FormalPara Lernziele des Kapitels
  • Sie sind in der Lage, das Konzept der Konsensdemokratie in seinen Grundzügen zu erklären.

  • Sie können das politische System der Schweiz in den konsensdemokratischen Kriterienkatalog einordnen.

  • Sie können zwei Kriterien von Lijphart nennen, welche die Schweiz nicht (vollumfänglich) erfüllt.

Im vorangegangenen Kapitel haben wir uns das Wesen von Politik und Demokratie angesehen. Wir haben gelernt, was demokratische Systeme ausmacht, wie sie funktionieren, und konnten einen ersten Eindruck davon gewinnen, wie sich die Schweiz und wie sich Themen des Sozial- und Gesundheitswesens in die Demokratietheorie einfügen. Womöglich haben Sie sogar für sich identifiziert, was verlorenginge, wenn unser Alltag nicht von Politics, Policies und einer Polity geprägt wäre, die den demokratischen Kriterien von Dahl (1998) nahekommen.

Konsens als demokratischer Handlungsmodus

Jedoch hebt sich die Schweiz nicht ausschliesslich von undemokratischen Systemen ab, sondern von den allermeisten Demokratien in der Welt – einschliesslich ihrer Nachbarländer. Dies vor allem deshalb, weil sie ein ausnehmend konsensdemokratisch angelegtes Gemeinwesen und einen dementsprechend organisierten Gesetzgebungsprozess aufweist. Dies kann man gut entlang der einflussreichen Demokratiemerkmale zeigen, denen sich Arend Lijphart (2012) auf der Grundlage empirischer Forschung gewidmet hat. In seinen Studien geht es um die Abgrenzung zwischen Konsensdemokratien einerseits und Mehrheits- bzw. Konkurrenzdemokratien andererseits. Der gebürtige Niederländer bezeichnete damit zwei idealtypische Demokratieformen, die wir uns jeweils als Endpunkte eines gedanklichen Kontinuums vorstellen können, auf dem reale Demokratien rund um den Globus zu verorten sind. Die Schweiz erfüllt fast alle Merkmale der Konsensdemokratie, weshalb Lijphart sie als «Paradebeispiel» für diesen Typus diskutiert.

Als Konsensdemokratie – oder Verhandlungsdemokratie – können wir eine Demokratieform bezeichnen, in der politische Entscheide nicht ausschliesslich auf Mehrheitsvoten an der Wahl- oder Abstimmungsurne gestützt sind, sondern diese «eine unter vielen verschiedenen Handlungsressourcen im politischen Prozess darstellen. Tatsächlich umfasst das Konzept […] auch Entscheidungen, die nicht direkt am runden Tisch verhandelt, sondern von einzelnen Akteuren im Wissen um die Existenz mächtiger ‹Gegenspieler› im politischen System getroffen werden» (Czada 2003: 173). Es geht um politische Ordnungen, in denen Verhandlungen aufgrund von konstitutionell geschaffenen Vetopositionen in vielen Fällen politischem Wandel vorausgehen (Czada 2006). Der Begriff Vetospieler verweist auf individuelle oder kollektive Akteure, deren Einverständnis nötig ist, um eine Änderung des gegenwärtigen Zustandes herbeizuführen. Es kann sich um verfassungsrechtliche Institutionen wie z. B. eine zweite Parlamentskammer, mächtige Parteien und Koalitionspartner innerhalb einer Regierung, aber auch um Interessenverbände handeln. Auf eine einfache Formel gebracht, sinkt die Reformfähigkeit eines politischen Systems mit der Anzahl Vetospieler, ihrer inhaltlichen Differenz und ihrer inneren Homogenität (Tsebelis 1995, 2002).

