FormalPara Lernziele des Kapitels
  • Sie können beschreiben, wie Non-Profit-Organisationen im Sinne ihrer ökonomischen, sozialen, kulturellen und politischen Funktion zur Gesellschaft beitragen.

  • Sie können erklären, was dazu geführt hat, dass das Sozial- und Gesundheitswesen eine Struktur, bestehend aus öffentlichen, privatwirtschaftlichen und gemeinnützigen Leistungserbringenden herausgebildet hat.

  • Sie wissen, wie Sie als Fach- oder Führungsperson politischen Wandel begleiten, vorantreiben und initiieren können.

Mit der soziologischen Theorie können wir das Sozial- und Gesundheitswesen als gesellschaftliche Sphäre zwischen den Sektoren Staat, Markt und Familie (bzw. dem System der Privathaushalte und soziokulturellen Gemeinschaften) verorten. Sie weist Schnittmengen mit den Sektoren auf, kann teilweise jedoch auch deutlich von diesen abgegrenzt werden.

Zwischen Staat, Markt und Familie

Staat, Markt und Familie bzw. das Gemeinschaftssystem leisten jeweils spezifische Beiträge zur sozialen Ordnung (Streeck und Schmitter 1985; Dekker und van den Broek 1998; Offe 2000; Then und Kehl 2012). Der hierarchisch organisierte Staat hat die Bereitstellung kollektiver (öffentlicher) Güter zum Ziel, indem er Machtressourcen koordiniert und verbindliche Entscheidungen (Gesetze) generiert. Der Handel mit privaten Gütern und Dienstleistungen ist auf dem Markt angesiedelt, welcher den Prinzipien von Wettbewerb und preisvermitteltem Tausch folgt. Das System der Familien und Gemeinschaften sorgt für die Produktion solidarischer Güter der sozialen und kulturellen Integration (einschliesslich informeller Wohlfahrt), die von persönlichen (emotionalen) Bindungen, Vertrauensressourcen und moralischen Verpflichtungen abhängen. Dazwischen finden Organisationen und Netzwerke ihren Platz, die «gemischte» Güter zur Verfügung stellen – oder, in Anlehnung an die Beschreibungen von Gesundheits- und Sozialwesen in Kap. 6, die (Wieder-)Herstellung und Förderung von Gemeinwohl in unterschiedlichen Farben und Formen zum Ziel haben. Sie tun dies, indem sie Dienstleistungen auf Märkten anbieten, an der politischen Willensbildung und Entscheidungsfindung mitwirken, soziale und kulturelle Integrationsaufgaben übernehmen, aber sich in der einen oder anderen Weise von den drei primären Sektoren unterscheiden:

  • Non-Profit-Organisationen (NPOs) wie etwa gemeinnützige Stiftungen und Spitäler handeln primär als marktwirtschaftliche Sozial- oder Gesundheitsdienstleisterinnen, streben allerdings keine Gewinnmaximierung an (wie viele andere Unternehmen auf dem Markt);

  • Non-Governmental Organizations (NGOs) wie z. B. Amnesty International, Greenpeace oder Fach- und Berufsverbände wirken als sog. Themenanwälte auf den Staat und die Politik ein, ohne selbst Teil des Staates und des politisch-administrativen Apparats zu sein;

  • Informelle Netzwerke wie Bürgerbewegungen oder Nachbarschaftsinitiativen bündeln und artikulieren Interessen und Anliegen sozialer bzw. kultureller Gruppen und bauen damit Brücken zwischen (lokalen) Gemeinschaften und Gesellschaft.

Je nach theoretischer Perspektive und fokussiertem Handlungsmodus resp. gesellschaftlichem Beitrag kann dieser intermediäre (Zwischen-)Bereich entweder als Non-Profit-Sektor oder Zivilgesellschaft (wie in Abb. 7.1) deklariert – und können die in ihm tätigen Organisationen als NPOs oder NGOs bezeichnet – werden. Diese üben typischerweise mehrere von mindestens vier gesellschaftlichen Funktionen gleichzeitig aus, wenngleich meistens eine der Funktionen im Vordergrund steht:

Abb. 7.1
figure 1

(Quelle: Kehl und Then 2018)

Das Spannungsfeld der gesellschaftlichen Sektoren.

  • Die ökonomische (dienstleistende) Funktion;

  • die politische (anwaltschaftliche) Funktion;

  • die soziale (gemeinschaftliche) Funktion;

  • die kulturelle (expressive) Funktion.

Die frühe Non-Profit-Theorie hat die ökonomische Perspektive geprägt. Sie geht von heterogener Nachfrage nach öffentlichen Gütern und Dienstleistungen aus und postuliert, dass NPOs Nischen besetzen, die aufgrund der «Unfähigkeit» von Markt und Staat entstanden sind, ein adäquates Angebot für alle Bürgerinnen und Bürger bereitzustellen (Weisbrod 1977; Kingma 2003). Durch die Delegation von Aufgaben an NPOs können sich staatliche Akteurinnen und Akteure kollektiven Entscheiden und der Gewährung von Rechtsansprüchen widmen, während NPOs auf Grundlage öffentlicher Zahlungsgarantien Leistungen erstellen (Salamon 1995). Ohne Frage leisten sie damit einen relevanten Beitrag zum gesellschaftlichen «Wohlfahrtsmix» (Evers und Olk 1996). Vielfach sind NPOs bzw. NGOs zusätzlich Schlüsselakteure bei der Sicherstellung politischer Interessenvermittlung und treiben durch Reformanstösse Innovationen und Experimentiergeist in Politik und Verwaltung voran (Almond und Verba 1963; Putnam 1995; Roß 2018; Evers und Ewert 2021). Sie etablieren soziale Netzwerke und Geselligkeit, stiften gesellschaftlichen Zusammenhalt und Vertrauensbeziehungen (Coleman 1990; Wuthnow 1998; Putnam und Goss 2002). Und sie sind der Bereich jenseits von Familien und Gemeinschaften, welcher partikulare Orientierungen (z. B. von Minderheiten) schützt und die freie Entfaltung der religiösen und kulturellen Werte normativer Gemeinschaften gesellschaftlich einfordert (Wuthnow 1999; Anheier 2014). Das karitative Engagement kirchlicher Hilfswerke, die ihr Handeln am christlichen Menschenbild und Begriffen wie Nächstenliebe und Barmherzigkeit ausrichten, steht Pate für diese Funktion.

