FormalPara Lernziele des Kapitels
  • Sie können den dreiteiligen Staatsaufbau der Schweiz sowie das Zusammenspiel aus Legislative, Exekutive und Judikative beschreiben.

  • Sie wissen, welche Phasen den Gesetzgebungsprozess in der Schweiz strukturieren.

  • Sie können die (halb-)direkte Demokratie und den Föderalismus als zentrale Wesensmerkmale des schweizerischen Institutionensystems aufeinander beziehen.

Von Zeitgenossinnen und Zeitgenossen dies- und jenseits der Landesgrenzen wird die Schweiz bereitwillig als «Sonderfall» bezeichnet. Ob im Hinblick auf die politisch-geografische Inselstellung innerhalb des EU-Staatenverbunds, die wirtschaftliche Stärke und den vergleichsweisen hohen Wohlstand oder die omnipräsente «Swissness», welche uns als Kundinnen und Kunden in den Regalen der Migros, von Coop und Co. in Form von strahlenden Schweizerkreuzen auf Produkten heimischer Produktion tagtäglich ins Auge springt: Wacker hält sich der Mythos des Eigenwilligen und Aussergewöhnlichen. Er datiert im Grunde zurück bis auf die Gründung der heutigen Eidgenossenschaft im Jahre 1848 und wird wahlweise pathetisch-überhöht, mit einer Prise (Selbst-)Ironie, aber gelegentlich auch rechtfertigend (wie z. B. in Diskussionen über nationale Abgrenzungstendenzen und die Stärke rechtskonservativer Kräfte) vorgetragen. Wenngleich sie mitunter etwas überrissen und pauschalisierend wirkt, beschränkt sich die Rede vom «Sonderfall» jedoch nicht auf reine Stammtisch-Rhetorik. So haben sich in den vergangenen Dekaden immer wieder angesehene Sozialforscherinnen und -forscher mit dem Wundersamen und Charakteristischen der Schweiz auseinandergesetzt (Borner et al. 1990; Eberle 2007).

Der dreiteilige Staatsaufbau

Auch im Hinblick auf das politische System werden der Schweiz, wie etwa von Vatter (2020), einige Spezifika im Vergleich mit anderen Staaten attestiert: Die Schweiz macht demnach besonders, dass sie eine politische «Willensnation» auf multikultureller Grundlage ist. Im Gegensatz zu vielen anderen Ländern gibt es keine flächendeckende Sprache, sondern derer vier (deutsch, französisch, italienisch, romanisch; ergänzt um unzählige Dialekte, die bis zum heutigen Tage beharrlich Verwendung im Alltag finden). Es gibt keine dominante Konfession, Ethnie oder Kultur, und auch das Arsenal an nationalen Symbolen und Erinnerungen macht eher einen aufgeräumten, ja überschaubaren Eindruck. Trotzdem ist es gelungen, mit der Vielfalt und Unverbundenheit in friedlicher Koexistenz umzugehen – und sie sogar dezidiert zum nationalen Programm zu erheben. Die Schweiz gibt vor diesem Hintergrund ein gutes Beispiel dafür ab, wie es in einer sich zunehmend internationalisierenden und globalisierenden Welt gelingen kann, politische Integrationsbemühungen bei gleichzeitiger Wahrung von lokalen und regionalen Traditionen, Stärken und Autonomieansprüchen zu meistern. In diesem Sinne können wir den Alpenstaat mit Vatter als «Mikrokosmos Europas» oder «Forschungslabor» der europäischen Integration begreifen, welcher auf wenig Fläche Zeugnis darüber ablegt, wie innerhalb eines föderalen Gebildes politische, kulturelle und gesellschaftliche Heterogenität konstruktiv gewendet werden kann. Und nicht zuletzt erweist sich die Schweiz damit als Orientierungspunkt für Experimentierfreudige anderer Länder, in denen ergänzende, direktdemokratische Entscheidungswege diskutiert werden. Denn je mehr z. B. innerhalb der EU politische Kompetenzen an übernationale Institutionen abgegeben werden und die Bürgerinnen und Bürger ihren Einfluss schwinden sehen, desto interessierter richtet sich der Blick auf den «Sonderfall» Schweiz.

Doch wie funktioniert dieser «Sonderfall» im Detail – und wie das politische System?

Zunächst ist der grundlegende Staatsaufbau der Schweiz durch eine dreiteilige Organisation auf allen föderalen Ebenen geprägt, bestehend aus der Legislative (gesetzgebende Gewalt), der Exekutive (ausführende Gewalt) und der Judikative (rechtsprechende Gewalt). Er verfügt damit über ein System der Gewaltenteilung und Gewaltenverschränkung, sog. checks and balances, wie es schon für die frühe nordamerikanische Demokratie von vor über 200 Jahren ersonnen wurde (Schmidt 2019). Auf der Bundesebene agieren legislativ einerseits der Nationalrat mit seinen 200 Volksvertreterinnen und -vertretern und andererseits der Ständerat mit 46 Repräsentantinnen und Repräsentanten der Kantone (wobei hier die – heute nicht mehr offiziell so bezeichneten, einst aus Teilungen hervorgegangenen – «Halbkantone» Appenzell Ausserrhoden, Appenzell Innerrhoden, Basel-Landschaft, Basel-Stadt, Nidwalden und Obwalden jeweils eine Abgesandte bzw. einen Abgesandten stellen und die übrigen Kantone zwei). Inspiriert vom US-Bikameralismus mit Repräsentantenhaus und Senat, verzahnt das schweizerische Politiksystem somit in modifizierter Weise das urdemokratische Prinzip «one person, one vote» mit dem föderalen Grundsatz «alle Kantone dieselbe Stimmenanzahl», unabhängig von der Bevölkerungszahl (mit Ausnahme der «Halbkantone») (Linder und Mueller 2021).