Der Zwang resp. das kulturelle Muster, gegensätzliche Positionen in wohlmeinender Absicht auszuloten und eine für alle Beteiligten akzeptable Lösung zu finden, ist für die helvetische Politik prägend. Dadurch scheint die Schweiz schon hinsichtlich der im Alltag beobachtbaren Prozesse und Resultate politischer Auseinandersetzungen auf allen föderalen Ebenen den «Paradefall» der Konsensdemokratie zu verkörpern. In ihr ist die individuelle und kollektive Handlungsfähigkeit gezügelt und langfristiger Politikwechsel eher unwahrscheinlich. Aufgrund der Zeit, welche die Konsens- bzw. Kompromissfindung horizontal (d. h. auf nur einer föderalen Ebene, wie z. B. dem Bund oder den Kantonen) und vertikal (zwischen Gemeinden, Kantonen und Bund) beansprucht, geht im Normalfall eine längere Prozessdauer des Politischen als in Mehrheitsdemokratien einher. Letztere konzentrieren die Macht und verschaffen «der Parlamentsmehrheit und ihrer Regierung in institutioneller Hinsicht einen großen Spielraum bei der Politikgestaltung» (Schmidt 2019: 331). Dagegen sagt man Konsensdemokratien nach, dass sie Macht teilen, die legislative und exekutive Herrschaft einschränken und die Teilhabe von Minderheiten akzentuieren (Lijphart 2012).

Machtbalance und Minderheitenschutz

Nach Lijphart (ebd.) zeichnet sich die Konsensdemokratie durch zehn Kriterien aus, die sie im Idealzustand erfüllt. Konsensdemokratien sorgen zunächst für exekutive Machtteilung, d. h., die Regierung wird üblicherweise nicht von einer einzigen Partei gestellt, sondern von zwei oder mehreren Parlamentsparteien. Solche Koalitionsregierungen sind den politischen Kräfteverhältnissen im Land geschuldet – also den Stimmenanteilen der unterschiedlichen Parteien bei Wahlen – aber auch dem Wahlsystem und dem Modus, wie über die Regierung entschieden wird bzw. wer dies tut. In der Schweiz bspw. wählt die Bundesversammlung, bestehend aus National- und Ständerat, zwar offiziell den Bundesrat. Jedoch existiert mit der sog. Zauberformel ein weithin anerkanntes Rezept dafür, welche Parteien in welcher Gewichtung die sieben Bundesräte stellen. In anderen Ländern, in denen sich die Regierung mehr oder weniger direkt aus der jeweils aktuellen Parteienstärke im Parlament ergibt, fände man diese Form der Exekutivbildung wohl höchst befremdlich.

FormalPara Die Zauberformel

Als Zauberformel wird der Modus bezeichnet, nach dem seit 1959 der siebenköpfige Bundesrat – die schweizerische Regierung – gewählt wird. Sie besagt, dass die drei stärksten Parteien (momentan, vor der Wahl 2023: SVP, SP und FDP) je zwei und die viertstärkste Partei eine Vertretung in die Exekutive entsenden. Tatsächlich stellt mit der Partei Die Mitte (ehemals CVP) in der Legislaturperiode zwischen 2019 und 2023 die fünftstärkste Partei die siebte Bundesrätin. Die letzte Modifikation der Zauberformel erfolgte 2003, als die SVP angesichts ihrer kontinuierlichen Wahlerfolge ab Mitte der 1990er Jahre einen Bundesratssitz der CVP übernahm. Das 2-2-2-1-Verhältnis wird verhandelt, wenn sich über mehrere Wahlen hinweg ein Trend zu gewandelten Mehrheitsverhältnissen erhärtet. Ihren Namen erhielt die Formel «aufgrund ihrer proportional nahezu perfekten Wiedergabe des Wählerwillens sowie ihrer beinahe schon magischen Beständigkeit» (Vatter 2020: 204). Sie führt deshalb immer wieder zu kontroversen Diskussionen: So konnte die Grüne Partei bei den Nationalratswahlen im Herbst 2019 zwar die CVP (Die Mitte) stimmenmässig überholen und reklamierte einen Platz im Bundesrat für sich. Aus unterschiedlichen Gründen war die Bewerbung der dem «linken Rand» zugerechneten Parteipräsidentin Regula Rytz jedoch nicht erfolgreich; u. a., weil die hinsichtlich ihrer politischen Präferenzen sonst durchaus wechselhaften Mitte-Parteien CVP und GLP (die sich erst in den 2000er-Jahren von den Grünen abgesondert hat) die Forderung des bürgerlichen Lagers nach politischer Stabilität unterstützten. Zudem hätte das von den Grünen ins Visier genommene Bundesratsmandat von Ignazio Cassis (FDP) den Verlust des einzigen Tessiner Bundesrats bedeutet, und in der schweizerischen Tradition ist es obendrein nicht sonderlich üblich, Bundesräte gegen ihren Willen aus dem Amt zu wählen – zumal, wenn dem keine stabile Entwicklung über mehrere Wahlen hinweg zugrunde liegt. Als SP-Bundesrätin Simonetta Sommaruga 2022 ihren Rückzug aus persönlichen Gründen erklärte, verzichteten die Grünen für den Rest der laufenden Legislatur schliesslich bereits frühzeitig, um keine Unruhe im linken Lager aufkommen zu lassen.