Sprechen wir von NPOs – wie wir es der Einfachheit halber im Folgenden tun werden – meinen wir Organisationen, die als gemeinnützig anerkannt sind. Dadurch geniessen sie Steuerprivilegien und dürfen gemäss schweizerischer Rechtsprechung keinen Selbst- und Erwerbszweck verfolgen; was dazu führt, dass sog. Eigenleistungs-NPOs wie Sport- oder Kulturvereine nicht unter die engere Definition von NPOs fallen (von Schnurbein 2013). Da dem Staat durch die Steuerbefreiung Einnahmen verloren gehen, ist es ihnen untersagt, aus der unmittelbaren Geschäftstätigkeit oder aus Kapital- und Vermögensanlagen erzielte Erträge an Anteilseigner (sog. Shareholder) auszuschütten (wie dies bei gewinnorientierten Unternehmen der Fall ist, welche ihr Handeln am möglichst hohen «Shareholder Value» – also an der Rendite für die Investoren – ausrichten). Selbst wenn längst nicht alle Dienstleistenden im Sozial- und Gesundheitswesen den formaljuristischen Anforderungen an eine gemeinnützige Organisation genügen, da z. B. manche Sozialunternehmen aufgrund von bürokratischen Vorgaben und (wahrgenommenen) Einschränkungen ihrer Handlungsfreiheit die Gemeinnützigkeit scheuen, eint auch diese Organisationen vielfach, dass sie sich einer sozialen oder gesundheitlichen Zielsetzung verpflichten und ihr Handeln keineswegs unvermeidlich der grösstmöglichen Profitmaximierung unterordnen.

Beiträge der Non-Profit-Theorie

Aufgrund einer mehr als fragmentarischen Datensituation lässt sich die Relevanz von NPOs für den Gesundheits- und Sozialbereich lediglich grob umreissen. Zunächst können wir mit älteren Zahlen davon ausgehen, dass Soziales und Gesundheit rund die Hälfte der Finanzierungsanteile und Aktivitätsfelder aller in der Schweiz tätigen NPOs ausmachen (Helmig et al. 2010; Hengevoss und Berger 2018). Ziehen wir mit der Unternehmensstrukturstatistik des Jahres 2020 die Rechtsformen der im Sozialwesen wirtschaftlich tätigen Einrichtungen zu Rate, zeigt sich, dass 52.0 % NPOs (Vereine, Stiftungen), 41.7 % private Unternehmen (Personen- und Aktiengesellschaften sowie GmbHs, einschliesslich Genossenschaften) und nur 6.3 % öffentlich-rechtliche Einrichtungen waren (BFS 2022).Footnote 1 Damit ist freilich nur der wirtschaftliche Betrieb im Sinne der Erbringung von Sach- und Dienstleistungen erfasst, die auf dem Markt gegen Entgelt gehandelt werden, weshalb wir gewarnt sein sollten, die Bedeutung des öffentlichen Sektors für das Sozialwesen zu unterschätzen – etwa wenn er direkt selbst Leistungen erbringt, aber auch bei der Finanzierung, bei der Zuweisung von Personen oder bei der Ausrichtung von Geldleistungen an Bedürftige.

Ähnlich ist Vorsicht bei der Einschätzung von NPOs im Gesundheitswesen geboten: Hier verrät uns etwa die Krankenhausstatistik, dass in den vergangenen zwei bis drei Jahrzehnten eine veritable Privatisierung der Krankenhäuser stattgefunden hat und mittlerweile sechs von zehn Spitälern gewinnorientiert arbeiten. Die Trägerschaft verschleiert hingegen, dass nach wie vor 50.2 % aller Beschäftigten in öffentlichen, 12.3 % in gemeinnützigen und «nur» 37.5 % in privaten Spitälern beschäftigt sind. Die Ursache liegt auf der Hand: AGs und GmbHs betreiben relativ viele Spezialkliniken (z. B. psychiatrische und rehabilitative Kliniken) mit gesamthaft geringerem Personalaufwand und Einsparpotenzial bei der verhältnismässig «teuren» Ärzteschaft (BFS 2021a, b). Dass private Anbietende nicht ausschliesslich bei den Lohn-, sondern bei den allgemeinen Behandlungskosten sparen, wird ihnen mitunter auch in der Diskussion über Privatisierungs- und Ökonomisierungstendenzen im Gesundheitswesen zur Last gelegt. Insbesondere die Spitäler, so heisst es dort, dürften nicht zu standardisierten Industrien verkommen, in denen «sich Grosskonzerne und Beratungsfirmen an kranken Menschen bereichern» (Barben 2018: 1335).

Dieses leidenschaftliche Plädoyer soll uns als Sprungbrett dienen, um im Folgenden noch näher auf die Non-Profit- und zivilgesellschaftliche Theorie einzugehen. Die Auseinandersetzung mit ihr lohnt, da sie uns die elementaren Funktions- und Steuerungsprobleme bei der Verteilung gesellschaftlicher Wohlfahrt vor Augen führt. Darüber hinaus mag sie aufzeigen, dass die Mischung unterschiedlicher (öffentlicher, gemeinnütziger, privatwirtschaftlicher) Handlungs- und Organisationsformen kein Relikt vergangener Tage sein muss, sondern einer qualitativ hochwertigen, bedürfnisorientierten und sozial gerechten Sozial- und Gesundheitsversorgung dienen kann.

