FormalPara Lernziele des Kapitels
  • Sie können die Ausgabenstruktur von Gemeinden, Kantonen und Bund für Gesundheit und Soziale Sicherheit hinsichtlich ihrer Grössenordnungen darlegen.

  • Es gelingt Ihnen, die Beschäftigungsentwicklung im Sozial- und Gesundheitswesen innerhalb der vergangenen Jahre nachzuzeichnen.

  • Sie können zentrale ökonomische Trends und Herausforderungen im Gesundheitswesen wiedergeben.

Das Gesundheits- und das Sozialwesen in der Schweiz ist auf «Stutz» angewiesen. Nur weil der Bund, die Kantone, Gemeinden und Sozialversicherungen Einnahmen generieren, können sie gesundheitsbezogene und soziale Aufgaben erfüllen.

Bund, Kantone und Gemeinden füllen ihre «Kässeli» vor allem durch Steuern. Zu diesen gehören auf allen föderalen Ebenen die direkten Steuern auf Einkommen, Vermögen und Unternehmensgewinne, welche von natürlichen und juristischen Personen mit der Einkommenssteuer deklariert und abgeführt werden. Vor allem auf Ebene Bund kommen sog. indirekte Steuern dazu, die von Güter- und Dienstleistungsproduzenten abzuführen – und üblicherweise im für die Verbraucherin und den Verbraucher sichtbaren Endpreis des jeweiligen Produkts inbegriffen – sind. Zu Letzteren gehören insbesondere die Mehrwertsteuer, aber bspw. auch Abgaben auf Benzin, Tabak und alkoholhaltige Getränke, die in den nationalen Haushalt fliessen. Dagegen decken die Kantone und Gemeinden einen Grossteil ihres Finanzbedarfs über direkte Steuern. Sie belegen daneben z. B. den Besitz von Motorfahrzeugen (Kantone) oder Hunden (Gemeinden) mit Abzügen und erheben Gebühren auf administrative Dienstleistungen, Freizeit-, Kultur- und Sportstätten.

Ausgaben für Gesundheit und Soziales

Auf der Ausgabenseite gibt die eidgenössische Finanzstatistik (EFV 2022) zuverlässig Aufschluss über die staatliche Erledigung öffentlicher Ausgaben. Sie unterteilt sie in zehn Bereiche:

  • Allgemeine Verwaltung;

  • Sicherheit und Verteidigung;

  • Bildung und Forschung;

  • Kultur, Sport und Freizeit;

  • Gesundheit;

  • Soziale Sicherheit;

  • Verkehr und Nachrichtenübermittlung;

  • Umweltschutz und Raumordnung;

  • Volkswirtschaft;

  • Finanzen und Steuern.

Blicken wir für einen groben Überblick zunächst auf den Bund (Abb. 5.1), wird ersichtlich, dass die Ausgabenposten unterschiedlich relevant sind. Während im Jahre 2019 – dem letzten Jahr vor Ausbruch der COVID-19-Pandemie – nur knapp 0.9 Mrd. Franken für Umweltschutz und Raumordnung (d. h. etwa für bauliche Massnahmen, Arten- und Landschaftsschutz) anfielen, überwies Bern einen grossen Teil des 10.7 Mrd. schweren Budgetblocks Finanzen und Steuern im Rahmen des Finanz- und Lastenausgleichs und von sog. Steuerertragsverrechnungen an die Kantone zurück. Der Bereich Soziale Sicherheit konnte mit 22.5 Mrd. Franken die «Pole Position» des bundesstaatlichen Haushalts für sich beanspruchen. Darunter fallen die Bereiche Krankheit und Unfall, Invalidität, Alter und Hinterlassene, Familie und Jugend, Arbeitslosigkeit, sozialer Wohnungsbau, Sozialhilfe und Asylwesen, sowie Forschung und Entwicklung. Explizit in dieser Statistik nicht berücksichtigt sind die Ausgaben der Sozialversicherungen; also Renten und weitere Zahlungen sowie Dienstleistungen, auf die Bürgerinnen und Bürger einen Sozialversicherungsanspruch erworben haben (durch eigene sowie Beiträge ihrer Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber in die entsprechenden Systeme). Jedoch stellen Transfers an andere Gemeinwesen, Dritte sowie an die Sozialversicherungen, welche ohne einen bundesstaatlichen Zuschuss finanziell in Schieflage gerieten, mit rund 97 % der genannten Ausgaben den «Löwenanteil» dar. Der Bund alimentiert damit also vor allem andere Leistungstragende. Weitere relevante Ausgaben betreffen Verkehr und Nachrichtenübermittlung, wobei hier vor allem der Strassen- und der öffentliche Verkehr kostenintensiv zu Buche schlagen, sowie Ausgaben für Wirtschaftsförderung, Bildung und Forschung. Wie zu erwarten war, liessen die Massnahmen zur Bekämpfung des Corona-Virus im Jahre 2020 die Kosten in einigen Bereichen anschwellen. Dies vor allem in der Sozialen Sicherheit, deren Aufwände während eines Jahres um etwa 60 % auf über 36 Mrd. Franken geklettert sind, und zwar an vorderster Front im Zuge zusätzlicher Bundesmittel für die Arbeitslosenversicherung. 2021 sank dieser Bereich aufgrund der vergleichsweisen guten wirtschaftlichen Erholung wieder auf rund 30 Mrd. Franken. Aber auch die ökonomischen Hilfsmanöver, etwa zur Unterstützung von besonders betroffenen Branchen, schlagen sich im Posten Volkswirtschaft – jedoch erst verspätet im Jahre 2021 – nieder.