Gewählt werden die in Bern ansässige grosse (National-) und die kleine Parlamentskammer (Ständerat) alle vier Jahre vom Volk. Bei den Nationalratswahlen schicken die Kantone mit überschaubarer Population (wie z. B. Uri, Obwalden oder Nidwalden) nur jeweils eine Person in die Volksvertretung, wohingegen Zürich mit seinen mehr als 1.5 Mio. Einwohnerinnen und Einwohnern über 35 Nationalratssitze verfügt. Dennoch sind die Schweizerinnen und Schweizer je nach Wohnkanton mit unterschiedlichem Gewicht im Nationalrat vertreten: Im Kanton Zürich bspw. kamen bei den Wahlen im Herbst 2019 rund 27′000 und in Bern sogar 31′000 Wahlberechtigte auf einen Nationalratssitz, während es in Appenzell Innerrhoden nur etwa 12′000 waren (BFS 2019). In den bevölkerungsreichen Kantonen mit mehr als einem Nationalratssitz kommt dabei typischerweise das Proporz- bzw. Verhältniswahlsystem zur Anwendung, demgemäss die Mandate einer Partei entsprechend den prozentualen Wählerstimmen anteilsmässig berechnet werden (siehe Kap. 3). In Kantonen mit nur einem Sitz kommt dagegen diejenige Person zum Zuge, die am meisten Stimmen erhält (Majorz- bzw. Mehrheitswahlsystem).

Gemeinsam bestimmen National- und Ständerat als Bundesversammlung wiederum einzeln die sieben Bundesrätinnen und -räte, die gesamthaft den Bundesrat – die Exekutive bzw. Regierung der Schweiz auf nationaler Ebene – bilden. Er handelt konsequent nach dem Kollegialitätsprinzip und trifft alle Entscheide während vier Jahren Amtsdauer mit einfacher Mehrheit «kollegial» und verantwortet sie bei internen Unstimmigkeiten gemeinsam entlang der Mehrheitsmeinung gegen aussen. Zu der Kollegialität gehört auch, dass niemand aus dem Kreis der Sieben über Weisungsbefugnis gegenüber anderen Mitgliedern des Bundesrates verfügt (der Bundespräsident oder die Bundespräsidentin leitet die Sitzungen, verfügt aber über keine Sonderrechte). Vielmehr sind die sieben Gewählten gleichberechtigt und fungieren parallel als Vorstehende eines der sieben Departemente der Bundesverwaltung. Unterstützt und beraten wird der Bundesrat bei der Ausübung seiner Regierungsgeschäfte von der Bundeskanzlerin bzw. dem Bundeskanzler, der im Sinne eines Stabschefs an den wöchentlichen Bundesratssitzungen teilnimmt.

Schliesslich wird die rechtsprechende Gewalt vor allem vom Bundesgericht mit Hauptsitz in Lausanne und zwei sozialrechtlichen Abteilungen in Luzern als oberstem Gericht der Schweiz wahrgenommen. Es urteilt letztinstanzlich bei Rechtsstreitigkeiten sowie bei Fragen der Verfassungsmässigkeit von bestimmten gesetzlichen Ausführungsbestimmungen (etwa sog. Verordnungen) auf eidgenössischer und kantonaler Ebene, damit Bundesrecht schweizweit gleich umgesetzt wird. Es kann allerdings das Bundesgesetz selbst nicht ausser Kraft setzen. Zu der Judikative gehören ausserdem das Bundesstrafgericht, das Bundesverwaltungsgericht und das Bundespatentgericht, die administrativ dem Bundesgericht unterstehen und deren Entscheide an das Bundesgericht weitergegeben werden können. Die Richterinnen und Richter des Bundesgerichts, des Bundesstrafgerichts, des Bundesverwaltungsgerichts und des Bundespatentgerichts werden auf Vorschlag der Parteien für sechs Jahre von der Bundesversammlung – also den Mitgliedern des National- und Ständerats – gewählt und können bis zur Vollendung des 68. Lebensjahres unbegrenzt wiedergewählt werden. Oder anders formuliert: Sie werden nicht, wie z. B. in den Vereinigten Staaten, auf Lebenszeit ernannt, sondern müssen sich gewissermassen «bewähren» und im Turnus erneut zur Wahl antreten. Dieses Prinzip weckt gelegentlich Zweifel an ihrer Unabhängigkeit von den politischen Parteien, denen sie das bzgl. Renommee und Lohn lukrative Mandat zu verdanken haben, und löste in der jüngeren Vergangenheit hitzige Diskussionen und eine Volksinitiative aus. Unter demokratietheoretischen Vorzeichen sind die Sorgen um unabhängige Gerichte nachvollziehbar, soll doch etwa die Ernennung auf Lebenszeit dafür sorgen, dass Richterinnen und Richter «sich aufgrund eines eigenen Interesses an einer Wiederwahl nicht den sie direkt bzw. indirekt wählenden Institutionen bzw. den Bürgern fügen» (Brodocz 2009: 43). Das Stimmvolk in der Schweiz hielt es allerdings mit den Argumenten der Befürworterinnen und Befürworter des geltenden Prozederes, wonach durch die Parteibindung Transparenz entstehe und durch die regelmässigen Erneuerungswahlen veränderten politischen Stimmungslagen Rechnung getragen werden könne, und erteilte der Initiative eine Absage.

FormalPara Unabhängige Judikative oder «verlängerter Arm des Parlaments»?

Seit vielen Jahren schwelt in der Schweiz ein Streit über die Unabhängigkeit ihrer höchsten Richterinnen und Richter, namentlich der (momentan 38) Richterinnen und Richter des Bundesgerichts. Denn anders als in anderen Ländern ist die Parteizugehörigkeit neben der Sprache und Herkunftsregion ein zentrales Kriterium bei der Besetzung der rechtsprechenden Gewalt. Parteilose sind und waren bei den Wahlen chancenlos. Was die Juristerei im Ausland bisweilen ungläubig auf den «Sonderfall» Schweiz blicken lässt, wird von weiten Teilen der hiesigen Exekutive, Legislative und Judikative als Vorteil ins Feld geführt: In einer heterogenen Gesellschaft sei es unumgänglich, dass der Unabhängigkeit verpflichtete Richterinnen und Richter unterschiedliche soziale und kulturelle Prägungen, Weltanschauungen und Positionen mitbrächten. Durch die Bindung der Wahl an das Parteibuch sei dies immerhin transparent. Zudem würde bei den Wahlen neben Kriterien wie Alter, Geschlecht oder Herkunft in stillem Einvernehmen – wie auch bei den Wahlen des Bundesrats – auf den Parteienproporz geachtet, sodass die verschiedenen gesellschaftlichen Werte und Milieus im Bundesgericht jeweils gut abgebildet seien – und auf Verlagerungen der politischen Präferenzen über die Zeit (z. B. auf das Erstarken bestimmter Politikströmungen) reagiert werden könne.