Wichtige Erklärungsansätze für die Entstehung von NPOs bedienen sich der ökonomischen Theorie öffentlicher Güter (Toepler und Anheier 2005; Pennerstorfer und Badelt 2013). Die These des Markt- und Staatsversagens lokalisiert den Nährboden für nicht-gewinnorientierte Leistungserbringende in unbefriedigter, heterogener Nachfrage nach öffentlichen Gütern. Öffentliche Güter sind idealtypisch durch Nicht-Rivalität und Nicht-Ausschliessbarkeit gekennzeichnet. Im Unterschied zu privaten Gütern können sie erstens von beliebig vielen Konsumentinnen und Konsumenten gleichzeitig genutzt werden, ohne dass dies ihre Verfügbarkeit oder Qualität mindern würde. Zweitens kann im Grundsatz niemand von ihrer Nutzung ausgeschlossen werden. Ein praktisches Beispiel: Der morgendliche Kaffee aus der Hochschulmensa ist ein privates Gut. Jeder Kaffee kann nur einmal getrunken werden und sein Konsum ist typischerweise an die Verfügbarkeit von Geld resp. eine hinreichend ausgeprägte Zahlungsbereitschaft gebunden. Dagegen besteht bei öffentlichen Gütern keine oder nur eine sehr begrenzte Rivalität; sie sind allen Bürgerinnen und Bürgern zugänglich. Beliebte Beispiele sind Hochwasser- und Lawinenschutzmassnahmen oder die Landesverteidigung, von deren Effekten niemand ausgeschlossen werden kann. Gelegentlich werden auch saubere Luft, der Klimaschutz oder Frieden als öffentliche Güter genannt. Die grosse Herausforderung bei der Bereitstellung öffentlicher Güter besteht im sog. Trittbrettfahrerproblem: Sie können prinzipiell von jeder und jedem ohne eigenen Leistungsbeitrag bzw. unentgeltlich genutzt werden. Die Symbolik rührt vom Schwarzfahren auf dem Trittbrett von Strassenbahnen des vergangenen Jahrhunderts, als es vielerorts problemlos möglich war, Wege mit dem Tram ohne Billet zurückzulegen.

Staats- vs. Marktversagen

Profitorientierte Unternehmen verfolgen gemeinhin das Ziel der Gewinnmaximierung und sind deshalb nicht bereit, öffentliche Güter oder Dienstleistungen anzubieten. Sie vermeiden das Risiko, dass Personen ihre Angebote nutzen, ohne dafür zu bezahlen. Also muss laut ökonomischer Interpretation der Staat «in die Bresche springen». Der Staat produziert jedoch üblicherweise mehrheitsfähige Güter. Seine Repräsentantinnen und Repräsentanten sind in der Demokratie auf Gefolgschaft an der Wahl- bzw. Abstimmungsurne angewiesen. Sie werden sich demzufolge tendenziell am Durchschnitt der Wahl- und Abstimmungsberechtigten – am sog. Median-Wähler – orientieren. Oder anders formuliert: Es ist für Personen, die öffentliche Ämter und Mandate (oder eine Wiederwahl) anstreben, wenig rational, Positionen am Rande der gesellschaftlichen Interessen- und Präferenzskala offensiv zu vertreten. Vielmehr tendieren Politikerinnen und Politiker laut Downs (1957) jeweils zur Mitte, weil dort das grösste Stimmenpotenzial «abgefischt» werden kann. Minderheiten bringen keine Wahl- und Abstimmungserfolge, weshalb marginalisierte Gruppen in der Demokratie einen schweren Stand haben. Das führt zu einer systematischen Unterversorgung bestimmter Bedürfnisse und der unzureichenden Adressierung sozialer Probleme. NPOs füllen das Vakuum und entwickeln differenzierte Angebote infolge der Unzulänglichkeit des Staates, die Bedürfnisse aller Bürgerinnen und Bürger zu befriedigen (Weisbrod 1977; Kingma 2003).

Werden Gesundheits- und Sozialdienstleistungen preisvermittelt auf dem Markt getauscht, entsteht das Problem der Vertrauenswürdigkeit. Da es sich mehrheitlich um Leistungen handelt, bei denen Patientinnen und Klienten die Qualität nicht oder nur mit unverhältnismässig hohem Aufwand beurteilen können, besitzen Mechanismen der Vertrauensbildung entscheidende Bedeutung. Die Herausforderung besteht vor allem in asymmetrischer Informationsverteilung: Produzierende (z. B. Ärzte, Therapeutinnen, Sozialarbeitende) verfügen über ausgewiesene Expertise und können ihren Informationsvorsprung hypothetisch zu Ungunsten der Klientel nutzen, indem sie ihr ein minderwertiges Gut zu einem überhöhten Preis offerieren. Dieses Risiko besteht in der Theorie vor allem, wenn es sich um privatwirtschaftliche Unternehmen handelt, die ihren Gewinn zu maximieren suchen. Die Nutzerinnen und Nutzer verfügen in dieser Situation über unzureichende Möglichkeiten der Qualitätskontrolle und des Vergleichs von Preisen und Leistungen, da es sich um nicht-standardisierte, personenbezogene Dienstleistungen mit hohem Fachlichkeitsanteil handelt, deren Erbringungsqualität von persönlichen, situativen, geografischen usw. Rahmenbedingungen abhängig sein kann. Hinzu kommen verminderte Kontrollanreize, wenn die Begünstigten die Produktion des Gutes nicht selbst beauftragen und finanzieren (was wir in den Ausführungen zum Leistungsdreieck in Kap. 6 bereits gesehen hatten) oder ihre kognitiven Fähigkeiten beeinträchtigt sind. Als probates Mittel des Vertrauensschutzes hat sich das Gewinnausschüttungsverbot erwiesen. Durch die gesetzliche Regelung, dass NPOs ihre Einkünfte zur Erfüllung der satzungsmässigen Zwecke verwenden müssen und keine Rendite an Investoren auszahlen dürfen, gewinnen die Nachfragenden Vertrauen in die Integrität solcher Anbietenden (Hansmann 1980; Anheier 2014).