Abb. 5.1
figure 1

(Quelle: EFV (2022); eigene Darstellung)

Ausgaben des Bundes 2019, 2020 und 2021 (in Mrd. Franken).

Erweitern wir die Perspektive auf Kantone, Gemeinden und die Sozialversicherungen, ist ein Vergleich der Ausgabenstruktur im Hinblick auf die Bereiche Gesundheit und Soziale Sicherheit interessant.Footnote 1 Wie Abb. 5.2 zeigt, stemmten die Kantone 2020 mit rund 15 Mrd. Franken die grösste Ausgabenposition im Bereich Gesundheit – kein Wunder, ist die Bereitstellung einer funktionierenden Gesundheitsinfrastruktur doch eine ihrer zentralen Aufgaben, die sich vor allem in der 12.6 Mrd. Franken teuren Spital- und Heimausstattung niederschlägt. Fast homöopathisch dosiert wirken dagegen die Zuwendungen an die ambulante Krankenversorgung sowie die in Prävention und Forschung investierten Beträge, welche allesamt nicht mehr als 1 Mrd. Franken ausmachen. Auch die Gemeinden beteiligen sich an der Finanzierung von Spitälern und Heimen, jedoch mit 1.6 Mrd. Franken weit weniger intensiv als die Kantone. Die Gesundheitsausgaben des Bunds sind im Vergleich nahezu vernachlässigbar, allerdings haben sich auch diese als Folge der COVID-19-Pandemie auf niedrigem Niveau vervierfacht (2019: 0.3 Mrd. Franken; 2020: 1.2 Mrd. Franken). Die Sozialversicherungen tauchen in dieser Statistik nicht auf, da die zwar obligatorische, aber privat finanzierte Krankenversicherung nicht zu den öffentlichen Ausgaben zählt und sie als Instrument zur Deckung eines sozialen Risikos ohnehin dem Bereich Soziale Sicherheit zufiele.

Abb. 5.2
figure 2

(Quelle: EFV (2022); eigene Darstellung)

Ausgaben von Gemeinden, Kantonen und Bund für Gesundheit 2020 (in Mrd. Franken).

In der Sozialen Sicherheit wiederum dürfen die Sozialversicherungen in keiner Aufzählung fehlen (siehe Abb. 5.3). Mit 76.9 Mrd. Franken entfielen 2020 wesentlich höhere Ausgaben auf sie als auf die Kantone (20.7 Mrd. Franken) oder den Bund (36.4 Mrd. Franken). Der mit grossem Abstand prominenteste Baustein ist die Alters- und Hinterlassenenversicherung (46.4 Mrd. Franken), gefolgt von der Arbeitslosenversicherung (18.9 Mrd. Franken) und der Invalidenversicherung (9.8 Mrd. Franken). Allerdings sind an dieser Budgetaufstellung deutlich pandemische Spuren sichtbar: Die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit forderte die Bundes- und Sozialversicherungskassen während der «Corona-Jahre» in nie dagewesenem Ausmass. So stiegen die entsprechenden Ausgaben des Bundes von 0.6 Mrd. Franken (2019) auf 13.6 Mrd. Franken (2020) bzw. 6.8 Mrd. Franken (2021); in der Arbeitslosenversicherung entwickelten sich die Ausgaben (2021: 13.0 Mrd. Franken) ebenfalls wieder zurück in für die Schweiz übliche Grössenordnungen (2019: 6.6 Mrd. Franken). In der Sozialhilfe und im Asylwesen engagierten sich 2020 vor allem die Kantone (4.4 Mrd. Franken) und Gemeinden (4.5 Mrd. Franken), bei Krankheit und Unfall waren es wiederum der Bund (3.0 Mrd. Franken) und die Kantone (5.4 Mrd. Franken).

Abb. 5.3
figure 3

(Quelle: EFV (2022); eigene Darstellung)

Ausgaben von Sozialversicherungen, Gemeinden, Kantonen und Bund für Soziale Sicherheit 2020 (in Mrd. Franken).