Die Gegenseite gibt zu bedenken, dass Richterinnen und Richter infolge des Fehlens einer staatlichen Parteienfinanzierung einen Teil ihres Lohns als «Dank» an ihre Parteien abtreten müssten (die sog. «Mandatssteuer») und sie durch abweichendes Verhalten und mangelnde «Linientreue» bei Gerichtsurteilen ihre Wiederwahl gefährdeten. Die Fürsprecherinnen und Fürsprecher des Prinzips erwidern, dass es bis heute keinen Fall gegeben habe, in dem ein Mitglied des Bundesgerichts aufgrund eines spezifischen Urteils nicht wiedergewählt wurde (was überhaupt erst zweimal vorkam, als sich Richter trotz Erreichens der Altersgrenze zur Wiederwahl stellten). In der Tat zeigt der «Fall Donzallaz» aus dem Jahre 2020, als die SVP einen von ihr ins Rennen geschickten Bundesrichter nach der zweiten Amtszeit zur Abwahl empfahl, das Gegenteil: Die anderen Parteien solidarisierten sich mit dem Gescholtenen, der mit Ausnahme der rechtskonservativen Stimmen von den übrigen Fraktionen wiedergewählt wurde. Eine Initiative, welche die Wahl des Bundesgerichts an ein Losverfahren und die vorgängige Bestimmung von Kandidatinnen und Kandidaten durch eine unabhängige Expertenkommission knüpfen – sowie die Wiederwahl alle sechs Jahre abschaffen – wollte, scheitere 2021 am Nein von Volk und Ständen. Die Diskussion über die Unabhängigkeit von Partei und Mandat ist damit aber noch nicht vom Tisch. Die «Mandatssteuer» ist bspw. auch unabhängig von der Initiative Gegenstand von Debatten über die Parteienfinanzierung.

Die (halb-)direkte Demokratie

Wie der Verweis auf die Justiz-Initiative rund um die Wahlen der Bundesrichterinnen und Bundesrichter gezeigt hat, können im Gegensatz zu den meisten anderen Ländern der Welt die Wählerinnen und Wähler in der Schweiz nicht nur die Mitglieder des Parlaments sowie die Vertreterinnen und Vertreter der Kantone wählen, sondern direkt über Bundesgesetze und Verfassungsänderungen abstimmen. Jede Reform der Verfassung unterliegt dem obligatorischen Referendum und der Zustimmung der Mehrheit der Kantone, d. h. dem Volks- und Ständemehr. Zudem können die Bürgerinnen und Bürger eine Volksinitiative für eine (meist Teil-)Revision der Bundesverfassung lancieren, wenn das Begehren innerhalb von 18 Monaten von 100′000 Stimmberechtigten unterzeichnet wird. Auch hier ist für eine erfolgreiche Umsetzung in der Regel ein doppeltes Mehr von Volk und Ständen erforderlich. Zudem kann gegen jedes neue Bundesgesetz oder jeden neuen Beschluss mit 50′000 Unterschriften innerhalb von 100 Tagen nach dem Erlass das Referendum ergriffen werden. Dieses fakultative Referendum gibt den Bürgerinnen und Bürgern die Möglichkeit, die vom Parlament gefassten Beschlüsse endgültig zu genehmigen oder abzulehnen und die gewählten Repräsentantinnen und Repräsentanten auch zwischen Wahlen an ihren Auftrag zu erinnern, im Interesse des Volkes zu handeln.

Denn demokratisch gewählte Parlamentsabgeordnete verfolgen immer auch eigene Ziele, die von denen der Stimmbürgerschaft abweichen können. Der Zweck von Referenden kann vor diesem Hintergrund in ihrer Kontroll- und Sanktionsfunktion gesehen werden, um Gesetze zu verhindern, «die zu weit von dem entfernt sind, was dem Willen der Mehrheit entspricht» (Feld und Kirchgässner 2002: 90). Durch die blosse Drohkulisse eines Referendums werden im Parlament «politische Entscheidungen in aller Regel nur getroffen, wenn zu erwarten ist, dass sich, falls es zur Abstimmung kommt, auch eine Mehrheit der Stimmbürger für diese Vorlage ausspricht» (ebd.). Auch die Kantone können jedes Bundesgesetz dem Referendum unterstellen, wenn dies von mindestens acht Kantonen verlangt wird. Dadurch besitzen die kantonalen Regierungen über einen Hebel, um dem Parlament zu widersprechen. Das ist insofern interessant, als die Verfassung mit dem Ständerat ein kantonales Sprachrohr im Zweikammersystem installiert hat, die Ständeräte aber hinsichtlich ihres Entscheidungsverhaltens im Zweifel der Parteidisziplin und nicht dezidierten Kantonsinteressen den Vorzug geben (Vatter 2020). Noch interessanter ist aber vielleicht, dass das Kantonsreferendum erst einmal in der Geschichte (im Jahre 2004) ergriffen wurde.

Fachkundige des politischen Entscheidungsprozesses in der Schweiz verdeutlichen das Zusammenspiel der beiden zentralen, direktdemokratischen Instrumente typischerweise anhand der Symbolik eines Autos: Die Volksinitiative wirkt demzufolge wie ein Gaspedal, da es die eingeschliffenen Denk- und Handlungsmuster politischer Eliten aufzubrechen und politische Dynamik – mithin: Innovationen – in bislang vernachlässigte oder stockende Themen zu bringen vermag. Das Referendum wird mit einer Bremse verglichen, da es allzu eifrigem Reformeifer der Entscheidungstragenden eine Absage erteilen will (z. B. Bernauer et al. 2015). Es verwundert nicht, wenn die schweizerische Politik gemeinhin als etwas «träge» beschrieben wird und die Stimmberechtigten offenbar tatsächlich stärker auf die Bremse als auf das Gaspedal treten. Nicht nur, dass die Zahl der Referenden seit 1848 die Zahl der Initiativen übersteigt; auch die Erfolgsaussichten von Volksinitiativen sind historisch gesehen deutlich geringer: «Drei Viertel aller Beschlüsse, die dem obligatorischen Referendum unterstehen, und mehr als die Hälfte der Entscheide, gegen die das fakultative Referendum ergriffen wurde, wurden vom Volk angenommen. Hingegen war lange Zeit nur ungefähr jede zehnte Volksinitiative an der Urne erfolgreich. Allerdings fällt für die neueste Zeit auf, dass nicht nur die absolute Zahl der Volksinitiativen zugenommen hat, sondern gleichzeitig auch ihr Erfolgsgrad» (Vatter 2020: 357).