Es gibt also gute Gründe, weshalb das Sozial- und Gesundheitswesen historisch eine Landschaft bestehend aus öffentlichen, privatwirtschaftlichen und gemeinnützigen Leistungserbringenden herausgebildet hat. Sie reichen von sozialverträglichen Korrekturen der Marktlogik über die Verhinderung minderheitenfeindlicher «Staatswohlfahrt» bis hin zu neueren Argumenten, die einer (weiteren) Deregulierung und Privatisierung als Schlüssel zu mehr Qualität und Kosteneffizienz das Wort reden. So wirbt etwa die liberale Denkfabrik Avenir Suisse dafür, dass sich die steuernden Kantone aus der Leistungserbringung in der Spitalversorgung zurückziehen, weil sie ihre eigenen Kliniken in wettbewerbsverzerrender Weise alimentierten und Überkapazitäten schaffen würden (Cosandey 2020). In diesem Zusammenhang wurde in den vergangenen Jahren der Wechsel von der Objekt- zur Subjektfinanzierung intensiv debattiert, d. h. die Abkehr von der oftmals regionalpolitisch motivierten Subventionierung von Einrichtungen zugunsten persönlicher Budgets, die die Nutzenden direkt bei den Leistungserbringenden (Spitälern, Heimen, Tagesstätten etc.) einlösen können. Wenngleich damit Wahlfreiheit und Selbstbestimmung der Klientinnen und Klienten sowie Bedarfsgerechtigkeit und Innovationsgrad der Angebote potenziell erhöht werden, resultiert ein Systemwechsel in aufwändigen Umstellungsprozessen der Versorgungssysteme – die nicht notwendigerweise mit Kosteneinsparungen einhergehen (Liesen und Wyder 2020).

Das ist die Crux mit der sog. Pfadabhängigkeit: Reformvorschläge machen sich auf dem Papier meistens gut; ihre Praktikabilität erscheint indes begrenzt, wenn Investitionen und Ertrag schlecht abschätzbar sind und Entscheidungstragende in Politik und Verwaltung zwecks Risikominimierung für die althergebrachte Lösung votieren (Pierson 2000). Denn ob, wann und für wen sich die Subjektfinanzierung «rechnet», steht bislang in den Sternen. Die Privatwirtschaft jedenfalls verspricht sich vom Empowerment der Leistungsbeziehenden vorrangig mehr Wettbewerb, weniger interessengeleitete Eingriffe des Staates und – natürlich – einen Ausbau von Marktanteilen. Dass das nicht zwingend auf Kosten der Qualität gehen muss und unternehmerische Haltungen vielmehr die Entwicklung und Implementation neuartiger Dienstleistungen und Organisationsmodelle befördern können, gehört ebenfalls zur Wahrheit und wird an späterer Stelle in diesem Kapitel thematisiert.

Möchten Fach- und Führungspersonen an solchen Diskursen über die Zukunft der Sozial- und Gesundheitsversorgung teilhaben, gerät neben der ökonomischen notwendigerweise die politische Funktion ins Blickfeld der Betrachtung. Das gilt für NPOs, wie in der entsprechenden Forschungstradition beschrieben, aber auch für alle anderen Anbietenden von Dienstleistungen, die an sozial- und gesundheitspolitischen Innovationen mitwirken wollen, anstatt lediglich übergeordnete Aufträge und Weisungen auszuführen. Damit setzen wir die Leistungserbringenden in Bezug zu den Leistungs- und Kostentragenden resp. zum politisch-administrativen System des Staates.

Neben der individuellen Unterstützung von Menschen erheben die Sozial- und Gesundheitsberufe den Anspruch, gesellschaftliche Rahmenbedingungen und Versorgungssysteme zu gestalten (Benz und Rieger 2015; Dittmann und Kehl 2022). Das betrifft Leitungspersonen, welche auf die Umfeldbedingungen ihrer Organisationen durch verbandliche Gremienarbeit, Networking, intersektorale Projekte mit Gemeinden, Stiftungen oder Unternehmen einwirken, aber auch Pflegefachpersonen, Sozialarbeiter und Therapeutinnen. Mit ihren an der Basis erworbenen Erfahrungen und Kompetenzen können sie politischen Wandel substanziell begleiten, vorantreiben oder gar initiieren (Amann und Kindler 2021; Kehl und Kindler 2023). Denn wer «soziale Probleme nicht benennen und auf ihren auch (nicht-)politischen Gehalt hin analysieren kann, wer nicht für und wider politische Lösungen streiten kann, weder Interessenträger […] gewinnen, noch Forderungen an Adressatinnen und Adressaten zustellen kann, dem fehlen notwendige Handlungskompetenzen politischer Professionalität» (Benz und Rieger 2015: 187). Die Wichtigkeit dieser Diskurs- und Politik-prägenden Funktion wird in manchen Leitlinien betont. So heisst es im Berufskodex der Sozialen Arbeit: «Soziale Arbeit initiiert und unterstützt über ihre Netzwerke sozialpolitische Interventionen und beteiligt sich sozialräumlich an der Gestaltung der Lebensumfelder sowie an der Lösung struktureller Probleme, die sich im Zusammenhang mit der Einbindung der Individuen in soziale Systeme ergeben» (AvenirSocial 2010: 7). Auch die im internationalen Ethikkodex für Pflegende (ICN 2012) geforderte Orientierung an bestmöglicher Gesundheitsförderung, Krankheitsverhütung und der Würde des Menschen kann als Plädoyer dafür gelesen werden, entsprechende Werte politisch-öffentlich zu vertreten. Die medienwirksamen Hilferufe und Demonstrationen des Gesundheitspersonals während COVID-19 und die alarmierenden Bilder aus den Intensivstationen haben gezeigt, dass die eigenen Arbeitsbedingungen und das Wohl und Wehe der Patientinnen und Patienten dabei untrennbar miteinander verbunden sind.

Fach- und Führungspersonen als Policy Entrepreneurs

NPOs, Unternehmen, Behörden, Fachverbände, aber auch individuelle Fach- und Führungspersonen aus dem Gesundheits- und Sozialwesen sind zentrale Akteurinnen und Akteure, wenn es darum geht, die rahmensetzenden Stellschrauben ihres professionellen Tuns – und die Leistungserbringung im Allgemeinen – über den Hebel des Politischen neu auszurichten. Sie können ihr Handeln auf die unterschiedlichen föderalen Ebenen (Gemeinden, Kantone, Bund) sowie auf unterschiedliche Phasen des PolitikprozessesFootnote 2 ausrichten (Jann und Wegrich 2014; Blum und Schubert 2018).