Die Schweiz im internationalen Vergleich

Was im Hinblick auf die absoluten Zahlen nach viel klingt, bedeutet im internationalen Vergleich keineswegs eine Spitzenposition. Dies zeigt sich, wenn wir die Schweiz bezüglich der Sozialleistungsquote mit ihren benachbarten Staaten vergleichen. Die Sozialleistungsquote gibt an, welchen Anteil die Sozialleistungen am Bruttoinlandsprodukt (BIP) einer Volkswirtschaft ausmachen bzw. welcher Anteil der ökonomischen Gesamtleistung eines Landes an die Bezügerinnen und Bezüger von Sozialleistungen fliesst.Footnote 2 Gemäss dem Europäischen System der integrierten Sozialschutzstatistik ESSOSS (2022), das Konventionen für vergleichbare Daten zu Sozialleistungen definiertFootnote 3, lag die Schweiz im Jahre 2019 mit einer Quote von 25.1 % hinter Italien (28.3 %), Österreich (28.6 %), Deutschland (29.1 %) und Frankreich (31.4 %), das die Rangliste innerhalb der Europäischen Union noch vor traditionell ausgebauten Wohlfahrtsstaaten wie Dänemark (30.0 %) oder Finnland (29.5 %) anführt und einen mehr als doppelt so hohen Wert ausweist wie Irland (13.0 %) oder Rumänien (15.0 %). Jedoch hinkte die Schweiz lange Zeit der europäischen Entwicklung hinterher und verzeichnete bis in die 1990er Jahre noch Sozialleistungsquoten von unter 20 %, als Frankreich und Deutschland bereits vorsichtig Tuchfühlung mit der 30-%-Marke aufnahmen. Diese überquerte unsere westliche Nachbarin erstmals 2009, als im Zuge der globalen Wirtschafts- und Finanzkrise ab 2007 in sämtlichen Ländern die Quoten aufgrund gestiegener Sozialausgaben und eines gleichzeitigen wirtschaftlichen Abschwunges (Rezession) in die Höhe schnellten (Abb. 5.4).Footnote 4 Sie konnte sich bis heute von dieser Entwicklung nicht erholen. Ein ähnliches Muster dürfte für das «Corona-Jahr» 2020 zu erwarten sein. Die Leistungsbereiche mit dem höchsten Gewicht sind dabei Alter und Gesundheit, wobei die Italienerinnen und Italiener angesichts einer unvorteilhaften demografischen Situation mit vielen Personen im Pensionsalter und wenigen Neugeborenen zwangsläufig einen sehr hohen Anteil für die Versorgung von Seniorinnen und Senioren aufwenden (13.9 % im Vergleich zu 10.8 % in der Schweiz) und die Schweiz (0.8 %) und Deutschland (0.9 %) besonders geringe Ausgaben aufgrund von Arbeitslosigkeit verbuchen.

Abb. 5.4
figure 4

(Quelle: ESSOSS (2022); eigene Darstellung)

Die Sozialleistungsquote in der Schweiz und ihren Nachbarstaaten 1999 bis 2019.

Tatsächlich sind internationale Vergleiche mittels der Sozialleistungsquote knifflig, da die Länder über verschiedenartige Systeme der sozialen Sicherung verfügen, wodurch die Harmonisierung von Daten vor nicht trivialen Herausforderungen steht – worauf Esping-Andersen (1990) eindrucksvoll, wenn auch nicht unwidersprochen, hingewiesen hat (Lessenich und Ostner 1998; Leibfried 2000; Arts und Gelissen 2002). Dies mag uns abermals ein Vergleich mit den Nachbarländern bspw. in der Krankheits- und Gesundheitsversorgung demonstrieren: Während wir es in der Schweiz gewohnt sind, dass die obligatorische Grundversicherung bei freier Anbieterwahl ausschliesslich von den versicherten Personen zu bezahlen ist (mit Prämien abhängig von Alter, Kanton, Versicherungsmodell etc.) und für jedes Familienmitglied eine eigene Police abgeschlossen werden muss, sind die Krankenkassen in Deutschland, Österreich und Frankreich Teil von Sozialversicherungen, für die Arbeitgebende und Arbeitnehmende gemeinsam einkommensabhängige (nach oben begrenzte) Beiträge vom Bruttolohn abführen. Üblicherweise sind dort Kinder, Ehepartnerinnen und Ehepartner mitversichert. Abgesehen von den Umverteilungs- und Anreizeffekten, die diese Strukturierungsmerkmale auf die Krankheits- und Gesundheitsausgaben ausüben, stellt sich die Frage nach der Kostenübernahme. So werden in den genannten Ländern Kontrollbesuche und einfache zahnärztliche Behandlungen (z. B. bei Karies) in der Regel von den Grundversicherungen getragen, wohingegen diese in der Schweiz nicht zum Pflichtleistungskatalog gehören. Ähnliches gilt für Seh- und medizinische Hilfen wie etwa orthopädische Schuheinlagen, welche in den Nachbarstaaten durch die Krankenkassen gedeckt sind (jedoch z. T. mit Selbstbehalt und lediglich in Standardausführungen, weshalb sich für Brillen, die nicht der aktuellen Mode entsprechen, die spöttische Bezeichnung «Kassenmodell» durchgesetzt hat).

Entsprechend den skizzierten Systemunterschieden – die in den anderen Funktionsbereichen der sozialen Sicherungen ebenfalls existieren, wenngleich nicht überall so augenfällig wie in der Krankheits- und Gesundheitsversorgung – variieren auch die Sozialausgaben, welche von öffentlichen oder halböffentlichen Institutionen einerseits und den Privathaushalten andererseits getragen werden. Eine Ahnung vermitteln uns Zahlen der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) (OECD 2022a) aus dem Jahre 2017, anteilig am BIP (Abb. 5.5). Öffentliche Sozialausgaben beziehen sich in der OECD-Definition auf Geld-, Sach- und Dienstleistungen sowie Steuervergünstigungen, die älteren Menschen, Menschen mit Beeinträchtigung, Kranken, Arbeitslosen, jungen Menschen sowie einkommensschwachen Haushalten zugutekommen und im Rahmen der Sozialversicherungen oder einer staatlichen Umverteilung auf unterschiedlichen föderalen Ebenen erfolgen. Gerade Steuervergünstigungen bzw. -reduktionen entfalten gelegentlich beachtliche (indirekte) Umverteilungswirkungen, wie Titmuss (1958) schon vor Jahrzehnten festgestellt hat. Darüber hinausgehende private Ausgaben können obligatorisch (z. B. die Krankenversicherung in der Schweiz) oder freiwillig (private Zusatzkrankenversicherungen) sein.Footnote 5

Abb. 5.5
figure 5

(Quelle: OECD (2022a); eigene Darstellung)

Öffentliche und private Sozialausgaben in der Schweiz, ihren Nachbarstaaten, den USA und dem Vereinigten Königreich 2017 (in % des BIP).