In Konsensdemokratien herrscht Machtbalance zwischen Exekutive und Legislative, d. h., die Regierung (der Bundesrat) und das Parlament (die Bundesversammlung bestehend aus der grossen Kammer Nationalrat und der kleinen Kammer Ständerat) kontrollieren sich gegenseitig. Das gilt auch für die Schweiz, in der zwar die Regierung rechtlich dem Parlament unterlegen ist und über beschränkte Kontrollmechanismen verfügt, was sie jedoch im Verbund mit der Bundesverwaltung über ein Ressourcenplus kompensiert (Lüthi 2009; Schwarz und Vatter 2011). Ferner zeichnet sie sich durch ein Mehrparteiensystem aus, was für die Schweiz mit aktuell sechs Parteien, die bei der letzten nationalen Wahl (2019) jeweils mehr als 5 % der Stimmenanteile erreichen konnten, ebenfalls gilt – im Vergleich etwa mit den Vereinigten Staaten, in denen sich üblicherweise zwei Parteien duellieren und unabhängige Kandidatinnen und Kandidaten kaum über Chancen verfügen.

Proporz resp. das Verhältniswahlrecht ist ein weiteres Kriterium, welches besagt, dass bei Wahlen – in der Schweiz vor allem auf der nationalen Ebene bei Nationalratswahlen, aber auch bei vielen Wahlen zu kantonalen oder städtischen Parlamenten – absolute Stimmen proportional in Sitzanteile umgerechnet werden. Das Gegenteil erleben wir bei den Wahlen zum Ständerat (mit Ausnahme der Kantone Jura und Neuenburg) sowie im international wahrscheinlich prominentesten Fall, bei den Wahlen des US-Präsidenten. Dort gilt das Gegenteil: Es gewinnt, wer die meisten Stimmen der 538 Wahlmänner und -frauen aus den verschiedenen Bundesstaaten erhält, nämlich 270 an der Zahl. Selbst wenn der oder die Zweitplatzierte 268 Stimmen erhält, lautet die Maxime beim Mehrheitswahlrecht «knapp vorbei ist auch daneben» (oder unter Politologinnen und Politologen: «the winner takes it all»). Dagegen ist beim Verhältniswahlrecht die massgebliche Idee, dass sich Stimmen, welche die Parteien von den Wählerinnen und Wählern bekommen, proportional in Parlamentssitzen niederschlagen. Auch dieser Modus führt wieder dazu, dass kleinere Parteien Zugang zu der zentralen demokratischen Entscheidungsarena erhalten und die Anliegen sozialer Minderheiten in der Konsensdemokratie adäquat abgebildet sind (oder zumindest nicht systematisch, also bereits durch das Wahlsystem, ausgeschlossen werden).

