häufig über ein gut ausgeprägtes Freiwilligenmanagement und finden es weniger mühsam als Organisationen aus anderen Handlungsfeldern, Freiwillige mit einem geeigneten Profil zu rekrutieren. Zukünftig rechnen sie aber damit, dass die Möglichkeiten Freiwilliger sowie ihre Beteiligungs- und Autonomieansprüche grösser werden und die Konkurrenz zwischen Organisationen steigt. In diesem Zusammenhang wird es darauf ankommen, die Diskussion über Formen der Anerkennung und Qualifizierungsangebote, über Vernetzung der für das lokale Gemeinwesen relevanten Akteurinnen und Akteure und Evaluationen der Freiwilligenarbeit voranzutreiben (Steiner et al. 2022; Kehl et al. 2022).

Vor dem Hintergrund von Gerechtigkeitsdiskursen und dem Ziel, soziale Ungleichheiten abzubauen, kann ein diversitätssensibles Freiwilligenmanagement wichtige Impulse stiften. Denn die Türen zur Freiwilligenarbeit stehen keineswegs allen gleichermassen offen. Je nach Form entsteht eher der Eindruck, dass sich in der Zivilgesellschaft Ungleichheiten tendenziell reproduzieren (Rameder 2015). So sind Männer häufiger formell freiwillig aktiv als Frauen, insbesondere in ehrenamtlichen Funktionen (wohingegen das soziale, informelle, «helfende» Engagement als weibliche Domäne erscheint). Personen ohne schweizerischen Pass sind unterrepräsentiert. Ein hoher Bildungsstand und dichte soziale Netzwerke tragen statistisch ebenfalls dazu bei, dass sich Menschen einer zivilgesellschaftlichen Organisation anschliessen (Lamprecht et al. 2020; Potluka et al. 2022). Freiwilligenmanagerinnen und -manager können benachteiligte Gruppen gezielt ansprechen, z. B. indem sie «Hol- und Bring-Angebote» kombinieren und auch in Zeiten fortschreitender Digitalisierung Personen berücksichtigen, deren technische Affinität bzw. Möglichkeiten gering ausgeprägt sind (Johner-Kobi und Baumeister 2022).

Wirkungsorientierung – Aktivierung – «Ökonomisierung»

Um Wandel und soziale Gerechtigkeit geht es auch, wenn wir über Wirkung – und damit über ein weiteres Trendthema der vergangenen Jahre und in absehbarer Zukunft – sprechen. Ob die Effekte von Integrationsprogrammen in der Sozialhilfe (Neuenschwander et al. 2018) oder interprofessioneller Zusammenarbeit in Kliniken (Liesch et al. 2020) auf der Agenda stehen: Wirkungsevaluationen haben im Sozial- und Gesundheitswesen Konjunktur. Seitens Leistungstragenden und Leistungserbringenden verbindet sich mit ihnen die Hoffnung, Steuer- und Sozialversicherungsmittel nicht nur im Rahmen des gesetzmässigen Auftrages bzw. in wohlmeinender Absicht von Spenderinnen und Spendern nach dem Grundsatz von Treu und Glauben zu verausgaben, sondern Nachweis darüber abzulegen, dass die investierten Ressourcen beobachtbare Veränderungen in den Lebensumständen resp. der Lebensqualität betroffener Personen verursachen.