Zieht man die OECD-Daten zu Rate, zeigt sich, dass die Schweiz bei den öffentlich getragenen Sozialausgaben im Vergleich zu den vier Nachbarstaaten sowie den USA und dem Vereinigten Königreich am unteren Ende rangiert: Mit 17 % des BIP erreichten die Ausgaben für Angelegenheiten der sozialen Sicherung von Bund, Kantonen, Gemeinden und Sozialversicherungen 2017 nur leicht mehr als die Hälfte des Niveaus der staatlichen Ausgaben in Frankreich (31.5 %). Dafür liegen die privaten Ausgaben mit 11.8 % fast auf US-amerikanischem Niveau (12.5 %) und stellen jene im Vereinigten Königreich (6.4 %) tief in den Schatten. Zu den öffentlichen und privaten Sozialaufwänden in Deutschland, Österreich und Italien klaffen deutliche Lücken, je nach Perspektive nach oben oder unten. Das mag zunächst verwundern, da die Schweiz angesichts ihrer wohlfahrtsstaatlichen Organisationsprinzipien in vielerlei Hinsicht dem «konservativen» bzw. «korporatistischen» Regimetypus mit seinen starken Sozialversicherungen (wie in Deutschland und Österreich) gleicht. Sie verfügt aber auch über Elemente, die dem liberal ausgerichteten Modell der anglo-amerikanischen Welt (d. h. dem Vereinigten Königreich und den Vereinigten Staaten) nahekommen, was sich aufgrund der hohen Relevanz des Gesundheitssystems für die Sozialausgaben finanziell widerspiegelt.Footnote 6

Relevante Branchen- und Arbeitsmarktdaten

Angesichts dessen ist es wenig verwunderlich, dass das Gesundheits- und das Sozialwesen wesentliche ökonomische Grössen sind. Im Jahre 2019 – dem Jahr vor Ausbruch der COVID-19-Pandemie – trugen sie gemeinsam 7.8 % zur Bruttowertschöpfung in der Schweiz bei; davon entfielen 5.3 % auf den Gesundheits- und 2.5 % auf den Sozialbereich. 2020 stieg ihr Beitrag trotz pandemiebedingter Defizite im Gesundheitssektor sogar auf 5.4 bzw. 2.6 %, allerdings auch als Effekt der insgesamt geringeren Wirtschaftsleistung angesichts des zeitweisen «Herunterfahrens» ganzer Branchen wie z. B. der Hotellerie, Gastronomie oder Luftfahrt durch die Corona-Schutzmassnahmen. Zusammengenommen liegen Sozial- und Gesundheitswesen damit auf einem Spitzenplatz der volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung. Diese prominente Stellung lässt sich auch an der Zahl der Arbeitnehmenden (Abb. 5.6 und 5.7) ablesen: In beiden Wirtschaftsabteilungen waren 2020 rund 766′000 bzw. 2019 rund 749′000 Personen beschäftigt, was jeweils über einer halben Million Vollzeitäquivalenten entsprach (BFS 2022a, b, c). Zum Vergleich: Zur selben Zeit waren im Land etwas mehr als fünf Millionen Menschen beschäftigt, d. h., fast 15 % aller Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer arbeiteten im Gesundheits- oder Sozialwesen. Selbst ein für die öffentliche Infrastruktur so wichtiges und im Alltag präsentes (Staats-)Unternehmen wie die Schweizerische Bundesbahnen AG (SBB) verfügte 2019 «nur» über einen Personalbestand von 32′500 Vollzeitäquivalenten (SBB 2020).

Abb. 5.6
figure 6

(Quelle: BFS (2022a); Statistik der Unternehmensstruktur (umfasst den Bereich 86 Gesundheitswesen sowie alle in Arbeitsstätten dieses Bereiches Beschäftigten); eigene Darstellung)

Anzahl Beschäftigte (Frauen/Männer) und Arbeitsstätten im Gesundheitswesen.

Abb. 5.7
figure 7

(Quelle: BFS (2022a); Statistik der Unternehmensstruktur (umfasst die Bereiche 87 Heime und 88 Sozialwesen sowie alle in Einrichtungen dieser Bereiche Beschäftigten); eigene Darstellung)

Anzahl Beschäftigte (Frauen/Männer) und Arbeitsstätten im Sozialwesen.

Wir können sowohl das Gesundheits- als auch das Sozialwesen ökonomisch als «wachsende Märkte» bezeichnen. Nicht nur hat der anteilige Beitrag zur schweizerischen Wirtschaftsleistung seit dem Jahr 2000 zugelegt (nämlich von 6 auf 8 % 2020), sondern auch die Anzahl der Beschäftigten und Einrichtungen steigt fortlaufend. So ist im Gesundheitswesen in den fünf Jahren zwischen 2015 und 2020 die Anzahl Beschäftigter um 13 % auf 436′000 und die Anzahl Arbeitsstätten um 12 % auf 64′000 gestiegen. Das Sozialwesen erlebte in der gleichen Fünf-Jahres-Periode einen ähnlich dynamischen Zuwachs auf 330′000 Personen und rund 16′000 Heime, Beratungsstellen und andere soziale Dienstleistungsstätten. Interessanterweise scheint der skizzierte Beschäftigungstrend jedenfalls bislang keine Auswirkungen auf die Geschlechterverteilung zu haben: Der Frauenanteil liegt in beiden Bereichen über den betrachteten Zeitraum konstant bei 76 % und der Männeranteil wie «eingefroren» bei nur 24 %. Ähnliche Grössenverhältnisse zeigen sich in der Ausbildung, wobei in den unmittelbar vergangenen Jahren die männlichen Studierenden z. B. in den Fachbereichen Soziale Arbeit und Gesundheit an Fachhochschulen Boden gut gemacht haben (BFS 2022d). Es besteht also Grund zu der Annahme, dass sich diesbezüglich mittelfristig etwas ändert.