Kriterium Nummer fünf bezieht sich auf den sog. Korporatismus, also die effektive Einbindung von Verbänden. Demnach sind in der Konsensdemokratie Rahmenbedingungen und Regelungen am Werk, die dafür sorgen, dass Organisationen, die spezifische gesellschaftliche Interessen vertreten, namentlich Berufs-, Wirtschafts-, Branchen-, Arbeitnehmerinnen- und Arbeitgeberverbände, ihre Positionen wirksam in den politischen Prozess einbringen und entsprechende Stellungnahmen – etwa zu Gesetzesentwürfen – abgeben können. Vielfach werden sie aktiv in das Gesetzgebungsverfahren eingebunden, was bereits vor Entscheiden einen geordneten Interessenausgleich ermöglicht. Korporatismus wird wahlweise als Struktur oder Prozess dauerhafter Verhandlungsbeziehungen zwischen dem Staat und einer begrenzten Anzahl (exklusiv behandelter) Verbände mit dem Ziel einer gemeinsamen Abstimmung von Politik bezeichnet (Schmitter 1974; Molina und Rhodes 2002). Eine ausgeprägte und gesteuerte Verbändeeinbindung ist vor allem in Staaten vorzufinden, die ethnisch, religiös, sprachlich oder in anderer sozio-kultureller Hinsicht gespalten sind (wie in der Schweiz in Form des vielbeschworenen «Röstigrabens», der das Land auf einer metaphorischen Ebene zwischen Deutsch- und Französischsprechenden teilt). Sie wirken gezielt darauf hin, dass sich diese Spaltungen im Zuge von Wahlen nicht verfestigen und knappe institutionelle Mehrheiten durch breiten gesellschaftlichen Konsens legitimiert sind (Siaroff 1999; Lijphart 2012).

Besonders prominent in der öffentlichen Wahrnehmung tritt der Korporatismus an der Konfliktlinie zwischen Arbeit und Kapital zu Tage, d. h. auf dem Arbeitsmarkt zwischen den Gewerkschaften und Arbeitgeberverbänden. Seine je nach Politikfeld unterschiedliche Dynamik beruht auf Wechselbeziehungen mit dem Wahl- und Parteiensystem, Koalitionsbildungserfordernissen (Konkordanz) sowie Verhandlungszwängen, die sich aus der Verfassung und dem föderalen Staatsaufbau resp. der Veto-Macht unterschiedlicher Entscheidungsorgane ergeben (Czada 2006). Regierungen und Verwaltungen binden organisierte Interessen – auch in der Schweiz, wie wir später sehen werden – typischerweise in vorparlamentarische Vernehmlassungen ein, um «gesellschaftlichen Konsens [zu] mobilisieren oder sogar Brückenköpfe in der Gesellschaft [zu] schaffen, die den Prozess der Politikentwicklung […] erleichtern sollen» (Czada 2003: 184). Dies kann auch abseits verfassungsgemässer Regeln und Routinen dem Zweck dienen, Meinungen und Expertise einzuholen, Legitimität zu schaffen und mögliche Problemlösungen auf ihre Kompatibilität mit der öffentlichen Meinung hin zu überprüfen. Nicht selten werden somit Konflikte vorweggenommen. Nach einer berühmten Arbeit von Katzenstein (1985) gelingt es dadurch vor allem kleinen, verhältnismässig verwundbaren Volkswirtschaften, sich mittels sog. Sozialpartnerschaften innenpolitisch an die Erfordernisse des Weltmarktes anzupassen.