Wichtige organisationale Entscheide, etwa über die (Weiter-)Finanzierung eines Projekts, sollen demzufolge vorrangig von Wirkung und nicht von bürokratischen Vorgaben – oder dem partikularen Gutdünken einer vermögenden Privatperson im Falle von StiftungenFootnote 2 – abhängig gemacht werden. Dafür gilt es, Programme, Massnahmen und Interventionen in sog. Wirkungsmodelle und Wirkungsketten (d. h. Ursache-Wirkungs-Zusammenhänge) zu «zerlegen», um diese anschliessend empirisch zu überprüfen. Üblicherweise handelt es sich dabei um die Abfolge von Input (Ressourceneinsatz), Aktivitäten bzw. Interventionen, Output (direkt messbare Leistungen und Güter), Outcome (mittel- bis langfristige Effekte bei den Anspruchsgruppen) und Impact. Letzterer bezeichnet denjenigen Teil des Outcomes, welcher den Aktivitäten bzw. Interventionen kausal zugerechnet werden kann. Sein Nachweis erfordert ein methodisches Design, welches den Ressourcenaufwand für die Evaluation explodieren lassen kann (Then et al. 2017).Footnote 3 Wenn Wirkungsanalysen nach dem Vorbild von Kosten-Nutzen-Analysen oder dem sog. Social Return on Investment (SROI) die gesellschaftlichen Erträge investierter Ressourcen auszuweisen beabsichtigen, stellt abermals die angemessene Monetarisierung (ähnlich der Bepreisung informeller Pflege und Unterstützung, s. o.) eine Herausforderung dar. Denn der SROI setzt den Input ins Verhältnis zum monetarisierten Impact, d. h. den als finanziellen Ertragswerten dargestellten, zurechenbaren Wirkungskomponenten – um Aussagen darüber zu generieren, wie hoch der Mehrwert pro eingesetzter Geldeinheit (bspw. pro Franken) ausfällt. Oft wird dafür auf Kosten zurückgegriffen, die durch die Aktivitäten bzw. Interventionen (hypothetisch) vermieden wurden oder welche (hypothetisch) entstehen würden, wenn sie nicht existierten (Then et al. 2017; Kehl und Then 2018).

Mit der ihm eingeschriebenen Ambivalenz zwischen sozialer Komplexität und dem Ansinnen nach Objektivierung steht der SROI im beständigen Verdacht, die «Ökonomisierung» der gesundheitlichen und sozialen Versorgung voranzutreiben. Es heisst, er würde die Schicksale kranker, sozial unterstützungsbedürftiger Menschen dem Effizienzkriterium «zahlengläubiger» Politikerinnen und Politiker unterordnen (Burmester und Wohlfahrt 2018, 2020). Er steht damit beispielhaft für die grosse Sorge, dass wohlfahrtsstaatliche Leitprinzipien wie Solidarität und Universalismus dem liberalen Denken in Kategorien von Eigenverantwortung und Wettbewerb preisgegeben werden. Tatsächlich lässt sich das Interesse an Wirkung und Konzepten der Erfolgs- und Leistungsmessung in eine Entwicklung einsortieren, die seit den 1990er Jahren Einzug in der öffentlichen Verwaltung und im NPO-Sektor gehalten hat und von unternehmerischen Haltungen, Identitäten und Handlungsweisen geprägt ist. Aufgrund gestiegener Transparenzanforderungen seitens Auftraggeberinnen und dem von Führungspersonen formulierten Anspruch, Steuerungsentscheidungen und Prozesse der Strategie- und Organisationsentwicklung mit Daten zu unterfüttern, agieren Leistungsanbietende verstärkt wirkungsorientiert. Sie verstehen sich immer häufiger als «Social Entrepreneurs», die ins Soziale investieren. Und wer etwas investiert, interessiert sich naturgemäss für den mit der Investition erzielten (gesellschaftlichen) Ertrag. Neue Politikstile und Steuerungsinstrumente sind für den Wirkungstrend jedoch von mindestens gleicher Bedeutung (Then et al. 2017).