Der Vollständigkeit halber sei angemerkt, dass die Datenlage im Hinblick auf das Sozialwesen – und somit auch in vergleichender Perspektive – dünn ist und die verwendeten Zahlen aus der Unternehmensstrukturstatistik (BFS 2022a) vom Total Beschäftigter in den Betrieben (und nicht etwa von den Ausbildungen oder Stellenbeschrieben) ausgehen. Die Betriebe wiederum sind jeweils normierten Wirtschaftsabteilungen zugeordnet. Als Folge werden alle Beschäftigten einer Organisation unabhängig von Profession und Funktion berücksichtigt, d. h. etwa im Sozialwesen neben Fachpersonen der Sozialen Arbeit zusätzlich medizinisch-therapeutisches, administratives oder gastronomisches, gelerntes wie ungelerntes Personal. Umgekehrt zählen dadurch bspw. Sozialarbeitende, die in einem Spital angestellt sind, in der Statistik zum Gesundheitswesen. In der Realität dürfte die Anzahl diplomierter Fachpersonen unterschiedlicher Disziplinen mit Bezug zum Sozialwesen allerdings geringer sein, als es möglicherweise den Anschein hat. So lebten laut Strukturerhebung der Volkszählung 2017 schweizweit 103′000 Personen mit erlernten «Berufen der Fürsorge und Erziehung», bestehend aus Sozialarbeitenden, Erziehenden, Heim- und Krippenleitenden sowie Betreuungsberufen.Footnote 7 Betrachtet man diese Zahlen, die sich an der absolvierten Ausbildung orientieren, steigt der Frauenanteil auf 80 %, was wir als Indiz dafür verstehen können, dass die Einrichtungsdaten durch Angestelltengruppen mit eher «normalverteiltem» Geschlechterverhältnis leicht verzerrt sind. In der anschliessend neu klassifizierten, internationalen Standards folgenden Version der Strukturerhebung wächst die Anzahl Fachpersonen im Sozialwesen unter Verwendung grosszügiger Einschlusskriterien zwar auf 160′000 bis 180′000 Personen (2020) an (BFS 2022e). Ihr Anteil am Personal in Einrichtungen des Sozialwesens kann somit trotzdem nicht weit über der 50-%-Marke liegen. Wer sich unter den Belegschaften umhört, weiss, dass diese neben weiteren Professionen vielfach auch ungelernte Mitarbeitende umfassen.

Medizinische und pflegerische Dienstleistungen

Im Vergleich zum «Fakten-Steinbruch», der als Folge der teilweise schwierigen, nachholenden Professionsentwicklung sozialer Berufe in der Schweiz und einem nach wie vor zersplitterten System interpretiert werden kann, gleicht die Gesundheitsstatistik (BFS 2022f) einer wahren Oase für Liebhaberinnen und Liebhaber von Zahlen. Somit ist die Infrastruktur des Gesundheitswesens gut dokumentiert. In den 276 Spitälern der Schweiz waren im Jahre 2020 rund 229′000 Beschäftigte bzw. umgerechnet 175′000 Vollzeitstellen an 574 Standorten im Einsatz. Davon entfielen 15 % auf Ärztinnen und Ärzte, 56 % auf Pflege, Sozialdienste und anderes (z. B. medizinisch-technisches oder therapeutisches) Gesundheitspersonal sowie 29 % auf nicht-gesundheitliche Berufe (bspw. Verwaltung und Facility Management). Hand in Hand gelang es ihnen, die Versorgung von Patientinnen und Patienten in den rund 38′000 Betten zwischen Genfersee, Bodensee und Lago Maggiore sicherzustellen, wobei sich der Spitalsektor trotz zunehmender Hospitalisierungen seit den 1980er Jahren in einer Entwicklung der «Marktbereinigung» befindet und die Anzahl Spitäler ebenso wie die Anzahl Betten im Verhältnis zur Einwohnerzahl stetig abgenommen hat (BFS 2022g). In der Schweiz vollzieht sich demzufolge eine Entwicklung, die auch in anderen Ländern zu beobachten ist. Tatsächlich ist nämlich die Zahl der Spitalbetten gemäss OECD-Definition nicht nur in der Schweiz zwischen 2000 und 2020 von 6.3 auf 4.5 pro 1′000 Einwohnerinnen und Einwohner, sondern auch in den Nachbarländern Frankreich (von 8.0 auf 5.7) und Deutschland (von 9.1 auf 7.8) zurückgegangen. Spitzenreiter sind Japan und Südkorea mit 2020 immer noch fast 13 Betten und Werten, die ungefähr fünfmal höher liegen als im Vereinigten Königreich oder den USA. Die Schlusslichter dieser Statistik bilden Mexiko und Costa Rica mit jeweils einem Spitalbett pro 1′000 Personen (OECD 2022c).