Es bleibt abzuwarten, ob sich dieser Trend erhärtet. Auf jeden Fall zeigen die Zahlen, dass mit der Bremse nicht nur die politische Klasse am kurzen Zügel geführt wird, sondern angesichts der begrenzten Bremswirkung vielfach auch die Veto-Ansprüche einer Minderheit von Bürgerinnen und Bürgern vereitelt und zuvor parlamentarisch geschaffene Fakten bestätigt werden. In der 2019 begonnenen Legislatur fiel bis Ende 2021 allerdings auf, dass das Volk bei Abstimmungen ungewöhnlich häufig gegen den Willen von Bundesrat und Parlament entschied. Zwar gab es solche Phasen des «bürgerschaftlichen Widerwillens» in der Geschichte immer wieder, und die Pandemie mag ihren Teil zum Unbehagen mit der politischen Klasse beigetragen haben. Jedoch kann dies auch ein Indiz dafür sein, dass es Legislative und Exekutive nicht ausreichend gelungen ist, komplexe politische Sachverhalte allgemeinverständlich zu vermitteln. Sind sich die Bürgerinnen und Bürger nämlich unsicher, scheinen sie geneigt zu sein, die gegenwärtigen Verhältnisse zu konservieren und Unwägbarkeiten abzuwenden (SRF vom 14.2.2022). Das ist gemeint, wenn vom sog. Status-quo-Bias die Rede ist: «Da der Ist-Zustand bekannt ist und die Abstimmungsentscheidung für eine neue Alternative Unsicherheiten und Risiken birgt, stimmen vor allem risikoaverse Bürger für die Bewahrung des Status quo, um in der Zukunft eventuell auftretende Verluste zu vermeiden» (Vatter 2020: 372).Footnote 1

An dieser Stelle müssen wir bemerken, dass Volksinitiativen in der Regel etwas bewirken, selbst wenn sie nicht angenommen werden (ebd.). Denn über die Durchsetzung von Forderungen politischer Kräfte und Strömungen hinaus, denen es in den gewählten Institutionen der repräsentativen Demokratie an Einfluss mangelt – die Ventilfunktion der Durchsetzung von Minderheitsinteressen – erfüllen Volksinitiativen oft eine «Schwungradfunktion». Sie zwingen die Regierung und das Parlament zu einem Gegenvorschlag, mit dem diese in konsensualer Tradition nicht selten einen Schritt auf die Initianten zugehen und wenigstens einen Teil der Forderungen erfüllen. Gemäss der Katalysatorfunktion leisten Volksinitiativen nicht zuletzt einen Beitrag zur langfristigen Sensibilisierung (und Mobilisierung) der Bürgerinnen und Bürger für neue Themen und Trends. Ausserdem können sich Parteien, Verbände, politische Gruppierungen und Bewegungen mit Initiativen kurzfristig selbst inszenieren und öffentliche (mediale) Aufmerksamkeit generieren (Mobilisierungsfunktion). Dies kann insbesondere vor Wahlen vorteilhaft sein. Empirischen Befunden zufolge ist allerdings anzuzweifeln, ob die Volksinitiative vom Rechtsetzungs- zum strategisch eingesetzten Wahlkampf- und Werbeinstrument «verkümmert» ist, wie es die öffentliche Diskussion in den vergangenen Jahrzehnten zeitweise Glauben machte. Initiativen dienen den vier verschiedenen Funktionen offenbar weiterhin in gleichem Masse (Caroni und Vatter 2016).

An vielen Orten der Erde haben in den vergangenen Jahren direktdemokratische Elemente bei der politischen Entscheidungsfindung Einzug gehalten. Trotzdem wird auch heute noch rund ein Viertel aller Volksabstimmungen in der Schweiz durchgeführt. Insofern scheint die Einschätzung gerechtfertigt, dass in «keinem anderen Land […] das Prinzip der unmittelbaren Volkssouveränität so konsequent umgesetzt [wird] wie in der Schweiz. Anders als in parlamentarischen Demokratien trifft das Volk ohne Ausnahmen die abschliessende Entscheidung über alle Verfassungsfragen des Landes und ebenso unterstehen die Entscheide des Parlaments dem Vorbehalt der Nachentscheidung durch die Stimmbürgerschaft. Daraus hat sich ein System der halbdirekten Demokratie entwickelt, bei dem Exekutive, Legislative und Souverän eng zusammenwirken» (Vatter 2020: 351). Und dass auch die Judikative dann und wann ein Wort mitzureden hat, konnten wir bereits feststellen.

Vier idealtypische Phasen des Gesetzgebungsprozesses

Damit sind wir bei der Frage angekommen, wie der schweizerische Gesetzgebungsprozess auf Bundesebene funktioniert. Idealtypisch und auf die wesentlichen Schritte reduziert, kann man ihn in vier Phasen einteilen (Vatter 2020):

  • In der vorparlamentarischen Phase ergreift der Bundesrat eine Gesetzesinitiative. Alternativ wenden sich Parteien, Verbände oder andere politische Akteurinnen und Akteure über das Parlament bzw. über Volks- und Standesinitiativen an den Bundesrat. Je nach Inhalt konsultiert das jeweils zuständige Departement resp. eine von ihm eingesetzte Kommission aus Expertinnen und Experten die thematisch relevanten Verbände und bittet diese sowie Parteien und Kantone im Vernehmlassungsverfahren um Stellungnahmen zu einem Entwurf, bevor dieser als überarbeiteter Bundesratsentwurf dem Parlament unterbreitet wird.