Während in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts wohlfahrtsstaatliches Handeln in erster Linie auf die Umverteilung von Wohlstand entlang sozialer Rechtsansprüche ausgerichtet war, haben Politik und öffentliche Verwaltung ihren Regulationskatalog mittlerweile um eine soziale Investitionslogik erweitert. Das damit korrespondierende Leitbild scheint sich nicht mehr auf die Gleichartigkeit von Lebensvollzügen und die Gewährleistung des «Konsums» von Sozialleistungen in der Gegenwart zu reduzieren, sondern verstärkt an der zukunftsgerichteten Investition in Fähigkeiten und Voraussetzungen der Selbsthilfe von Bürgerinnen und Bürgern orientiert zu sein. Dieser neue Modus postuliert, die vorhandenen Potenziale von Individuen und nicht die Bewältigung ihrer Defizite in den Vordergrund zu rücken. Esping-Andersen (2002) und Hemerijck (2013) verwenden den Begriff der Sozialinvestition, um eine Politik zu beschreiben, die darauf abzielt, gesellschaftliche Probleme präventiv zu verhindern, anstatt im Nachhinein Lösungen zu suchen. Baumeisterinnen und Förderer der Sozialinvestitionspolitik machen sich für eine Ergänzung klassischer Umverteilungs- und Sozialversicherungsprogramme durch die Förderung von Selbsthilfe und Selbstorganisation in Familien, informellen Gemeinschaften und der Zivilgesellschaft stark. Solche Politikprogramme wurden in vielen Ländern eingeführt, um Menschen in die Lage zu versetzen, informierte Lebensentscheidungen zu treffen und sie zu befähigen, Verantwortung für sich selbst und andere zu übernehmen (und möglichst nicht in Abhängigkeit von öffentlichen Sozialleistungen zu geraten). Typisch sind Politikansätze, welche materielle und immaterielle Grundlagen von Wohlstand in Bereichen wie Bildung und Familie bereitstellen und etwa das Ziel verfolgen, Barrieren für Kinder mit Migrationshintergrund im Schulsystem zu beseitigen oder flexible Arbeitszeitmodelle zwecks verbesserter Vereinbarkeit von Familie und Beruf anzubieten.

Auf dem Arbeitsmarkt ist die Losung «Fördern und Fordern» im Zuge der Aktivierungspolitik bekannt geworden. Mit Verweis auf sie und das Prinzip von Leistung und Gegenleistung wird das sozialinvestive Ziel, sanfte Übergänge in Berufsbiografien sowie den individuellen «Humankapital-Bestand» während des gesamten Lebensverlaufs sicherzustellen (Hemerijck 2018), wohl am lebhaftesten diskutiert und infrage gestellt (Lessenich 2013). Das gilt auch für die Schweiz, in der sich die wohlfahrtskapitalistische Transformation seit den 1990er Jahren insbesondere in Form von Massnahmen-verschärfenden ALV-, IV- und Sozialhilferevisionen präsentiert hat, wenngleich auch Reformen in anderen Politikfeldern – z. B. der Lehrplan 21 oder die Einführung des (im internationalen Vergleich zugegebenermassen klein geratenen) Vaterschaftsurlaubs – eine sozialinvestive Handschrift tragen. Die gängige Praxis verpflichtender Teilnahmen an standardisierten Schulungen und Qualifizierungsmassnahmen, die in komplexen Einzelfallsituationen nicht immer sinnvoll erscheinen mögen, des zwanghaften Verschickens einer definierten Anzahl Bewerbungen innerhalb gesetzter Fristen, wenngleich aussichtslos und nur zum Zwecke des Einhaltens bürokratischer Auflagen, und der Etablierung einer Kontroll- und Sanktionierungskultur ist eine z. T. wunderliche Verwaltungsinterpretation aktivierungspolitischer Anliegen. Aus dieser Perspektive betrachtet, geht es offenkundig weniger um absichtsvolle Investitionen in selbstbestimmte Individuen als vielmehr um eine «Reformulierung gesellschaftlicher Leistungs- und Produktivitätserwartungen» – demgemäss eine Bürgerin bzw. ein Bürger «sozial» ist, «solange er/sie Eigenverantwortlichkeit, Selbstsorge und pro-aktives Verhalten […] im Dienste ‹der Gesellschaft› [zeigt]» (ebd.: 17).