Doch das schweizerische Gesundheitswesen macht selbstverständlich mehr aus als nur den Spitalbereich. Hinzu kommen etwa die rund 1′600 Alters- und Pflegeheime mit ihren 139′000 Beschäftigten bzw. 100′000 Vollzeitäquivalenten und ebenso vielen Beherbergungsplätzen, die – eine traurige Folge der COVID-19-Pandemie – am Jahresende 2020 mit 87 % deutlich schlechter mit Klientinnen und Klienten ausgelastet waren als noch ein Jahr zuvor (93 %). Im Unterschied zum Spitalbereich nimmt die Anzahl der Plätze in den vergangenen Jahren zu (zwischen 2010 und 2020 jährlich im Mittel um etwa einen Prozentpunkt), wenn auch bei weitem nicht so rasant wie die Anzahl der Personen im Pensionsalter – die aufgrund des im Alter stark ansteigenden Pflege- und Betreuungsbedarfs ein wichtiger Gradmesser für die benötigte Angebotsentwicklung ist (BFS 2022h). Handlungsdruck ist in diesem Segment also vorprogrammiert. Es sei denn, wir gehen davon aus, dass Pflegebedürftige zukünftig vermehrt ambulante Dienstleistungen innerhalb der eigenen vier Wände nutzen möchten (worauf wir am Ende von Kap. 7 nochmals zu sprechen kommen).

Womit wir bei einem weiteren zentralen Anker der gesundheitlichen Versorgung angekommen sind; bei der ambulanten Pflege und Betreuung, die im schweizerdeutschen Sprachraum – und wohlgemerkt nur hier – als Spitex (Spitalexterne Hilfe und Pflege) bezeichnet wird. Nicht zuletzt wegen der Pandemie, in der sich Heime abschotteten und Spitäler Patientinnen und Patienten frühzeitig heimschickten, berichtete die Hauspflege in der jüngeren Vergangenheit von prall gefüllten Auftragsbüchern und händeringender Suche nach qualifiziertem Personal, das aus der Not heraus mancherorts durch Freiwillige ersetzt werden musste (TA vom 14.1.2022). Jedoch auch unabhängig vom Virus, aufgrund der demografischen Alterung der Gesellschaft und einer zunehmenden Nachfrage nach Pflege und Betreuung (von Seniorinnen und Senioren, jedoch auch jüngeren Personen mit entsprechenden Bedürfnissen, die mangels adäquater Versorgungsalternativen lange Zeit wie selbstverständlich in Alters- und Pflegeheimen untergebracht wurden), ist die Spitex unbestritten eine dynamische Treiberin des bereits konstatierten «Booms» im Gesundheits- und Sozialwesen.

Einige wenige Zahlen reichen aus, um diesen Umstand zu demonstrieren (Tab. 5.1): Zwischen 2011 – dem ersten Jahr der rundum neuorganisierten Pflegefinanzierung – und 2020 hat das Umsatzvolumen im ambulanten Pflegemarkt um 65 % zugenommen, was einer kontinuierlichen jährlichen Steigerung von im Mittel sieben bis acht Prozentpunkten entspricht. Jeder CEO eines profitorientierten Unternehmens würde frohlocken angesichts solcher Wachstumsraten. Allerdings muss konstatiert werden, dass nicht nur der zu verteilende «Kuchen» grösser, sondern auch der Wettbewerb intensiver geworden ist und sich im Jahre 2020 mehr als 2′500 leistungserbringende Organisationen (anstelle rund 1′400 im Jahre 2011) konkurrenzierten, was einer Zunahme um fast 80 % während neun Jahren entspricht. Hellhörig mag zudem machen, dass die verbuchten Stunden Langzeitpflege um 82 % und die Anzahl versorgter Klientinnen und Klienten immerhin um 68 % gestiegen sind, jedoch die Personalzahlen lediglich um 48 %. Es gibt gelegentlich Rätsel auf, wie in hochgradig personenbezogenen Dienstleistungen Effizienzgewinne (etwa durch optimierte Organisationsprozesse und den Einsatz neuartiger Technologien) in Grössenordnungen zu realisieren sind, die erklären, wie höhere Nachfrage bei steigendem Pro-Kopf-Bedarf durch im Verhältnis weniger Mitarbeitende auf hochstehendem Qualitätsniveau bedient werden kann. Der Vergleich mit dem CEO hinkt aber vor allem deshalb, weil die rund 57′000 Beschäftigten im Spitex-Bereich 2020 noch immer zu mehr als 70 % für Non-Profit-Organisationen arbeiteten, die zwar z. T. Marktpotenziale erschliessen, aber per definitionem keine Gewinne ausschütten dürfen – und deren primäres Ziel typischerweise nicht die Gewinnerzielung ist (BFS 2022i).

Tab. 5.1 Ambulante Pflege (Spitex) in Zahlen. (Quelle: BFS (2022i); eigene Darstellung)