  • Die parlamentarische Phase ist zunächst durch die Beratungen und Überarbeitungen in den thematisch einschlägigen National- und Ständeratskommissionen geprägt, d. h. Ausschüssen bestehend aus einer begrenzten Anzahl Mitglieder mit fachlicher Expertise in bestimmten Fachbereichen, z. B. Soziale Sicherheit und Gesundheit, Aussenpolitik oder Wirtschaft. Der sog. Erstrat beginnt und leitet seine Version an die andere Ratskommission weiter. Wurde die Reformvorlage von einem Mitglied oder Gremium des National- oder Ständerates eingereicht, ist der entsprechende Rat der Erstrat, andernfalls entscheiden die Ratspräsidentinnen und Ratspräsidenten (resp. bei unterschiedlichen Auffassungen das Los). Die Vorlage wird schliesslich von National- und Ständerat angenommen oder abgelehnt.

  • In der direktdemokratischen Phase werden Verfassungsänderungen dem Referendum unterstellt, das die Zustimmung von Volk und Ständen erfordert (doppeltes Mehr erforderlich). Bei einfachen Bundesgesetzen kann das fakultative Referendum ergriffen werden, wenn 50′000 Stimmberechtigte dies innert 100 Tagen nach Inkrafttreten des Gesetzes verlangen (einfaches Mehr erforderlich). Zudem können Bundesrat und Parlament bei Volksinitiativen einen Gegenvorschlag einreichen, der mit der Initiative zur Abstimmung kommt, wenn das Initiativkomitee die Initiative nicht zurückzieht.

  • Der Vollzug des Gesetzes erfolgt schliesslich in der Implementationsphase, in der die zuständigen Departemente detaillierte Verordnungen ausarbeiten. In dieser Phase sind die Kantone oft für die konkrete Ausführung zuständig und können dem Bundesparlament Änderungen vorschlagen.

FormalPara Die Pflegeinitiative 2021

Im November 2021 wurde die Volksinitiative «Für eine starke Pflege (Pflegeinitiative)» angenommen. Rund 61 % der Stimmbürgerinnen und Stimmbürger votierten mit Ja, ausserdem alle Kantone mit Ausnahme von Appenzell Innerrhoden. Damit werden die Pflegeberufe als zentraler Bestandteil der Gesundheitsversorgung in der Bundesverfassung verankert. Bund und Kantone müssen Massnahmen ergreifen, um eine ausreichende, allen zugängliche Pflege von hoher Qualität sicherzustellen, die Arbeitsbedingungen in der Pflege zu verbessern sowie die Aus- und Weiterbildung dahingehend auszubauen, dass eine ausreichende Anzahl diplomierter Fachpersonen zur Verfügung steht. Darüber hinaus ermöglicht es die Initiative dem Pflegefachpersonal, bestimmte Leistungen ohne vorherige Zustimmung einer Ärztin oder eines Arztes mit den Sozialversicherungen abzurechnen. Die Annahme der Initiative hatte historisches Format, wofür mindestens zwei Punkte sprechen: Zum einen wurde mit ihr erstmals in der Geschichte eine spezifische Berufsgruppe in der Verfassung als besonders förderungswürdig hervorgehoben. Zum anderen war es die erste Initiative aus Kreisen der Gewerkschaften und Berufsverbände, die schweizweit eine Mehrheit bekommen hat. Bundesrat und Parlament empfahlen die Ablehnung der Initiative, da sie die Regelung der Pflege auf Ebene der Verfassung für verfehlt hielten und die Arbeitsbedingungen weiterhin in sozialpartnerschaftlicher Verhandlung aus Kantonen, Spitälern, Heimen, Spitex, den Verbänden der Arbeitgeberinnen und Gewerkschaften (ohne «Einmischung» des Bundes) geklärt wissen wollten. Sie warben deshalb für einen indirekten Gegenvorschlag, der sich vor allem auf die Ausbildung konzentriert hätte und schneller umsetzbar gewesen wäre – was auch das siegreiche Initiativkomitee anerkannte, als es nach der Abstimmung mit der Ankündigung vor die Medien trat, zwecks rascher Implementation auf dem Gegenvorschlag aufbauen zu wollen.

Auf der Suche nach den Gründen für das geschichtsträchtige Resultat kommen wir einmal mehr an COVID-19 nicht vorbei: In einer Zeit, in der die Gazetten und News-Apps dauerhaft von überlasteten Pflegefachpersonen und Intensivstationen berichteten und sich die Initiativdebatte in eine emotional geführte Diskussion über gesellschaftliche Solidarität, «Corona-Leugner» und «Impfzwang» einfügte, fiel das Anliegen der Pflegebranche auf fruchtbaren Boden beim Volk. Man muss keine Glaskugel besitzen und kein Prophet sein, um orakeln zu können, dass das Begehren unter anderen Umständen (wie z. B. 2017, als es mit 114′000 Unterschriften eingereicht wurde) gescheitert wäre. In diesem Fall waren die langen Wege der (direkten) Demokratie für die Initianten und ihre Unterstützerinnen also für einmal heilsam. Und der Fall zeigt Folgendes: Einerseits, dass sich der sagenumwobene «Röstigraben» – gemeint ist das unterschiedliche Abstimmungsverhalten zwischen den französisch- und deutschsprachigen Kantonen – nicht bei jeder Vorlage fulminant auftut (wenngleich die Resultate in den meisten Kantonen der Romandie über dem gesamtschweizerischen Durchschnitt lagen und der Enthusiasmus pro Pflege in den zentral- und ostschweizerischen Kantonen gedämpft schien; siehe Abb. 4.1). Andererseits, dass Politik nicht vorhersehbar ist, sondern beizeiten schlicht von den «passenden» Umständen abhängt, die ein Möglichkeitsfenster öffnen – wie wir in Kap. 7 genauer sehen werden.

Abb. 4.1
figure 1

(Quelle: Swissinfo.ch 2021)

Abstimmungsergebnisse der Pflegeinitiative 2021 in den Kantonen.