Von Föderalismus, Bikameralismus und Verfassungsrigidität

Die Schweiz ist schliesslich geprägt von einem sehr stark ausgebauten Föderalismus, mit dem eine Dezentralisierung der Staatsorganisation sowie politischer Entscheide einhergeht und welchen wir uns an späterer Stelle genauer ansehen werden. Sie steht damit im Gegensatz zu einem unitarischen Staat, als der allenthalben Frankreich bezeichnet wird, wo viele relevante Entscheide in der Hauptstadt Paris getroffen werden. Allerdings haben auch unsere westlichen Nachbarinnen und Nachbarn in den vergangenen Jahrzehnten die Vorzüge des Föderalismus für sich entdeckt.Footnote 1 Was in der «Grande Nation» eher eine jüngere und von der Pariser Zentralregierung befeuerte Entwicklung ist, geht in der Schweiz auf den für die föderale Kompetenzteilung konstitutiven Subsidiaritätsgrundsatz zurück, nach dem Aufgaben nach Möglichkeit von den Städten und Gemeinden erfüllt werden und erst auf die Kantone und den Bund übergehen, wenn sie alleine die Erledigung nicht garantieren können (oder aus guten Gründen eine übergeordnete Lösung sinnvoll erscheint). Bikameralismus sieht Lijphart ebenfalls als Kennzeichen der Konsensdemokratie, also das Zweikammersystem, welches wir bereits im Kontext der Machtbalance zwischen Exekutive und Legislative angesprochen hatten. Demzufolge teilt der uns interessierende Demokratietypus die Legislative in die direkte Volksvertretung (in der Schweiz der Nationalrat) und in eine Vertretung der grösseren föderalen Einheiten (der Ständerat, der die Kantone vertritt). Weiterhin nennt er die sog. Verfassungsrigidität als Kriterium. Der Begriff verweist auf die Hürden, die genommen werden müssen, um die Verfassung zu ändern. Gemäss Lijphart (2012) zeichnen sich die meisten von ihm untersuchten Demokratien dadurch aus, dass sie mit einer erforderlichen Mehrheit von mindestens zwei Dritteln der Mitglieder eines Parlaments vergleichsweise hohe Schwellen für eine Verfassungsänderung definieren. In einigen Staaten braucht es weniger als zwei Drittel der Stimmen oder gar nur eine einfache Mehrheit im Parlament, um konstitutionellen Wandel anzustossen. Die Schweiz gehört wegen des kombinierten Volks- und Ständemehrs als Grundlage der Annahme des obligatorischen Verfassungsreferendums zu den Ländern mit der ausgeprägtesten Verfassungsrigidität (siehe Kap. 4).

Bei Lijpharts Kriterium der Verfassungsgerichtsbarkeit fällt die Schweiz aus dem Bild. In vielen anderen Ländern können Verfassungsgerichte gesetzliche Regelungen auf nationaler Ebene als nicht mit der Verfassung konform einschätzen und die Gesetzgebenden auffordern, den juristischen Rahmen binnen eines bestimmten Zeitraums zu überarbeiten. Dagegen entscheidet das oberste Gericht in der Schweiz – das Bundesgericht in Lausanne, mit Abteilungen in Luzern – stets auf der Grundlage von Bundesgesetz. Allerdings kann das Gericht feststellen, dass es in bestimmten Sachverhalten einer Klage an einer ausreichenden Rechtsgrundlage fehlt. So geschehen im Fall der sog. «Sozialdetektive» (siehe Kasten). Und auch deshalb erscheint es mindestens diskussionswürdig, wenn Lijphart der Schweiz das Fehlen einer Verfassungsgerichtsbarkeit attestiert: Da sich die Rechtsprechung des Bundesgerichts seit rund 30 Jahren den Grundrechten gemäss Europäischer Menschenrechtskonvention (EMRK) beugen muss, wenn durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) eine Menschenrechtsverletzung erkannt wurde, ist «die Verfassungsgerichtsbarkeit gegenüber Bundesgesetzen ein Stück weit bereits Realität […], weil sich die Garantien der EMRK mit den Grundrechten in der Bundesverfassung stark überschneiden» (Vatter 2008: 28). Letztendlich bleibt aber festzuhalten, dass das Bundesgericht formal nicht letztinstanzlich über die korrekte Übersetzung der Bundesverfassung in Bundesgesetz wacht.