In diesem Zusammenhang ist in den vergangenen Jahren indes zu beobachten, dass die einstige «Vormachtstellung» der gemeinnützigen Anbietenden aus dem öffentlichen und privaten Umfeld nicht allein hinsichtlich der Beschäftigten, sondern auch mit Blick auf die Nutzenden von Leistungen bröckelt, die immer öfter Verträge mit selbstständigen Pflegefachpersonen oder profitorientierten Firmen abschliessen. Nebenbei bemerkt sind Letztere die einzigen, deren Geschäftsmodelle kumuliert zu nennenswerten Überschüssen führen – und (wie auch die selbstständigen Pflegefachpersonen) fast ohne öffentliche Subventionen, etwa durch Gemeinden oder Kantone, auskommen. Es erstaunt deshalb nicht, dass sie ihre Einnahmen nahezu komplett (2020: zu 99 %) aus direkten Leistungsentgelten bestreiten und im Bereich Langzeitpflege durchschnittlich mehr als doppelt so viele Stunden pro Klienten oder Klientin (2020: 115 h) abrechnen als die Non-Profit-Spitex (47 h). Das kann unter anderem damit erklärt werden, dass die öffentliche Subventionierung von gemeinnützigen Anbietenden mit der gesetzlichen Verpflichtung einhergeht, Kapazitäten für die Kurzzeit- und Übergangspflege bereitzuhalten, die sich für erwerbswirtschaftliche Marktteilnehmende oft nicht «rechnet». Abschliessend soll nicht unerwähnt bleiben, dass sich an den Zahlen Verschiebungen im Leistungsspektrum ablesen lassen, die jedenfalls teilweise ein Resultat der Abrechnungssystematik und der sich wandelnden Anbietendenstruktur sind. So fällt bspw. unmittelbar ins Auge, dass das Total der verrechneten Stunden im Bereich Langzeitpflege zwischen 2011 und 2020 um 82 %, aber im Bereich Hauswirtschaft und Sozialbetreuung nur um 15 % gestiegen ist. Eine plausible Erklärung hierfür lautet, dass sich die Krankenversicherungen an den Kosten der Grundpflege beteiligen, aber Betreuung und Hauswirtschaft von den Klientinnen und Klienten selbst bezahlt werden müssen. Die Bereitschaft, hierfür Leistungen einzukaufen, steigt offenbar nicht in dem Masse wie die Pflegebedürftigkeit per se.Footnote 8

Unbestritten zählen zum Gesundheitsbereich ferner die rund 14′000 Arztpraxen und ambulanten Zentren, in denen 2019 ca. 22′000 Ärztinnen und Ärzte (16′000 Vollzeitäquivalente) sowie 57′000 Beschäftigte (28′000 Vollzeitäquivalente) mit nicht-ärztlichen Funktionen tätig waren, d. h. Praxisassistenzen, nichtärztliche Pflegefachkräfte und nichtärztliches Personal ausserhalb des Pflegebereichs (BFS 2022j). Darüber hinaus zählt die offizielle Kartografie des helvetischen Wohlfahrtsstaats die «spezialisierten Institutionen» für Menschen mit Beeinträchtigungen (2015: 527 Einrichtungen), für Menschen mit Suchtproblematiken (78 Einrichtungen) und Menschen mit psychosozialen Problemen (129 Einrichtungen) zum Gesundheitswesen. In diese Kategorie fallen unter anderem auch Heime mit Werkstätten und geschützten Arbeitsplätzen sowie Sonderschulen mit Internatsangebot, in denen 2015 rund 57′000 Personen lebten und/oder arbeiteten (BFS 2022k). In diesen Einrichtungen ist eine im Detail unbekannte Mischung von Personen mit verschiedenen disziplinären Hintergründen in der Grössenordnung von 35′000 Vollzeitäquivalenten professionell tätig. Von Betreuungsberufen über Fachkräfte aus den Bereichen (Heilerziehungs-)Pflege, Therapie und Rehabilitation bis hin zu Sozialarbeitenden und Lehrpersonen, aber auch Gastronomie- und Administrationspersonal ist ein bunter Strauss vertreten. Diese «spezialisierten Institutionen» verdeutlichen, wie stark sich Gesundheits-, Sozial- und teilweise andere (z. B. Bildungs-)«Wesen» einerseits überlappen und wie in sich zersplittert sie andererseits sind.

Personalmangel und Arbeitszufriedenheit

Kommen wir abschliessend auf den Arbeitskräftemangel und die mit ihm zusammenhängenden Arbeitsbedingungen zu sprechen. Es gibt eine schlechte und eine gute Nachricht.

Fangen wir mit der schlechten Nachricht an: Der Personalmangel im Sozial- und vor allem im Gesundheitsbereich ist in der Schweiz weiterhin hoch. Was uns durch die Corona-Krise und nicht zuletzt die erfolgreiche Pflegeinitiative (siehe Kap. 4) einmal mehr vor Augen geführt wurde, lässt sich seit vielen Jahren an Zahlen festmachen. In den Spitälern und Gesundheitseinrichtungen fehlt es personell an allen Ecken und Enden. Es wird trotz intensivierter Anstrengungen noch immer zu wenig ausgebildet, und diejenigen, die da sind, klagen über hohe Belastungen. Laut Berechnungen lassen sich bspw. bis 2029 mit dem aktuell verfügbaren Nachwuchs an Pflege- und Betreuungspersonal nur 67 % des Bedarfs der Tertiärstufe und 80 % des Bedarfs der Sekundarstufe II decken (Schwendimann et al. 2014; Merçay et al. 2021; Zúñiga et al. 2021). Wie die gesamte Wirtschaft sind Gesundheitseinrichtungen deshalb hochgradig von ausländischen Mitarbeitenden abhängig. Der OECD-Vergleich zwischen der Schweiz, Deutschland und Frankreich legt Zeugnis darüber ab (Tab. 5.2). Demzufolge sind zwar die Einsatzzahlen von Beschäftigten mit einem Diplom, das jenseits der Landesgrenzen erworben wurde, in allen drei Ländern während der zurückliegenden Dekade gestiegen – aber nirgendwo auf dem Niveau der Schweiz. Hier bringt mittlerweile mehr als ein Drittel der Ärztinnen und Ärzte und jede vierte Pflegefachperson einen ausländischen Abschluss mit. Das Rekrutieren in anderen Ländern fällt der Schweiz angesichts ihres hohen Lohnniveaus nicht allzu schwer. Allerdings können sich Staaten wie die soeben genannten nur begrenzt darüber amüsieren, wenn ihre Absolventinnen und Absolventen der auch dort händeringend gesuchten Professionen gen Alpen abwandern, anstatt an der Kompensation ihrer Ausbildungskosten durch Steuerzahlungen in ihrer Heimat mitzuwirken.