Föderalismus und Subsidiarität

Wie wir gelernt hatten, werden etliche politische Entscheide in der Schweiz nicht auf Bundesebene, sondern direkt in den Gemeinden und Kantonen getroffen. Verantwortlich hierfür ist der stark ausgebaute Föderalismus, der den dezentralen staatlichen Einheiten «eine weitgehende Selbstorganisation und Autonomie in der Wahrung ihrer Aufgaben [einräumt]. Bund, Kantone und Gemeinden erheben je eigene Einkommens- und Vermögenssteuern. Die Steuerhoheit der Kantone umfasst das Recht, nicht nur die Ausgaben, sondern auch ihre Einnahmen selbst festzulegen […]. Legislative, Exekutive und richterliche Gewalten sind auf allen drei föderalistischen Ebenen vorzufinden» (Linder 2009: 569). Grundlage hierfür ist das Subsidiaritätsprinzip: Wann immer möglich – und insbesondere, wenn Bürgerinnen und Bürger Dinge nicht selbstverantwortlich regeln können – kümmern sich zunächst die Gemeinden (ggf. durch kooperatives Handeln) um öffentliche Aufgaben. Die Kantone übernehmen Aufgaben, wenn die Gemeinden nicht imstande sind, diese allein oder gemeinschaftlich zu erfüllen. Das Gleiche gilt für eine Aufgabendelegation von den Kantonen an den Bund, welche vom Volk und den Kantonen per Abstimmung zu genehmigen ist. Typische Aufgaben auf Ebene Gemeinde betreffen etwa die Müll- und Kehrichtabfuhr oder den Betrieb von Freizeiteinrichtungen, während der Bund u. a. für die Aussen-, Verteidigungs- und Migrationspolitik, jedoch auch für die Sozialversicherungen zuständig ist. Für unsere Zwecke in besonderem Masse relevant sind die Kantone: Im Rahmen der vom Bund verfassungsgemäss gewährleisteten Regelung der Krankenversicherung sind sie zuständig für die gesundheitliche Versorgungsstruktur, inklusive der Gewährleistung eines hinreichenden Angebots an Spitälern und Pflegeeinrichtungen, sowie für die Sozialhilfe (im Unterschied bspw. zu Deutschland, wo das Äquivalent zur Grundsicherung bundesgesetzlich geregelt und von den Gemeinden administriert wird).Footnote 2

Das Prinzip der Nachrangigkeit höherer staatlicher Ebenen ist nicht nur für die Politik relevant, sondern zieht sich durch praktisch alle Lebensbereiche: «Until today, the Swiss are citizens of their commune, their canton and the federation – in this order» (Linder und Mueller 2021: 61). Während Ausweisdokumente anderer Länder den Geburtsort einer Person aufführen, nennt die Schweizer Identitätskarte stattdessen den Heimat- bzw. Bürgerort mitsamt Angabe des entsprechenden Kantons; also die Gemeinde und den Kanton, welcher einer Schweizerin oder einem Schweizer das Bürgerrecht verliehen hat (wobei der Bürgerort nicht notwendigerweise deckungsgleich mit dem Geburts- oder Wohnort sein muss). Für Nicht-Schweizerinnen und Nicht-Schweizer, die sich als Französinnen, Deutsche oder gar Europäer verstehen, erscheint diese ausgeprägte lokale Orientierung mitunter verwunderlich. Sie hat jedoch historische und kulturelle Ursachen, welche für die eigentümliche Version des schweizerischen Föderalismus verantwortlich zeichnen.

So war den Kantonen zwar bereits lange vor Gründung der heutigen Eidgenossenschaft klar, dass sie im Herzen Europas und umgeben von mächtigen Königreichen und Herzogtümern in vielerlei Hinsicht (wirtschaftlich, militärisch, politisch usw.) auf Zusammenarbeit angewiesen waren. Die Idee eines starken Zentralstaats konnte sich aber nicht durchsetzen, da die Kantone die Preisgabe von Souveränität scheuten und – wie teilweise heute noch – eine Marginalisierung ihrer Identität, Sprache und Konfession fürchteten. Mit dem losen Staatenbund, wie er vor 1848 bereits vertraglich Bestand hatte, war auf Dauer jedoch ebenfalls niemand richtig glücklich (ebd.). So fanden die Urheber der Bundesverfassung – es waren tatsächlich Männer – einen «typisch schweizerischen» Kompromiss: Ein föderales Konstrukt, das die grösstmögliche Autonomie der Kantone sicherstellte und gleichzeitig Vorkehrungen traf, mit denen im Bedarfsfall Kompetenzen an den Bund abgegeben werden konnten. Was in der Folge nicht selten der Fall war, wie eine Analyse der (De-)Zentralisierung zwischen 1848 und 2010 zeigt (Dardanelli und Mueller 2019): Für den Berichtszeitraum kann punkto Gesetzgebung eine spürbare Kompetenzverlagerung zugunsten des Bundes festgestellt werden, während die Kantone in Bezug auf den Gesetzesvollzug und finanzielle Ressourcen weitgehende Eigenständigkeit bewahrten.Footnote 3 Infolgedessen zeigt der Trend klar in die Richtung eines extravaganten Vollzugsföderalismus, in dem der Gesetzesrahmen zunehmend von «Bundesbern» abgesteckt und die Implementation den Kantonen überlassen wird. «Dies rührt vor allem daher», so die beiden Studienautoren, «dass der Bund auf eine selbständige Umsetzung weitgehend verzichtet und sich die Kantone selten wehren und versuchen, mindestens über Ausführungsgesetze doch noch ihre eigenen politischen Präferenzen zur Geltung zu bringen». Dies sei aufgrund der begrenzten Verwaltungskapazitäten des Bundes nicht nur gewollt, sondern erlaube «ein nicht zu unterschätzendes Mehr an Freiheit: Für die Bürger sind Zugänglichkeit und Effizienz ebenso wichtig, wenn nicht gar wichtiger als die Instanz, die ein Gesetz erlässt» (NZZ vom 5.8.2017: 16).