In der ersten Phase der Problemdefinition helfen sie mit, ein öffentliches Problembewusstsein zu schaffen und die Notwendigkeit einer Lösung zu propagieren. Hier gehen wir von der Annahme aus, dass Politik nicht ausschliesslich rationalen Gesetzmässigkeiten folgt und Probleme und ihre Lösungen nicht objektiv vorhanden sind, geschweige denn auf rein sachliche Argumente und analytische Beschreibungen rekurrieren, sondern der sinnhaften Auslegung, Abgrenzung und (Re-)Dimensionierung bedürfen. Politische Themen werden in einer bestimmten Art und Weise im Diskurs «gerahmt» und das jeweilige «Framing» entscheidet darüber, welche Lösungen als sinnvoll erachtet werden (Rein und Schön 1993; Benford und Snow 2000). Wurde das Problem erkannt, fordern sie Politik und Verwaltung in der anschliessenden Phase des Agenda Settings zum Handeln oder Umdenken auf, indem sie Knowhow und Erfahrungen teilen und gemeinsam mit Verbündeten für neue Lösungsansätze streiten. In der Schweiz kann dies auch bzw. parallel in der Form einer Initiative (siehe Kap. 4) geschehen. Es gibt unterschiedliche Typen des Agenda Settings, was vor allem damit zu tun hat, wer das Problem auf die Agenda bringt (Blum und Schubert 2018). Es kann erstens sein, dass staatliche Akteurinnen und Akteure Themen mit einer hohen gesellschaftlichen Relevanz aufgreifen. Weiterhin können, zweitens, Akteurinnen und Akteure aus der Mitte der Gesellschaft Politik zum Handeln oder Umdenken zwingen. Sodann lässt sich, drittens, immer wieder beobachten, dass staatliche Akteurinnen und Akteure versuchen, Themen populär zu machen, die in der Gesellschaft nicht über grosse Unterstützung verfügen. Oft wird dabei über moralische Aufrufe an die «Vernunft» der Bürgerinnen und Bürger appelliert. Viertens lancieren gesellschaftliche Akteurinnen und Akteure Themen, die in der Öffentlichkeit wenig Aufmerksamkeit erfahren, kontrovers sind oder bei systemrelevanten Akteurinnen und Akteuren, z. B. einflussreichen Interessenverbänden, umstritten sind resp. auf Ablehnung stossen (ebd.). Schliesslich beteiligen sie sich durch Stellungnahmen in Vernehmlassungsverfahren und aktive Medienarbeit an der Phase der Politikformulierung, in der Gesetzesvorhaben behördlich ausgearbeitet und den jeweils zuständigen Parlamenten und Regierungen vorgelegt werden. Einflussreiche Agenda Setter bzw. Lobbyistinnen zeichnen sich dadurch aus, dass sie ihre Interessen und Präferenzen nicht «allein auf weiter Flur» vortragen, sondern koordiniert in Koalitionen Gleichgesinnter agieren (Sabatier 1998; Jenkins-Smith et al. 2017).

In der Regel kommt es dabei nicht zuletzt auf die beteiligten Persönlichkeiten, ihre Charaktereigenschaften, Kompetenzen und Strategien an. Um Politik erfolgreich zu gestalten, braucht es hartnäckige Akteurinnen und Akteure – sog. Policy Entrepreneurs –, die neben Sachverstand über ein hohes Mass an Verhandlungsgeschick, Vertrauenswürdigkeit, Sozialkompetenz, Ehrgeiz, Sensibilität für gesellschaftliche Problemlagen, Zeit und Energie verfügen. Dessen ungeachtet gilt es, «zur richtigen Zeit am richtigen Ort» zu sein und bei adäquater Gelegenheit mit einer situativ überzeugenden Idee aufzuwarten oder das passende Konzept «aus der Schublade zu ziehen» (resp. wiederzubeleben). Denn das ist der Kern dessen, was uns Kingdon (1995) und Mintrom (2019, 2020) zu sagen haben: Politik ist ein Personengeschäft, aber vor allem oft irrationaler und weniger planbar, als wir manchmal glauben. Vieles kommt in Bewegung, weil sich im richtigen Moment ein Möglichkeitsfenster (Window of Opportunity) öffnet; weil an den entscheidenden Stellen personelle Veränderungen stattgefunden haben, übergeordnete Problemwahrnehmungen bzw. «Realitätskonstruktionen» anders sortiert sind als in der Vergangenheit oder eine Krise hereingebrochen ist, die gemeistert werden will.

FormalPara Tauschgeschäfte und Netzwerke

Beispiele für Policy Entrepreneurs im schweizerischen Sozialwesen sind Simone Boll und Michael Herzig. Boll ist als Sozialarbeiterin beim Sozialdienst Davos im Kanton Graubünden tätig und leitet diesen mittlerweile. Sie veranlasste eine Gesetzesrevision, die seit 2017 die Betreuung und Unterbringung unbegleiteter minderjähriger Geflüchteter und die Verteilung der Kosten unter den Gemeinden des Kantons neu regelt. Herzig hat als Geschäftsbereichsleiter Sucht und Drogen des Sozialdepartements Zürich 2013 dafür gesorgt, den Zürcher Strichplatz zu eröffnen. Der Strichplatz ist ein Ort am Stadtrand, an dem Strassenprostitution in geregelter Form stattfindet, Sexarbeitende von Sozialarbeitenden beraten sowie von Sicherheitspersonal geschützt werden. Beide mussten in ihren Bestrebungen, drängende Probleme in ihren Gemeinden auf neuartige Weise zu lösen, über viele Jahre hinweg Überzeugungsarbeit leisten, gegen «Denkverbote» ankämpfen und Kompromisse eingehen. Durch das konsequente Präsentieren von Zahlen und Fakten sowie massgeschneiderte Argumente («zielgruppenorientierte Kommunikation») gewannen sie Kritikerinnen und Kritiker in Politik und Verwaltung für ihre Ideen und versammelten politische (Mehrheits-)Koalitionen um sich. Diese waren notwendig, um ihren unkonventionellen Ansätzen zum Erfolg zu verhelfen. Während Boll ein «Tauschgeschäft» mit dem Davoser Gemeindepräsidenten half, dessen Texte und Reden sie als Expertin mitverfasst hat, nutzte Herzig seine langjährigen Netzwerke in der Zürcher Verwaltung und paarte sie mit einer grossen Portion Pragmatismus, um zu tun, was innerhalb der Rahmenbedingungen machbar war. Beide haben dabei mit viel Leidenschaft getan, was sie als ihren anwaltschaftlichen Auftrag definierten (Kehl und Kindler 2023).