Angesichts des beschriebenen Wandels lässt sich über soziale Gerechtigkeit trefflich streiten:

  • Ist es nicht eine recht eigentümliche Verquickung von liberalem und republikanischem Gedankengut, wenn der Staat Sozialleistungen individuellen Produktivitätskriterien, dem Mehrwert einzelner Bürgerinnen und Bürger für das Gemeinwesen unterstellt?

  • Ist es vertretbar, soziale Rechte an die Erfüllung von Pflichten zu knüpfen?Footnote 4

  • Ist es Spott oder vielleicht eher Zynismus, wenn eine Gesellschaft nicht mehr vom «letzten Auffangnetz», sondern gelegentlich von der «sozialen Hängematte» spricht?

  • Kann eine öffentlich finanzierte Dienstleistung, wie z. B. ein Gesundheitspräventionsprogramm oder eine Arbeitsintegrationsmassnahme, nur als legitime Investition betrachtet werden, wenn sie nachweislich hohe Wirkung erzielt, einen gesellschaftlichen Ertrag generiert?

  • Und was bezeichnet hier Wirkung, wie ist sie messbar?

Diese und weitere Fragen werden das Gesundheits- und Sozialwesen in den kommenden Jahren begleiten. Disziplinen wie die Soziale Arbeit, die den skizzierten Entwicklungen traditionell ambivalent gegenüberstehen, obwohl sie die Notwendigkeit von Diskussionen über Qualität und Wirkung aus Gründen professioneller Selbstvergewisserung und fachlicher Weiterentwicklung seit langem anerkennen, werden Antworten finden müssen, um ihrer eigenen «Selbstentmündigung» entgegenzuwirken und nicht Betriebswirtinnen und Juristen in Wissenschaft und Verwaltung das Feld zu überlassen, wenn der Wirkungsbegriff in ihrer Handlungsdomäne geschärft wird (Thole und Cloos 2000; Otto und Ziegler 2006; Baumgartner und Sommerfeld 2012). Dabei kommt es in besonderer Weise auf das (sog. Sozial-)Management, auf die Leitungs- und Kaderpersonen an, deren Aufgabe es ist, zwischen den legitimen Interessen und Ansprüchen aller Beteiligten, zwischen professionellen Standards und systemintegrativen Erfordernissen zu vermitteln (Amstutz und Zängl 2014; Wöhrle 2017). Bezeichnenderweise sind ökonomische Engführungen von Wirkung unter den Fach- und Führungspersonen im schweizerischen Sozialwesen, wenn sie ihr eigenes Handeln reflektieren, kaum verbreitet (Kehl et al. 2023).