Verglichen mit dem deutschen Föderalismus, welcher «gleiches Recht für alle» vorsiehtFootnote 4 und die Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse im Grundgesetz (der deutschen Verfassung) festschreibt, stehen die «Vielfalt in der Einheit» (Bundesverfassung) und die kantonale Eigenständigkeit bei der Implementation von Bundesgesetzen in der Schweiz sozusagen im politischen Pflichtenheft. Ihresgleichen sucht die Fiskal- und Steuerautonomie der Kantone und Gemeinden, von der Finanzverantwortliche deutscher Gebietskörperschaften nur träumen können, die weitgehend mit den ihnen zugewiesenen Anteilen öffentlicher Haushalte umzugehen und relativ geringe Spielräume beim Aufspüren neuer Geldquellen haben (Linder 2007). Eine Folge ist der hiesige Steuerwettbewerb, dem man z. T. pathologische Züge attestieren kann, wenn die prozentuale Belastung eines Ehepaares mit zwei Kindern und einem Bruttoeinkommen von 150′000 Franken jährlich im Kanton Neuenburg 2018 fast viermal höher war als im Kanton Zug (ESTV 2021). Im Unterschied zum Nachbarland, in dem die Regierungen der Bundesländer ihren Einspruch bei zustimmungspflichtigen Gesetzen geltend machen können, halten manche Beobachtende wiederum den Einfluss von genuinen kantonalen Interessen auf die formale Bundesgesetzgebung für eher begrenzt. Denn die Ständeräte vertreten im Regelfall «nicht institutionelle Kantonsinteressen […], sondern gleiche Gruppeninteressen wie die Vertreter der Volkskammer» (Linder 2007: 7), d. h. im Zweifel die politische Linie der Partei, welcher sie angehören. Entscheidende Impulse setzen sie vielmehr in der vorparlamentarischen Phase, in der sie sich zusammen mit den thematisch relevanten Interessenverbänden einbringen, sowie in der Implementationsphase, in welcher der Bund auf ihre Ausführungsleistungen angewiesen ist. Und nicht zuletzt erweist sich als «eigentliche Veto-Position […] die direkte Demokratie, in der der Bevölkerung der kleinen Kantone bei Doppelmehr-Abstimmungen (Änderungen der Verfassung sowie Volksinitiativen) ein überproportionales Gewicht zukommt» (ebd.)

Die ausgeprägte Unabhängigkeit der Kantone hat weitreichende Folgen für die politische Entscheidungspraxis und ihre Ergebnisse. Das den kantonalen Parlamentswahlen zugrunde liegende Wahlrecht legen die Kantone selbst fest, wobei die Institutionen nicht nur unterschiedliche Namen tragen (z. B. Grosser Rat im Kanton Bern, Kantonsrat im Kanton Zürich), sondern auch hinsichtlich der Grössenverhältnisse zwischen rund 50 und 180 Abgeordneten schwanken (Vatter 2020). Sie werden grösstenteils über Proporzwahl von der Wahlbevölkerung bestimmt. Auch beim Wahlrecht macht sich also die konstitutionell beschworene «Vielfalt in der Einheit» bemerkbar, was sich bspw. lange Zeit nachteilig auf das weibliche Geschlecht auswirkte: Während Schweizerinnen in den französischsprachigen Kantonen Waadt und Neuenburg bereits ab 1959 ihre Stimme abgeben durften, brauchte es in Appenzell Innerrhoden staatsrechtliche Beschwerden beim Bundesgericht und das Kalenderjahr 1990, bis das Frauenwahlrecht eingeführt wurde. Noch heute bestehen Unterschiede zwischen den kantonalen Parlamenten: So konnten die Frauen in Kantonen wie Schwyz und Nidwalden Ende 2018 nur 15 % der Parlamentssitze für sich beanspruchen (ebd.), wohingegen ihr Anteil in Zürich seit 2019 rund 39 % und im Grossen Rat von Basel-Stadt – der höchste Wert in der Schweiz – 40 % beträgt. Und auch die Wahlergebnisse der Parteien in den Kantonen unterscheiden sich signifikant; mit einer dominierenden SVP über 33 % der abgegebenen Stimmen in Schwyz und Schaffhausen bei den Wahlen 2020, einem starken linksliberalen Block aus SP, Grünen und GLP in Basel-Stadt (zusammen über 54 %) sowie einer altehrwürdigen CVP (heute auf nationaler Ebene und z. T. kantonal: Die Mitte), die zwischen 3 % im Kanton Schaffhausen (2020) und fast 40 % im Wallis (2021) schwankt.

FormalPara Föderalismus während COVID-19

Für das Management der Corona-Pandemie war der Föderalismus herausfordernd. Zwar konnte der Bundesrat mit der Erklärung der «ausserordentlichen Lage» im März 2020, gestützt auf das eidgenössische Epidemiengesetz, Massnahmen für die Gesamtschweiz zentral anordnen und die Kantone mit ihrem Vollzug beauftragen. Er war dabei aber auf die Kooperation der Kantone, die in unterschiedlicher Schwere von COVID-19 betroffen waren, angewiesen. Er musste die 26 Bewertungen der epidemiologischen Situation und die verschiedentlichen Abwägungen zwischen Bevölkerungsschutz, persönlichen Freiheiten und ökonomischen Folgen von Einschränkungen des öffentlichen Lebens sorgsam in seine Entscheide einfliessen lassen. Denn die Kantone waren es letztlich, die aufgrund ihrer Kompetenzen in der Spitalversorgung über Patientinnen- und Patientenkapazitäten sowie Schutzmaterial zu befinden und angesichts ihrer Polizeihoheit für die Einhaltung von Massnahmen zu sorgen hatten. Und nicht zuletzt verfügten die Kantone über unterschiedliche Voraussetzungen; sei es geografisch, wirtschaftlich oder bezüglich administrativer Kapazitäten (bspw. im Hinblick auf das zu Beginn der Pandemie nur schleppend funktionierende «Contact Tracing»). Selbst bei nationaler Anordnung von Massnahmen galt es deshalb einerseits, den lokalen Gegebenheiten entsprechende Lösungen zu finden, andererseits, bei Grundsatzfragen einen Konsens zu erzielen, um die föderale Koexistenz nicht infrage zu stellen (Cosandey 2020; Freiburghaus et al. 2021). Unterschiedliche Positionen gab es während der Pandemie nämlich zuhauf. Vor allem, als die «ausserordentliche» Sonderstellung des Bundesrats im Sommer 2020 endete und die Kantone im Angesicht der zweiten Welle eigene Massnahmenregime etablierten.