Die Politikwissenschaft in der Schweiz hat auf der Grundlage dieser Erkenntnisse jüngst etwa die ambulante Gesundheitsversorgung in den Kantonen (Sager et al. 2019), die Drogenpolitik (Brunner et al. 2019) und die Einführung von Elternmitwirkungsstrukturen in Schulen (Buser und Kübler 2020) unter die Lupe genommen. Die Konzernverantwortungsinitiative 2020 wäre ohne die hohe öffentliche Sensibilität für Nachhaltigkeitsthemen (Stichwort: Fridays for Future) in Kombination mit engagierten Initiantinnen und Initianten möglicherweise nicht knapp beim Volk durchgekommen (ähnlich wie im Falle von Corona und der Pflegeinitiative 2021, siehe Kap. 4), wenngleich sie sich letztlich den Ständen geschlagen geben musste. Und im europapolitischen Diskurs hat EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen im Januar 2022 angekündigt, die Einführung einer einheitlichen Frauenquote in Unternehmen vorantreiben zu wollen, nachdem entsprechende Ideen zehn Jahre vorher noch vor allem von einer bürgerlichen, deutschen Regierung blockiert wurden. Sie tat dies mit dem Hinweis auf die Ratspräsidentschaft von Frankreich, das eine vergleichsweise energische Gleichstellungspolitik verfolgt, sowie der dazumal neuen Mitte-Links-Regierung in Deutschland, von der Beobachterinnen und Beobachter annahmen, dass sie sich einer Quotenregelung ebenfalls nicht konsequent verschliessen dürfte (FT vom 12.1.2022).

FormalPara Checkliste für Policy Entrepreneurs

Die erfolgreiche Gestaltung politischer Agenda-Setting- und Aushandlungsprozesse setzt spezifische Eigenschaften, Kompetenzen und Strategien voraus (Mintrom 2019, 2020).

Zentrale Eigenschaften von Policy Entrepreneurs:

  • ☑ Ehrgeiz.

  • ☑ Gesellschaftliche Sensibilität.

  • ☑ Vertrauenswürdigkeit.

  • ☑ Sozialkompetenz.

  • ☑ Hartnäckigkeit.

Hilfreiche Kompetenzen:

  • ☑ Strategisches Denken.

  • ☑ Teamfähigkeit.

  • ☑ Evidenzbasierung (Sammeln und Präsentieren von Daten).

  • ☑ Überzeugende Argumentation (Storytelling).

  • ☑ Ansprache unterschiedlicher Zielgruppen.

  • ☑ Verhandlungsgeschick.

  • ☑ Netzwerken.

Erfolgversprechende Strategien:

  • ☑ Probleme (um-)deuten.

  • ☑ Netzwerke pflegen und erweitern.

  • ☑ Koalitionen aufbauen und nutzen.

  • ☑ Als Vorbild handeln.

  • ☑ Erfolge in die Fläche tragen («skalieren»).

Die Schweiz mit ihrem föderalen, oft kleinteilig organisierten Milizsystem in überschaubaren Gemeinwesen, welche Politik- und Administrationsaufgaben auch heute noch häufig ehrenamtlich oder nebenberuflich erledigen lassen, liefert hervorragendes Anschauungsmaterial dafür, dass das eingangs skizzierte Sektorenmodell als vereinfachende Schablone mit fliessenden Grenzen zwischen Staat, Markt, Familie und Gemeinschaft zu verstehen ist. Gerade das Verhältnis zwischen den politisch-administrativen Instanzen einerseits und den Sozial- bzw. Gesundheitseinrichtungen andererseits mag uns dies demonstrieren. Denn die örtliche Klinik oder das Pflegeheim einer ländlichen Gemeinde oder eines Stadtquartiers erschöpfen sich nicht ausschliesslich in ihren Rollen als Anspruchsberechtigte gegenüber dem öffentlichen Regelungssystem. Genauso wenig sind sie exklusiv Dienstleisterinnen. Mit ihren Infrastrukturen und Angeboten stiften sie normalerweise Orte der Begegnung und des Austausches, an denen verschiedene Menschen zusammenkommen, beteiligen sich am sozialen und kulturellen Leben, kooperieren mit Vereinen, Ämtern und lokalen Firmen. Ihre Repräsentantinnen und Repräsentanten treten mit unterschiedlichen Identitäten auf; als professionelle Gesandte ihres Betriebes, aber auch als Privatpersonen, die womöglich parallel im Chor singen, sich im Elternrat engagieren und frenetisch Parteiarbeit leisten. All dies findet im zu Beginn des Kapitels erwähnten Zwischenbereich statt, den wir nun nicht mehr auf die ihn prägenden Organisationsformen (NPOs, NGOs) engführen und insbesondere von Staat und Markt abgrenzen, sondern als Zivilgesellschaft bezeichnen und begrifflich mit Leben füllen möchten.

Zivilgesellschaft und soziale Innovationen

Wir erinnern uns, dass wir den intermediären Bereich zwischen Staat, Markt und Familie als Sphäre der «gemischten» Güterproduktion beschrieben hatten, ohne genauer auf den ihn prägenden Koordinationsmodus einzugehen. Während der Staat hierarchisch, der Markt wettbewerblich und das Familien- und Gemeinschaftssystem solidarisch resp. auf der Grundlage von Vertrauen und emotionalen Bindungen konstituiert ist, kann Zivilgesellschaft als ein sozialer Komplex interpretiert werden, der die begrenzten Solidaritätsressourcen spezifischer Gemeinschaften (z. B. Verwandtschaft, Nachbarschaften, soziokulturelle Milieus) in kollektive Solidaritäten grösserer sozialer Gruppen resp. Gesellschaft übersetzt (Dekker und van den Broek 1998; Offe 2000; Alexander 2006). Zivilgesellschaftliches Handeln zeichnet sich durch einen fairen, respektvollen und gewaltfreien Umgang und die Bereitschaft zur friedlichen, kompromissorientierten Konfliktregelung in kommunikativer Auseinandersetzung aus; es anerkennt die Heterogenität der sozialen Lebenswelten, bezieht lokale Initiativen, Organisationen und deren Wissen ein und fördert ihre politische Berücksichtigung durch Kollaboration und Verständigung mit bzw. zwischen demokratischen Institutionen und mobilisierter öffentlicher Meinung. Dazu gehört, dass Zivilgesellschaft im öffentlichen Raum stattfindet – in losen Netzwerken und Bewegungen, aber auch formal in Organisationen unter Beteiligung einer aktiven Mitgliedsbasis und/oder freiwillig Engagierten (Cohen und Arato 1992; Lauth 2003; Keane 2010).