Tab. 5.2 Ärzte/Ärztinnen, Pflegefachpersonen und Anteil mit ausländischem Diplom. (Quelle: OECD (2022c); eigene Darstellung)

Nach so viel Schelte würde dieses Lehrbuch sein Ziel verfehlen, wenn es das floskelhafte Glas immer nur «halbleer» und nicht einstweilen «halbvoll» sehen würde. Was uns abschliessend zu der guten Nachricht führt: Es gibt auch Positives zu vermelden. Da wäre z. B. der Befund, dass schweizerische Pflegekräfte im europäischen Vergleich ihre allgemeine Arbeitsumgebungsqualität als überdurchschnittlich gut beschreiben und von relativ geringer emotionaler Belastung berichten (Schwendimann et al. 2014; Zúñiga et al. 2021). Oder die Erkenntnis, dass die Arbeitszufriedenheit des hiesigen Klinikpflegepersonals während der ersten COVID-19-Welle im Jahre 2020 trotz höheren Aufwands und mehr Zeitdruck als im Jahr zuvor sogar leicht anstieg. Dieser Effekt drehte sich mit der zweiten und dritten Welle 2020/2021 zwar ins Gegenteil um (und wir können darüber spekulieren, ob herausfordernde Situationen und Krisen den Zusammenhalt sowie die wahrgenommene Sinnhaftigkeit des eigenen Tuns vorderhand stärken). Allerdings zeigen die Daten, dass der gegenteilige Effekt nicht für alle Befragten galt, sondern vielmehr Spielräume seitens der Spitalleitungen bestanden, durch Anerkennung und Mitspracherechte bei der Umsetzung von Schutzmassnahmen die Arbeitszufriedenheit weiterhin hoch und das wahrgenommene Stresslevel tief zu halten (Arnold und Posch 2021; Arnold et al. 2021). Eine wertschätzende, teilhabeorientierte Organisationskultur sowie partizipationsorientierte Entscheidungsstrukturen zahlen sich offenbar aus.

Beispielhaft für das Sozialwesen können wir eine Befragung unter Beschäftigten von Organisationen für Menschen mit Beeinträchtigungen in der gesamten Deutschschweiz des Statistischen Amtes des Kantons Zürich (2021) darbieten, die ein grösstenteils gut oder sehr gut bewertetes Arbeitsklima in den Einrichtungen und eine ausserordentlich hohe Sinnstiftung der Tätigkeiten dokumentiert. Die globale Pandemie straft ausserdem alle Pessimisten Lügen, die felsenfest behauptet haben, Fach- und Führungskräfte im Sozialbereich seien nicht lern- und veränderungsfähig: Innert kürzester Frist wurden Sozialberatungen, Job-Coachings und viele weitere Unterstützungsangebote – wenngleich in stressigen und quasi alternativlosen Zeiten – auf Online- und gemischte Formate umgestellt (Sommerfeld et al. 2021; Eser Davolio et al. 2021; Steiner und Kehl 2021). Und schliesslich wollen wir nicht vergessen, dass zwar auch soziale Dienstleistungsbetriebe verschiedentlich verlauten lassen, Planstellen nicht direkt (adäquat) besetzen zu können, jedoch der Personal- und Fachkräftemangel hier weniger stark ausgeprägt zu sein scheint als im Gesundheitssektor. Zwar sind verlässliche Branchendaten Mangelware, aber wir wissen, dass der Anteil des Personals ohne schweizerischen Pass im Sozialwesen unter 20 %, d. h. signifikant niedriger als im Gesundheitswesen, liegt (BFS 2022e). Die Pensionierung der geburtenstarken «Babyboomer»-Generation wird allerdings in den kommenden Jahren auch von sozialen Organisationen Personalstrategien abverlangen, mit denen sie die Angehörigen der «Generation Z» für eine leidenschaftliche Mitarbeit begeistern können. Denn wie eine Erhebung unter angehenden Fachpersonen der Sozialberufe aller Altersstufen in der Schweiz ergeben hat, streben die ungefähr zwischen 1995 und 2010 Geborenen weniger als vorhergehende Generationen nach verantwortungsvollen und herausforderungsvollen Tätigkeiten, dagegen umso mehr nach Jobsicherheit und geregelten Arbeitszeiten – bei einem ausgeprägteren gesundheitlichen Belastungserleben und tendenziell niedrigerer Bereitschaft, sich über Schicht- und Einsatzpläne hinaus professionell zu engagieren (Weber und Kehl 2022).

Literatur zur Vertiefung

  • Merçay et al. (2021) und AvenirSocial (2018).

FormalPara Lernaufgabe

Halten Sie sich die Grafiken in diesem Kapitel nochmals vor Augen. Überlegen Sie: Was fällt Ihnen auf – welche Unterschiede erkennen Sie innerhalb der Schweiz (zwischen den föderalen Ebenen Gemeinde, Kanton, Bund), zwischen der Schweiz und anderen Staaten sowie zwischen dem Gesundheits- und Sozialwesen? Finden Sie gemeinsame Muster oder gegenläufige Trends? Was bedeuten diese Entwicklungen für die Zukunft Ihrer Profession?