Abschliessend sei noch das letzte Kriterium angesprochen, die Unabhängigkeit der nationalen Notenbank von politischen Kräften. Es spricht einiges dafür, die Zentralbank als Kriterium für die Unterscheidung zwischen Mehrheits- und Konsensdemokratie als eher vernachlässigbar zu bezeichnen. Zwar verfügt die Schweiz mit der Schweizerischen Nationalbank (SNB) gemäss Lijphart (2012) über eine ausserordentlich autonome Notenbank. Es ist allerdings nicht völlig von der Hand zu weisen, dass der internationale Vergleich hinkt, da seit Einführung der Europäischen Zentralbank (EZB) geld- und währungspolitische Entscheide vielerorts nicht mehr auf der nationalstaatlichen Ebene getroffen werden. Das für den demokratischen Gesamtapparat ohnehin sehr enge Wirkungsfeld der Zentralbank ist in Zeiten der Internationalisierung von Märkten und Wirtschaftsräumen längst nicht mehr isoliert innerhalb territorialer Grenzen zu betrachten (im Unterschied zu den anderen Lijphart-Kategorien, die sich auf politisches Regelungshandeln innerhalb von Staatsgebieten konzentrieren, wenngleich dieses ebenfalls in zunehmender Weise von europäischen und globalen Einflüssen bestimmt sein mag). Man kann es deshalb mit Vatter (2020) halten, der das Kriterium im Hinblick auf die Schweiz mit dem Element der direkten Demokratie (Volksrechte) ersetzt (siehe Tab. 3.1).

Tab. 3.1 Die zehn Kriterien der Konsensdemokratie im Kontext Schweiz. (Quellen: Lijphart (2012); Vatter (2020); eigene Darstellung)
FormalPara Die «Sozialdetektive» und das Bundesgericht

Bezügerinnen und Bezüger von Leistungen der Unfall- und Invalidenversicherung sowie der Sozialhilfe wurden in der Schweiz über Jahre hinweg verdeckt überwacht. Die zuständigen Versicherungen und Sozialdienste begründeten ihr Vorgehen mit dem Verdacht, dass der Leistungsanspruch auf Basis falscher Angaben oder in betrügerischer Absicht geltend gemacht wurde. In den Jahren 2016 und 2017 stellten der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte und das Bundesgericht jedoch fest, dass die Gesetze den Einsatz von Detektivinnen und Detektiven bei vermutetem Missbrauch oder Betrug nicht in ausreichendem Masse decken. Die zugrundeliegenden Fälle und die Gerichtsurteile lösten eine kontroverse Debatte über die Frage aus, ob, unter welchen Voraussetzungen und mit welchen technischen Hilfsmitteln staatliche Stellen Observationen rechtmässig anordnen dürfen. Ausserdem verabschiedete das nationale Parlament eine Revision des Sozialversicherungsrechts, gegen die das Referendum ergriffen wurde, welches das Volk 2018 mit einer grossen Mehrheit ablehnte. Sozialinspektionen sind dadurch in den Sozialversicherungen (Bundeskompetenz) wieder zulässig – und viele Kantone haben mittlerweile eine Grundlage für die Sozialhilfe (Kantonskompetenz) geschaffen. Damit hat das Bundesgericht zwar nicht dazu beigetragen, ein zuvor von den demokratischen Institutionen beschlossenes Gesetz zu «kippen». Es hat aber die öffentliche Diskussion über das Thema in Gang gebracht und dafür gesorgt, eine juristische Grauzone neuerlich auszuleuchten und mehr Rechtsklarheit zu schaffen.