In der Schweiz ist die Rede von der Zivilgesellschaft nicht selbstverständlich; im Unterschied zum anglo-amerikanischen Sprach- und Forschungsraum oder den lateinamerikanischen und osteuropäischen Staaten, die in den vergangenen 50 Jahren prägende gesellschaftliche Veränderungen unter der Beteiligung zivilgesellschaftlicher Akteurinnen und Akteure erlebt haben. Während in Frankreich und Deutschland engagierte politische Bestrebungen und Verantwortlichkeiten bestehen, gibt es kein eidgenössisches Departement, das für eine koordinierte Zivilgesellschaftsförderung zuständig ist. Der Zivilgesellschaft scheint es an politischer und medialer Wahrnehmung zu fehlen, da «Herr und Frau Schweizer» in der (halb-)direkten Demokratie «ganz selbstverständlich die oberste Instanz im Staat bilden» (Niederberger 2021: 1). Gelegentlich macht es gar den Anschein, dass Politik und Wirtschaft «mit Kritik und Widerstand, Drohungen oder gar Sanktionen reagieren, sobald Akteure der Zivilgesellschaft nicht nur ehrenamtlich Sportturniere veranstalten und Sprachkurse für Migrantinnen und Migranten erteilen, sondern sich themenanwaltschaftlich engagieren und sich aktiv in gesellschaftspolitische Debatten einbringen» (ebd.: 2).

Dabei hat sich die Erschliessung zivilgesellschaftlicher Ressourcen insbesondere für die Entwicklung und Verbreitung sozialer Innovationen als besonders fruchtbar erwiesen. Wie uns die Forschung lehrt, entstehen neue Ansätze, um sozialen Problemen (besser) zu begegnen – Dienstleistungen, Geschäftsmodelle, Produkte, Organisationsstrukturen und Prozesse, die einen Beitrag zu guten Lebensbedingungen in der Gesellschaft leisten, Inklusion fördern und Menschen befähigen – selten in staatlichen oder marktwirtschaftlichen «Silos». In der Regel setzen sie intersektorale Offenheit und Kollaborationen voraus und nehmen den Weg über die Zivilgesellschaft. Sie tun dies, indem sie sich ihrer starken lokalen Verankerung bewusst werden, die Kompetenzen, Ressourcen und Netzwerke unterschiedlicher Akteurinnen und Akteure vor Ort strategisch – im besten Sinne unternehmerisch, d. h. mitunter auch gegen bürokratische Widerstände – nutzen und in hohem Masse Freiwillige in die Angebotserstellung einbeziehen. Es ist kein Wunder, dass zahlreiche Sozialinnovationen einen zivilgesellschaftlichen Ursprung haben, denn die «Frühwarnsysteme» von Betroffenenverbänden, Quartiersvereinen, Integrationsfirmen etc. sind nicht nur sensibel kalibriert, sondern der Bottom-up-Charakter und die kontinuierliche Integration von Stakeholderinnen und Stakeholdern verleiht ihnen zusätzliche Legitimität (Nicholls et al. 2015; Parpan-Blaser 2018; Anheier et al. 2019).

Treffende Beispiele für Innovationen, die das Gesundheits- und Sozialwesen in gleicher Weise betreffen, finden sich im Umgang mit gewandelten Ansprüchen an das Leben und Wohnen im Alter sowie bei Pflege- und Unterstützungsbedarf auch jüngerer Menschen. In diesem Bereich brechen sich neue Wohn- und Versorgungskonzepte flächendeckend in der gesamten Schweiz Bahn. Einig in der Analyse, dass die bisherige Versäulung aus ambulanter Versorgung zuhause und stationärem Heimaufenthalt nicht zukunftsträchtig ist und den Bedürfnissen der Betroffenen und ihrer Familien immer weniger entspricht, wurden von Spitex-Organisationen, Fach- und Betroffenenverbänden, Spitälern, Stiftungen, Genossenschaften, lokalen Initiativen und Gemeinden im ganzen Land neue Modelle entwickelt und Projekte ins Leben gerufen.

Da wäre zum einen die wachsende Struktur intermediärer Tages- und Nachtangebote, die eine vorübergehende Betreuung in Heimen und Tagesstätten mit niederschwelligen Unterstützungs- und Beratungsleistungen verbinden. Sie dienen der Entlastung pflegender Angehöriger, schliessen Versorgungslücken und tragen in einigen Fällen dazu bei, die Auslastung bestehender Einrichtungen zu optimieren (Kehl et al. 2018; Götzö et al. 2019). Andererseits haben in den vergangenen Jahren gemeinschaftliche (Alters- und Mehrgenerationen-)Wohnsiedlungen von sich Reden gemacht, welche die Stimulation und Steuerung informeller, nachbarschaftlicher Hilfe- und Unterstützungsnetzwerke durch Ansätze der Gemeinwesenarbeit und des Quartiersmanagements vorsehen und z. T. den Zugang zu professionellen Dienstleistungen vereinfachen. Sie nutzen zu diesem Zweck insbesondere die Tatsache, dass vor dem Hintergrund der demografischen und gesundheitlichen Entwicklung immer mehr «junge Alte» fit und motiviert sind, sich freiwillig für Menschen in ihrem Nahraum zu engagieren (Höpflinger 2022) und dadurch Bedürfnisse befriedigen können, die von der Pflegefinanzierung nicht abgedeckt sind.Footnote 3 Nachweislich haben solche Ansätze sozialintegrative, gesundheitsfördernde und lebensqualitätssteigernde Wirkungen auf Unterstützte wie Unterstützende (Kehl und Then 2013; Kehl 2020). Generell sind im Sinne der Gesundheitsprävention und Lebensqualität älterer und benachteiligter Menschen Partizipationsstrukturen und «gemanagtes» Freiwilligenengagement heutzutage kaum noch wegzudenken. Für Organisationen aus dem Sozial- und Gesundheitsbereich ist es deshalb keine triviale Frage, wie sie freiwillige Helferinnen und Helfer anwerben, begleiten und adäquat anerkennen können (Haunberger et al. 2022). Die Lancierung und Etablierung der Tages- und Nachtangebote ebenso wie der neuen Wohn- und Lebensräume war aber nur möglich, weil öffentliche Stellen, privatwirtschaftliche Unternehmen, Akteurinnen und Akteure der Zivilgesellschaft und des Gesundheits- und Sozialwesens in einem konstruktiven Dialog ihre Interessen und Investitionsbeiträge sorgsam abgewogen haben. Mit dem Ergebnis, dass dies- und jenseits des «Röstigrabens» Bausteine Eingang in die wohlfahrtsstaatliche Architektur gefunden haben, die das Gesamtsystem nicht revolutionieren, aber vielen Schweizerinnen und Schweizern dabei helfen, ihren Alltag besser zu meistern.