Gesundheit und Soziales zukunftsorientiert gestalten

Für die Gesundheitsberufe wird viel davon abhängen, mit welcher Dynamik und welchen Ergebnissen sich die Privatisierungs- und Konzentrationsbewegungen der vergangenen Jahre im schweizerischen Gesundheitswesen fortschreiben, ob der Personal- und Fachkräftemangel eingedämmt und die regelmässige Überbelastung von Teams abgebaut werden kann (Kap. 5). Und wie sich die Organisationen in diesem Umfeld neu positionieren. Bereits in der jüngeren Vergangenheit wurden in Kliniken und stationären Pflegeeinrichtungen Ressourcen gebündelt, um durch interprofessionelle Zusammenarbeit und flexible Kooperations- und Führungsmodelle die Bedürfnisse der Zielgruppen bei erhöhter Effizienz konsequent in den Mittelpunkt zu stellen (Sottas 2016). Spitäler und Heime nehmen zunehmend die Anforderung wahr, stabile Hierarchien aufzubrechen und durch mehr Selbstorganisation und interdisziplinäre Teams agiler zu werden. Mit der Ausrichtung an organisationalen Lernfähigkeiten und entsprechenden Prozessen, einem neuen Führungsverständnis sowie einer Anerkennungs- und Fehlerkultur passen sie Gesundheitsdienstleistungen an gewandelte Rahmen- und Nachfragebedingungen an (Boustani et al. 2018; Gesundheitsförderung Schweiz 2020). Entscheidend hierfür scheint ein Verständnis von Ko-Produktion zu sein, welches die Autonomie und Wahlfreiheit der Patientinnen und Patienten erhöht und ihre Ressourcen mobilisiert. Partnerschaftliche Beziehungen, Partizipationsgefässe und optimierte Kommunikation zwischen Fachpersonen und Nutzenden von Dienstleistungen verbessern demzufolge die Ergebnisqualität und stimulieren Qualitätsverbesserungen (Palumbo 2016; Vennik et al. 2016). Der Erfolg solcher Bemühungen wird sich letzten Endes daran bemessen, inwiefern es mit ihnen gelingt, qualitativ hochstehende, bedarfs- bzw. bedürfnisorientierte Gesundheitsgüter herzustellen, die allen Bürgerinnen und Bürgern unabhängig von der sozialen Herkunft und ihren finanziellen Möglichkeiten offenstehen.

Bei allem Respekt für engagierte Geschäftsleitungen, Stiftungsräte oder Teamleiterinnen: Grundlegende Weichenstellungen des Sozial- und Gesundheitswesens sind von den politischen und ökonomischen Gegebenheiten abhängig, vielfach werden sie auf dem Wahl- und Abstimmungszettel vorgenommen. Dies ist der Grund, weshalb wir uns in diesem Lehrbuch ausführlich mit den demokratischen und wirtschaftlichen Strukturmerkmalen und Funktionsweisen sowie Möglichkeiten der Mitgestaltung von Politik seitens Fach- und Führungspersonen befasst haben. Denn ganz so viel «heili Wäut», wie sie Schumpeter (1942) vor gut 80 Jahren beschrieb – siehe das Zitat zu Beginn der Einleitung – herrscht in der Schweiz offenkundig nicht.

Es ist an den Professionellen des Gesundheits- und Sozialwesens, den Dialog über Themen, welche die Handlungsfähigkeit von Personal und Organisationen beeinflussen, in der demokratischen Öffentlichkeit aktiv mitzuprägen. Für die (Wieder-)Herstellung und Förderung von Gesundheit und sozialer Teilhabe sollten Pflegende, Betreuungspersonen, Sozialarbeitende etc. die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen ihrer Professionen nicht bloss als begrenzende, sondern als ermöglichende Faktoren wahrnehmen, um für ihre eigenen und insbesondere für die Interessen der Klientinnen und Klienten einzustehen und Versorgungslandschaften zukunftsorientiert zu entwickeln. Dass sie dabei gemäss Partizipationsstudien (Beyeler et al. 2015; Credit Suisse 2020) auf eine politisch interessierte, mitwirkungsfreudige Generation junger Schweizerinnen und Schweizer zählen können, ist für einen konstruktiven Diskurs nicht die schlechteste Botschaft.

Literatur zur Vertiefung

  • Schaal und Heidenreich (2016) und Ebert (2015).

FormalPara Lernaufgabe

Angenommen, Sie sind Führungsperson in einer Gesundheits- oder Sozialeinrichtung: Aufgrund des wirtschaftlichen Erfolgs der Organisation in den vergangenen Jahren werden Ihnen vom Stiftungsrat zusätzliche finanzielle Mittel gesprochen. Aus dem gesonderten Budget dürfen Sie sich selbst und zwei besonders «verdienten» Mitarbeitenden Ihrer Wahl das Gehalt erhöhen. An welchen Kriterien bemessen Sie Ihre eigene und die Lohnanpassung der beiden Mitarbeitenden? Wie sieht eine gerechte Verteilung aus? Was würden Rawls und Walzer dazu sagen?