Lijpharts Konzept aus schweizerischer Perspektive

Dies lässt uns sodann auf die Kritik an Lijphart im schweizerischen Kontext und die Nichtberücksichtigung des Ausbaustandards der Volksrechte blicken, die einen erheblichen Konsens- bzw. Kompromissdruck auf Legislative und Exekutive ausüben. Das schiere Wissen um die Möglichkeit, dass Bürgerinnen und Bürger von ihrem Referendumsrecht Gebrauch machen könnten, führt oft schon dazu, dass politische Entscheide vorsorglich mit Bedacht ausgelotet und Interessen und Präferenzen zwischen Regierung, Parlament und Verbänden verhandelt werden. Man sollte also meinen, dass hier ein relevanter Mechanismus für die Konsensdemokratie vorliegt. Ebenfalls mit Blick auf die Schweiz können wir in diesem Zusammenhang die Position, dass Konsensdemokratien Minderheiten schützen und politisch einbinden, zumindest kritisch hinterfragen. Zwar haben konsensdemokratische Elemente in der Schweiz historisch die Herausbildung einer gemeinsamen Identität trotz Mehrsprachigkeit, Multikonfessionalität und Stadt-Land-Unterschieden befördert (Linder 2009). Weiterhin wirkt die direkte Demokratie offenbar der Beschneidung von Minderheitenrechten entgegen. Sie wirkt aber gleichwohl bremsend auf deren Erweiterung. Bei Volksentscheiden und im parlamentarischen Verfahren, wenn die Volksvertreterinnen und -vertreter nachgelagerte Referenden fürchten, schneiden religiöse Minderheiten wie z. B. Muslime – Stichwort: Minarettinitiative und Verhüllungsverbot – heutzutage eher schlecht ab (Vatter und Danaci 2010; Vatter 2011).

Zusammengefasst sieht auch Vatter (2020) die Konsensdemokratie in der Schweiz in sehr elaborierter Form gegeben, qualifiziert jedoch einige von Lijpharts (2012) Befunden. Wie der geistige Urheber des Ansatzes konstatiert er ein Vielparteiensystem und eine daraus resultierende Mehrparteienkoalition im Bundesrat. Hinzu kommt das Verhältniswahlrecht bei Nationalrats-, aber auch bei den meisten Parlamentswahlen auf kantonaler Ebene. Einen föderalen Bundesstaat und ein Zweikammersystem attestiert er der Schweiz ebenfalls. Jedoch schränkt Vatter ein, dass die Stellung des Parlaments im Sinne seiner verfassungsgemässen Rolle zwar stark, aber real schwächer sei; was vor allem an begrenzten Ressourcen und dem komplizierten Gesetzgebungsprozess liege, in dem Verbände im vorgelagerten Vernehmlassungsverfahren und das Stimmvolk im Nachhinein Entscheide in essenzieller Weise beeinflussen oder gar zurücknehmen können (wie wir später detailliert sehen werden). Der Korporatismus ist nach Vatter im internationalen Vergleich eher schwächer ausgeprägt (worüber man diskutieren kann, wenn die Rolle von Verbänden bei Initiativen und Referenden sowie deren Veto-Potenzial eingepreist wird). Eine Verfassungsgerichtsbarkeit existiert insofern beschränkt, als wir darunter die Bindung des Bundesgerichts an die EMRK verstehen können. Weiterhin deklariert er das Volks- und das Ständemehr für Verfassungsänderungen sowie die stark ausgebauten Volksrechte als Charakteristika der schweizerischen Konsensdemokratie.

Literatur zur Vertiefung

FormalPara Lernaufgabe

Sie sollen einer Freundin das Konzept der Konsensdemokratie am Beispiel der Schweiz erklären: An welchen politischen Diskursen und Ereignissen der vergangenen Jahre (z. B. im Kontext von Wahlen oder Abstimmungen) lassen sich die zehn Kriterien in der modifizierten Version von Vatter verdeutlichen? Hinsichtlich welcher Kriterien sind evtl. Zweifel daran angebracht, dass die Schweiz den «Paradefall» der Konsensdemokratie darstellt? Und bei welchen Kriterien finden Sie es allenfalls schwierig, passende Beispiele zu finden?