Das Thema Wohnen verdeutlicht auch auf einer allgemeineren Ebene, wie Sozialorganisationen mit Zivilgesellschaft, Staat und Markt zusammenspannen können – um gemeinsam für neue Wege in der Wohnwirtschaft und Wohnpolitik zu streiten. Vor allem in den urbanen Zentren führt der zunehmende Mangel an erschwinglichem Wohnraum bereits seit geraumer Zeit dazu, dass sich das Grundbedürfnis Wohnen für immer weniger Menschen adäquat befriedigen lässt. Im Jahre 2022 war in mehr als zwei Dritteln der schweizerischen Städte das Wohnraumangebot zu klein. Dadurch geraten insbesondere Familien, Alleinerziehende und Haushalte mit begrenzten ökonomischen Mitteln in akute Bedrängnis. Die Stadt Zürich ist ein Extremfall: Die Leerwohnungsziffer rutschte 2022 unter 0.1% (Stadt Zürich 2022; Wüest Partner 2023). Neben reduzierter Bautätigkeit sowie der Verdrängung von langjähriger Mieterschaft im Zuge von «Luxussanierungen» und dem Zuzug finanzstarker, oft bildungsbürgerlicher Milieus (sog. Gentrifizierung) machen steigende Mietzinse und Nebenkosten als Inflationsfolgen beliebte Quartiere für weite Teile der Bevölkerung praktisch unbewohnbar. Vereine wie der Mieterinnen- und Mieterverband oder Urban Equipe begegnen diesem Problem und setzen sich für die Betroffenen und eine Demokratisierung der Stadtentwicklung ein. Einige Gemeinden verabschiedeten in den vergangenen Jahren Mindestquoten für gemeinnützige Bauträgerschaften, die ihre Objekte zum Selbstkostenpreis vermieten. Neue Genossenschaftsmodelle leisten ihren Beitrag und stellen nicht ausschliesslich kostengünstige Wohnraum zur Verfügung, sondern verstehen sich als Begegnungsorte und Kristallisationspunkte lokaler Zivilgesellschaft. Sozialarbeitende bieten Beratungsangebote und konkrete Assistenz bei der Wohnungssuche an. Gelegentlich wirkt es jedoch so, als könnten die genannten Akteurinnen und Akteure noch koordinierter handeln, um der Politik und Immobilienwirtschaft mit breiter Brust entgegenzutreten. Organisationen des Sozialwesens sind prädestiniert dafür, in diesem Netzwerk eine moderierende Rolle einzunehmen.

Es kann sich also durchaus lohnen, wenn Gesundheits- und Sozialeinrichtungen ihre Bezüge zu den anderen gesellschaftlichen Sektoren stets im Blick behalten und die Schnittstellen zu Staat, Markt, Familie und informellen Gemeinschaften aufmerksam bearbeiten, um auch in Zukunft qualitativ hochstehende, bedürfnisgerechte Leistungen anzubieten. Innovatives Handeln wird dabei zunehmend nachhaltiges Handeln sein, das den Blick über die Sektoren und die Kategorien der sozialen und wirtschaftlichen Nachhaltigkeit hinaus auf die Übernahme ökologischer Verantwortung richtet. In Zeiten einer sich dramatisch verschärfenden «Klimakrise» und der Gefährdung von Lebensgrundlagen durch die globale Erwärmung, noch nie dagewesene Naturkatastrophen, Artensterben etc. wird in den kommenden Jahren wohl kein Weg daran vorbeiführen, dass auch das Sozial- und Gesundheitswesen die Grenzen des Wachstums anerkennt und sich verstärkt an lokalen, gemeinwohlökonomischen Ressourcen ausrichtet (Paech 2022). Dazu werden Organisationen Konzepte des Nachhaltigkeitsmanagements entwickeln, die sich nicht auf isolierte Massnahmen beschränken, sondern einen kontinuierlichen Prozess aus strategischen und operativen Aufgaben sowie ein Nachhaltigkeitscontrolling etablieren (Stepanek 2022).

Literatur zur Vertiefung

  • Pennerstorfer und Badelt (2013) und Kehl und Kindler (2023).

FormalPara Lernaufgabe

Stellen Sie sich vor, Sie möchten als Geschäftsleiterin oder Geschäftsleiter einer gemeinnützigen Gesundheits- bzw. Sozialeinrichtung ein innovatives Dienstleistungsangebot lancieren. Sie wissen, dass Sie dafür auf die finanzielle Förderung durch öffentliche Institutionen, politische Unterstützung im Gemeindeparlament, aber auch zivilgesellschaftliche Akteurinnen und Akteure in ihrem Quartier angewiesen sind. Wie würden Sie mit Verweis auf die gesellschaftlichen Funktionen von NPOs argumentieren, dass Ihre Innovation nicht nur einen ökonomischen Mehrwert generiert, sondern einen sozialen, kulturellen und ggf. auch politisch (ökologisch) relevanten Beitrag leistet? Welche Eigenschaften, Kompetenzen und Strategien könnten Ihnen behilflich sein, um möglichst breite Unterstützung für Ihr Innovationsvorhaben zu mobilisieren?