Der Zwist zwischen den Kantonen und dem Bund kumulierte zu Jahresbeginn 2021 im «Terrassenknatsch» (SRF vom 18.2.2021), welcher um das liebste Winterhobby von «Herrn und Frau Schweizer» entbrannte: das Skifahren. Während die Anhängerinnen und Anhänger des rasanten Alpinsports im Wallis und in Bern ihr Essen an den Berghütten nur «takeaway» bestellen durften und ihre heisse Suppe bei Temperaturen unter dem Gefrierpunkt stehend konsumieren mussten, konnten es sich die Schneebegeisterten in der Zentral- und Südostschweiz entlang der Piste sitzend mit Decken auf den Terrassen gemütlich machen. So gingen die stark vom Tourismus abhängigen Kantone lange Zeit offen in Konfrontation zum Bundesrat und nahmen sich vor dem Hintergrund sinkender Infektionszahlen eine Sonderstellung heraus, bis sogar der Einsatz des Militärs beim Schliessen der Aussengastronomie in den Skigebieten diskutiert wurde. Letztlich gaben die aufmüpfigen Kantone nach. Die Posse zeigte aber, welche Konflikte dem Föderalismus innewohnen und wie sich diese in Krisenzeiten Bahn brechen können.

Einordnung des helvetischen «Sonderfalls»

Trotz aller Heterogenität und Widrigkeiten – hohe Berge, tiefe Täler, eine schier unendliche Vielfalt an Dialekten und Brauchtümern – funktioniert der «Sonderfall» Schweiz im Grossen und Ganzen ziemlich gut. «Kantönligeist» und kleinteiliges «Gärtlidenken» hin, «Röstigraben» und föderaler «Flickenteppich» her: Die «Willensnation» hat es in den mittlerweile mehr als 170 Jahren ihres Bestehens zu einigem ökonomischen Wohlstand, politischer Stabilität und, ja, auch Glück gebracht. In international vergleichenden Abfragen der Happiness bzw. des Subjective Well-Beings schneidet sie regelmässig weit oben in Rankings ab (OECD 2020), was offenbar mit der (Nutzung der halb-)direkten Demokratie und dem Föderalismus im Zusammenhang steht (Frey und Stutzer 2002; Stadelmann-Steffen und Vatter 2012). Davon abgesehen wartet die Schweiz stets mit Spitzenwerten bei der Demokratiezufriedenheit oder dem Vertrauen in Regierungen und Verwaltungen auf. In kaum einem anderen Land, mit Ausnahme von Dänemark und Neuseeland, wird der Staat als so wenig korrupt wahrgenommen (Freitag 2014; Transparency International 2021).

Dennoch können Optimierungspotenziale identifiziert werden, über die wir bei aller Euphorie nicht blindlings hinwegsehen wollen.

Wenn nur rund vier von zehn Schweizerinnen und fünf von zehn Schweizern regelmässig von ihrem Wahl- und Abstimmungsrecht Gebrauch machen, ist es zwar richtig und wichtig, auf die hohe Partizipationsfrequenz sowie die unterschiedlich stark wahrgenommene Wichtigkeit und persönliche Betroffenheit von politischen Entscheiden hinzuweisen. Der Befund entwickelt sich aber zu einem «Stresstest» für die Demokratie, sofern privilegierte soziale Gruppen (z. B. hinsichtlich Alter, Bildung und Einkommen) die Regelung öffentlicher Angelegenheiten auf Dauer signifikant mehr beeinflussen als andere; oder sehr überspitzt: unter sich ausmachen – und etwa 20 % der Stimmberechtigten den Urnengang konsequent verweigern (Linder 2009; Vatter 2020; Tresch et al. 2020). Die stimmenstärkste Partei im nationalen Parlament, die SVP, wird von Experten als rechtspopulistische Gruppierung eingestuft, die mit Anti-Elitismus («die da oben, wir hier unten») glänze und die Geschütze eines ethno-nationalen «Kulturkampfes» auffahre (Bernhard und Kriesi 2019). Natürlich sind die oft zitierten Gräben zwischen Stadt und Land sowie deutsch- und französischsprachiger Schweiz (der «Röstigraben») nicht ausser Acht zu lassen. Dass die schweizerische Konsensdemokratie mit ihren ausgebauten Volksrechten und dem starken Föderalismus bisweilen im «Schneckentempo» agiert, zu «Pflästerlipolitik» neigt, eine konsistente «Politik aus einem Guss» verunmöglicht, tendenziell minderheitenfeindliche Ergebnisse produziert und den konservativen, marktliberalen Eliten eher das Wort redet, als sie durch (erfolgreiche) Initiativen und Referenden herauszufordern: Das gehört zur Realität des helvetischen «Sonderfalls» (Merkel und Ritzi 2017; Schmidt 2019; Vatter 2020). Und dass Programme, die in den meisten Nachbarstaaten mittlerweile gang und gäbe sind – wie integrierte Familien- und Standortpolitiken, die den händeringend gesuchten Arbeitskräften attraktive Angebote zur Vereinbarkeit von Familie und Beruf machen – in der Schweiz offenbar die Hürden des Systems nicht überwinden können (SRF vom 14.02.2023): Auch das mag sonderbar anmuten.

Literatur zur Vertiefung

  • Linder und Mueller (2021) und Vatter (2020).

FormalPara Lernaufgabe

Sie werden von einer ausländischen Reisegruppe angesprochen. Sie hätten gelesen, berichten die Touristen, dass das politische System der Schweiz weltweit einmalig sei und die Bürgerinnen und Bürger hierzulande mehrmals im Jahr über Angelegenheiten in ihrer Gemeinde, ihrem Kanton und von nationaler Tragweite abstimmen dürften. So recht konnten sie sich auf den Sinn und Zweck dieses aufwendigen Prozederes keinen Reim machen. Leider haben die freundlichen Interessierten nicht viel Zeit, da sie schon bald die Heimreise antreten müssen. Wie erklären Sie ihnen in wenigen Sätzen die direkte Demokratie und den Föderalismus – sowie deren Vor- und Nachteile?